Dieses Buch  erzählt die Geschichte dreier Soldaten der amerikanischen Armee in der Zeit  des ersten Weltkriegs:
DAN FUSELLI, eines Italo-Amerikaners aus San Francisco
CHRISFIELD, eines Farmersohnes aus Indiana,
und des jungen  Komponisten JOHN ANDREWS aus New York
«Les contemporains qui souffrent de certaines choses ne peuvent s'en Souvenir qu'avec une horreur qui paralyse tout autre plaisir, même celui de lire un conte.» Stendhal
1
Die  Kompanie war aufmarschiert, jeder einzelne Mann sah geradeaus vor sich auf den  leeren Paradeplatz, wo die aufgeschüttete Koksschlacke vom Rot des Abends  überleuchtet wurde. Der Wind, der den Geruch von Baracken und Krankenhäusern  mit sich trug, schmeckte leicht nach dem Fett der Feldküche. Auf der anderen  Seite des weiten Feldes schoben sich lange Linien von Männern langsam in eine  schmale hölzerne Baracke, die als Speiseraum diente. Das Kinn angelegt, die  Brust heraus, die Beine zuckend und ermüdet vom Nachmittagsexerzieren, stand  die Kompanie in Reih und Glied. Sie starrten alle geradeaus, mit vagen,  resignierenden Blicken; manche versuchten, sich zu unterhalten, indem sie jeden  Gegenstand in ihrem Gesichtsfeld sozusagen mit den Augen notierten —: die  ausglühenden Aschehaufen, die langen Schatten der Baracken und Speisehäuser,  wo man die Leute herumstehen sah, spuckend, rauchend, sich an aufgestellte  Wände lehnend. Es war so still, dass man die Taschenuhren ticken hören konnte.
  Irgendeiner  bewegte sich und machte mit seinen Füßen ein knirschendes Geräusch auf dem  Aschegrund.
  Die  Stimme des Sergeanten bellte: «Stillgestanden! Reißt die Knochen zusammen!»
  Die  Leute, die dem Sergeanten am nächsten standen, sahen ihn aus den Augenwinkeln  heraus an.
  Zwei  Offiziere, ganz weit draußen auf dem Paradeplatz, näherten sich. Ihre Gesten  und Bewegungen zeigten den aufmarschierten Soldaten schon von weitem, dass sie  über irgend etwas sehr Amüsantes sprachen. Einer der Offiziere lachte kindisch,  drehte sich um und ging langsam zurück über den Paradeplatz, Der andere, der  Leutnant, kam lächelnd näher. Wie er vor der Kompanie stand, verließ das  Lächeln seine Lippen; er schob das Kinn vor und machte seine Schritte schwer  und hart.
  «Sergeant,  Sie können die Kompanie abtreten lassen.»
  Die  Stimme des Leutnants brach mit einem harten Stakkato ab.
  Des  Sergeanten Hand erhob sich zum Gruß, wie das Haltesignal eines Zuges.
  «Kompanie... abtreten!» sang es aus ihm heraus.
  Die  aufmarschierte Linie der Soldaten in Khaki löste sich in eine Masse  verschiedener Individuen mit staubigen Schuhen und staubigen Gesichtern auf.  Zehn Minuten später schwenkten sie ab und marschierten in Gliedern zu je vieren  zum Essen. Einige rote Reihen elektrischer Birnen warfen ein trübes Licht durch  den Staub in die bräunliche Dunkelheit; die langen Tische und Bänke strömten  einen unbestimmten Geruch von Abfall aus, der sich mit dem Geruch der  Desinfektionsmittel, mit denen man die Tische nach der letzten Mahlzeit  abgewaschen hatte, zu einer unangenehmen Mischung vereinigte. Die Soldaten, die  ihre ovalen Essnäpfe vor sich hielten, standen in langen Reihen an den großen  Zinkbalken der Tür, aus der in regelmäßigen Abständen von einem  schweißtriefenden Kompaniekoch in blauem Kittel Fleisch und Kartoffeln in die  Teller hineingespritzt wurden.
  «Mach  heut Nacht nich son böses Gesicht», sagte Fuselli zu dem Manne ihm gegenüber  und krempelte sich die Ärmel auf, während er sich über das dampfende Essen  beugte. Er war ein strammer Bursche mit krausem Haar und breiten Lippen, die er  hungrig beim Essen mit der Zunge beleckte.
  «Lass  doch», sagte der rosige, blondhaarige Jüngling ihm gegenüber, der seinen  breitrandigen Hut mit einer gewissen Lebhaftigkeit schief auf der einen Seite  des Kopfes trug.
  «Ich habe  einen Urlaubschein für heute», sagte Fuselli und warf seinen Kopf stolz empor.
  «Du  willst dich wohl mal richtig amüsieren?»
  «Mensch... ich habe ein Mädchen zu Hause, hinten  in Frisco (Anm.: Amerikanische  Abkürzung für San Francisco.), ein  gutes Kind.»
  «Hast  recht. Man darf sich mit den Mädels in dieser gottverfluchten Stadt nicht  einlassen... sind alle nicht sauber... Das heißt, wenn man über See gehen  will.» Der blondhaarige Jüngling beugte sich voll Ernst über den Tisch.
  «Ich will  mir noch was zum Fressen holen. Warte auf mich», sagte Fuselli.
  «Was  willst du in der Stadt anfangen?» fragte der Blondhaarige, als Fuselli  zurückkam.
  «Weiß  nicht — bisschen rumgehen und mal in ein Kino schauen», antwortete der und  füllte seinen Mund mit einer dicken Kartoffel.
  «Donnerwetter,  jetzt ist's aber Zeit, sich hier zu verziehen», hörten sie eine Stimme hinter  sich.
  Fuselli  stopfte sich den Mund schnell noch so voll, wie es eben nur ging und warf den  Rest seines Essens widerwillig in einen Abfalleimer.
  Einige  Augenblicke später stand er stramm in einer Khakireihe, die genauso aussah,  wie die hundert anderen Khakireihen, die den ganzen Paradeplatz füllten; das  Signalhorn am anderen Ende, wo die Fahnen aufgestellt waren, tönte laut.  Irgendwie erinnerte es ihn an den Mann hinter dem Schreibtisch im Anwerbebüro,  der damals, als er ihm die Marschpapiere aushändigte, gesagt hatte: «Ich  wünschte, ich könnte mit Ihnen gehen» — und der eine weiße, knochige Hand  hinhielt, die Fuselli nach kurzem Zögern in seine eigene braune Tatze genommen  hatte. Der Mann hatte voller Begeisterung zugefügt: «Es muss großartig,  wirklich großartig sein, die Gefahr zu fühlen, die Möglichkeit, jeden  Augenblick sein Leben zu verlieren! Viel Glück, mein Lieber! Viel Glück!» —  Fuselli erinnerte sich recht unangenehm an das papierweiße Gesicht und an den  grünlichen Schein seines kahlen Kopfes; aber die Worte, diese schönen Worte,  hatten ihm die Brust schwellen lassen, und als er das Lokal verließ, hatte er  sich wie eine harte Bürste an einer Gruppe von Männern vorbei durch die Tür hinausgeschoben.  Sogar jetzt noch gab ihm die Erinnerung, die mit den Klängen der Nationalhymne  in ihm aufwuchs, ein Gefühl von Wichtigkeit und Bedeutung.
  «Rechts...  schwenkt! Marsch!» kam ein Befehl.  Knirsch... ging es durch den Kies.  Knirsch... Die Kompanie marschierte  zurück zu ihren Baracken. Er wollte lächeln, aber er wagte es nicht. Er wollte  lächeln, weil er bis Mitternacht Urlaub hatte, weil er in zehn Minuten  außerhalb des Gitters sein würde, außerhalb des grünen Walles und der Wachen,  außerhalb des strengen elektrischen Drahtes. — Knirsch... knirsch... knirsch:  oh, wie waren sie langsam beim Rückmarsch zu den Baracken, und man verlor so  viel Zeit, kostbare, freie Minuten! «Hopp, hopp, hopp!» schrie der Sergeant und  starrte mit seinem aufreizenden Bulldoggenausdruck auf dem Gesicht gerade  immer dorthin, wo irgendeiner aus dem Schritt gekommen war.
  Die  Kompanie stand stramm. Fuselli biss sich auf die Lippen vor Ungeduld. Die  Minuten vergingen schleppend. Endlich, als ob es ihm leid tue, grölte der Sergeant:  «Kompanie... abtreten!»
  Fuselli  eilte zum Tor und schwang seine Schritte in prahlender Bewegung.
  Schon war  er auf dem Asphalt der Straße; er sah die lange Reihe der gepflegten Rasen und  Terrassen hinunter; violette Bogenlampen, die von ihren eisernen Stielen  herunter dicht über den kürzlich gepflanzten Bäumen der Straße hingen, durchströmten  schon mit ihrem Licht die schwache Dämmerung.
  Er stand  an der Ecke, schwerfällig gegen einen Telegraphenmast gelehnt, der an der  Bretterwand des Feldlagers, von drei großen Strängen elektrischen Drahtes  durchzogen, aufgerichtet war; er fragte sich, welchen Weg er einschlagen solle.  Diese Stadt war die Hölle, und er hatte früher gedacht, dass er herumreisen  und die Welt sehen werde. — «Nach dieser Geschichte wird es zu Hause gut genug  sein», murmelte er; dann ging er die lange Straße nach dem Zentrum der Stadt  hinunter, wo das Kino war. Er dachte an seine Heimat, an die dunkle Wohnung in  der ersten Etage eines siebenstöckigen Hauses, wo seine Tante lebte. «Hm, die  kocht fein», brummte er voll Bedauern.
  An einem  warmen Abend wie diesem, da musste man sich an der Ecke aufhalten, wo die  Drogerie war, mit Leuten, die man kannte, schwatzen, die Mädels anrufen, die  Arm in Arm zu zweien oder dreien vorübergingen und taten, als sähen sie nicht  die Blicke, die ihnen folgten. Oder noch besser: mit Al ausgehen, der in  irgendeinem optischen Geschäft arbeitete, durch die lichterstarrenden Straßen  des Theater- und Cafeviertels oder an den Werften und Fährbooten entlang, sich  dort niederlassen,
  rauchen,  über den dunklen, purpurfarbenen Hafen mit seinen winkenden Lichtern  hinausschauen vorbei an den fahrenden Schiffen, die aus ihren viereckigen,  rotglühenden Luken heraus glänzende Reflexe auf das Wasser schütteten. Wenn  sie besonderes Glück hatten, sahen sie einen Kreuzer durch das «Goldene Tor»  hereinkommen, der von einem vagen Lichtfleck sich zu einem ungeheuren,  beweglichen Lichterglanz vergrößerte, wie die Front eines erstklassigen  Theaters, das über den Fährbooten wie ein Turm aufwuchs. Oft konnte man das  Klatschen der Schraube im Wasser hören und das Zischen, wenn ihre Kanten das  ruhige Wasser des Meerbusens schnitten und die fernen Töne einer spielenden  Kapelle, die abwechselnd schwach und stark herüberkamen. «Wenn ich mal reich  bin», hatte Fuselli oft zu Al gesagt, «werde ich eine Reise auf einem dieser  Kreuzer machen.»
  «Dein  Oller ist wohl aus dem alten Land herübergekommen?» fragte der andere dann.
  «Ja, er  kam als Zwischendeckpassagier. Ich würde zu Hause bleiben, müsste ich das tun.  Mensch, erster Klasse für mich, Luxuskabine, wenn ich reisen werde.»
  Aber  jetzt war er in dieser östlichen Stadt, wo er niemand kannte und wo man  nirgendhin als ins Kino gehen konnte.
  «Hallo,  alter Junge», sagte eine Stimme neben ihm. Der große Jüngling, der beim Essen  ihm gegenüber gesessen hatte, holte ihn gerade ein: «Du gehst ins Kino?»
  «Jaaa,  weiß nicht, was man sonst tun soll.»
  «Das ist  ein Neuer. Gerade heute morgen angekommen», sagte der große Jüngling und wies  mit dem Kopfe auf den Mann hin, der neben ihm ging.
  «Ich  erzählte ihm gerade», sagte der andere, «er solle vorsichtig sein, wie in der  Hölle und keine Dummheiten machen. Wenn man einmal in diesem gottverdammten  Heer eine Dummheit macht, dann ist's die Hölle. Darauf kannst du dich verlassen ...  Dich haben sie also in unsere  Kompanie gesteckt? Die ist nicht so schlimm. Der Sergeant ist so was wie ein  anständiger Kerl, wenn man keine Dummheiten macht. Aber der Leutnant, das ist  ein Aas...  Wo bist du zu Hause?»
  «New  York», sagte der Neuangekommene, ein kleiner, ungefähr dreißigjähriger Mann  mit aschigem Gesicht und einer glänzenden jüdischen Nase. «Ich arbeitete dort in der Konfektion. Eigentlich sollte ich überhaupt nicht eingezogen  werden, das ist eine Schande. Ich bin lungenkrank.» Er stieß die Worte mit  seiner schwachen, kreischigen Stimme heraus.
  «Die  werden dich schon in Ordnung bringen, hab nur keine Sorge», sagte der große  junge Mann. «Die werden dich so verdammt gesund machen, dass du dich selbst  nicht mehr kennst. Deine eigene Mutter würde dich nicht erkennen, wenn du nach  Hause kommst. Übrigens hast du Glück.»
  «Wieso?»
  «Du  kommst von New York. Der Korporal, Timm Sides, kommt auch von dort her, und  alle Leute aus New York haben es gut bei ihm.»
  «Was für  Zigaretten rauchst du?» fragte Fuselli. «Ich rauche nicht.»
  «Dann  wirst du's lernen müssen. Der Korporal liebt von Zeit zu Zeit eine nette  Zigarette, und der Sergeant auch. Man muss ihnen ab und zu einige in die Tasche  rutschen lassen. Kann einem viel helfen.»
  «Taugt  nichts», sagte Fuselli, «man muss Schwein haben. Sorge dafür, dass du  anständig aussiehst und immer lachst. Dann ist alles in Ordnung. Und wenn sie  anfangen, auf dir rumzureiten, lass dir nichts gefallen. Man muss in dieser  Armee hartgesotten sein, um vorwärts zu kommen.»
  «Das ist  verdammt richtig», sagte der große junge Mann, «lass sie nicht auf dir  rumreiten...  Wie ist dem Name?»
  «Eisenstein.»
  «Dieser  Mann heißt Powers — Bill Powers, ich Fuselli. Gehst du ins Kino, Eisenstein?»
  «Nein,  ich suche mir was Weibliches.» Der kleine Mann blinzelte matt. «Bin froh, Anschluss  gefunden zu haben.»
  «Gottverdammter  Jude», sagte Powers, als Eisenstein durch eine Seitenstraße abging, die wie die  Hauptstraße mit jungen Bäumen bepflanzt war, von denen kranke Blätter herabhingen.  - Der schwache Hauch des Windes, der herüberkam, roch nach Industrie und  Kohlenstaub.
  «Juden  sind nicht immer so schlimm», sagte Fuselli. «Ich habe einen ganz guten  Freund, der auch einer ist.»
2
Sie  verließen das Kino in einem Strom von Menschen.
  «Ich war  nahe daran, loszuheulen, bei dem Bild von den
  Soldaten,  der Abschied von seinem Mädchen nahm, um in den Krieg zu ziehen», sagte  Fuselli. «So?»
  «Es war  gerade so bei mir. — Schon mal in Frisco gewesen, Powers?»
  Der große  junge Mann schüttelte den Kopf, dann nahm er seinen breitrandigen Hut ab und  ließ seine Finger über seinen dicken Schädel gleiten.
  «Donnerwetter,  hier war's heiß», murmelte er.
  «Nun, so  ist's», sagte Fuselli. «Man muss die Fähre nach Oakland nehmen. Meine Tante... du weißt, 'ne Mutter habe ich nicht,  ich wohne immer bei der Tante...  meine Tante und ihre Schwägerin un' Mabe...  Mabe ist mein Schatz... die kamen  alle rüber auf dem Ferryboot, und ich hatte ihnen doch gesagt, dass ich das  nich wolle. Un' Mabe sagte, sie sei mir böse, weil sie den Brief, den ich an  Georgine Slater schrieb, gesehen hatte. Die war 'ne ganz Tolle, wohnt in  unserer Straße, und war eben daran gewöhnt, Liebesbriefe zu bekommen. Und ich  sagte dauernd zu Mabe, dass ich's tat, weil ich's eben tat, zum Teufel, und dass  ich mir gar nichts dabei dachte! Und Mabe sagte, sie würde mir nie verzeihen.  Und dann sagte ich, vielleicht werde ich fallen, und sie wird mich nie  wiedersehen, un' dann fingen wir alle zu heulen an. Das war 'ne Geschichte...»
  «Verteufelt  schwer, seinem Schatz adieu sagen», meinte Powers und nickte verständnisvoll.  «Reißt einen ganz entzwei. Ich denke, besser sich an die Straßenmädchen halten,  denen braucht man wenigstens nicht adieu sagen.»
  «Bist du  schon mal mit so einer gegangen?»
  «Das  nicht», gab der große junge Mann zu und wurde über und über rot, so dass man es  sogar unter dem fahlen Licht der Bogenlampen der Hauptstraße, die zum Lager  zurückführte, bemerken konnte.
  «Aber  ich!» sagte Fuselli mit einem gewissen Stolz. «War mal mit so 'nem portugiesischen  Mädchen zusammen. Donnerwetter, die hatte was weg. Ich habe das alles  aufgegeben, seitdem ich verlobt bin, obschon...  Aber ich erzählte dir gerade...  Na,  zum Schluss kam mit Mabe doch alles noch wieder in Ordnung und ich küsste sie  un' Mabe sagte, sie werde niemand heiraten außer mir. Da, wie wir die Straße  runtergingen, bemerkte ich ein seidenes Fähnchen in einem Schaufenster, und ich sagte zu mir  selbst, das gebe ich Mabe, und ich lief  hinein un' kaufte es, ganz  gleich, was es kostete. Als wir dann alle beim  Küssen waren und Heulen beim Abschied, schob ich es in ihre Hand und sagte: behalte das, Mädchen, un' dass du mich nicht vergisst! — Und denk mal an, was  sie tat! Eine volle Fünf-Pfund-Schachtel Konfekt gab sie mir und sagte: mach  dich nicht krank, Dan. — Sie hatte diese Schachtel die ganze Zeit, ohne dass  ich es wusste. Mädchen sind klug!»
  «Jaa»,  sagte der große junge Mann mit unsicherem Blick.
  An den  Barackenreihen standen, als Fuselli zurückkam, die Kameraden in erregtem  Gespräch.
  «Das wird  einen verdammte Krach geben. Einer ist aus dem Gefängnis ausgebrochen.»
  «Was?»
  «Wäre  froh, wenn ich näheres wüsste.»
  «Sergeant  Timmons sagte, er habe sich aus seinen Betttüchern ein Seil gemacht.»
  «Nee, der  Mann auf Wache hat ihm geholfen, fortzukommen.»
  «Bestimmt  hat er das getan. Ich ging gerade am Wachthaus vorbei, als er 'raus kam...» «Zu welcher Kompanie gehörte er?»  «Weiß nich'.» «Wie heißt er?»
  «Irgendein  Kerl in Untersuchung wegen Ungehorsam, hatte einem Offizier in die Fresse  geschlagen.» «Das hätte ich sehen mögen.»
  «Trotzdem.  Der hat sich ordentlich was eingebrockt.» «Hast recht.»
  «Wollt  ihr Kerls wohl aufhören zu reden!» donnerte der Sergeant, der mit seiner  Zeitung an einem kleinen Schreibtisch bei der Tür der Baracke in dem matten Licht  einer sorgfältig umhüllten Lampe saß. «Ihr werdet uns noch den Diensthabenden  auf den Hals ziehen!»
  Fuselli  schlug sich das Betttuch um den Kopf und machte sich schlafbereit. Fest in  seine Betttücher eingewickelt, fühlte er sich geborgen vor der donnernden  Sergeantenstimme und vor dem Blick kalter Offiziersaugen. Er fühlte sich wohlig  und glücklich, wie er sich zu Hause gefühlt hatte, als er noch ein ganz kleiner  Junge gewesen war. Für einen Augenblick dachte er an den anderen Mann, der den  Offizier ins Gesicht geboxt hatte, vielleicht nur neunzehn Jahre alt, wie er,  der vielleicht auch einen Schatz wie Mabe hatte. Es muss entsetzlich kalt und  schrecklich sein, außerhalb des Lagers herum zu irren und die Lagerpolizei  hinter sich her zu haben. Er sah sich selbst atemlos eine lange Straße hinunter  rennen, von einer Kompanie mit Gewehren und Offizieren, deren Augen grausam  wie die spitzen Enden der Geschosse stachen, verfolgt. Er zog seine Decke  fester um den Kopf und freute sich an der Wärme und Weichheit der Wolle an  seiner Wange. — Man darf nicht vergessen, den Sergeanten anzulächeln, wenn man  ihm außer Dienst begegnet. Irgendeiner hatte gesagt, es seien bald  Beförderungen zu erwarten. Oh, er wollte so gern befördert werden. Fabelhaft  wäre das, wenn er Mabe schreiben könnte und ihr mitteilen, ihre Briefe seien an  Korporal Dan Fuselli zu adressieren. Man muss noch mehr Acht geben, keine  Dummheiten machen. Man muss nie eine Gelegenheit vorbeigehen lassen, um zu  zeigen, was für ein braver Kerl man ist, oh, wenn wir über See kommen, werde  ich es ihnen zeigen — dachte er glühend und malte sich lange Filmstreifen  grandiosesten Heldentums aus. Dann fiel er in Schlaf.
  Eine  scharfe Stimme neben seiner Schlafkoje weckte ihn mit einem Ruck: «Steh auf,  Kerl!»
  Der weiße  Strahl einer Taschenlaterne fiel auf das Gesicht eines Mannes neben ihm.
  «Der  Diensthabende», sagte Fuselli zu sich selbst.
  «Steh  auf, Kerl», kam die scharfe Stimme wieder. Der Mann in der nächsten Schlafkoje  rührte sich und öffnete die Augen.
  «Steh auf!»
  «Zu  Befehl», murmelte der Mann und blinzelte schläfrig im Licht der Taschenlaterne.  Er stand auf und nahm, noch etwas unsicher, stramme Haltung ein.
  «Warum  schlafen Sie in Ihrem Taghemd? Ziehen Sie es sofort aus!»
  «Zu  Befehl.»
  «Wie  heißen Sie?»
  Der Mann  sah auf, blinzelte, war zu verwirrt, um zu sprechen.
  «Wissen  Sie denn Ihren eigenen Namen nicht mehr? Heh?» fragte der Offizier und starrte  den Mann voller Wut an. Er schlug mit seiner scharfen Stimme wie mit einer  Peitsche zu.
  «Ziehen  Sie sofort Ihr Hemd aus, und dann zurück ins Bett!»
  Der  Diensthabende ging weiter und ließ bei seiner mitternächtlichen Inspektion der  Baracken das Licht seiner Taschenlaterne von einem Bett auf das andere fallen.  Wieder schwere, schwarze Nacht, und die Geräusche der Männer, die im Schlaf  tief atmeten. Wie er am Einschlafen war, konnte Fuselli den Mann neben sich  fluchen hören, ganz monoton, gleichmäßig, flüsternd, mit kleinen Pausen, um  sich neuen Stoff auszudenken, neue Kombinationen von Worten, seine hilflose Wut  wegzufluchen, um sich so durch die monotone Wiederholung seiner Flüche in  Schlaf zu bringen.
  Etwas  später wachte Fuselli mit einem erstickten Schrei auf. Er hatte geträumt, dass  er dem Diensthabenden ins Gesicht geschlagen habe, und dass er aus dem Gefängnis  ausgebrochen sei und nun laufe, endlos, atemlos, stürzend und fallend, während  die Wachkompanie ihn eine Straße mit kleinen vertrockneten Bäumen  hinunterjagte, immer näher kommend, während die Stimmen hinter ihm metallisch  wie das Klicken der Hähne in den Gewehren klangen und Offiziere Befehle hinausschrieen,  so dass es sicher schien, gefasst, sicher, erschossen zu werden. Er warf sich  hin und her und schüttelte seinen Traum ab wie ein Hund das Wasser von sich  abschüttelt. Dann fiel er wieder, in seine Betttücher gehüllt, in Schlaf.
  John  Andrews stand nackt in der Mitte eines großen, kahlen Zimmers, dessen Wände,  Decken und Boden aus ungehobeltem Fichtenholz hergestellt waren. Die Luft war  schwer vor Wärme. An einem Pult in der einen Ecke hörte man das krampfhafte  Tippen eines Schreibmaschinisten.
  «Sagen  Sie, junger Mann, buchstabieren Sie doch mal <verrückt>!» John Andrews  ging an das Pult hin, buchstabierte das Wort und fügte hinzu: «Wollen Sie mich  examinieren?»
  Der Mann  schrieb auf seiner Maschine weiter, ohne zu antworten.
  John  Andrews stand mit gekreuzten Armen in der Mitte des Zimmers, teils belustigt  und teils auch ärgerlich und schob sein Gewicht von einem Bein aufs andere,  horchte auf das Geräusch der Schreibmaschine und auf die Stimme des Mannes,  wie der jedes Wort des Berichts, den er abschrieb, vorlas.
  «Entlassungsbefehl...» Tip...   tip... «verfluchter Maschinenschreiber ... » tip... tip... «diese  verfluchten Armeeschreibmaschinisten... »
  In diesem  Augenblick kam der Rekrutierungssergeant zurück.
  «Schau  her, wenn du nicht die Abschrift in zehn Minuten fertig haben wirst, wird  Hauptmann Arthur wild werden. Mach um Gottes willen schnell. Du willst doch  deinen Posten behalten!»
  «Hallo!»  Die Augen des Sergeanten fielen auf John Andrews: «Fast hätte ich Sie  vergessen. Laufen Sie ein wenig im Zimmer herum. Nein, anders 'rum. Nur ein bisschen,  dass ich Ihr Herz untersuchen kann, Donnerwetter, diese Rekruten, die haben ja  noch ordentlich Fett am Leibe.»
  Während  er sich so zahm abtasten und abmessen ließ und sich wie ein preisgekröntes  Pferd auf einem Jahrmarkt fühlte, hörte John Andrews dem Manne an der  Schreibmaschine zu, dessen Stimme monoton weiterging.
  «Angesichts ...  Bericht über sexuelle... Alkoholismus...  Landarbeiter...  normale Erscheinung...»
  «Ziehen  Sie sich wieder an», sagte der Rekrutierungssergeant. «Ein bisschen schnell,  ich kann mit Ihnen nicht den ganzen Tag verbringen. Warum hat man Sie denn hier  alleine runtergeschickt?»
  «Meine  Papiere waren nicht in Ordnung», sagte Andrews. «Hier sind noch einige  Formalitäten zu erledigen. Kommen Sie rüber.»
  Andrews  folgte dem Sergeanten an ein Pult in der einen Ecke des Zimmers, von dem aus  das Geräusch der Schreibmaschine nur schwach vernehmbar war.
  «Nehmen  Sie das hier und gehen Sie zu den Baracken B...   viertes Gebäude rechts. Aber ein bisschen Tempo», sagte der Rekrutierungssergeant.
  Andrews  atmete tief auf, als er draußen in die leuchtende Luft kam. Einen Augenblick  stand er unentschlossen an der
  Holztreppe  des Gebäudes und sah die Reihe der schnell aufgebauten Baracken hinunter.  Einige waren grün angemalt, andere aus rohen Holzbrettern und wieder andere  standen noch als Gerüst herum. Über seinem Kopfe bewegten sich große, rötlich  angehauchte Wolkenberge langsam über den unendlichen, offenen Himmel. Sein  Blick glitt vom Himmel herunter auf ein paar hohe Bäume, die in herbstlichem  Gelb an den Grenzen des Lagers leuchteten und dann auf das Ende der langen Barackenstraße,  wo ein Wachgitter war und ein Wachsoldat immer hin und her ging, hin und her.
  Er zog  für einen Augenblick die Augenbrauen zusammen. Dann ging er, schwankend, nach  dem vierten Gebäude rechts.
John  Andrews putzte die Fensterscheiben. Er stand in schmutzigem, blauem Kittel auf  der Spitze der Leiter und rieb die kleinen Scheiben der Barackenfenster mit  einem seifigen Tuche ein. Sein Atem füllte sich mit dem Geruch des Staubes und  der sandigen Seife. Ein kleiner Mann mit grauroten Backen folgte ihm  tabakspuckend auf der Leiter und polierte die Scheiben mit einem trockenen Tuche,  bis sie glänzten und den wolkigen Himmel reflektierten. Andrews Beine waren  müde von dem ewigen Leiter Auf- und Absteigen. Seine Hände waren wund von der  kiesigen Seife; beim Arbeiten schaute er, ohne zu denken, auf die Reihen der  Schlafstellen hinunter, wo die Betttücher alle in derselben Art zurückgelegt  waren; auf manchen von ihnen lagen Männer und streckten sich im Zustande  äußerster Abspannung. Er sagte immer wieder zu sich selbst, wie seltsam es  doch sei, dass er an nichts denke. In den letzten Tagen schien sein Verstand zu  einem harten, unbeweglichen Klumpen geworden zu sein.
  «Wie  lange werden wir dies tun müssen?» fragte er den Mann, der mit ihm arbeitete.  Der Mann kaute seinen Tabak weiter, so dass Andrews glaubte, er würde  überhaupt nicht antworten. Er wollte gerade wieder zu sprechen anfangen, als  der Mann, gedankenvoll auf der Spitze der Leiter balancierend, mit den Worten  herauskam:
  «Vier  Uhr.»
  «Wir  werden heute also nicht fertig?»
  Der Mann  schüttelte den Kopf, legte sein Gesicht in Falten und machte eine sonderbare  Anstrengung beim Ausspucken.
  «Schon  lange hier?» «Nicht so sehr lang'.» «Wie lang'?»
  «Drei  Monate... ist nicht so sehr lange.»  Der Mann spie wieder aus und kletterte von seiner Leiter hinunter, um dort zu  warten, bis Andrews mit dem Reiben seines Fensters fertig sein werde.
  «Ich  werde verrückt, wenn ich drei Wochen hier bleibe. Jetzt bin ich eine Woche  hier», murmelte Andrews zwischen den Zähnen, kletterte hinunter und stellte  seine Leiter an das nächste Fenster.
  Dann  bestiegen sie wieder ihre Leitern, schweigend. «Warum bist du bei den  Reinemachern?» fragte Andrews wieder. «Lunge.»
  «Warum  entlassen sie dich nicht?» «Werden's wohl bald tun.»
  Dann  arbeiteten sie weiter, schweigend. Andrews begann am oberen rechten Ende und  schmierte jede Scheibe mit Seife ein. Dann kletterte er hinunter und stellte  seine Leiter an das nächste Fenster. Manchmal begann er auch in der Mitte, der  Abwechslung halber. Beim Arbeiten schob sich plötzlich ein Rhythmus durch den  harten Klumpen seines Bewusstseins und machte ihn weich und flüssig. Es drückte  sich in diesem Rhythmus die weite, staubige Trägheit aus, die Soldaten, die  reihenweise auf dem Exerzierplatz in strammer Haltung warteten, das monotone  Stampfen gleichmäßig schreitender Füße, der aus den Bataillonen aufsteigende  Staub, die über den Exerzierplatz gingen. Er fühlte, wie der Rhythmus seinen  ganzen Körper erfüllte, von seinen wunden Händen bis zu seinen vom Hin-und  Hermarschieren ermüdeten Beinen. Sein Bewusstsein begann, ohne dass er es eigentlich  beabsichtigte, aus Gewohnheit das Thema auszuarbeiten. Er hörte schon ein  ungeheures Orchester, aus dem dieser Rhythmus gewaltig klang. Sein Herz schlug  schneller. Er versuchte es in sich festzuhalten und es niederzuschreiben, damit  Kapellen es spielen und die Ohren der Massen es hören könnten.
  Den  ganzen endlosen Nachmittag hindurch arbeitete er, kletterte die Leiter hinauf,  herunter, schmierte die Barackenfenster mit dem seifigen Tuche ein. Eine  irrsinnige Phrase verdrängte die Bewegung der Musik in seinem Bewusstsein:  Arbeit und Rhythmus. Er musste es immer und immer zu sich selbst sagen: Arbeit  und Rhythmus. Er versuchte, das Wort aus seinem Bewusstsein zu verjagen, es in  dem Rhythmus der Musik, die in ihm gewesen war, zu begraben; die staubige  Langeweile, die gewaltsame Bewegung warmer Körper voller Gesten und Hoffnungen  und Erwartungen, Körper, die man in steife Formen einpressen wollte wie  Zinnsoldaten —: all das ging unter in dem ewig wiederholten Wort: Arbeit und  Rhythmus. Es begann ihm grollend in den Ohren zu klingen: Arbeit und Rhythmus —  ertränkte alles andere.
  Plötzlich  aber lachte er laut auf. Es war ja ein deutsches Wort, das er sprach. Man  rüstete ihn ja aus, um Männer zu töten, die so sprachen. Hätte ihm jemand das  gesagt, würde er ihn töten. Sie würden jeden töten, der diese Sprache redete.  Er und alle diese Männer, deren Schritte er über das Exerzierfeld dröhnen  hörte, deren Beine man alle gleich lang machte auf diesem Exerzierplatz.
3
Es war am  Sonnabendmorgen. Von einem Korporal kommandiert, einem säbelbeinigen  Italiener, der es trotz der Heeresdiät fertig brachte, immer einen  Knoblauchgeruch um sich zu verbreiten, fegten drei Soldaten in blauen Kitteln  die Blätter in der Straße zwischen den Baracken zusammen.
  «Kerls,  ihr seid faul wie die Schweine... in  fünfundzwanzig Minuten ist Inspektion hier», sagte der Korporal immer wieder.
  Die  Soldaten arbeiteten weiter wie die Hunde und gaben nicht acht auf das, was er  gesagt hatte.
  «Ihr  kümmert euch ja gar nicht um das, was ich euch sage! Ich bekomme einen  furchtbaren Krach, nicht ihr. Bitte, beeilt euch! Hebt mal schnell diese  verfluchten Zigarettenstummel, die hier rumliegen, auf!»
  Andrews  verzog das Gesicht und begann die kleinen, grauen, schmutzigen Enden  ausgebrannter Zigaretten zusammenzulesen. Als er sich hinunterbeugte, sah er  in die dunkelbraunen Augen des Soldaten, der neben ihm arbeitete. Die Augen waren  vor Wut zusammengezogen, und er sah eine Röte unter den Brauen des knabenhaften  Gesichtes.
  «Bin  nicht in dies Heer gekommen, um mich von einem gottverfluchten Blödian  rumkommandieren zu lassen», murmelte der.
  «Ist ja  ganz gleichgültig, wer dich rumkommandiert. Rumkommandiert wird man doch»,  sagte Andrews. «Woher kommst du denn?»
  «Oh, ich  komme aus New York. Meine Leute wohnen in Virginia», sagte Andrews.
  «Ich bin  aus Indiana... Mach, dass du  arbeitest. Der blöde Bastard kommt dort um das Gebäude herum.»
  «Hebt sie  doch nicht so auf! Kehrt sie aus!» rief der Korporal.
  Andrews  und der Junge aus Indiana gingen mit einem Besen und einer Schaufel herum und  sammelten ausgekaute Tabakstücke, Zigarrenenden und fettige Papierfetzen auf.
  «Wie  heißt du? Ich heiße Chrisfield. Man nennt mich immer Chris.»
  «Ich  heiße Andrews, John Andrews.»
  «Mein  Alter hatte einen Arbeiter namens Andy. Wurde krank und starb vorigen Sommer.  Wie lange glaubst du wohl, wird es dauern, bis wir hinübergeschickt werden?»
  «Weiß  nicht.»
  «Ich  möchte schon das Land da drüben sehen.» «Wirklich?» «Du denn nicht?» «Aber  natürlich.»
  «Was  steht ihr Kerls hier rum? Macht schnell und leert die Aschenkästen aus!» rief  der Korporal und watschelte mit seinen Säbelbeinen umher. Er schaute immer die  Barackenreihe hinunter und murmelte: «S'ist Zeit für die Inspektion jetzt. Verflucht ...  Diese Zeit will gar nicht vorübergehen.»
  Plötzlich  erstarrte seine Miene in einem Ausdruck kriechender Unbeweglichkeit. Er  brachte seine Hand an den Schirm seiner Kopfbedeckung. Eine Gruppe Offiziere  schritt an ihm vorbei in das nächste Gebäude.
  John  Andrews, der gerade seine Abfalleimer ausgeleert hatte, ging an die  rückwärtige Tür der Baracke.
  «Achtung!»  ertönte es von der anderen Seite. Er machte seinen Hals und seine Arme so  steif wie möglich.
  Aus den  schweigenden Baracken hörte man das harte Aufschlagen der Offiziersstiefel.
  Ein  bleiches Gesicht mit hohlen Augen und schwerem, quadratischem Kiefer kam John  Andrews näher. Er starrte gerade vor sich hin und bemerkte rötliche Haare auf  dem Adamsapfel des Offiziers und Zeichen der noch neuen Offizierswürde auf der  anderen Seite des Kragens.
  «Sergeant,  wer ist der Mann?» ertönte es aus dem bleichen Gesicht.
  «Weiß  nicht, Herr Leutnant, ein neuer Rekrut. Korporal Valori, wer ist der Mann?»
  «Sein  Name ist Andrews, Sergeant», sagte der italienische Korporal mit unterwürfigem  Ton in seiner Stimme.
  Der  Offizier sprach jetzt Andrews direkt an, schnell und laut:
  «Wie  lange sind Sie in der Armee?»
  «Eine  Woche.»
  «Wissen  Sie nicht, dass Sie jeden Sonnabend um neun sauber rasiert und bereit für die  Inspektion sein müssen?» «Ich reinigte gerade die Baracken.»
  «Ich  werde Ihnen noch klarmachen, dass man nicht antwortet, wenn ein Offizier einen  anspricht.»
  Der  Offizier sprach die Worte mit Sorgfalt, als ob er sich auf ihnen ausruhe. Beim  Sprechen schaute er verstohlen auf seinen Vorgesetzten und bemerkte etwas  Unwilliges im Gesicht des Majors. Sein Ton verwandelte sich langsam:
  «Sollte  dies noch einmal vorkommen, können Sie sicher sein, dass disziplinarisch gegen  Sie vorgegangen wird... Achtung dort!» Am anderen Ende der Baracke hatte sich  ein Mann bewegt. Wieder konnte man in der absoluten Stille den regelmäßigen  Schritt der Offiziersstiefel hören.
«Nun, Kerls, alle zusammen!» rief der Mann, der mit weit ausgestreckten Armen vor der Filmleinwand stand. Das Piano begann zu klingen, und der voll gefüllte Raum zusammengedrängter Soldaten grölte:
«Heil,  heil, wir sind die Soldaten, 
  Wir  werden uns den Kaiser holen, 
  Wir  werden uns den Kaiser holen, 
  Wir  werden uns den Kaiser holen!»
Die  Balken hallten wider von den tiefen Stimmen.
  Der Mann  ließ aus seinem mageren Gesicht einen befriedigten Ausdruck hervorquellen:
  «Noch  einmal!» sagte der Mann, «alle zusammen!»
  Der Film  hatte begonnen. John Andrews sah flüchtig um sich: in das Gesicht des Jungen  aus Indiana, der neben ihm saß, auf die braunen Gesichter und kurzgeschorenen  Köpfe, die sich aus den khakigekleideten Körpern um ihn erhoben. Manchmal  irrten ein Paar Augen ab von dem weißen, flackernden Licht der Filmwand. Wogen  von Gelächter oder von Zurufen gingen hin und her. Sie waren ja alle so gleich.  In Augenblicken schienen sie nur ein einziger Organismus zu sein. Das war es  ja, was er gesucht hatte, als er ins Heer eintrat — sagte er zu sich selbst.  Hier wollte er Zuflucht suchen vor dem Schrecken der Welt, der ihn befallen  hatte. Empörung, Gedanken, Individualität, die er wie ein Banner über dem  Aufruhr getragen hatte, hatten ihn krank gemacht. So war es viel besser, alles  geschehen lassen, den verrückten Wunsch nach Musik aus sich heraustreten, sich  in den Schlamm allgemeiner Sklaverei hineinducken. Immer noch klirrte die  dumpfe Wut über die Stimme des Offiziers an diesem Morgen in ihm: «Sergeant,  wer ist der Mann?» der Offizier hatte ihm ins Gesicht gestarrt, wie man  vielleicht ein Stück Möbel anstarrt.
  «Ist das  nicht ein ordentlicher Film?»
  Chrisfield  wandte sich ihm zu mit einem Lächeln, das die Wut vertrieb und ein angenehmes  Gefühl der Kameradschaft in ihm weckte.
  «Der  nächste Teil ist fein, ich habe ihn schon in Frisco gesehen», sagte der Mann  an der anderen Seite von Andrews. «Wenn man das gesehen hat, hasst man die  Hunnen.»
  Der Mann  am Klavier klimperte mühselig während der Pause zwischen den beiden Teilen des  Films. Der Junge aus Indiana beugte sich vor Andrews, legte den Arm um dessen  Schulter und sprach den anderen Mann an: «Du bist aus Frisco?»
  «Jaa.»
  «Das ist  richtig komisch. Du kommst von der Küste, der ist aus New York und ich aus  Indiana.» «Welche Kompanie?» «Bis jetzt keine.»
  «Der und  ich machen Innendienst.»
  «Mistige  Chose... ich heiße Fuselli.» «Ich  Chrisfield.» «Ich Andrews.»
  «Wie  lange dauert es, bis man aus diesem Übungsplatz rauskommt?»
  «Weiß  nicht. Manche sagen drei Wochen, andere sechs Monate...  Vielleicht kommt ihr in unsere Kompanie. Gestern haben sie  'ne Masse versetzt, und der Korporal sagt, dass Neue statt deren kommen  werden.»
  «Verflucht  noch mal! Ich will doch über See gehen.»
  «Da  drüben ist's fabelhaft!» sagte Fuselli. «Alles ist schön. Pittoresk, wie man  sagt, und die Leute gehen in Bauernkleidung herum. Ich hatte einen Onkel, der  mir davon erzählt hat. Er kam aus der Nähe von Turin...»
  «Wo ist  das?»
  «Weiß  nicht. In Italien.»
  «Wie  lange dauert die Überfahrt?»
  «Na, so  eine Woche oder zwei», sagte Andrews.
  «So  lange?» Doch der Film hatte wieder begonnen. Auf der Leinwand erschienen  Soldaten in Pickelhauben, die in kleine belgische Städtchen einmarschierten, wo  von Hunden gezogene Milchwagen und alte Frauen in Bauernkleidung zu sehen  waren. Man pfiff und johlte, sobald eine deutsche Flagge erschien, und wie die  Truppen auf dem Bilde vormarschierten, die Zivilisten in großen, weiten Hosen,  alte Frauen in steifen Hauben bajonettierten, stießen die in das stickige  Theater gepferchten Soldaten wilde Flüche gegen sie aus. Andrews fühlte, wie  ein blinder Hass sich in den jungen Männern um ihn herum regte wie etwas, was  ein eigenes Leben besitzt. Er verirrte sich darin, wurde davon weggeschwemmt  wie von der wilden Flucht einer erschreckten Viehherde; der Schrecken legte  sich wie eine drohende Hand um seinen Hals. Er beobachtete scheu die Gesichter  um sich herum. Sie waren alle gespannt und rot und glänzten vor Schweiß in der  Hitze des Zimmers.
  Beim  Verlassen des Raumes hörte Andrews, in einem festgeschlossenen Strom von  Soldaten eingepfercht, einen Mann sagen: «Ich habe noch nie in meinem Leben  eine Frau vergewaltigt. Aber bei Gott, ich werde es tun. Ich würde die Welt  darum geben, ein paar von diesen verdammten deutschen Weibern zu  vergewaltigen.»
  «Auch ich  hasse sie», ertönte eine andere Stimme. «Männer, Frauen, Kinder und  Ungeborene.»
  «Das sind  wirkliche Biester, sich von einer Schar Kriegsherren regieren zu lassen!»
  «Ich  möchte mal einen solchen deutschen Offizier gefangen nehmen und zwingen, meine  Schuhe zu putzen und ihn dann totschießen», sagte Chrisfield zu Andrews, als  sie die lange Barackenreihe hinuntergingen.
  «Möchtest  du wirklich?»
  «Ja, aber  noch viel lieber würde ich jemand anderes über den Haufen schießen», fuhr  Chrisfield scharf fort. «Der ist nicht weit von hier. Und ich werde es auch  tun, wenn der noch weiter so auf mir rumreitet.»
  «Wer ist  denn das?»
  «Der  lange Laffe Anderson, der denkt, weil ich kleiner bin als er, kann er mit mir  alles machen, was er will!»
  Andrews  wandte sich scharf um und sah in seines Gefährten Gesicht. Irgend etwas in der Raueit  der Stimme beunruhigte ihn. Daran war er nicht gewöhnt; er hatte immer  geglaubt, er selbst sei ein sehr leidenschaftlicher Mensch. Doch nie hatte er  den Wunsch verspürt, einen anderen Menschen zu töten.
  «Willst  du ihn wirklich töten?»
  «Jetzt  noch nicht. Aber er macht aus mir einen Teufel, wenn er weiter so mit mir  umspringt. Gestern zog ich mein Messer gegen ihn. Du warst nicht da. Bemerktest  du nicht, wie aufgeregt ich beim Exerzieren war?»
  «Ja, aber  wie alt bist du denn, Chris?»
  «Zwanzig.  Du bist wohl älter?»
  «Ich bin  zweiundzwanzig.»
  Sie  lehnten sich gegen die Wand der Baracke und sahen hinauf in die glänzende,  sternige Nacht.
  «Hör mal,  sind die Sterne dort drüben dieselben wie hier?»
  «Ich  denke schon», sagte Andrews lachend, «obwohl ich mich noch nie davon überzeugt  habe.»
  «Ich habe  in der Schule nicht viel gelernt», fuhr Chris fort. «Ich kam mit zwölf Jahren  aus der Schule, weil das nicht viel taugte und mein Alter so trank und man mich  auf der Farm zur Arbeit brauchte.»
  «Was wird  denn bei euch gebaut?»
  «Meistens  Roggen, ein wenig Weizen und Tabak...  Aber ich wollte dir gerade sagen, beinahe hätte ich doch mal einen  kaltgemacht.»
  «Erzähle  mir davon.»
  «Ich war  damals gerade besoffen. Wir Jungens aus Tallyville waren 'ne schlimme Bande.  Arbeiteten immer nur so lange, bis wir was Geld in die Finger bekamen. Dann  wurde gespielt und Whisky gesoffen, vor allen Dingen zur Erntezeit. Ich weiß  noch nicht mal warum, aber eines Tages kam ich mit einem in Streit, mit dem ich  noch bis eben gut Freund gewesen war. Der holte aus und schlug mir in die  Fresse. Weiß nicht, was sich dann tat, aber noch ehe ich es wusste, hatte ich  'n Erntemesser in der Hand und ging damit auf ihn los. So ein Messer in den  Bauch — das ist allerhand! Viere hielten mich zurück und nahmen mir das Messer  weg. Trotzdem habe ich ihm noch ordentlich die Brust blutig gemacht. War zu der  Zeit furchtbar besoffen. Dann fiel ich in einen Graben und pennte da bis  morgens und kriegte das ganze Haar voll Schlamm... ich rühre jetzt kaum noch einen Tropfen an.»
  «So, du  willst also schnell nach drüben gehen, Chris, wie ich», sagte Andrews nach  langer Pause.
  «Diesen  Laffen Anderson werde ich in die See stoßen, wenn wir auf demselben Schiff  rüberfahren», sagte Chrisfield lachend. Nach einer Pause fügte er hinzu: «Es  wäre doch entsetzlich gewesen, hätte ich den Kerl damals kaltgemacht.»
«Das ist  'ne Arbeit, die sich bezahlt macht, Geiger», sagte irgend jemand.
  «Stimmt  nicht», sagte die melancholische Stimme eines schmächtigen Mannes, der  zusammengekauert, das lange Gesicht in die Hände gelegt, dasaß, mit den  Ellbogen auf den Knien. «Bringt gerade genug zum Leben.»
  Verschiedene  Leute hatten sich am Ende der Baracke gruppiert. Die lange Reihe der  Schlafstellen, wo hier und da ein Mann schlief, einer sich hastig auszog, wurde  von Zeit zu Zeit von schwachen elektrischen Lichtreflexen beleuchtet.
  «Du wirst  entlassen, nich'?» fragte ein Mann mit starkem Dialekt und dem roten Gesicht  eines jovialen Gorilla.
  «Ja,  Flannagan», sagte der schmächtige Mann traurig.
  «Geht's  dem nicht dreckig?» fragte eine Stimme aus der Menge.
  «Ja»,  antwortete der schmächtige Mann und sah in die Gesichter um ihn herum aus  versunkenen Augen. «Eigentlich sollte ich vierzig Dollar die Woche haben, und  hier bekomme ich sieben und bin außerdem in der Armee.»
  «Die  Armee, die Armee, die demokratische Armee», sang jemand.
  «Aber ich  will doch nach drüben gehen und mir die Hunnen ansehen», sagte Flannagan, der  es recht geschickt verstand, seinen irischen Dialekt in kindlichem Tone  vorzubringen.
  «Nach  drüben», fuhr der schmächtige Mann fort, «wenn ich dorthin hätte gehen können —  ich hab' das Zeug für einen guten Spieler in mir.»
  «Warum  gehst du nicht?» fragte Andrews, der am Rande des Kreises mit Fuselli und Chris  stand.
  «Sieh  mich doch an... Tuberkulös... » sagte der schmächtige Mann.
  «Ich kann  nicht schnell genug rüberkommen», sagte Flannagan.
  «Muss  sehr komisch sein, nicht verstehen zu können, was die Leute sagen.»
  «Man kann  ihnen doch Zeichen machen», sagte Flannagan, «einen Iren kann man überall  verstehen. Aber mit den Hunnen braucht man ja nicht zu reden. Dort werde ich  ein Geschäft aufmachen. Was meint ihr dazu?»
  Alle  lachten.
  «Ich  werde in Berlin ein irisches Haus aufmachen; der König von England wird dort  selbst hinkommen und den gottverfluchten Kaiser besoffen machen.»
  «Bis  dahin wird der Kaiser schon an einem Telegraphenmast baumeln, Flannagan.»
  «Sie  sollten ihn zu Tode quälen, wie sie es mit Negern tun, wenn man sie unten im  Süden lyncht.»
  Ein Horn  ertönte weit draußen auf dem Exerzierplatz. Alle begaben sich schweißtriefend  zu ihren Lagerstellen.
  John  Andrews wickelte sich sorgfältig in seine Decken ein, in der Hoffnung auf  einige ruhige Gedanken vor dem Einschlafen. Er wollte diese Nacht wach liegen  und nachdenken, damit er nicht ganz den Faden seines Lebens verlor, das er  wieder aufnehmen wollte, an irgendeinem Tag, wenn er hier durchkam. Er schob  den Gedanken an den Tod von sich. Der war uninteressant und außerdem  gleichgültig. Doch irgendwann einmal würde er wieder Klavierspielen, Musik  schreiben wollen. Es wäre schrecklich, in die hilflose Mentalität des Soldaten  zu versinken. Man muss seinen Willen stark halten.
  Nein,  aber das war es ja nicht, an was er denken wollte. Er war so voll von sich  selbst. Auf jeden Fall musste er sich selbst vergessen. Immer seit seinem  ersten Studienjahr schien es ihm, als ob er nichts getan habe, als an sich  selbst denken, über sich selbst sprechen.
  Endlich,  auf dem tiefsten Grunde der Demütigung, der Sklaverei, war die größte  Möglichkeit des Vergessens und des Aufbaues eines neuen Lebens, aus realen  Dingen diesmal, aus Arbeit und Kameradschaft und Verachtung; Verachtung,  Zynismus, das brauchte er. Eine phantastische Welt war es, in die er plötzlich  gefallen war. Sein Leben vorher schien ein Traum aus einem Roman, ein Gemälde,  das er in irgendeinem Schaufenster gesehen hatte. Es war so ganz anders; war es  wirklich in derselben Welt? Es schien ihm, als sei er gestorben, ohne es zu  wissen und neugeboren, in einer neuen, fürchterlichen Hölle.
  Als Kind  hatte er in einem alten Hause gewohnt, das unter Eichen und Kastanien stand,  neben einer Landstraße, wo kleine Karren und Ochsenwagen nur selten  vorbeikommen und Spuren im Sande hinterließen. So viele Träume hatte er gehabt  unter dem Myrtenbusch am Ende des überwachsenen Gartens; die langen  Nachmittage in Virginia, wie waren sie schön. Dort konnte er an die Welt  denken, in der er leben werde, wenn er einmal erwachsen wäre.
  Er hatte  so viele Leben für sich geplant; er wollte General werden wie Caesar, die Welt  erobern und in einer großen Marmorhalle ermordet sterben. Er wollte ein  wandernder Sänger werden und alle Länder singend durchwandern und viele  endlose, verworrene Abenteuer durchmachen; er sah sich als großer Musiker  spielend an einem Klavier sitzen, wie Chopin auf dem Bilde, während  wunderschöne Frauen weinend saßen und Männer mit langem, lockigem Haar die  Gesichter in ihren Händen verbargen. Nur Sklaverei hatte er nicht  vorausgesehen. Dazu hatte seine Rasse zu viele Jahrhunderte hindurch geherrscht.  Und doch war die Welt nur zusammengesetzt aus Variationen von Sklavereien.
  John  Andrews lag auf dem Rücken in seinem Lager, während alles um ihn herum schlief  und schnarchte in den dunklen
  Baracken.  Ein dunkler Schrecken hielt ihn gepackt. In einer einzigen Woche war das große  Gebäude seiner romantischen Welt voller Farben und Harmonien, das stärker und  dauerhafter gewesen war als die Schul- und Universitätszeit und als das Hin- und  Hergestoßensein im Kampf um die Existenz in New York, wie Staub in sich  zusammengefallen. «Wie dumm», dachte er. «Dies ist doch die Welt, wie sie der  Mehrzahl der Menschen erscheint. Dies ist nur der untere Teil der Pyramide.»
  Er dachte  an seine Freunde, an Fuselli und Chrisfield und den komischen kleinen Kerl,  Eisenstein. Die schienen sich zu Hause zu fühlen in diesem Armeeleben. Die  schienen durchaus nicht erschreckt zu sein über den Verlust ihrer Freiheit.  Denn sie hatten ja auch nie im Glanze jener anderen Welt gelebt. Doch wenn er  auch wollte, er konnte keine Verachtung gegen sie fühlen. Er dachte an sie, wie  sie unter dem Kommando des Mannes sangen:
«Heil  heil, wir sind die Soldaten, 
  Wir  werden uns den Kaiser holen, 
  Wir  werden uns den Kaiser holen, 
  Wir  werden uns den Kaiser holen!»
Er dachte  an sich selbst und an Chrisfield, wie sie die abgebrannten Zigaretten  aufsammelten und an das endlose Tramp, Tramp der Füße auf dem Exerzierplatz. Wo  war die Verbindung? War das alles Irrsinn? Sie kamen aus so verschiedenen  Welten, all diese Männer, die um ihn herum schliefen, um in dieser Sache  vereinigt zu werden. Was dachten sie darüber, alle diese Schläfer? Hatten nicht  auch sie Träume gehabt, als sie Knaben waren? Oder hatte die Generation vor  ihnen sie nur für dies vorbereitet?
  Er dachte  an sich selbst, wie er unter dem Myrtenbusch lag während des heißen, drösenden  Nachmittags und die blassen Blumen im trockenen Grase beobachtete, und fühlte,  in seine warmen Decken eingehüllt, wieder wie die Glieder sich in dem Wunsche  strafften, frei und ohne Zwang durch eine neue, freie, kühne Luft zu stürzen.  Plötzlich überdeckte Dunkelheit sein Bewusstsein.
  Mit einem  Ruck wachte er auf. Das Horn tönte draußen. «Aufstehen!» schrie der Sergeant.  Ein neuer Tag.
4
Die  Sterne standen klar am Himmel, als Fuselli aus den Baracken stolperte, die  Augen noch stechend vor Schlaf. Wie kleine, glänzende Flocken zitterten die  Sterne in dem Dunkel des Himmels.
  «Weiß  jemand, wo das elektrische Licht angedreht wird?» fragte der Sergeant  gutgelaunt. Das Licht über der Tür der Baracken flammte auf und ließ einen  kleinen, rundlichen, lustigen Mann mit kleinem, gelbem Schnurrbart und einer  Zigarette, die ihm zum Munde heraushing, sehen. Um ihn herum gruppiert saßen  Leute aus der Kompanie, in Mänteln und Mützen.
  «Alles in  Ordnung. Aufmarschieren, Leute!»
  Man sah  Fuselli einigermaßen neugierig an, da er gerade die Nacht vorher in diese  Kompanie versetzt worden war.
  «Achtung!»  schrie der Sergeant, dann zog er die Augenbrauen zusammen und starrte lange auf  das Stück Papier, das er in der Hand hielt, während die Leute ihn neugierig  beobachteten. «Antwortet, wenn euer Name aufgerufen wird... Ansbach!»
  «Hier!»
  Gleichzeitig  konnte man draußen in den anderen Baracken bei anderen Kompanien dasselbe  hören. Irgendwo vom Ende der Straße her kamen Hochrufe.
  «Nun,  Leute, ich kann euch jetzt erzählen», sagte der Sergeant mit einem Ausdruck  besonderer Allwissenheit, nachdem er den letzten Namen aufgerufen hatte, «wir  gehen hinüber.»
  Alles  schrie begeistert.
  «Haltets  Maul! Die Hunnen sollen uns wohl hören, was?»
  Die  Kompanie lachte, auf dem runden Gesicht des Sergeanten lagerte sich ein  breites Grinsen ab.
  «Da  scheint ihr ja einen ganz anständigen Bonzen zu haben», flüsterte Fuselli  seinem Nebenmann zu.
  «Da  kannst du dich drauf verlassen. Der ist 'ne feine Marke», sagte der andere in  einem Tone tiefer Ehrfurcht. «'ne gute Kompanie, kann ich dir sagen.»
  Plötzlich  erschien der Leutnant in dem Lichtkreis vor den Baracken. Es war ein Junge mit  rosigem Gesicht. Sein etwas zu großer Rock war sehr neu und stand ihm steif von  den Beinen ab.
  «Alles in  Ordnung, Sergeant? Alles in Ordnung?» fragte er
  verschiedene  Male.
  «Zu  Befehl!» antwortete der Sergeant. «Sehr gut. Werde Ihnen in einer Minute den  Marschbefehl mitteilen.»
  Gegen  Fusellis Ohren schlug eine seltsame Aufregung. Diese Worte klangen sehr  geschäftsmäßig. Plötzlich wunderte er sich, wie das sein werde, im Feuer  stehen. Erinnerungen an Kinobilder flitzten durch sein Bewusstsein.
  «Was bin  ich froh, aus diesem Höllenloch fortzukommen!» sagte er zu seinem Nebenmann.
  «Das  nächste ist vielleicht noch mehr Höllenloch als das hier, Junge», sagte der  Sergeant und ging mit wichtigen Schritten auf und ab.
  Alle  lachten.
  «Das ist  ein feiner Sergeant, unsrer», sagte der Nebenmann zu Fuselli. «Der hat Grütze  im Kopf.»
  «Rührt  euch!» rief der Sergeant. «Wenn jemand von euch einen Schritt aus den Baracken  heraus tut, werde ich ihn in die Küche stecken, bis er im Schlaf Kartoffeln  schälen kann.»
  Die  Kompanie lachte wieder. Fuselli bemerkte, dass der große Mann, dessen Name  zuerst aufgerufen worden war, nicht mitlachte, sondern verächtlich ausspie...
  «Überall  gibt's faule Eier», dachte Fuselli.
  Langsam  überdeckte graue Dämmerung den Himmel. Fuselli Beine waren müde vom langen  Stehen. Draußen vor den Baracken standen, so weit er die Straße hinaufsehen  konnte, Männer in aufmarschierten Linien.
Die Sonne  stieg auf, heiß, ein wolkenloser Tag. Einige wenige Spatzen zwitscherten über  dem Zinndach der Baracken.
  «Wir  marschieren heute immer noch nicht ab.»
  «Warum  denn?» fragte jemand wütend.
  «Truppen  werden immer nachts abtransportiert. Da kommt der Sergeant.»
  Alle  reckten ihre Hälse in der angedeuteten Richtung. Der Sergeant kam mit einem  mysteriösen Lächeln auf den Lippen angetrottet.
  «Mäntel  ausziehen und Küchengeräte herbei!»
  Die  Küchengeräte klapperten und glitzerten in den gleißenden Strahlen der Sonne.  Sie marschierten zur Küche und wieder zurück, stellten sich in Reih und Glied  und begannen wieder
  zu  warten. Bald wurden sie alle müde und mürrisch. Fuselli hätte gern gewusst, wo  seine alten Freunde aus der anderen Kompanie waren. Es waren auch anständige  Kerls da, Chris und jener gebildete Mann, Andrews. Dumm, dass sie nicht hatten  mitkommen können.
  Die Sonne  stieg höher, die Leute schlichen sich einer nach dem anderen in die Baracken  und legten sich auf ihre Schlafstellen nieder.
  «Um was  wollt ihr wetten, wir kommen aus diesem Lager nicht vor Ende der Woche raus»,  sagte jemand.
  Nachmittags  marschierten sie wieder auf zum Essen, aßen irgend etwas voll Unlust und  hastig. Fuselli verließ den Speiseraum und klopfte mit zwei schmutzigen Fingernägeln  irgendeinen Marsch auf seinem Geschirr. Da sprach ihn der Korporal leise an: «Vergiss  nicht, dein Geschirr zu säubern, Mann. Die Inspektion kommt.»
  Der  Korporal war ein schmächtiger, gelb gesichtiger Mann mit faltiger Haut, obschon  noch jung, und einem Mund, der aussah wie ein Flitzbogen, der sich öffnete und  schloss wie die Papiermäuler, die Kinder machen.
  «Zu  Befehl, Korporal», antwortete Fuselli erfreut. Er wollte einen guten Eindruck  machen. — «Die Leute werden auch bald zu mir: Zu Befehl, Korporal sagen»,  dachte er. Ein Gedanke trieb durch sein Hirn. Der Korporal sah nicht sehr  kräftig aus. Der würde drüben wohl nicht lange am Leben bleiben. Und er malte  sich schon aus, dass Mabe schreiben werde: «Korporal Dan Fuselli, o. a. r. d. 5.»
  Am Spätnachmittag  erschien der Leutnant plötzlich, das Gesicht rot vor Aufregung, den Rock  steifer als je.
  «Sergeant,  lassen Sie die Leute aufmarschieren!» sagte er atemlos.
  Die ganze  Lagerstraße hinunter standen die Kompanien in Marschordnung. Eine nach der  anderen marschierten sie ab, in Reihen zu vieren, und machten dann halt mit  ihrem Gepäck. Bernsteingelb wurde das Licht des versinkenden Tages. Marschsignale  tönten.
  Fuselli  war plötzlich sehr aktiv geworden. Die Signaltöne und die Kapelle, die die  Nationalhymne spielte, senkten sich in sein Bewusstsein und wuchsen zu einem  Traum; wie es wohl werden würde dort drüben. Männer mit Pickelhauben, die  aussahen wie Feuerwehrleute, waren beim Schießen. Sie sahen aus, wie der  Ku-Klux-Klan un Kino, sprangen von ihren Pferden ab, hatten fremde,  ausländische Gebärden, steckten Häuser in Brand und spießten Säuglinge auf ihre  langen Schwerter. Das waren die Hunnen. Dann Flaggen, die hart im Winde  flatterten und Töne von Militärkapellen. Alles verlor sich in einer Szene aus  einem Kino, in der Regimenter in Khakiuniform schnell, schnell durch die Szene  marschierten. In der Erinnerung an das Geschrei, das immer solche Szenen  begleitete, ertrank das Bild. — Die Gewehre hätten doch Lärm machen müssen —  fügte er in Nachgedanken hinzu.
  «Aa—ch—tung!  Vorrwärrts...  Marsch!»
  Die  lange, lange Straße des Lagers war voll marschierender Füße. Abmarsch. Als sie  durch das Tor kamen, lief sein Blick an Chris vorbei, der dort stand, mit  seinem Arm um Andrews Schultern. Beide winkten sie. Fuselli lächelte und warf  die Brust heraus. Die waren noch Rekruten. Er ging über See.
  Das  Gewicht seines Gepäcks zog ihn an den Schultern und machte seine Füße schwer,  als ob er mit Blei beladen sei. Der Schweiß rann seinen kurzgeschorenen Kopf  hinunter und strömte in seine Augen und an seiner Nase entlang. Durch die marschierenden  Schritte hindurch hörte er wirr «Hoch»-Rufe von den Bürgersteigen her. Vor ihm  wurden die Köpfe und das Gepäck immer kleiner, die Straße hinauf. Über ihnen  flatterten Fahnen aus den Fenstern langsam hin und her im Dämmerlicht. Doch das  Gewicht des Gepäcks drückte mit unausweichlicher Kraft seinen Kopf herab, wie  sie weitermarschierten unter den Bogenlampen, die im Dämmerlicht blinkten.  Stiefelsohlen und Beine, von Gamaschen umwickelt, und der Gurt des Mannes vor  ihm: das war alles, was er sehen konnte. Das Gepäck schien ihm so schwer, als  ob es ihn in den Erdboden durch den Asphalt hinein drücken werde, und um ihn  herum war das dumpfe Rasseln der Ausrüstungen und das Stampfen marschierender  Füße. Alles an ihm war nass vor Schweiß. Ganz vage fühlte er den dampfenden  Schweiß, der aus den Reihen angestrengter Körper um ihn herum aufstieg. Bald  aber vergaß er alles außer dem Gepäck, das ihn an den Schultern zog, das seine  Schenkel, Knöchel und Füße niederlastete, und außer dem monotonen Rhythmus  seiner Füße, die auf das Pflaster schlugen und der anderen Füße vor ihm,  hinter ihm, neben ihm.
  Der Zug  roch nach neuen Uniformen, in denen der Schweiß getrocknet war, und nach dem  Rauch billiger Zigaretten. Fuselli wurde mit einem Ruck wach. Er hatte mit  seinem Kopfe auf Bill Greys Schultern geschlafen. Es war schon taghell. Der Zug  ruckte schon langsam über Kreuzungsschienen in irgendeiner Vorstadt mit langen,  berußten Warenhäusern und endlosen Reihen von Güterwagen, hinter denen braunes  Marschland und schiefergraue Flächen Wassers auftauchten.
  «Gott,  das ist ja der Atlantische Ozean!» schrie Fuselli voller Aufregung.
  «Den hast  du wohl noch nicht gesehen? Das ist der Pirth-River», sagte Bill Grey voller  Verachtung. «Nee, ich komme von der Westküste.»
  Sie  steckten ihre Köpfe aus dem Fenster, so dass ihre Gesichter sich berührten.
  «Donnerwetter,  da sind ja Weiber!» sagte Bill Grey. Der Zug hielt mit einem Ruck. Zwei  schlechtgekleidete rothaarige Mädels standen an dem Schienenstrang und winkten  mit den Händen.
  «Gebt uns  'nen Kuss!» schrie Bill Grey.
  «Gern»,  sagte das eine Mädchen. «Alles für unsere tapferen Jungens!»
  Sie  stellte sich auf Zehenspitzen, und Grey beugte sich weit aus dem Fenster hinaus  und brachte es gerade fertig, die Stirn des Mädchens zu erreichen.
  Fuselli  fühlte, wie Begierde ihn durchschoss.
  «Halt  mich am Gürtel fest! Ich werde sie ordentlich küssen!»
  Er beugte  sich weit hinaus, warf seine Arme um die Schultern des Mädchens, auf denen  sich die Haut wie ein Regenschirm spannte, hob sie auf und küsste sie wild auf  die Lippen.
  «Nich'  doch!» schrie das Mädchen.
  Soldaten,  die aus den anderen Fenstern herausschauten, schrieen und lachten. Fuselli küsste  sie noch einmal und ließ sie dann fallen.
  «Du bist  zu grob, du Hurenkerl, du!»
  Ein Mann  an einem der anderen Fenster grölte: «Ich sag's meiner Mama!» Alle lachten.
  Der Zug  setzte sich wieder in Bewegung.
  Fuselli  sah sich stolz um. Das Bild Mabes, die ihm die Fünf-
  Pfund-Schachtel  Pralinen gab, stieg einen Augenblick in sein Bewusstsein.
  — «Macht  nichts, so'n kleiner Spaß!» — dachte er laut.
  «Warte  doch, bis wir in Frankreich sind! Da werden wir uns so 'ne kleine Madmerselle  anschaffen!» sagte Bill Grey und schlug Fuselli auf das Knie.
«Oh du  schöne Kätie, 
  Ki — Ki —  Kätie!»
Als das  Hämmern der Räder auf den Schienen schneller zu werden begann, sangen alle mit.  Fuselli sah zufrieden über die Kompanie, die sich auf ihrem Gepäck ausgebreitet  hatte im rauchigen Wagen.
  «'s ist  was Großes, Soldat zu sein», sagte er zu Bill Grey. «Man kann alles tun, was  einem beliebt.»
«Das»,  sagte der Korporal, als die Kompanie ebensolche Baracken wie diejenigen, die  sie zwei Tage vorher verlassen hatte, bezog, «ist ein Lager, von dem aus man  sich einschifft. Ich würde verteufelt gern wissen, wo wir verladen werden.» Er  verzerrte sein Gesicht zu einem Lächeln und rief dann in bekümmertem Ton:  «Essen holen!»
  Es war  abgrunddunkel in diesem Teil des Lagers. Das elektrische Licht warf einen  dünnen rötlichen Schein. Fuselli strengte seine Augen an, da er an jedem Ende  der Straße eine Werft und die Masten eines Schifies zu sehen erwartete. Die  Kompanie marschierte in den Speiseraum, wo irgend etwas Dünnflüssiges in die Essnäpfe  hineingeplanscht wurde. Hinter dem Eingang der Küche saßen der joviale  Obersergeant, der aussah wie ein Pastor, und der Korporal mit dem Falkengesicht  und aßen Beefsteak. Ein schwacher Geruch gebratenen Fleisches zog durch den Essraum  und ließ das dünnflüssige, kalte Zeug im Vergleich dazu noch geschmackloser  erscheinen.
  Fuselli  sah voller Neid zur Küche hinüber und dachte an den Tag, an dem er dort drüben  sitzen werde. «Ich muss fleißig sein», sagte er ernst zu sich selbst. «Über  See, im Feuer, dort werde ich zeigen, was ich wert bin.» Und er sah sich schon  selbst einen verwundeten Hauptmann in ein Sanitätszelt zurücktragen, von  wilden, bärtigen Männern mit Pickelhauben verfolgt.
  Das  Klimpern einer Gitarre zog seltsam durch die dunkle Straße des Lagers.
  «Da kann  einer gut spielen», sagte Bill Grey, der mit den Händen in den Taschen neben  Fuselli einherschlenderte.
  Sie sahen  zur Tür einer der Baracken hinein. Eine Menge Soldaten saßen im Kreis um zwei  große Neger, deren schwarze Gesichter und Oberkörper in dem schwachen Licht wie  Pech glänzten.
  «Sing uns  noch eins, Charlie!» sagte irgend jemand. Einer der Neger begann zu singen,  während der andere verträumt die Gitarre zupfte.
  «Nein,  sing uns die <Titanic>!»
  Die  Gitarre fiel in einen wimmernden Ragtime. Die Stimme des Negers setzte plötzlich  ein:
«Dies ist  das Lied von der Titanic, 
  Fahrend  über See —»
Die Gitarre tönte weiter. Es war ein Klang in der Stimme des Negers, der das Gespräch plötzlich aufhören ließ. Die Soldaten sahen ihn neugierig an.
«Wie auf  den kalten Eisberg die Titanic stieß.
  Wie auf  den kalten Eisberg die Titanic stieß,
  Fahrend  über See —»
Seine Stimme klang vertraulich und weich, und die Gitarre summte mit, denselben schluchzenden Ragtime. Zeile für Zeile wuchs die Stimme zu immer größerer Stärke, und die Klänge der Gitarre wurden schneller und schneller.
«Die  Titanic sinkt, blau und tief, Sinkt, blau und tief ist die See, Sinkt in die  See.
  O die  Frauen und die Kinder, treibend auf der See,
  O die  Frauen und die Kinder, treibend auf der See,
  Um den  kalten Eisberg
  Singend  <Näher, mein Gott, zu Dir>,
  Singend  <Näher, mein Gott, zu Dir>,
  Näher zu  Dir.»
Die  Gitarre spielte die Töne des Liedes weiter. Der Neger sang, jede Saite in  seiner Kehle straff gespannt. Fast schluchzend.
  Ein Mann  neben Fuselli spuckte sorgfältig zielend in die Kiste mit Sägestaub in der  Mitte des Kreises regungsloser Soldaten. Die Gitarre spielte den Ragtime noch  einmal, schnell, fast spottend. Der Neger sang in tiefen, vertraulichen Tönen.
«O die Frauen und die Kinder, sie sanken in die See, 
  O die  Frauen und die Kinder, sie sanken in die See, 
  Um den  kalten Eisberg —»
Noch ehe  er geendet hatte, tönte ein Horn in der Feme. Alle zerstreuten sich. Fuselli  und Bill Grey gingen schweigend zu ihren Baracken zurück.
  «Es muss  furchtbar sein, in der See zu ertrinken», sagte Bill Grey, als er sich in seine  Tücher einhüllte. «Wenn eines dieser gräulichen U-Boote... »
  «Mir sind  die ganz egal», sagte Fuselli prahlend. Als er im Bett lag und in die  Dunkelheit starrte, ließ kalter Schrecken seine Glieder plötzlich erstarren. Er  dachte einen Augenblick daran, zu desertieren, zu behaupten, er sei krank,  irgend etwas, was ihn davor bewahrt hätte, den Transport mitzumachen.
O die  Frauen und die Kinder, sie sanken in die See,
  Um den kalten Eisberg —
Er fühlte schon seinen Körper in eisigem Wasser versinken. «Es ist entsetzlich, einen dort hinüberzuschicken, um zu ertrinken», sagte er zu sich selbst, und er dachte an die bergigen Straßen von San Francisco und an das glühende Abendrot über dem Hafen und an die Schiffe, die durch das «Goldene Tor» hereinkamen. Sein Bewusstsein wurde langsam leer, und er begann zu schlafen.
Die  Kolonne sah aus, wie irgendein seltsamer, khakifarbener Teppich, der den Weg,  so weit man sehen konnte, bedeckte. In Fusellis Kompanie standen die Leute da,  schoben sich von einer Seite auf die andere, um sich ihre Last zu erleichtern  und murmelten, es sei eine Hölle, hier warten zu müssen. Bill Grey neben  Fuselli stand gebeugt, um sich das Gewicht seines Gepäcks zu erleichtern. Sie  befanden sich an einer Wegkreuzung auf etwas erhöhtem Terrain, so dass sie die  langen Barackenreihen des Lagers in allen Richtungen sich ausdehnen sehen  konnten, in langen, langen Reihen, die nur dann und wann durch ein
  graues  Exerzierfeld unterbrochen waren. Vor ihnen dehnte sich die Kolonne nach einer  letzten Biegung des Weges hin, wo sie auf einem Hügel unter senfbraunen  Vorstadthäusern verschwand.
  Fuselli  war aufgeregt. Er dachte noch immer an die vergangene Nacht, als er dem  Sergeanten geholfen hatte, die «eiserne Portion» zu verteilen und Haufen harten  Brotes herumgetragen und sorgfältig, ohne einen Fehler, die Rationen abgezählt  hatte. Er war so voll des Wunsches, etwas zu tun, zu zeigen, was er wert sei.  «Donnerwetter», sagte er zu sich selbst, «dieser Krieg ist eine gute Sache für  mich. Im Laden von R. C. Vickers & Cie hätte ich fünf Jahre bleiben können,  ohne vorwärts zu kommen, und hier im Heer habe ich eine Gelegenheit, fast alles  zu tun.»
  Ganz  unten am Wegende begann die Kolonne sich in Bewegung zu setzen. Stimmen, die  Befehle schrieen, schlugen hart durch die morgendliche Luft. Fusellis Herz  hüpfte. Er war stolz auf sich selbst und auf die Kompanie — die beste der  ganzen Expedition. Die Kompanie vor ihnen bewegte sich schon. Jetzt war die  Reihe an ihnen.
  «Vorrwärrts ...  Marsch!»
  Sie  verloren sich in dem monotonen Stampfen der Füße, Staub stieg von der Straße  auf, auf der wie ein graubrauner Wurm die Kolonne vorwärts kroch.
Ein  widerwärtiger Geruch machte ihnen das Atmen fast unmöglich.
  «Schicken  sie uns hier hinunter?» «Wäre froh, wenn ich das wüsste.»
  Sie  stiegen in langen Linien die Leitern hinunter in den entsetzlichen Abgrund: es  war das Innere des Schiffes, in das sie verladen werden sollten. Jeder hatte  eine blaue Karte mit einer Nummer darauf in der Hand. An einer schummerigen  Ecke, wo es aussah wie in einem leeren Warenhaus, stoppten sie. Der Sergeant  rief:
  «Das  werden nun unsere Gräben sein. Müssen mal sehen, was wir daraus machen können.»  Dann verschwand er.
  Fuselli  sah sich um. Er saß auf der niedrigsten von drei Lagen von Bettkästen, die  ganz roh aus neuem Fichtenholz gebaut waren. Elektrische Birnen, die hier und  da angebracht waren, gaben einen schwachen, roten Schein, nur an den Leitern  waren große, hohe Kraftbirnen, die ein helleres Licht ausstrahlten. Der ganze  Platz war voll strampelnder Füße; Dröhnen erfüllte den Raum von dem Gepäck,  das von den endlosen Reihen von Soldaten, die an jeder Leiter hinunterströmten,  auf die Bettkästen geworfen wurde; irgendwo am Ende des Ganges schrie ein  Offizier mit schriller Stimme: «Macht schnell, macht schnell!»
  Fuselli  saß auf seinem Bettkasten, sah sich die erschreckende Konfusion an, war darüber  erstaunt und fühlte sich gedemütigt. Wie viele Tage würden sie in diesem  dunklen Loche verbringen müssen? Plötzlich fühlte er Wut. Sie hatten kein  Recht, einen so zu behandeln. Er war doch ein Mensch, nicht ein Haufen Heu, das  man herumrollen konnte, wie es einem beliebt.
  «Und wenn  wir torpediert werden! Hier unten ersaufen wir wenigstens gründlich», sagte er  laut.
  «Oben  haben sie Wachen aufgestellt, um uns zu hindern, an Deck zu gehen», erwiderte  irgend jemand.
  «Verflucht  noch mal. Sie behandeln einen ja wie Schlachtvieh, das transportiert wird.»
  «Du bist  ja auch nicht mehr, als Fleisch für ihre Kanonen.»
  Ein  kleiner Mann, der in einem der oberen Bettkästen lag, sprach plötzlich und zog  sein schmutziges Gesicht in einem seltsamen, verbissenen Ausdruck zusammen, als  ob die Worte aus ihm herausgebrochen seien, trotz seiner Anstrengung, sie  zurückzuhalten. Alle sahen ihn ärgerlich an.
  «Diese  Drecksau Eisenstein», murmelte jemand.
  «Na,  bindet doch die Sau draußen vor der Türe fest!» rief Bill Grey gutmütig.
  «Dummköpfe!»  knurrte Eisenstein, wandte sich herum und vergrub sein Gesicht in den Händen.
  «Was, zum  Donnerwetter, riecht denn so komisch hier unten?» rief Fuselli.
  Fuselli  hatte sich lang auf Deck ausgestreckt und den Kopf auf seine gekreuzten Arme  gelegt. Wenn er gerade hinauf sah, konnte er den bleifarbigen Mast hin und her  fegen sehen, am Himmel voll lichtgrauer und silbriger und grauroter Wolken, die  nach den Rändern zu gelb ausliefen. Während er seinen Kopf etwas nach der einen  Seite drehte, konnte er Bill Greys schweres, farbloses Gesicht und die dunklen  Stoppeln seines unrasierten Kinns und seinen etwas schiefen Mund, aus dem eine  Zigarette heraushing, sehen. Überall waren Köpfe und Körper zusammengedrängt;  eine Gasse von Khakiüberziehern und Rettungsringen. Und wenn die rollende See  das Deck herumwarf, konnte man große grüne, sich bewegende Wellen sehen und  einen grau und weiß gestreiften Dampfer und den Horizont, eine schwarze, steife  Linie, die hier und da von den Spitzen der Wellen unterbrochen war.
  «O Gott,  mir ist schlecht», sagte Bill Grey, nahm die Zigarette aus dem Munde und sah  sie rachedurstig an.
  «Mir  würde schon gut sein, wenn hier alles nicht so stinken würde. Dieser Essraum —  man kann ja schon das Kotzen kriegen, wenn man daran denkt!»
  Fuselli  sprach jammernd und beobachtete, wie die Spitze des Mastes sich bewegte, wie  ein Bleistift auf Papier schreibend, hin und her über die fleckigen Wolken.
  «Wieder  Bauchschmerzen?» Ein braunes Mondgesicht mit dicken, schwarzen Augenbrauen und  gelocktem Haar über einer Stirn mit vielen horizontalen Falten erhob sich an  der anderen Seite von Fuselli.
  «Halt die  Schnauze!»
  «Fühlst  dich krank, Junge?» kam die tiefe Stimme wieder, und die dunklen Augenbrauen  zogen sich zu einem Ausdruck von Sympathie zusammen.
  «Komisch,  zu Hause hätte ich schon längst meinen Hinterlader rausgehabt, wenn einer mir gesagt  hätte, ich soll die Schnauze halten, Junge.»
  «Die  Leute aus unserer Kompanie», sagte Fuselli, «sehen aus, als ob sie Angst  hätten, geschlagen zu werden. Hast du das schon bemerkt, Meadville?»
  «Was  erwartest du denn sonst von Leuten, die ihr ganzes Leben in der Stadt  verbracht haben und die ein Fass nicht von einer Kanone unterscheiden können  und die statt auf Pferden nur auf Besenstielen zu reiten gelernt haben. Ihr  seid dazu gemacht, 'ne Schafherde zu werden. Kein Wunder, dass sie euch  rumtreiben müssen.» Meadville stand auf, ging mit unsicheren Schritten an die  Reling, behielt aber trotzdem, wie er sich durch die auf Deck gelagerten  Gruppen hindurchfädelte, noch etwas von dem Gang des Cowboys.
  «Ich  weiß, was unsere Augen weiß vor Schrecken werden lasst, wenn wir in diesen  fauligen Fressraum hinuntergehen», sagte eine nasale Stimme.
  Fuselli  wandte sich um. Eisenstein saß an dem Platz, den Meadville gerade verlassen  hatte. «So, du weißt das?»
  «Es ist  das System. Man muss die Menschen zu Tieren machen, bevor man sie dazu kriegen  kann, so zu handeln. Kennst du Tolstoi?»
  «Nee. Ich  rate dir aber, vorsichtig zu sein und auf das acht | zu geben, was du  sprichst.» Fuselli schraubte seine Stimme zu leiser Vertraulichkeit hinunter.
  «Mir  wurde von einem erzählt, den sie in Camp Merritt erschossen haben, weil er so  sprach.»
  «Das ist  mir ganz schnuppe...» sagte  Eisenstein.
  «Ist dir  auch schlecht?... Bist du es los geworden, Meadville?»
  «Warum,  zum Teufel, kämpfen sie ihren Krieg nicht da aus, wo man zu Pferde hinkommen  kann!... Das ist mein Platz!»
  «Der  Platz war frei; ich setzte mich hin», sagte Eisenstein und senkte missmutig den  Kopf.
  «Ich gebe  dir drei Minuten», sagte Meadville, «wenn du bis dahin meinen Platz nicht  verlassen hast...» Er reckte seine  breiten Schultern.
  «Du bist  stärker», sagte Eisenstein und schob ab.
  «So ohne  Gewehr, das ist geradezu zum Kotzen», murmelte Meadville, als er sich wieder  auf Deck setzte. «Weißt du, Kerl, ich habe fast geheult, als man mich in diese  verfluchte Sanitätstruppe steckte. Ich wurde für die Tanks ausgehoben. Es ist  das erste Mal in meinem Leben, dass ich kein Gewehr in der Pfote habe. Ich  glaube fast, ich hatte eins in meiner Wiege.»
  «Das ist  aber komisch», sagte Fuselli.
  Der  Sergeant erschien plötzlich in der Mitte der Gruppe mit rotem Gesicht:
  «Kerls»,  sagte er leise, «macht dass ihr runter kommt, so schnell wie möglich und bringt  eure Betten in Ordnung. Inspektion!»
  Sie  marschierten die Planken hinunter in das faulig riechende Loch, wo kein Licht  war außer dem unregelmäßigen rötlichen Schein elektrischer Lämpchen. Sie hatten  fast ihre Bettstellen erreicht, als irgend jemand «Achtung!» rief.
  Drei  Offiziere stolzierten vorbei mit festem, wichtigtuerischem Schritt, der von  dem Rollen des Schiffes des Öfteren gestört wurde. Sie steckten ihre Köpfe vor  und inspizierten die Bettkästen mit dem grausam forschenden Blick von Hennen,  die nach Würmern ausschauen.
«Fuselli»,  sagte der Obersergeant, «bring mir das Instruktionsbuch in mein Kabinett. 213 auf dem  unteren Deck.» «Zu Befehl», sagte Fuselli schnell.
  Er  bewunderte den Obersergeanten sehr und wünschte sich, seine joviale,  befehlshaberische Art nachmachen zu können.
  Es war  das erste Mal, dass er sich im oberen Teil des Schiffes befand. Es schien eine  andere Welt. Die langen Korridore mit roten Teppichen, der weiße Lack, das  schöne Gesims an den Querwänden, die Offiziere, die nach Beheben hin und her  gingen — all das ließ ihn an die großen Dampfer denken, die er zu beobachten  pflegte, wenn sie durch das «Goldene Tor» hereinkamen, jene Dampfer, auf denen  er nach Europa fahren wollte, wenn er reich sein würde.
  Oh, wenn  er nur Sergeant erster Klasse wäre! Dann würde all dieser Komfort, all diese  Schönheit ihm gehören.
  Er fand  die Nummer und klopfte an die Tür. Lachen und lautes Sprechen kam aus der  Kabine.
  «Wart'n  Augenblick!» rief eine unfreundliche Stimme.
  «Sergeant  Olster hier?»
  «Das ist  einer meiner Leute», hörte er die Stimme des Sergeanten. «Wollen ihn  reinlassen. Der wird uns nicht verpetzen.»
  Die Tür  öffnete sich, und er sah den Sergeanten Olster und zwei andere junge Männer,  die ihre Beine über die rotlackierten Bettstellen heraushängen ließen. Sie  unterhielten sich angeregt und hielten Gläser in den Händen.
  «Paris,  das ist 'ne Stadt. Ich sage dir», sprach einer. «Die Mädels sollen sich einem  da einfach auf der Hauptstraße an den Hals werfen!»
  «Hier  sind die Instruktionen, Sergeant», sagte Fuselli steif in bester militärischer  Haltung.
  «Danke.  Ich brauche nichts weiter», sagte der Sergeant.
  Seine  Stimme war jovialer denn je. «Fall nicht über Bord, wie der Mann aus der  Kompanie C.»
  Fuselli  lachte, als er die Tür schloss, wurde aber plötzlich ernst, als er daran  dachte, dass einer der jungen Männer auf seinem Hemd das Abzeichen der  Unterleutnants trug. «Donnerwetter», sagte er zu sich selbst, «ich hätte  grüßen sollen.»
  Er  wartete einen Augenblick draußen vor der verschlossenen Tür, horchte auf das  Spiel und das Gelächter und wünschte, er gehörte zu dieser fröhlichen Gruppe,  die über Weiber in Paris spricht. Er begann zu denken: «Sobald wir drüben sind,  werde ich sicher Gefreiter, dann, in einigen Monaten, kann ich Korporal sein.  Gibt es viel Dienst, werde ich noch schneller vorwärts kommen.»
  «Ich darf  keine Dummheiten machen, ich darf keine Dummheiten machen», sagte er zu sich  selbst, als er die Leiter hinunterstieg. Und er vergaß wieder alles über der  Seekrankheit, die in ihm aufkroch, als er die fette Luft wieder atmete.
  Das Deck  glitt jetzt plötzlich vor ihm ab, dann stieg es wieder auf, als ob er einen  Berg hinaufstiege. Schmutziges Wasser schlammte von der einen Seite zur anderen  bei jeder Bewegung des Schiffes. Als er die Tür erreichte, ließ das pfeifende  Geheul des Windes durch die Masten Fuselli einen Augenblick mit der Hand am  Türgriff zögern. Als er den Griff hinunterdrückte, flog die Tür auf, und er  stand in der vollen Wucht des Windes. Das Deck war leer. Die nassen Taue  zitterten unwillig im Winde.
  Jeden  Augenblick spritzte der Schaum, der in weißen, fransigen Säulen mit dem Winde  aufstieg, ihm wie Hagel ins Gesicht. Ohne die Tür zu schließen, kroch er auf  dem Deck vorwärts und klammerte sich so fest er konnte an dem eisigen Tau fest.  Durch den Schaum hindurch konnte er ungeheure marmorgrüne Wellen sehen, die in  unaufhörlicher Folge im Nebel anschwollen. Das Brüllen des Windes in seinen  Ohren verwirrte und erschreckte ihn. Es kam ihm vor, als vergingen Jahre,  bevor er die Kabuse erreichte, die auf einen Durchgang führte, der nach Medizin  roch und wo Männer, die von den Schwingungen des Schiffes gegeneinander  geschleudert wurden, warteten, um in eine Apotheke zu kommen. Das Heulen des  Windes kam hier nur schwach herein, und nur dann und wann der dumpfe Schlag  einer Welle gegen das Schiff.
  «Bist du  krank?» fragte ein Mann Fuselli.
  «Nee, ich  bin nicht krank. Der Sergeant hat mich geschickt, um was Zeugs für ein paar  Leute zu holen, die zu krank sind, um sich zu bewegen.»
  «Furchtbar  viel Krankheit auf dem Schiff. Zwei sind heute morgen gestorben, da drüben in  dem Zimmer», sagte ein anderer feierlich und zeigte mit dem Daumen über die  Schulter.
  «Sind  noch nicht begraben. Das Wetter ist zu rau.»
  «Woran  starben sie?» fragte Fuselli eifrig.
  «Irgend  was am Rückenmark.»
  «Genickstarre»,  fiel ein Mann am anderen Ende der Reihe ein. «Wo fängt es an?» fragte Fuselli.
  «Der  Nacken wird dick, dann wird man ganz steif», kam die Stimme des Mannes vom  anderen Ende der Reihe. Es trat Schweigen ein.
  Aus der  Richtung der Krankenstube kam ein Mann mit einem Paket Medikamente in der Hand  und schob sich zur Tür durch.
  «Sind  viele da drinnen?» fragte Fuselli leise, als der Mann sich an ihm vorbei  drängte.
  Die Worte  des Mannes verschlang der schrille Stoß des Windes, als er die Tür öffnete.
  Als die  Tür wieder geschlossen war, brach es aus dem Mann neben Fuselli, dem Großen,  Breitschulterigen mit den schweren schwarzen Augenbrauen, als ob er irgendetwas  sagte, was er lange zurückgehalten hatte:
  «Diese  Krankheit darf mich nicht packen. Sie darf nicht... Ich habe ein Mädel, das auf mich zu Hause wartet. Zwei Jahre  habe ich ihretwegen keine Frau angerührt. Unnatürlich, so lange...»
  «Warum  hast du sie denn nicht vorher geheiratet?» fragte der Vormann höhnend.
  «Sie  sagte, sie will keine Kriegerbraut sein, weil sie so besser auf mich warten  könne.»
  Einige  lachten.
  «Ich darf  nicht krank werden und sterben. So lange habe ich mich wegen diesem Mädel  sauber gehalten. Ich darf nicht», sagte der Mann zu Fuselli.
  Fuselli  sah sich schon im Bett mit geschwollenem Nacken liegen, während Arme und Beine  steif wurden, immer steifer.
  Ein  rotgesichtiger Mann im Gang begann zu sprechen:
  «Wenn ich  daran denke, wie die Leute zu Hause mich brauchen, spüre ich keine Angst. Weiß  nicht, warum.» Er lachte jovial.
  Keiner  stimmte in das Lachen ein.
  «Ist es  sehr ansteckend?» fragte Fuselli den Mann neben ihm.
  «Sehr ansteckend»,  antwortete der feierlich.
  «Das  Fürchterlichste daran ist», sagte ein anderer mit schriller, hysterischer  Stimme, «den Haien hinunter zum Fraß vorgeworfen zu werden. Sie haben kein  Recht, so was zu tun, auch in Kriegszeiten nicht. Sie dürfen einen  Christenmenschen nicht wie einen toten Hund behandeln.»
  «Sie  können alles tun, was ihnen behebt, mein Lieber. Wer soll sie wohl daran  hindern», schrie der Rotgesichtige.
  «Wenn's  ein Offizier wäre, würden sie ihn nicht so hinüberschmeißen», kam die schrille,  hysterische Stimme wieder.
  «Halt die  Schnauze!» sagte jemand. «Mach keine Dummheiten!»
  «Sag mal,  ist das nicht gefährlich, hier oben so lange zu warten, wo die Kerls krank  liegen», flüsterte Fuselli zu dem Mann neben ihm.
  «Glaub'  schon, mein Junge», kam die Stimme des anderen.
  Fuselli  schob sich türwärts durch. «Lasst mich raus, Kerls, ich muss kotzen», sagte er.  «Ich werde ihnen sagen», dachte er, «dass es hier verschlossen war. Die werden  nie herkommen, um zu kontrollieren.»
  Wie er  die Tür öffnete, dachte er: ich werde jetzt zurück zu meinem Bettkasten  kriechen. Er fühlte seinen Nacken schon anschwellen und seine Hände vor Fieber  brennen, Arme und Beine steif werden, bis alles ausgelöscht sein würde im  Schwarz des Todes.
  Doch das  Schreien des Windes und der spritzende Schaum auf dem Deck ertränkten jeden  anderen Gedanken.
Fuselli  und ein anderer Mann trugen den Abfalleimer die Treppe hinauf. Er roch nach  ranzigem Fett und Kaffeesatz und unreinen Saucen, die ihnen über die Finger  liefen, wie sie sich hinaufkämpften. Endlich wurden sie auf Deck hinaufgeschleudert,  wo ein freier Wind aus schwarzer Nacht blies. Sie schwankten an die Reling und  leerten den Eimer in die Dunkelheit. Das Geräusch des fallenden Inhalts verlor  sich im Klatschen der Wellen und im Rauschen des Wassers, das an den Seiten des  Schiffes entlang floss. Fuselli lehnte sich hinüber und sah in die schwache  Phosphoreszenz hinein, die das einzige Licht in dem ganzen schwarzen Golf war.  Nie noch hatte er eine solche Dunkelheit gesehen. Er klammerte sich mit beiden  Händen an die Reling an, fühlte sich ganz verloren und erschreckt in der  Dunkelheit, in dem Heulen des Windes in seinen Ohren und dem Geräusch des  Wassers, das am Schiff entlang schäumte.
  Von unten  kam der üble Geruch des unteren Decks.
  «Ich  werde das Dings schon runterbringen, brauchst dich nicht drum zu kümmern»,  sagte er zu dem anderen Mann, gab dem Eimer einen Tritt, so dass ein klingender  Laut entstand.
  Er  strengte seine Augen an, um etwas sehen zu können. Die Dunkelheit schien sich  in seine Augäpfel hineinzufressen und ihn blind zu machen. Plötzlich hörte er  Stimmen neben sich. Zwei Männer sprachen miteinander.
  «Ich  kannte die See früher nicht, ich wusste nicht, dass sie so ist...»
  «Wir sind  jetzt in der gefährlichen Zone...» «Wir  können also jede Minute hinunterrutschen.» «Jaaa.»
  «Mensch,  wie schwarz ist das... 's wäre  schrecklich, in solcher Dunkelheit ertrinken zu müssen.» «'s würde bald vorbei  sein.»
  «Sag,  Fred, hast da je so 'ne Angst gehabt, dass...?»  «Hast du Angst?»
  «Fühl  meine Hand, Fred... Nein... Hier ist sie... Gott, es ist so schwarz, dass man seine eigene Hand nicht  sehen kann.»
  «Es ist  kalt. Warum zitterst du so? Gott, ich möchte was zu trinken haben.»
  «Kannte  die See noch nicht, wusste nicht, wie sie ist.»
  Fuselli  hörte deutlich, wie die Zähne des Mannes gegeneinander klapperten in der  Dunkelheit.
  «Nimm  dich zusammen, Mensch. Man darf nicht solche Angst haben.»
  Lange  Pause. Fuselli hörte nichts, als das schäumende Wasser, das am Schiff entlang  strich, und den brüllenden Wind...
  «Kannte  die See noch nicht, Fred, und die Krankheit und all das andere kann einen schon  mürbe machen... Gestern haben sie  drei über Bord geworfen.»
  «Denk  doch nicht daran, Mensch!»
  «Sag,  Fred, wenn ich... wenn ich... Wenn du gerettet wirst und ich nicht,  wirst du es meinen Leuten mitteilen?»
  «Natürlich.  Aber ich glaube, wir werden dann beide zusammen ersaufen.»
  «Sag das  nicht. Und vergiss nicht, dem Mädel zu schreiben, deren Adresse ich dir gab...» «Du wirst dasselbe für mich tun!»
  «O nein,  Fred, ich werde nie wieder an Land kommen...  Hat keinen Sinn. Ich fühl' mich doch so kräftig... Und ich will nicht sterben, ich kann nicht so sterben!»
«Wenn es  nur nicht so dunkel, so schwarz wäre!»
1
Vor dem  Fenster lag purpurne Dämmerung. Regen fiel unaufhörlich in langen, hellen  Streifen auf die geplatzten Scheiben und machte ein hartes, monotones Ta-to auf  dem Zinkdach oben. Fuselli hatte seinen Regenmantel ausgezogen. Er stand am  Fenster und schaute missmutig auf den Regen. Hinter ihm war ein rauchender  Ofen, in den ein Mann Holz hineinsteckte und einige zerbrochene Klappstühle,  auf denen Soldaten sich lässig ausgestreckt hatten, und der Tisch, wo der  Marketender lächelnd stand und Schokolade an die Leute verteilte, die in Reihen  an ihm vorbeidefilierten.
  «Hier muss  man sich wohl für alles anstellen», murmelte Fuselli.
  «Das ist  ungefähr alles, was man in diesem Höllenloch tut, Mann», sagte einer neben ihm.
  Der Mann  zeigte mit seinem Daumen zum Fenster und begann wieder:
  «Sieh dir  mal den Regen an. Drei Wochen bin ich in diesem Lager, und nicht einen  Augenblick hat es aufgehört. Was hältst du von solch einem Land?»
  «Zu Hause  ist's sicher nicht so», sagte Fuselli. «Ich werde mir was Schokolade holen.»
  «Ist 'ne  faule Sache hier.»
  Fuselli  schob sich hinüber an das Ende der Kette und wartete, bis er an die Reihe kam.  Er dachte an die steilen Straßen San
  Franciscos,  an den Blick über den Hafen, der voll gelber Lichter stand, an die Farbe der  Dämmerung, wenn er von der Arbeit nach Hause zurück durch den lauen Abend  ging. Plötzlich dachte er auch an Mabe, wie sie ihm die Fünf-Pfund-Schachtel  mit Pralinen gab. Da wurde seine Aufmerksamkeit durch das Gespräch der Männer  hinter ihm angezogen. Einer von ihnen sprach mit hastiger, nervöser Betonung.  Fuselli konnte seinen Atem auf der Haut seines Nackens fühlen.
  «Mensch,  ich bin ein Ochse», sagte er. «Warst du auch da? Wo hast du deine bekommen?»
  «Im Bein.  Ist aber fast wieder in Ordnung.»
  «Ich  werde nie wieder in Ordnung kommen. Der Arzt sagt, ich sei wieder gesund. Aber  ich bin's nicht. Dieser verdammte alte Narr!»
  «Das war  'ne Zeit!»
  «Ich wäre  ein Ochse, wenn ich das noch mal mitmachte. Ich kann nachts nicht schlafen,  weil ich an die Helme der Hunnen denke. Hast du schon je einmal daran gedacht,  was diese gottverfluchten Helme bedeuten können...?»
  «Sind das  gewöhnliche Helme?» fragte Fuselli und wandte sich halb um. «Ich habe sie im  Kino gesehen...» Er lachte entschuldigend.
  «Hör'  doch mal diesen Grünling an. Der hat sie im Kino gesehen», sagte der Mann mit  nervösem Drehen in seiner Stimme und lachte ein kleines, krächzendes Lachen.
  «Wie  lange bist du in diesem Land, Mann?»
  «Zwei  Tage.»
  «Wir sind  zwei Monate hier, nicht?» Der Marketender wandte sich mit einem Lächeln, das  ihm auf dem Gesicht gefroren schien, an Fuselli, während er eine Zinntasse mit  Schokolade füllte.
  «Wie viel  macht das?»
  «Einen  Franc», sagte der Marketender, und sein wohlgenährtes Gesicht glänzte vor  liebenswürdiger Herablassung.
  «Das ist  verdammt viel für eine Tasse Schokolade», sagte Fuselli.
  «Nun, 's  ist Krieg, junger Mann, denken Sie dran», sagte der Marketender streng. «Sie  können von Glück reden, dass Sie überhaupt was kriegen.»
  Ein  eisiges Frösteln packte Fuselli im Rücken, wie er zum Ofen hinüberging, um  seine Schokolade zu trinken.
  «Man darf  sich nicht ärgern», dachte er, «'s ist Krieg.» Wenn irgendeiner der Sergeanten  seine Unzufriedenheit sehen würde, würde ihm das vielleicht die Beförderung  verderben. «Vorsichtig, vorsichtig! Aufpassen und auf Zehenspitzen weiter, so  kommt man vorwärts.»
  «Warum  gibt es nicht mehr Schokolade?» Die nervöse Stimme des Mannes, der in der  Reihe hinter Fuselli gestanden hatte, schwoll plötzlich zu einem Kreischen.  Alle sahen sich um. Der Marketender bewegte den Kopf von einer Seite auf die  andere, verwirrt, und sagte mit schriller Stimme:
  «Ich  sagte schon, dass nichts mehr da ist. Machen Sie, dass Sie wegkommen!»
  «Du hast  kein Recht, mir zu sagen, dass ich mich fortmachen soll. Du sollst mir  Schokolade geben! Du hast gar keine Erlaubnis hier an der Front zu sein, du  gottverdammter Mistbock!» Der Mann jelpte aus voller Lungenkraft. Er griff nach  dem Tisch mit beiden Händen und schob ihn von einer Seite auf die andere. Sein  Freund versuchte ihn wegzuziehen.
  «Lass  das, ich werde dich melden!» sagte der Marketender. «Ist ein Offizier hier in  der Baracke?»
  «Los,  melde mich doch. Schlimmeres als bisher kann mir überhaupt nicht passieren.»
  Die  Stimme des Mannes war zu einem wütenden Sing-Sang angeschwollen.
  «Ist ein  Offizier im Raume?» Der Marketender sah beständig von einer Seite auf die  andere. Seine kleinen Augen waren hart und trotzig, und seine Lippen zu einer  dünnen, geraden Linie zusammengezogen.
  «Seien  Sie doch ruhig. Ich werde ihn schon fortschaffen», sagte der andere Mann leise.  «Können Sie denn nicht sehen...?»
  Ein  seltsamer Schreck fasste Fuselli. Er hatte nicht erwartet, dass die Dinge so  wären, damals, als er im Kino des Übungslagers die Soldaten in Khakiuniformen  beobachtete, wie sie in Dörfer und Städte einmarschierten, die von Entsetzen  gejagten Hunnen über Kartoffeläcker verfolgten und belgische Milchmädchen  retteten.
  «Kommen  viele so zurück?» fragte er den Mann neben sich.
  «Manche.  Hier ist das Gesundungslager.»
  Der Mann  und sein Freund standen beiseite, in der Nähe des Ofens und sprachen leise  miteinander.
  «Nimm  dich zusammen, Kerl», sagte der Freund.
  «Ist ja  schon wieder in Ordnung, Tub. Dieser Bock brachte mich in Wut, das war alles.»
  Fuselli  sah ihn neugierig an. Er hatte ein gelbes Pergamentgesicht und eine hohe,  dünne Stirn, die in spärlichem grauem, gekräuseltem Haar mündete. Seine Augen  hatten einen glasigen Schein. Sie trafen Fuselli. Er lächelte liebenswürdig.
  «Oh, das  ist ja der Mann, der die Hunnenhelme im Kino gesehen hat. Komm, Junge, wir  wollen in der englischen Kantine zusammen ein Bier trinken.»
  «Kann man  da Bier bekommen?»
  «Natürlich,  drüben im englischen Lager.»
  Sie  gingen hinaus in den strömenden Regen...  Es war fast dunkel, der Himmel hatte eine purpurrote Farbe, die ein wenig von  den schrägen Flächen der Zelte und von den Dächern der Unterkunftshäuser, die  in dem regnerischen Nebel in allen Richtungen untergingen, reflektiert wurde.  Einige Lichter schienen in hellem, poliertem Gelb. Sie schlugen einen breiten  Weg ein, auf dem der Schlamm aus den Pfützen nur so aufspritzte...
  An einer  Stelle flatterte ihnen ein Zelt nass gegen den Körper, als sie stramme Haltung  einnahmen und einen vorübergehenden Offizier grüßten, der lebhaft mit einem  kleinen Stöckchen winkte.
  «Wie  lange bleibt man gewöhnlich in diesen Ruhelagern?» fragte Fuselli.
  «Kommt  drauf an, was da draußen vorgeht», sagte Tub und zeigte mit unbestimmter Geste  auf den Himmel über den Spitzen der Zelte.
  «Du wirst  hier schon früh genug wegkommen, hab' keine Sorge, Junge», sagte der Mann mit  der nervösen Stimme. «Welcher Formation gehörst du an?»
  «Sanitäter.»
  «Sanitäter?  So? Mit diesen Burschen dauert es nicht lange hier, nicht wahr, Tub?» «Ja.»
  Irgend  etwas in Fuselli protestierte: «Ich werde durchhalten. Ich werde doch  durchhalten.»
  «Erinnerst  du dich an die Leute, die sich vorwagten, um den armen Korporal Jones zu holen,  Tub?»
  «Ich will  verflucht sein, wenn irgend jemand jemals auch nur einen Hosenknopf von ihnen wieder  findet.» Er lachte sein kleines, krächzendes Lachen. «Sie liefen einer Mine in  den Weg.»
  Die  «feuchte» Kantine war voll Rauch. Sie war mit rotgesichtigen Leuten voll  gestopft, die glänzende Messingknöpfe auf ihren Khakiuniformen hatten, unter  ihnen waren eine Menge schlanker Amerikaner.
  «Tommies»,  sagte Fuselli zu sich selbst. Nachdem er sich eine Weile angestellt hatte,  bekam er seine Tasse mit schäumendem Bier zurück.
  «Alle  Achtung, Fuselli!» Meadville klopfte ihn auf die Schultern. «Du hast diese  Flüssigkeit verdammt schnell ausfindig gemacht.»
  Fuselli  lachte. «Kann ich bei euch sitzen?» «Natürlich. Komm nur her», sagte Meadville  stolz. «Die hier waren an der Front.» «So?» fragte Fuselli.
  «Man  sagt, die Hunnen schlagen eine ganz gute Faust.»
  «Sagt  mal, braucht man seine Knarre viel, oder machen die großen Kanonen die  Hauptarbeit?»
  «Nee--monatelang  habe ich mit dieser verfluchten Knarre rumexerzieren müssen. Nicht ein  einzigesmal habe ich das Dings gebraucht. Ich gehöre zur  Handgranatenabteilung.»
  Irgendeiner  am anderen Ende des Zimmer hatte angefangen zu singen:
«Oh  Madmerselle aus Armentieh, 
  Parleh  wuh...»
Der Mann  mit der nervösen Stimme fuhr zu sprechen fort, während der Gesang um sie zu  einem Brüllen anwuchs.
  «Jede  Nacht muss ich an die Helme dieser Hunnen denken. Ist euch auch schon mal aufgefallen,  wie komisch diese Helme aussehen?»
  «Lass  doch die Helme, Junge», sagte sein Freund. «Du hast uns schon alles darüber  erzählt.»
  «Ich habe  noch gar nicht erzählt, warum ich nicht vergessen kann...»
«Ein  deutscher Off'zier kam über den Rhein;
  Parleh wuh?
  Ein  deutscher Off'zier kam über den Rhein;
  Er liebte  die Weiber und liebte den Wein; 
  Parleh  wuh...»
«Hört  doch diesen Kerls zu», sagte der Mann mit seiner zwitschernden, nervösen  Stimme und starrte gerade in Fusellis Augen. «Wir machten eine Attacke, um  unsere Gräben auszurichten, gerade eh' es mich haschte. Unsere Geschütze  rissen die Gräben der Fritzies ein bisschen auf, und wir liefen grade drauf los  und besetzten sie. Es war so ruhig, wie an einem Sonntagmorgen zu Hause... »
  «Stimmt»,  sagte sein Freund.
  «Und ich  hatte ein Bündel Handgranaten, und einer kam gelaufen und flüsterte, dass eine  ganze Schar von Fritzies in einem Unterstand drüben Karten spielen. Sie wissen  scheinbar nicht, dass sie gefangen sind. Wir wollen sie lieber gefangen nehmen.
  Ach was,  gefangen — sagte ich —. Mit denen werden wir reinen Tisch machen. So krochen  wir vorwärts und sahen in den Unterstand hinunter...»
«Oh  Madmerselle aus Armentieh; 
  Parleh  wuh!»
«Ihre Helme sahen aus wie Pilze; ich musste fast darüber lachen. Und sie saßen rund um die Lampen und legten ihre Karten sehr ernst ins Spiel, so wie es die Deutschen zu Hause in ihrem Ratskeller machen.»
« Und  nahm sie mit die Treppe rauf und in sein Bett;
  Parleh  wuh?»
«So lag ich dort eine höllische Zeit, und dann fasste ich eine Granate und schmiss sie ganz sanft die Treppen runter. Und all diese komischen Helme knallten in die Luft, un' jemand schrie, un' das Licht ging aus, un' die verdammte Granate platzte. Dann ließ ich sie liegen und ging weg, weil einer so furchtbar stöhnte. Bald darauf fielen ihre Geschütze über uns her, und ich kriegte was ab.»
«Die  Yankees haben 'ne verdammt schöne Zeit; 
  Parleh  wuh?»
«Und das  erste, woran ich dachte, als ich wieder aufwachte, waren diese verfluchten  Helme. Man wird ganz verrückt, wenn man daran denkt.» Seine Stimme schlug in  ein Wimmern um, wie die gebrochene Stimme eines geschlagenen Kindes.
  «Du musst  dich zusammennehmen, Mann», sagte sein Freund.
  «Weiß  schon, Tub, ich brauch 'ne Frau.»
  «Weißt  du, wo du eine kriegen kannst?»
  «Ich  möchte gern ein nettes kleines Franzosenmädchen haben bei einer Regennacht wie  dieser.»
  «Muss ein  verdammter Weg zur Stadt sein... Das  ganze Nest soll übrigens von Militärpolizei voll liegen», sagte Fuselli.
  «Ich weiß  'nen Weg», sagte der Mann mit der nervösen Stimme. «Komm, Tub.»
  «Ich hab'  die Nase voll von diesen verfluchten Franzosenweibern.»
  Sie  verließen die Kantine.
  Als die  beiden Männer fortgingen, am Gebäude entlang, hörte Fuselli durch das  metallische Plätschern des Regens die nervöse, zwitschernde Stimme: «Ich kann  es nicht vergessen, wie komisch diese Helme um die Lampe herum aussahen... Ich kann nicht vergessen...»
Bill Grey  und Fuselli legten ihre Bettücher zusammen und schliefen zusammen. Sie lagen  auf dem harten Boden des Zeltes, ganz nahe beieinander und lauschten auf den  endlos plätschernden Regen, der die feuchte Leinwand des Zeltes über ihren  Köpfen hinabrann.
  «Ich  werde hier 'ne Lungenentzündung kriegen, Bill», sagte Fuselli und putzte seine  Nase.
  «Das ist  das einzige, vor dem ich Angst habe bei diesem verdammten Geschäft. Ich will  nicht an einer Krankheit sterben... Und  einer soll an... wie heißt es noch... Menegitis gestorben sein.»
  «Hatte  Stein das?»
  «Der  Korporal will nicht raus mit der Sprache.»
  «Armer  Junge. Siehst selbst krank genug aus», sagte Fuselli.
  «'s ist  dieses ekelhafte Klima», flüsterte Bill Grey mitten in einem Hustenanfall.
  «Mensch,  sperr' doch den Rachen zu und lass das Husten; wir wollen schlafen», kam eine  Stimme von der anderen Seite des Zeltes.
  «Nimm dir  ein Zimmer in einem Hotel, wenn's dir nicht Passt.»
  «Gib's  ihm nur ordentlich, Bill!»
  «Kerls,  wenn ihr nicht bald aufhört mit dem Gequatsche, werde ich euch alle in die  Küche stecken», sagte der Sergeant mit seiner gutmütigen Stimme.
  Im Zelt  wurde es still, nur das schmale Geräusch des plätschernden Regens und Bill  Greys Husten war zu hören.
  «Dieser  Husten macht mir Schmerzen im Nacken», murmelte Bill Grey mürrisch, als sein  Hustenanfall aufgehört hatte und er sich unter den Decken wälzte.
  Nach einer  Weile sagte Fuselli ganz leise, so dass niemand außer seinem Freund es hören  konnte:
  «Sag mal,  Bill, ist es nicht ganz anders, als wir dachten?»
  «Jaaa.  Ich meine, die Leute hier denken ja gar nicht daran, den Hunnen eins aufs Dach  zu geben. Die haben genug damit zu tun, sich über alles aufzuregen.
  Das sind  die oben, die das Denken besorgen», sagte Grey großsprecherisch.
  «Ja, aber  ich dachte, es würde aufregend sein, wie im Kino.»
  «Ich  denke, wir haben genug gesprochen.»
  «Mag  sein.»
  Fuselli  schlief auf dem harten Boden ein, fühlte die angenehme Wärme von Grey neben  sich, hörte das endlose, monotone Plätschern des Regens auf der durchnässten  Leinwand über seinem Kopfe. Er versuchte noch einen Augenblick wach zu bleiben,  um sich an Mabe zu erinnern. Doch Schlaf schloss ihm schnell die Augen.
  Das  Signalhorn jagte sie von ihrem Lager hoch, noch ehe es hell war. Der Regen  hatte aufgehört. Die Luft war rau und voll weißen Nebels, der kalt an ihre noch  vom Schlafen warmen Gesichter drang. Der Korporal rief sie auf und zündete  Streichhölzer an, um die Liste lesen zu können. Als er die Formation entließ,  hörte man die Stimme des Sergeanten aus dem Zelt, wo er noch in seine Laken  eingerollt lag.
  «Korporal,  lassen Sie Fuselli Leutnant Stanfords Zimmer in Ordnung bringen.»
  «Hast du  gehört, Fuselli?»
  «Zu  Befehl», sagte Fuselli. Sein Blut begann plötzlich zu kochen. Es war das erste  Mal, dass er die Arbeit eines Knechtes zu verrichten hatte. Er war nicht in die  Armee eingetreten, um ein Sklave zu sein für irgendeinen verdammten Leutnant.
  Außerdem  war es gegen die Armeeordnung. Dagegen muss man aufmucken. Man darf sich nicht  zum Sklaven machen lassen.
  Er ging  an den Eingang des Zeltes und überlegte sich, was er dem Sergeanten wohl sagen  werde.
  Doch er  bemerkte, dass der Korporal in sein Taschentuch hustete, mit einem Ausdruck von  Schmerz im Gesicht. Er drehte sich um und ging weg.
  Das wäre  'ne Dummheit, so aufzumucken zu beginnen. Besser Maul halten und sich damit  abfinden. Der arme Korporal wird es doch nicht lange mehr mitmachen. Dann bin  ich dran. Nee, man darf keine Dummheiten machen.
  Um acht  klopfte Fuselli mit einem Besen in der Hand an die ungestrichene Brettertür. Er  fühlte eine tolle Wut in sich wuchten und herumflattern.
  «Wer ist  da?»
  «Habe das  Zimmer zu reinigen, Sir», sagte Fuselli. «Kommen Sie in ungefähr zwanzig  Minuten zurück», sagte die Stimme des Leutnants. «Zu Befehl.»
  Fuselli  lehnte sich gegen die Rückwand der Baracke und rauchte eine Zigarette. Die Luft  biss die Haut seiner Hände so, als ob sie von einem Reibeisen aufgekratzt  worden wäre. Zwanzig Minuten vergingen langsam. Verzweiflung erfasste ihn. Er  war so weit von all denjenigen entfernt, die ihn gern mochten, so verloren in  dieser ungeheuren Maschine. Er sagte sich selbst, dass er nie vorwärts kommen  werde. Dass er nie dorthin gelangen werde, wo er zeigen könne, wozu er gut  sei. Er fühlte sich, als ob er in einer Tretmühle stände. Tag für Tag, jeder  würde so sein wie dieser, derselbe Dienst, dieselbe Hilflosigkeit. Er sah auf  seine Uhr: fünfundzwanzig Minuten waren um. Er nahm seinen Besen und ging zum  Zimmer des Leutnants.
  «Komm  herein», sagte der Leutnant in nachlässigem Tone. Er war in Hemdsärmeln und  rasierte sich gerade. Ein angenehmer Geruch von Rasierseife erfüllte das dunkle  Bretterzimmer, das keine Möbel außer drei Lagerbettstellen und einigen  Offizierskoffern enthielt. Es war ein junger Mann mit rötlichem Gesicht,  weichen Backen und dunklen, geraden Augenbrauen. Er hatte das Kommando der  Kompanie vor ein oder zwei Tagen übernommen. «Sieht wie ein anständiger Kerl  aus», dachte Fuselli.
  «Wie  heißt du?» fragte der Leutnant.
  Er sprach  in den kleinen Metallspiegel hinein, während er das Sicherheitsrasiermesser  schräg über seinen Hals laufen ließ. Er stotterte ein wenig. Fuselli schien es,  als spreche er wie ein Engländer.
  «Fuselli.»
  «Von  italienischen Eltern?»
  «Jaaa»,  sagte Fuselli düster und schleppte eine der Bettstellen in die Mitte des  Raumes. «Paria Italiano?»
  «Sie  meinen, ob ich italienisch spreche? Nee», sagte Fuselli mit Emphase. «Ich bin  in Frisco geboren.»
  «So? Hol  mir doch noch mehr Wasser, ja?»
  Als  Fuselli zurückkam, stand er mit seinem Besen zwischen den Knien, blies in seine  Hände, die blau und steif waren vom Tragen des schweren Eimers. Der Leutnant  war angezogen und schloss gerade den obersten Haken seines Uniformkragens mit  großer Sorgfalt. Der Kragen verursachte eine rote Stelle auf seinem Hals.
  «Wenn du  hier fertig bist, mach, dass du zu deiner Kompanie zurückkommst.»
  Der  Leutnant ging hinaus, zog sich mit zufriedener und wichtiger Geste ein paar  khakifarbene Handschuhe an.
  Fuselli  ging langsam zu den Zelten zurück, wo die Kompanie einquartiert war, sah sich  auf dem Wege die langen Reihen von Baracken an, die dürr und nass im Nebel  erschienen, bemerkte die großen Zinnunterkünfte der Küchen, wo die Köche und  die zum Küchendienst Abkommandierten in fettigen, blauen Kitteln herumschoben  in dem Dampf kochenden Essens.
  Die  Geste, mit der der Leutnant seine Handschuhe angezogen hatte, kam Fuselli  plötzlich zum Bewusstsein. In den Kinos hatte er Leute gesehen, die solche  Gesten sich erlaubten, dicke, würdige Leute in Abendkleidung. Der Präsident der  Gesellschaft, welche die optischen Geschäfte besaß, wo er gearbeitet hatte, zu  Hause in Frisco, hatte auch so eine Geste an sich gehabt.
  Und er  stellte sich selbst vor: auch ein solches Paar Handschuhe in dieser Weise,  wichtig, Finger nach Finger anziehend, mit einer kleinen Bewegung der  Selbstzufriedenheit... Man muss  unbedingt Korporal werden!
«Und  Frankreich ist ein schönes Land,
  Wir  marschieren, marschieren, das Gewehr in der Hand.»
Die  Kompanie sang fröhlich und patschte durch den Schlamm, einen langen, grauen Weg  hinunter zwischen hohen Bretterzäunen, die mit ungeheuren Knoten von  Telegraphendraht bedeckt waren, hinter ihnen erschienen Geschäftshäuser und  Schornsteine von Gewehrfabriken.
  Der  Leutnant und der Sergeant gingen zusammen plaudernd und sangen von Zeit zu Zeit  ein paar Töne des Gesanges mit. Der Korporal sang, die Augen vor Vergnügen  funkelnd. Sogar der verschlossene Sergeant, der nur ganz selten zu irgend jemand  sprach, sang mit. Die Kompanie marschierte vorwärts, die sechsundneunzig Beine  strampelten lustig durch die tiefen, schmutzigen Pfützen. Das Gepäck schaukelte  vergnügt von einer Seite auf die andere, als ob es selbst, nicht die Beine,  liefe.
«Und  Frankreich ist ein schönes Land,
  Wir  marschieren, marschieren, das Gewehr in der Hand.»
Nun  endlich waren sie dabei, irgendwohin zu gehen. Sie hatten sich von dem  Kontingent getrennt, mit dem sie gekommen waren. Sie waren jetzt ganz allein.  Jetzt würde es heißen: arbeiten! Der Leutnant marschierte mit wichtiger Miene  weiter, die Sergeanten taten dasselbe, der Korporal ebenfalls. Der rechte  Flügelmann fühlte sich noch wichtiger, als irgendeiner der anderen. Ein Gefühl  der Wichtigkeit, ein Gefühl von etwas Ungeheurem, das getan werden müsse,  berauschte die Kompanie, ließ das Gepäck und die Gürtel leichter erscheinen,  löste die Steifheit ihrer Nacken und Schultern, die mit der Last des Gepäcks  kämpften, und so marschierten die sechsundneunzig Beine fröhlich durch Schmutz  und Schlamm.
  Es war  kalt in dem dunklen Schuppen der Güterstation, wo sie warteten. Einige  Gaslampen flackerten schwach hoch oben im Gebälk und beleuchteten gespenstisch  große Haufen von Munitionskästen, Reihen und Reihen von Granaten, die in der  Dunkelheit sich auflösten. Die graue Luft war voll von Kohlenstaub und einem  Geruch von frisch geschnittenen Brettern. Der Hauptmann und der erste Sergeant  waren verschwunden. Die Leute saßen herum, in Gruppen zusammengekauert, ließen  sich so tief wie möglich in ihre Mäntel hineinsinken und stampf-
  ten mit  ihren erstarrten, nassen Füßen den schlammbedeckten Zement des Bodens. Die  Schiebetüren waren geschlossen. Hindurch aber kam das monotone Geräusch  rangierender Züge, von Puffern, die auf Puffer stießen, und dann und wann das  schrille Pfeifen einer Maschine.
  «Die  französischen Eisenbahnen sind ein Mist», sagte jemand.
  «Woher  weißt du?» schnappte Eisenstein ein, der auf einer Kiste getrennt von den  übrigen saß, sein mageres Gesicht in den Händen, und seine bedreckten Stiefel  anstarrte.
  «Sieh dir  mal das an!» Bill Grey machte eine Geste der Verachtung nach der Decke hinauf.  «Gas! Haben nicht mal elektrisch' Licht.»
  «Ihre  Züge fahren schneller als unsere», sagte Eisenstein.
  «Quatsch  doch nicht. Einer da hinten aus dem Ruhelager erzählte mir, dass man vier und  fünf Tage braucht, um irgendwohin zu kommen.»
  «Der hat  dir was aufgebunden», sagte Eisenstein. «In Frankreich fuhren bisher die  schnellsten Züge der Welt.»
  «Aber  nicht im zwanzigsten Jahrhundert. Ich bin Eisenbahner und weiß das.»
  «Fünf  Mann sollen mir helfen, das Essen verteilen», sagte der Sergeant, der plötzlich  aus dem Schatten getreten war. «Fuselli, Grey, Eisenstein, Meadville,  Williams, kommt mit mir.»
  «Sergeant,  was meinen Sie dazu, er da sagt, französische Züge fahren schneller als  unsere!»
  Der  Sergeant bewaffnete sich mit einem komischen Gesicht, und alle stellten sich in  Bereitschaft, um zu lachen.
  «Na, wenn  er heute Abend im Ochsenexpress sitzt, wird er ihn wahrscheinlich mit einem  Pullmanwagen verwechseln.»
  Alle  lachten. Der Sergeant wandte sich leutselig zu den fünf Soldaten, die ihm in  einen kleinen, gutbeleuchteten Raum folgten, der wie ein Güterbüro aussah.
  «Wir  müssen das Fressen aussuchen, Leute, seht euch diese Kisten an. Da sind eure  Rationen drin.»
  Fuselli  öffnete eine der Kisten. Die Büchsen mit Cornedbeef flogen ihm auf die Finger.  Er sah aus den Augenwinkeln auf Eisenstein, der diese Büchsen sehr geschickt zu  handhaben verstand. Der erste Sergeant stand mit den Beinen weitauseinander da  und schaute zu. Einmal sagte er irgend etwas leise zum Korporal. Fuselli glaubte  das Wort «Beförderung» zu hören, und sein Herz begann laut zu pochen. Nach  einigen Minuten war die Arbeit getan, und alle zündeten sich Zigaretten an.
  Sie  marschierten zurück in das schmutzige, braune Zimmer, wo der übrige Teil der  Kompanie in ihre Mäntel eingekauert wartete. «Das war der Anfang», dachte  Fuselli, «ich werde schon vorwärts kommen.»
Der  niedrige Güterwagen klapperte und rüttelte monoton über die Schienen. Ein  bitterkalter Wind schlug durch die Ritzen der hässlich gespaltenen Bretter des  Bodens. Die Soldaten hockten in den Ecken des Wagens, zusammengerollt wie  Puppen in einer Kiste. Das Dunkel war schwarz wie ein Abgrund. Fuselli lag halb  schlafend, den Kopf voll seliger, fragmentarischer Träume, durch den Schlaf  hindurch fühlte er die stechende Kälte und das endlose Klappern und Rattern  der Räder, und die Körper, Arme und Beine, die in Mäntel und Decken eingehüllt  sich gegen ihn pressten. Er wachte mit einem Ruck auf. Seine Zähne klapperten.  Das Schüttern der Räder schien in seinem Kopf zu sein. Der wurde irgendwie  mitgezogen und gegen kalte, eiserne Schienen gestoßen. Einer steckte ein  Zündholz an: die schwarzen Wände des Güterwagens, das in der Mitte aufgestapelte  Gepäck, die in den Ecken aufgehäuften Körper, wo aus Khakimassen hier und dort  ein weißes Gesicht und ein Paar glänzende Augen für einen Augenblick zu sehen  waren, um dann wieder in der ungeheuren Schwärze des Raumes zu verschwinden.  Fuselli benutzte irgend jemands Arm als Kissen und versuchte einzuschlafen.  Aber das kratzende Rattern der Räder über den Schienen war zu laut. Mit offenen  Augen starrte er wach in die Dunkelheit, versuchte seinen Körper vor dem Zug  der kalten Luft, der aus den Ritzen im Boden herauskam, fortzuziehen.
  Als das  erste Grau durch die Wände des Wagens hindurchfilterte, standen sie alle auf  und stampften und pufften einander und rangen, um warm zu werden. Als es  beinahe hell war, hielt der Zug an, und sie öffneten die Schiebetüren. Sie  waren in einer Station, einer sehr ausländisch aussehenden Station, deren  Mauern mit unbekannter Reklame bedeckt waren. «v-e-r-s-a-i-l-l-e-s», Fuselli buchstabierte den Namen.
  «Versales»,  sagte Eisenstein. «Hier wohnten die Könige von Frankreich früher.»
  Der Zug  setzte sich wieder in Bewegung. Auf der Plattform stand der erste Sergeant.  «Wie habt ihr geschlafen?» schrie er, als der Wagen an ihm vorbeirollte.
  Der  Sergeant lief zurück zur Spitze des Zuges und stieg ein.
  Mit dem  angenehmen Gefühl, dass er der Leiter sei, verteilte Fuselli das Brot und die  Büchsen mit Cornedbeef und Käse. Dann setzte er sich auf sein Gepäck und aß  trocken Brot und Cornedbeef und pfiff fröhlich, während der Zug durch eine seltsame,  nebelig grüne Landschaft ratterte. Er pfiff fröhlich, weil er an die Front  fuhr, wo Ruhm und Bewegung und Aufregung sein würde, er pfiff fröhlich, weil er  fühlte: ich komme vorwärts in der Welt!
Es war am  Nachmittag. Eine blasse, kleine Sonne hing wie ein Spielzeugballon tief unten  im rötlich grauen Himmel.
  Der Zug  hielt in der Mitte einer rostbraunen Ebene. Gelbe Pappeln, undeutlich  verschwimmend wie Nebel, wuchsen schlank auf gegen den Himmel, längs eines  schwarzglänzenden Stromes, der in Wirbeln am Schienenstrang vorbeifloß. In der  Ferne reckten sich ein Kirchturm und einige rote Dächer schwach aus dem Grau  des Nebels heraus.
  Die Leute  standen herum, balancierten von einem Fuß auf den anderen, stampften, um warm  zu werden. An der anderen Seite des Flusses hatte ein alter Mann seinen  Ochsenwagen angehalten und sah traurig auf den Zug.
  «Wo ist  die Front?» rief jemand zu ihm herüber.
  Alle  nahmen sie den Ruf auf: «Wo ist die Front?»
  Der alte  Mann winkte mit der Hand, schüttelte den Kopf und schrie seine Ochsen an. Die  Ochsen setzten sich langsam und ruhig, so wie eine Prozession, in Bewegung, und  der alte Mann schritt ihnen voraus, die Augen auf den Boden geheftet.
  «Diese  Franzmänner sind blöde Hunde.»
  «Sag mal,  Dan», meinte Bill Grey, «die da meinen, wir kämen zur dritten Armee.»
  «Sagt  Kerls», rief auch Fuselli, «die meinen, wir kämen zur dritten Armee. Wo ist  das?»
  «Im  Oregonwald», wagte sich jemand heraus.
  «Das ist  aber Front, nicht wahr?»
  In diesem  Augenblick ging der Leutnant vorbei, einen langen, khakifarbenen Schal um den  Nacken.
  «Leute»,  sagte er streng, «es ist Befehl, im Wagen zu bleiben.»
  Die Leute  gingen trübsinnig in die Wagen zurück.
  Ein  Lazarettzug kam vorbei, rollte langsam über die Schienen. Fuselli starrte die  dunklen, milchigen Fenster an mit den roten Kreuzen, und die Krankenwärter in  weiß, die aus den Türen sich herausbeugten und mit den Händen winkten. Irgendeiner  bemerkte, dass auf der frischen grünen Farbe des letzten Wagens Kratzer waren.
  «Die  Hunnen haben den Zug beschossen...»
  «Diese  dreckigen Hurenhengste!...»
  Fuselli  erinnerte sich an das Pamphlet «deutsche Gräueltaten», das er eines Nachts in  einer Lesehalle gelesen hatte, und sein Bewusstsein füllte sich plötzlich mit  Bildern von Kindern, denen man die Arme abgeschnitten hatte, von Säuglingen,  die auf Bajonette aufgespießt, von Frauen, die auf Tischen festgebunden und  von Soldat nach Soldat vergewaltigt wurden...   Er dachte an Mabe. Er wünschte, er wäre in einer kämpfenden Truppe; er  wollte Kampf, Kampf. Er sah sich selbst Dutzende von Männern in grünen  Uniformen erschießen, und er dachte an Mabe, die in der Zeitung darüber lesen  würde. «Ich muss versuchen, in eine kämpfende Truppe zu kommen, kann nicht bei  den Sanitätern bleiben.»
  Der Zug  hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Nebelig braune Felder glitten vorbei,  und dunkle Klumpen von Bäumen, die langsam ihre Zweige mit gelben und braunen  Blättern schüttelten. Fuselli dachte an die gute Möglichkeit, Korporal zu  werden.
Nacht.  Eine schwach beleuchtete Station. Die Kompanie war in zwei Linien  aufmarschiert. Sie saßen alle auf ihrem Gepäck. Auf dem gegenüberliegenden  Bahnsteig sangen Haufen von Leuten in blau mit Bärten und langen, schmutzigen  Mänteln, die fast bis auf ihre Füße reichten. Fuselli beobachtete sie etwas  beunruhigt.
  «Donnerwetter,  die haben komische Helme.»
  «Sind die  besten Soldaten der Welt», sagte Eisenstein. «Das bedeutet aber nicht viel.»
  «Da ist  ein Militärpolizist», sagte Bill Grey und fasste Fuselli beim Arm. «Wir wollen  den Mann fragen, wie weit die Front von hier ist. Ich dachte, ich hätte vorhin  Kanonen gehört.»
  «So?»  sagte Fuselli.
  «Na, wie  weit ist es zur Front?» Sie sprachen aufgeregt miteinander.
  «Die  Front?» sagte der Militärpolizist, der ein rotgesichtiger Ire war. «Ihr seid mitten  in Frankreich.» Er spuckte voller Verachtung aus: «Solche Kerle wie ihr kommen  nie an die Front.»
  «Zum  Teufel!» sagte Fuselli.
  Ein  feiner Regen fiel auf den ungeschützten Bahnsteig. Auf der anderen Seite sangen  die kleinen Männer in blau irgendein Lied. Fuselli konnte nichts verstehen. Er  wunderte sich und teilte dann seine Neuigkeiten der Kompanie mit. Alles drängte  sich fluchend um ihn. Aber das Gefühl seiner Wichtigkeit kompensierte nicht  das andere Gefühl des Verlorensems in dieser ungeheuren Maschinerie, der  vollkommenen Hilflosigkeit eines Schafes in einer Schlachtherde.
  Die  Stunden gingen vorbei. Sie stampften auf dem Bahnsteig in dem feinen Regen  herum oder saßen auf ihrem Gepäck, weitere Befehle erwartend. Ein grauer  Streifen erschien hinter den Bäumen. Der Bahnsteig begann silbrig zu scheinen.  Sie saßen in einer Reihe auf ihrem Gepäck, wartend.
2
Die  Kompanie stand aufmarschiert vor den Baracken, vor ihr war eine Reihe  zerzauster Platanen mit weißen Stämmen, die wie Elfenbein in dem schwachen,  rötlichen Sonnenlicht aussahen. Dann war da ein ausgefahrener Weg, auf dem in  einer langen Linie französische Lastkraftwagen mit buckligen, grauen Rücken wie  Elefanten krochen. Dahinter waren noch mehr Platanen und noch eine Reihe  Baracken, die mit Teerpappe bedeckt waren, vor denen andere Kompanien  aufgereiht standen. Ein Horn tönte in der Ferne. Der Leutnant stand in strammer  Haltung steif da. Fuselli verfolgte mit den Augen die Lichter auf seinen  glänzend polierten Stiefeln.
  «Rühren!»  rief der Leutnant mit gedämpfter Stimme.
  Fuselli  dachte an die Stadt. Nach dem Abtreten kann man die unregelmäßigen,  zusammengewürfelten Straßen hinuntergehen zu dem grauen Steinbrunnen und zu  der Kneipe, wo man am Tisch sitzen kann und Bier und Eier und gebratene  Kartoffeln essen und sich von einem Mädel mit roten Backen und festen, weißen,  appetitlichen Armen bedienen lassen. «Achtung!»
  Füße und  Hände ruckten zusammen. In der Ferne konnte man den Ton des Hornes hören.
  «Ich habe  euch einige Mitteilungen zu machen, Leute», sagte der Leutnant in leichtem  Konversationston und sah die Kompanie an.
  «Ihr habt  gut gearbeitet. Freue mich, solch willige Leute unter mir zu haben. Und ich  hoffe, wir können recht viele, so viele wie möglich, befördern.»
  Fusselis  Hände erstarrten zu Eis, und sein Herz pumpte das Blut so schnell in die Ohren,  dass er kaum hören konnte.
  «Folgende  Gemeine werden zu Gefreiten befördert», las der Leutnant vor. «Grey, Appelton,  Wilhams, Eisenstein, Porter.»
  Fuselli  war nahe daran, zu weinen. Sein Name war nicht auf der Liste.
  Nach  einer langen Pause kam die Stimme des Sergeanten weich wie Samt:
  «Sie  haben Fuselli vergessen.»
  «Ach ja»,  der Leutnant lachte ein kleines, trockenes Lachen: «Und Fuselli.»
  «Die  Nacht muss ich das Mabe schreiben», sagte Fuselli zu sich selbst. «Die wird ja  stolz sein, wenn sie den Brief kriegt.» «Kompanie w—weg—treten!» rief der  Sergeant heiter.
«Oh  Madmerselle aus Armentieh, 
  Parleh  wuh?
  Oh  Madmerselle aus Armentieh...»
Der  Sergeant stimmte das Lied an mit seiner saftigen Stimme.
  Das  vordere Zimmer des Caf6s war voller Soldaten. Ihre Khakikleidung verbarg die  abgenützten Bänke und die Ecken des quadratischen Tisches und die roten Steine  des Bodens. Sie gingen um den Tisch, wie die Bienen, Gläser und Flaschen traten  ganz vage aus dem Tabaksrauch hervor. Sie standen vor der Bar, tranken aus  Flaschen, rauchten und schlugen den Boden mit den Füßen. Ein pralles Mädchen  mit roten Backen und festen, weißen Armen bewegte sich zufrieden zwischen den  Soldaten, trug leere Flaschen weg, brachte volle zurück, nahm das Geld für  eine grimmige alte Frau mit grauem Gesicht und Augen, schwarz wie Pech, in  Empfang, die jede Münze sorgfältig anschaute, sie mit ihren grauen Händen  befingerte und dann widerwillig in ihre Kasse fallen ließ. In der Ecke saß Sergeant  Olster und ein anderer Sergeant, ein großer Mann mit schwarzem Haar und  schwarzem Bart, um sie herum voller Respekt Fuselli, Bill Grey und Meadville,  der Cowboy, und Earl Williams, der Blauäugige und Strohblonde.
«Die  Yankees haben 'ne verdammt schöne Zeit,
  Parleh wuh?»
Sie  schlugen ihre Flaschen auf den Tisch im Rhythmus des Gesanges.
  «Es ist  doch ein anständiges Geschäft», sagte der erste Sergeant und unterbrach den  Gesang plötzlich. «Da braucht ihr keine Sorge drüber haben, Kerls, ich habe  drauf aufgepasst, dass wir'ne anständige Beschäftigung bekommen, und was die  Front angeht, da braucht ihr auch keine Sorge haben. Wir werden alle noch in  Stellung kommen. Dieser Krieg wird mindestens zehn Jahre dauern.»
  «Bis  dahin werden wir wohl alle General sein», sagte Williams.
  «Nun,  aber ich möchte doch wieder zu Hause sein und Sodawasser trinken.»
  «Dieses  Leben ist groß. Wenn man nur nicht schwach wird», murmelte Fuselli automatisch.
  «Aber ich  werde schwach», sagte Williams, «Mann, ich bin krank vor Heimweh. Ist mir ganz  gleich, wer das weiß. Ich möchte an die Front und mit dem ganzen Kram fertig  sein.»
  «Du musst  was saufen», sagte der Sergeant und schlug mit der Faust auf den Tisch.  «Memselle...»
  «Ich wusste  nicht, dass Sie französisch sprechen können», sagte Fuselli.
  «Französisch?»  sagte der Sergeant. «Williams, der kann französisch sprechen!»
  «Voulay  vous couchay aveck moy... — das ist  alles, was ich weiß.»
  Alle  lachen.
  «Heh,  Memsell, voulay vous couchay aveck moy? Wi, wi, Champagne!»
  Alle  lachten tosend. Das Mädchen patschte ihn auf die Hände. In diesem Augenblick  stampfte ein Mann, ein großer, breitschultriger Kerl in einer losen,  englischen Uniform ins Cafe, mit schwungvollem Schritt, der die Gläser auf  allen Tischen klirren ließ. Er dudelte irgend etwas vor sich hin und grinste  über sein breites, rotes Gesicht. Er ging zu dem Mädel, tat so, als ob er sie  küsse, sie lachte und sprach vertraulich französisch mit ihm.
  «Das ist  der wilde Dan Cohen», sagte der dunkelhaarige Sergeant.
  «Komm mal  her, Dan!» «Hier, du Aasknochen!»
  «Komm her  und trink eins mit uns! Wir werden 'was Spritzwasser trinken.»
  «Da bin  ich immer dabei.»
  Sie  machten Platz für ihn auf der Bank.
  «Ich habe  Arrest», sagte Dan Cohen. «Schaut mich an!» Er lachte und gab seinem Kopf einen  seltsamen, schnellen Dreh nach der einen Seite: «Comprih?»
  «Mensch,  hast du keine Angst, dass sie dich schnappen?» fragte Fuselli.
  «Mich  schnappen? Was sollen sie denn mit mir anfangen? Habe schon dreimal vorm  Kriegsgericht gestanden und werde bald zum vierten Mal damit zu tun haben.» Dan  Cohen schob seinen Kopf auf die eine Seite und lachte. «Habe einen Freund; mein  alter Chef ist hier Hauptmann, und der wird die Geschichte in Ordnung bringen.  Früher, chez moy, machte ich in Politik. Comprih?»
  Der  Champagner kam, und Dan Cohen entkorkte die Flasche mit geschickten, roten  Fingern. Der Korken flog bis an die Decke.
  «Dachte  gerade darüber nach, wer mir'n Suff bezahlen würde», sagte er. «Habe keinen Pfennig  gekriegt, seit Christus Korporal war. Habe schon ganz vergessen, wie 'ne  Löhnung aussieht.»
  Der  Champagner sprudelte in den Biergläsern. «So ist das Leben», sagte Fuselli.
  «Du hast  verdammt recht, Mann, man darf nur nicht auf sich rumreiten lassen», sagte Dan.
  «Weswegen  sind sie jetzt hinter dir her, Dan?» «Mord.»
  «Mord?  Was ist denn das?» «Das ist, wenn der Bursche stirbt.» «Zum Teufel!»
  «Das  begann alles mit dem verrotzten Transport runter nach Nantes. Bill Rees un ich... Heh, Marie, encore Champagne, beaucoup!...  Ich war damals im Ambulanzdienst. Wer weiß, in was für mistigem Dienst ich  jetzt wieder stecke. Unsere Sektion war in Repos, und sie sandten einige von  uns runter nach Nantes um 'ne Ladung Wagen zurückzuholen. Wir fuhren mit fünf  richtigen Rennern, nur auf dem Chassis, savey. Bill Rees und ich waren  verflucht am Schwanze des Zuges. Ganz zuletzt fuhr ein blöder Hund, der  schembar nicht wusste, ob er kam oder gehen wolle.»
  «Wo ist  denn eigentlich Nantes?» fragte der erste Sergeant, als ob das Wort gerade  jetzt erst in sein Bewusstsein gedrungen sei.
  «An der  Küste», antwortete Fuselli. «Ich sah's auf der Karte.»
  «Nantes  ist irgendwo in der Hölle», sagte der wilde Dan Cohen, nahm einen Schluck  Champagner, hielt ihn einen Augenblick im Munde, den er dann wie eine Kuh beim  Wiederkäuen bewegte.
  «Un' da  Bill Rees und ich zuletzt fuhren und am Wege viel Caf6s und Kneipen waren,  hielten Bill Rees und ich so von Zeit zu Zeit an, um ein kleines Glas zu uns zu  nehmen und den Mädels <bon jour> zu sagen und mit den Leuten zu reden.  Un' dann fuhren wir wieder los wie ein Ball aus der Hölle, um aufzuholen. Ich  weiß nicht, ob wir zu schnell fuhren, oder ob wir die Richtung verpassten, oder  was das gewesen ist, aber wir erwischten diesen verdammten Transport nie. Na,  dann dachten wir eben, wir könnten ja genauso gut 'n bisschen von dem Land uns  angucken. Comprih?... Na, und das taten wir, kamen so nach Orleans, stürzten  ohne Gas durch einen Gießbach. Ein Militärpolizist kletterte auf das Trittbrett  unseres Wagens.»
  «Haben  sie dich da geschnappt?»
  «Keine  Rede», sagte Dan Cohen und ruckte seinen Kopf auf die Seite. «Man gab uns  Brennstoff und neue Rationen und sagte, wir sollten am nächsten Morgen  weiterfahren. Ihr seht, wir haben denen einen schönen Schmus aufgetischt.  Comprih?
  Wir  gingen dann in ein duftes Restaurant — wir hatten diese blutigen britischen  Uniformen an und der Militärpolizist wusste daher nicht, was für Vögel wir  waren. So gingen wir denn darauf los und ließen uns ein richtiges, reguläres  Essen kommen und 'ne Menge vin rouge und vin blanc und tranken auch einige  Cognacs, und bevor wir wussten, fraßen wir schon mit zwei Hauptleuten und einem  Sergeanten. Einer der Hauptleute war der besoffenste Kerl, den ich je im Leben  gesehen habe. Wir aßen ordentlich was, und Bill Rees sagte, wollen 'ne kleine  Vergnügungsfahrt machen, und der Hauptmann sagte, fein; der Sergeant hätte  auch fein gesagt, aber der war so sternhagelvoll, dass er nichts mehr sagen  konnte. Und dann schwirrten wir ab... Kerls,  mir ist im Hals so trocken, als ob ich in der Hölle säße. Bestellen wir noch  'ne Flasche!» «Selbstverständlich», sagten alle.
«Bon  swar, ma chérie,
  Comment allez vous?»
«Encore Champagne, Marie gentille!»
  «Nun»,  fuhr er fort, «wir surrten los, wie ein Ball aus der Hölle, eine schöne Straße  hinunter, und es ging alles ganz gut, bis einer der Hauptleute dachte, wir müssten  mal ein kleines Rennen machen. Das taten wir auch... Comprih? In der Hitze des Gefechts wurden wir so aufgeregt, dass  wir alle den Sergeanten vergaßen. Der fiel runter, und keiner kümmerte sich  darum. Und schließlich zogen wir vor eine Kneipe, und einer der Hauptleute  sagte: wo ist denn der Sergeant? Und der andere meinte: gar keiner mitgewesen.  Und darauf tranken wir alle. Und der eine Hauptmann sagte ständig: alles nur Einbildung.  War nie ein Sergeant mit. Würde doch nie mit'm Sergeanten losfahren, nich',  Leutnant? Er nannte mich immer Leutnant. Nun, auf diese Weise kam ich zu der  neuen Anklage. Irgend jemand fischte den Sergeanten auf, und der hatte so 'ne  kleine Gehirnerschütterung weg... Zur  gleichen Zeit ungefähr meinten die Hauptleute, wir könnten mal nach Paris  fahren. Und wir sagten, wir würden sie mitnehmen. Und so taten wir das ganze  Benzin in meinen Wagen, und wir kletterten alle vier auf das verdammte Chassis,  und ab ging’s, wie ein Ball aus der Hölle...  Na, nach ungefähr zwei Minuten fanden wir uns auf einem dieser netten kleinen  Steinhaufen wieder. Wir standen aber alle wieder auf. Der eine der Hauptleute  hatte 'nen gebrochenen Arm, und das war 'ne schlimmere Geschichte, als den  Sergeanten zu verlieren. So gingen wir dann zu Fuß die Straße runter. Ich weiß  nicht, wie es kam; es wurde aber wieder hell. Und so kamen wir in irgend so  'ne verdammte Stadt, und da waren zwei Militärpolizisten, die schon auf uns warteten.  Comprih? Na, wir haben da nicht lange mit den beiden Hauptleuten rumgefackelt.  Wir machten uns gleich dünne, schwirrten eine Seitenstraße hinunter, gingen in  ein kleines Cafe und amüsierten uns da mal anständig. Fühlten uns da recht  wohl, und ich sage also zu Bill: Bill, wir müssen ins Quartier zurück und  denen erzählen, dass bei einem Unglücksfall unser Wagen in Stücke ging, ehe  noch diese Militärpolizisten sich mit uns beschäftigen. Und er sagt: hast  verdammt recht. Gerade in dieser Minute sah ich durch eine Spalte in der Tür,  wie so'n Feldgendarm ins Cafe kam. Wir rückten aus durch den Garten und machten  uns an die Mauer ran. Kamen auch gut rüber, obschon wir ein anständiges Stück  meiner Hosen an den Glassplittern zurückließen. Aber diese Feldschweine kamen  auch rüber und hatten ihre Knallbüchsen in der Pfote. Und alles, was ich dann  noch von Bill Rees sah... war ein  großes, fettes Weib in einem rosanen Kleid, die wusch Wäsche in einem großen Fass,  und der arme Bill Rees rennt gerade auf sie zu und purzelt mit ihr in das Waschfass.  Na, da hatte ihn ja das Schwein. So entfleuchte ich. Und das allerletzte, was  ich noch von Bill Rees sah, war, wie er so aus dem Waschfass rauskam, als ob er  am Schwimmen sei, und das fette Weib saß am Boden und erhob die Fäuste gegen  ihn. Bill Rees war der beste Kamerad, den ich hatte.»
  Er machte  eine Pause und goss den Rest des Champagners in sein Glas, wischte den Schweiß  von der Stirn mit seiner großen, roten Hand.
  «Du  bindest uns doch hier nicht etwa einen auf?» fragte Fuselli.
  «Frag du  mal Leutnant Whitehead, der mich vor dem Kriegsgericht verteidigt, ob ich euch  einen aufbinde. Ich habe im Ring gekämpft, Kerl, und darauf kannst du deinen  letzten Dollar wetten, dass ein Mann aus dem Ring die Wahrheit sagt.»
  «Fahre  fort, Dan», sagte der Sergeant.
  «Un'  seitdem habe ich nie wieder von Bill Rees ein Wort
  gehört.  Ich denke, die haben ihn in die Gräben gebracht und kurze Arbeit mit ihm  gemacht.»
  Dan Cohen  machte wieder eine Pause, um sich eine Zigarette anzuzünden.
  «Nun,  eines dieser Feldschweine kommt hinter mir her und beginnt zu schießen. Ihr  könnt euch denken, dass ich lief. Donnerwetter, hatte ich 'ne Angst. Aber ich  hatte Schwein; da war ein Franzose, der gerade mit seiner Karre losfuhr, und  ich sprang auf und sagte, die Feldgendarmen seien hinter mir her. Der wurde  ganz weiß, dieser Franzmann. Er gab seinem Wagen Benzin literweise zu saufen  und schob ab wie ein Ball aus der Hölle, und da war verdammt viel Verkehr auf  der Straße, weil da an der Front wieder mal ein solch närrischer Angriff vor  sich ging. So kam ich nach Paris...  Da wäre alles schon gut gewesen, wenn ich nicht so ein Mädel getroffen hätte,  das ich kannte. Ich hatte noch fünfhundert Franken bei mir, und so machten wir  'ne feine Kiste auf. Wie wir eines Tages im Cafe de Paris saßen — wir waren  beide so'n bisschen angesäuselt, un' hatten nicht genug Geld, die Rechnung zu  bezahlen — un' Jane lief, um 'was Geld zu holen. Inzwischen aber fasste mich 'n  Feldgendarm, un' dann war die Hölle los...  Comprih? Sie steckten mich in die Bastille, dann verluden sie mich nach irgend  so 'nem verdammten Lager, gaben mir ein Gewehr un' exerzierten mich eine Woche  und packten uns schließlich alle in einen Zug nach der Front. Da war wieder  fast Schluss mit mir, aber als wir in Vitry-le-Francois ankamen, schmiss ich  meine Knarre aus dem einen Fenster und sprang aus dem anderen un' auf einen Zug  nach Paris zurück und ging und berichtete im Quartier, wie ich den Wagen zu  Scherben gefahren habe, un' in der Bastille war, und alle waren wütend auf die  Feldgendarmen, und sie sandten mich zu einer Abteilung, und alles ging gut,  bis ich Befehl bekam, in dieses kotzige Lager zu kommen. Un' jetzt weiß ich  nicht, was sie mit mir vorhaben.»
  «Donnerwetter!»
  «Großartig,  so'n Krieg. Sage, ich möchte nicht drum rumkommen. Bin froh, dass ich dabei  bin.»
  In der  anderen Ecke des Zimmers sang einer:
«Oh  Madmerselle aus Armentieh, 
  Parleh  wuh?»
«Donnerwetter, ich muss jetzt hier raus!» sagte Dan Cohen nach einer Minute. «Draußen wartet 'n Mädel auf mich.» Er schwankte hinaus und sang das Lied, das er immer sang:
«Bon swar, ma chérie,
  Comment allez  vous?.
  Sie vous voulez 
  Couchez avec moi...»
Die Tür  schlug hinter ihm zu, und viele hatten das Café verlassen. Madame hatte wieder  zu stricken begonnen, und Marie mit den festen, weißen Armen saß hinter ihr,  hatte den Kopf zurück gegen die Flaschen gelehnt, die in Haufen hinter der Bar  aufgeschichtet waren.
  Fuselli  starrte auf die Tür auf der einen Seite der Bar. Die wurde immer aufgemacht,  und Männer schauten hinein und schlossen sie wieder mit einem sonderbaren  Ausdruck auf ihren Gesichtern. Dann und wann öffnete irgend jemand mit einem  Lächeln, ging in das nächste Zimmer, scheuerte seine Füße an der Matte und schloss  dann die Tür sorgfältig hinter sich.
  «Sagt  mal, ich wundere mich, was dort los ist», sagte der erste Sergeant, der auch  zur Tür hinübergestarrt hatte. «Müssen wir uns mal anschauen», fügte er hinzu  und lachte besoffen.
  «Weiß  nicht», sagte Fuselli. Der Champagner surrte in seinem Kopf, wie eine Fliege  gegen eine Fensterscheibe.
  Der erste  Sergeant stand auf. Er fühlte sich sehr kühn und wichtig, ging auf die Tür zu,  äugte hinein, winkte seinen Freunden und schlüpfte in das andere Zimmer. Dann schloss  er die Tür sorgfältig hinter sich.
  Der  Korporal ging als nächster. Er sagte: «Ich will verdammt sein», und ging gerade  hinein und ließ die Tür offen stehen. Nach einem Augenblick wurde sie von innen  geschlossen.
  «Komm,  Bill, wollen auch mal sehen, was sie da drin haben», sagte Fuselli.
  «Gut»,  meinte Bill Grey.
  Sie  gingen zusammen hinüber zur Tür. Fuselli öffnete und schaute hinein. Erstaunt  ließ er den Atem in einem leise pfeifenden Geräusch durch die Zähne hinaus.
  «Donnerwetter,  komm rein, Bill», sagte er grinsend.
  Der Raum  war klein und wurde fast ganz von einem Tisch, der mit einem roten Tuch bedeckt  war, ausgefüllt. Auf dem
  Sims  oberhalb des leeren Feuerplatzes waren Kerzen angebracht vor einem  zerbrochenen Spiegel, die Tapete schälte sich von den feuchten Wänden ab und  gab dem Ganzen einen fauligen Geruch, der noch nicht einmal von dem Bierdunst  und Tabakqualm verdrängt wurde.
  «Schau  sie dir mal an, Bill», flüsterte Fuselli.
  Bill Grey  grunzte. «Meinst du, dass das Mädel aus Paris, von dem uns Dan eben erzählte,  wie die war?»
  Am Ende  des Tisches saß, auf ihre Ellbogen gestützt, eine Frau mit schwarzem,  kurzgeschnittenem Haar, das nach allen Richtungen von ihrem Kopfe abstand. Ihre  Augen waren dunkel und ihre Lippen schwellend. Sie schaute mit einer gewissen  Verachtung auf die Männer, die an den Wänden herumstanden und am Tisch saßen.
  «Mich  slafen mit netten Jungen, zahlen Zimmer», sagte sie in herausforderndem Tone.
  «Die  werde ich mir holen!» flüsterte Fuselli aufgeregt und berührte Bill Greys Ohr  mit seinen Lippen.
  Die  Männer starrten sie schweigend an. Ein großer Mann mit rotem Haar und schwerem  Unterkiefer, der ihr am nächsten saß, rückte immer näher. Einer schlug auf den  Tisch, so dass die Flaschen und Likörgläser gegeneinander klirrten. «Die ist  nicht sauber, hat kurzes Haar», sagte der Mann neben Fuselli.
  «Du bist  nicht sauber, du gottverfluchter Hurenhengst!»
  Die Frau  sagte irgend etwas auf französisch. Nur einer verstand es. Sein Lachen klang  hohl in dem schweigenden Raum und brach plötzlich ab.
  Die Frau  sah sich die Gesichter um sie herum einen Augenblick aufmerksam an, zog die  Schultern zusammen und begann die Schleife ihres Hutes, den sie im Schoss  hielt, in Ordnung zu bringen.
  «Wie kam  die nur her? Ich dachte, die Feldgendarmen hätten sie grade aus der Stadt  gejagt?» sagte einer.
  «Du venay  Paris», sagte ein Junge mit sanfter Stimme, der ihr nahe saß. Er hatte blaue  Augen und eine milchweiße Haut, die seltsam von den roten und braunen  Gesichtern im Raume abstach.
  «Oui, de  Paris», sagte sie nach einer Pause und sah plötzlich dem Jungen gerade ins  Gesicht.
  «Die  lügt, sage ich dir», meinte der Rothaarige, der jetzt schon seine Schuhe ganz  nahe bei der Frau hatte. «Nicht wahr, du verfluchte Fose?»
  «Du  sagtest dem, du seist aus Versailles und dem da, du seist aus Lyon», sagte der  Junge mit der weißen Haut und lächelte freundlich. «Vraiment de ou venay  vous?»
  «Ich  komme von überall», sagte sie und schüttelte ihren Kopf, so dass das Haar ihr  nicht mehr in die Augen hing.
  «Viel  gereist?» fragte der Junge.
  «Einer  erzählte mir», sagte Fuselli zu Bill Grey, «er habe mit einem Mädel gesprochen,  wie dieses, das in der Türkei und Ägypten gewesen ist. Diese Mädels sehen was  vom Leben.»
  «Die  gehen gern mit Negern», sagte Bill Grey.
  Die Frau  sprang plötzlich auf und kreischte vor Wut.
  «Nicht  anfassen... zuerst das Geld!»
  Der  Rothaarige zog sich scheu zurück. Dann erhob er seine großen, schmutzigen  Hände. «Kamerad», sagte er. Niemand lachte. Schweigen war im Raum, nur manchmal  kam das Geräusch von Füßen, die sich am Boden bewegten.
  «So ist's  besser.» Sie lachte heiser. «Zuerst das Geld!»
  Sie  setzte ihren Hut auf, nahm eine kleine Schachtel aus ihrer Tasche und begann  ihr Gesicht vor einem Spiegel zu pudern. Die Männer starrten sie an.
  «Die  denkt, sie wäre 'ne Maikönigin», sagte einer und stand auf. Er beugte sich über  den Tisch und spuckte in den Kamin. «Ich gehe zu den Baracken zurück.»
  Er wandte  sich zu der Frau und rief mit einer Stimme voll Hass: «Bon swar!»
  Die Frau  legte die Puderschachtel in ihre Tasche zurück. Sie sah nicht auf. Die Tür schloss  scharf.
  «Kommt»,  sagte die Frau plötzlich und warf ihren Kopf zurück. «Wer will zuerst mir mir  gehen?»
  Keiner  sprach ein Wort. Die Männer starrten sie an. Nur manchmal kam Geräusch von  Füßen, die sich auf dem Boden bewegten.
3
Fusellis  Augen waren noch klebrig vor Schlaf. Er saß auf der schwarzen, fettigen Bank  und nahm einen Schluck heißen Kaffees, der etwas nach Abwaschtüchern roch. Der  machte ihn ein wenig wach.
  In dem  Speiseraum wurde nur wenig gesprochen. Die Männer, die noch vor fünfzehn  Minuten geschlafen hatten, saßen in Reihen, aßen missmutig oder blinzelten sich  durch die nebelige Dunkelheit an. Füße kratzten in der Asche des Bodens herum,  und das Essgeschirr klirrte auf den Tischen. Hier und da hustete irgendeiner.  An der Essenausgabestelle fluchte ein Koch mit weinerlich singender Stimme.
  «Sag mal,  Bill, mir ist der Kopf so schwer», sagte Fuselli.
  «Musste  dich gestern in die Baracken zurückschleppen», brummte Bill Grey. «Du sagtest,  du wollest zurückgehen zu diesem verdammten Mädel.»
  «So»,  meinte Fuselli grinsend.
  «Das war  'ne Arbeit, dich an der Wache vorbei zu kriegen.»
  Sie  wuschen ihr Essgeschirr in dem Fass mit warmem Wasser, das von den Hunderten  Geschirren, die schon vorher darin gereinigt waren, ganz fettig war. Ein  elektrisches Licht erleuchtete schwach den nassen Stamm einer Platane, und die  Oberfläche des Wassers, auf der etwas Hafergrütze und Kaffeesatz herumschwamm,  und die Abfalleimer mit ihren gemalten Schildern, und die Männer, die  hintereinander sich aufgestellt hatten, um an das Fass heranzukommen.
  «Dies  verdammte Leben», sagte Bill Grey wild.
  «Was  meinst du?»
  «Habe die  ganze Zeit nichts getan, als Verbandszeug eingepackt und ausgepackt. Ich werde  verrückt. Habe versucht, mich zu besaufen; nützt aber auch nichts.»
  «Donnerwetter,  mir ist der Kopf schwer», sagte Fuselli.
  Bill Grey  legte seine schwere, muskulöse Hand um Fusellis Schulter. Sie gingen zusammen  zu den Baracken.
  «Ich  werde desertieren, Dan.»
  «Tu das  nicht, Bill. Wir können beide nur vorwärts kommen, wenn wir keine Dummheiten  machen.»
  «Darum  gebe ich keinen Heller... Warum bin  ich wohl in
  diese  verdammte Armee gekommen? Vielleicht weil ich in so 'ner Uniform gut ausschaue?  Was?»
  Bill Grey  steckte die Hände in die Taschen und spie missmutig aus.
  «Aber  Bill, du willst doch nicht ein dreckiger Gefreiter bleiben?»
  «Ich will  an die Front! Ich will nicht hier bleiben, bis ich ins Kittchen fliege oder  vors Kriegsgericht komme. Sag, Dan, kommst du mit mir?»
  «Mensch,  Bill, du machst doch nur Spaß. Die werden uns schon bald genug fortschicken.  Ich will Korporal werden» — er drückte seine Brust heraus —, «noch ehe ich an  die Front gehe, will ich zeigen, was ich kann.»
  Ein Horn  tönte.
  «Lass sie  nicht auf dir rumreiten, Dan.»
  Sie  marschierten auf der dunklen Straße auf und fühlten, wie der Schlamm unter  ihren Füßen schwappte. Die Fahrtspuren waren voll schwarzen Wassers, in dem  fernes elektrisches Licht sich widerspiegelte.
  «Ihr  arbeitet heute alle in den Lagerräumen», sagte der Sergeant mit seiner  traurigen, gezogenen Stimme. «Der Leutnant sagt, dass alles heute Nachmittag  fertig sein muss. Sie wollen es heute zur Front fahren.»
  Einer  pfiff vor Überraschung.
  «Abtreten!» kommandierte  der Sergeant unwillig.
  Sie  marschierten ab in der Dunkelheit, in der Richtung auf eines der Lichter. Ihre  Füße platschten in den Pfützen.
  Fuselli  trat an die Wache, die am Tor des Lagers stand, heran. Er bohrte nachdenklich  in den Zähnen mit einem Splitter aus einem Brett. «Phil, kannst du mir nicht  einen halben Dollar pumpen?» Fuselli blieb stehen, steckte die Hände in die Taschen,  sah die Büchse an und ließ den Splitter aus einem Winkel seines Mundes  heraushängen.
  «Unmöglich,  Dan», sagte der andere Mann. «Bin vollkommen ausgebrannt. Habe keinen Cent  seit Neujahr gekriegt.»
  «Warum  bezahlt man uns denn nicht?»
  Fuselli  ging den dunklen Weg hinunter. Der Schlamm war zur Stadt zu in tiefen  Wagenspuren gefroren. Diese Stadt mit ihren kleinen Häusern war ihm immer noch  fremd. Die Feuchtigkeit verursachte graue und grüne Flecken auf den mit roten
  Ziegeln  gedeckten Dächern und in den engen, gewundenen Straßen mit den vielen Baikonen.  Nachts, wenn es überall dunkel war, und wenn ein Licht in einem Fenster gelben  Schein auf die nasse Straße hinausgoss und das Licht aus einem Laden oder einem  Cafe herausströmte, dann war alles fast erschreckend unwirklich. Er ging  hinunter auf den Marktplatz, wo er hören konnte, wie der Springbrunnen  plätscherte. In der Mitte blieb er unentschlossen stehen, den Mantel  aufgeknöpft, die Hände bis auf den Grund seiner Taschen vergraben. Er hörte  lange Zeit dem Plätschern des Springbrunnens zu und dem fernen Geräusch  rollender Züge. «Und dies ist der Krieg», dachte er. «Seltsam, es ist stiller,  als zu Hause nachts.»
  Die  Straße hinunter, am Ende des Platzes, erschien ein Streifen weißen Lichtes —  die Scheinwerfer eines Automobils. Die beiden Augen des Wagens starrten  geradeaus, gerade in seine, blendeten ihn, drehten sich dann ab nach der  anderen Seite und huschten vorbei. Ein schwacher Petroleumgeruch und verschwimmende  Stimmen blieben zurück. Fuselli beobachtete, wie die Fronten der Häuser hell  wurden, wenn der Wagen die Straße weiter hinauffuhr. Dann war die Stadt wieder  dunkel und still.
  Er ging  über den Platz zum «Cheval Blanc», dem großen Cafe, wo die Offiziere  verkehrten.
  «Schließ  den Mantel!» fauchte eine Stimme. Er sah eine steife, große Gestalt an der  Ecke der Biegung. Ein Pistolenhalfter war undeutlich zu sehen. Feldgendarm. Er schloss  den Mantel eiligst und ging mit schnellen Schritten weg.
  Er hielt  vor einem Cafe an, auf dessen Fenster mit weißer Schrift «Schinken und Eier»  geschrieben stand und sah voller Verlangen hinein. Jemand legte von hinten zwei  große Hände über seine Augen. Er machte sein Gesicht frei.
  «Hallo,  Dan», sagte er. «Wie bist du aus dem Kittchen rausgekommen?»
  «Mir kann  keiner was, Mann», sagte Dan Cohen. «Hast'n bisschen Pinke?» «Nicht einen  Cent.»
  «Ich auch  nicht... Gehn wir doch rein», sagte  Dan. «Werde die Geschichte schon mit Marie in Ordnung bringen.» Fuselli folgte  ihm zweifelnd. Er erinnerte sich, dass in der vorigen Woche einer vor das  Kriegsgericht kam, weil er die Zeche geprellt hatte.
  Er setzte  sich an einen Tisch in der Nähe der Tür. Dan war im hinteren Zimmer  verschwunden. Fuselli fühlte Heimweh. Er dachte daran, wie lange es schon her  sei, dass er einen Brief von Mabe erhalten hatte. «Die wird schon einen anderen  haben», sagte er zu sich selbst voller Wut. Er versuchte, sich zu erinnern,  wie sie aussah. Aber er musste seine Uhr herausnehmen und in ihren Rücken hineinschauen,  ehe er sich daran erinnern konnte, ob ihre Nase gerade oder stumpf war. Er sah  auf und ließ die Uhr mit Geräusch in seine Tasche zurückgleiten. Marie mit den  weißen Armen kam lachend aus dem anderen Zimmer. Ihre großen, festen Brüste,  die man unter der engen Bluse sehen konnte, zitterten ein wenig, wenn sie  lachte. Ihre Backen waren sehr rot, und eine Strähne ihres kastanienbraunen  Haares hing ihr über die Stirn. Sie nahm sie eilig auf und machte sie mit einer  Nadel fest. Dann ging sie in die Mitte des Zimmers. Dan Cohen folgte ihr, ein  breites Grinsen auf dem Gesicht.
  «Alles in  Ordnung, Mann», sagte er. «Ich habe ihr erzählt, du würdest zahlen, wenn Onkel  Sam hier eingetroffen sei. Hast du schon mal Kümmel getrunken?»
  «Was ist  denn das?»
  Sie setzten  sich, aßen gebackene Eier an dem Tisch in der Ecke, dem begünstigten Tisch, wo  Marie selbst oft saß und plauderte, wenn Madame mit ihrem eingetrockneten  Gesicht sie nicht beobachtete. Verschiedene von den Leuten kamen mit ihren  Stühlen näher; der wilde Dan Cohen gab immer Audienz.
  «Schaut  so aus, als ob 'ne neue Offensive bei Verdun vorbereitet sei», sagte Dan  Cohen. Irgendeiner antwortete etwas.
  «Seltsam,  wie wenig wir wissen von dem, was vorgeht», sagte einer. «Ich wusste mehr über  den Krieg, als ich zu Hause in Minneapolis war, als ich hier weiß.»
  «Wir  werden ihnen schon ordentlich heimleuchten», sagte Fuselli mit patriotischer  Stimme.
  «Während  dieser Jahreszeit geschieht doch nichts», sagte Cohen. Ein Grinsen breitete  sich auf seinem roten Gesicht aus. «Als ich das letzte Mal an der Front war,  hatte der Boche gerade einen Handstreich gemacht und einen ganzen Graben gefangen  genommen.»
  «Von  wem?»
  «Amerikaner.»  «Verdammt noch mal!»
  «Das ist  eine verfluchte Lüge», rief ein schwarzhaariger Mann mit schlechtrasiertem  Gesicht, der gerade hereingekommen war. «Amerikaner haben sie noch nie gefangen  genommen und werden sie auch nie.»
  «Wie  lange warst du an der Front?» fragte Dan Cohen kühl. «Du bist wohl schon bis  Berlin vorgerückt, was?»
  «Ich  sage, wer meint, ein Amerikaner ließe sich von einem stinkenden Hunnen gefangen  nehmen, ist ein verfluchter Lügner», sagte der Mann mit dem schlechtrasierten  Gesicht und setzte sich missmutig hin.
  «Nun, das  würdest du besser nicht zu mir sagen», sagte Cohen lachend und betrachtete  seine großen roten Fäuste nachdenklich.
  Über  Maries Gesicht strich ein Lächeln des Verständnisses. Sie sah auf Cohens  Fäuste, zog ihre Schultern ein und lachte.
  Eine neue  Schar war gerade ins Cafe geschlüpft. «Nun, da ist ja der wilde Dan. Hallo,  alter Kerl, wie geht's?»
  «Hallo,  Dook!»
  Ein  kleiner Mann in einem Mantel, der fast wie ein Offiziersmantel aussah, so gut  war er geschnitten, schüttelte Cohens Hände. Er schien Korporal zu sein. Cohen  machte Platz für ihn auf der Bank.
  «Was  machst du in diesem Loch, Dook?»
  Der Mann  krümmte seinen Mund so, dass sein schwarzer Schnurrbart hinunter hing.
  «Schlacht  von Nizza. Ich gehe bald zu meiner Formation zurück. Wäre nie vor das  Kriegsgericht gekommen, wenn ich bei meiner Truppe geblieben wär. Ich war  im Hospital mit Lungenentzündung.»
  «Üble  Geschichte.»
  «Furchtbar,  sage ich dir.»
  «Dook,  deine Truppe arbeitete mit unserer damals bei Chamfort, nicht?»
  «Du  meinst, als wir das Hospital räumten?» «Ja. War das nicht die Hölle?»
  Dan Cohen  schluckte ein halbes Glas Rotwein hinunter, schmatzte mit seinen dicken Lippen  und begann zu erzählen: «Unsere Abteilung kam gerade aus Verdun. Da war ein  kleiner Hügel, auf dem wir arbeiteten. Der Schlamm war so tief, und es stank  furchtbar, wenn die Granaten kamen und den Boden aufwühlten, dass die Leichen  nur so herumlagen... Sag mal, Dook,  hast du Geld?» «Ja», sagte Dook ruhig.
  «Der  Champagner ist verflucht gut hier. Ich gehöre hier zur Abteilung V. Ich werd's  dir zurückgeben bei der nächsten Löhnung.»
  «Gut.»
  Dan Cohen  wandte sich um und flüsterte irgend etwas zu Marie. Sie lachte und tauchte  wieder hinter dem Vorhang unter.
  «Aber  Chamfort war noch schlimmer. Alle waren einigermaßen nervös, weil die  Deutschen eine Mitteilung abgeworfen hatten, in der stand, nach drei Tagen soll  das Hospital geräumt sein, und dass sie es dann zusammenschießen würden. Was Komisches  passierte dort. Das Hospital war in einem großen Haus, das wie ein  Atlantic-City-Hotel aussah. Wir stellten oft unseren Wagen hinter dem Hause auf  und schliefen darin. Dort lagen Leute, die wie wild schrieen und am ganzen  Körper zitterten... In dem Flügel uns  gegenüber lag ein Mann, der immerzu lachte. Bill Rees war auf dem Wagen mit  mir, und wir lagen in unseren Decken im Wagen, und von Zeit zu Zeit wandten  wir uns einander zu und flüsterten: <Ist dies nicht die Hölle, Mensch?>  weil dieser Kerl immerzu lachte wie einer, der gerade einen Witz gehört hatte,  der so komisch war, dass man nicht aufhören konnte zu lachen. Es war nicht wie  das Lachen eines Verrückten...  Als  ich es das erste Mal hörte, dachte ich, es sei ein Mann, der wirklich lache.  Und ich glaube, ich lachte dann auch. Aber er hörte nicht wieder auf. Bill Rees  und ich lagen in unserem Wagen, zitternd, horchten auf das schwere Geräusch der  Aeroplanbomben, die dann und wann explodierten, aber der Kerl, der lachte,  lachte, als ob er gerade einen Witz gehört habe, als ob irgend etwas ihm  furchtbar komisch vorkomme... »
  Dan Cohen  nahm einen Schluck Champagner und warf seinen Kopf auf die Seite.
  «Und  dieses verfluchte Lachen hielt an bis zum Nachmittag des nächsten Tages, wo die  Krankenwärter den Kerl erwürgten... »
  Fuselli  sah auf die andere Seite des Raumes, wo ein schwaches Gemurmel der Entrüstung  sich aus den Zähnen des dunklen Mannes mit dem unrasierten Gesicht  hervorwagte. Fuselli dachte, es sei nicht gut, zuviel mit einem Manne wie Cohen  gesehen zu werden, der von den Deutschen erzählte, sie benachrichtigten die  Krankenstationen vor dem Bombardement, und den man vor das Kriegsgericht stellen  werde. «Es ist eine Dummheit», murmelte er.
  Er  schlüpfte aus dem Cafe hinaus in die Dunkelheit. Ein nasskalter Wind pfiff  durch die Straße, störte die Lichtflecken in den Pfützen und ließ irgendwo  einen Fensterladen klappern.
  Fuselli  ging wieder auf den Marktplatz, warf einen neidischen Blick in das Fenster vom  «Cheval Blanc», wo Offiziere im hell erleuchteten Zimmer Billard spielten und  ein blondes Mädchen in himbeerfarbener Hemdbluse hinter der Bar stand. Er  erinnerte sich an den Feldgendarmen und beschleunigte automatisch seine  Schritte.
  In einer  engen Straße auf der anderen Seite des Platzes hielt er vor einem kleinen  Gemüsegeschäft an und schaute hinein, blieb aber sorgfältig außerhalb des  Lichtstreifens, in dem man die grünen und grauen Wände gegenüber sehen konnte.  Ein Mädchen saß strickend neben dem kleinen Ladentisch. Sie hatte ihre beiden  kleinen schwarzen Füße ehrbar auf die Ecke einer Kiste mit roten Rüben gesetzt.  Sie war sehr klein und schlank. Das Lampenlicht lag auf ihrem schwarzen Haar,  das fest um den Kopf gelegt war. Ihr Gesicht war im Schatten. Einige Soldaten  lungerten plump um den Ladentisch, folgten ihren Bewegungen mit Augen, wie  Hunde einen Teller mit Fleisch bewachen, mit dem in der Küche hantiert wird.  Nach einiger Zeit rollte das Mädchen ihr Strickzeug zusammen und sprang auf die  Füße. Man sah ihr Gesicht, ein ovales, weißes Gesicht mit großen, schwarzen  Wimpern und einem frechen Mund. Sie sah sich die Soldaten an, die im Kreise um  sie herumstanden, verzog dann ihren Mund zu einer Grimasse und verschwand in  dem hinteren Zimmer. Fuselli ging an das andere Ende der Straße, wo eine  Brücke über einen kleinen Fluss führte. Er lehnte sich auf das kalte, steinerne  Geländer und sah in das Wasser, das, nur wenig sichtbar, unten zwischen den  Eisstücken sich hindurchwand.
  «Dieses  Leben ist eine Hölle», murmelte er.
  Er  zitterte in dem kalten Winde und blieb doch über das Wasser gebeugt. In der  Ferne ratterten ununterbrochen Züge und gaben seinem Bewusstsein das Gefühl  weiter, verzweifelter Entfernungen. Die Turmuhr schlug acht. Die Glocke hatte  den weichen Klang einer Gitarre. In der Dunkelheit konnte Fuselli fast das  Gesicht des Mädchens sehen, das seine breiten, frechen Lippen zu einer Grimasse  verzog. Er dachte an die dunklen Baracken und an die Männer, die da saßen auf  ihren Lagerstellen. Er konnte noch nicht zurückgehen, sein ganzer Körper war  gestrafft von dem Verlangen nach Wärme und Weichheit und Ruhe. Er schlich die  enge Straße zurück, fluchte monoton und trübe. Vor dem Gemüsegeschäft blieb er  stehen. Die Männer waren weggegangen. Er ging hinein, zog seine Mütze etwas auf  die eine Seite, so dass sein dickes, lockiges Haar ihm auf die Stirn fiel. Die  kleine Glocke der Tür schellte.
  Das  Mädchen kam aus dem inneren Zimmer. Sie gab ihm gleichgültig die Hand.
  «Comment ca va, Yvonne? Bon?»
  Sein  gebrochenes Französisch belustigte sie. Sie zeigte lächelnd ihre kleinen  perligen Zähne.
  «Gut»,  sagte sie. Beide lachten kindlich.
  «Sag,  willst du mein Mädel sein, Yvonne?»
  Sie sah  ihm in die Augen und lachte.
  «Non compris», sagte sie.
  «Vi, vi! voulez vous et' ma fille?»
  Sie  schrie vor Lachen und patschte ihm ins Gesicht.
  «Venez»,  sagte sie, noch immer lachend. Er folgte ihr. Im inneren Zimmer war ein großer  eichener Tisch und einige Stühle. Am Ende saßen Eisenstein und ein  französischer Soldat aufgeregt in ein Gespräch vertieft, so aufgeregt, dass  sie die beiden anderen gar nicht bemerkten. Yvonne nahm den Franzosen am Haar  und erzählte, immer noch lachend, was Fuselli gesagt hatte.
  Er lachte.
  «Nein.  Sie dürfen solche Dinge nicht sagen», sagte er auf englisch und wandte sich an  Fuselli.
  Fuselli  war wütend und setzte sich missmutig an das Ende des Tisches, ließ aber die  Augen nicht von Yvonne. Sie zog das Strickzeug aus ihrer Schürzentasche, hielt  es scherzhaft zwischen den Fingern, sah nach der dunklen Ecke des Zimmers  hinüber, wo eine alte Frau mit einem Spitzenhäubchen auf dem Kopfe schlafend  saß, und dann ließ sie sich in den Stuhl fallen.
  «Bumm!»  sagte sie.
  Fuselli  lachte, bis ihm die Tränen kamen. Sie lachte auch. Sie saßen eine Weile so,  schauten einander an und kicherten, während Eisenstein und der Franzose  weitersprachen. Plötzlich hörte Fuselli einen Satz, der ihm Schrecken einjagte:
  «Was  würdet ihr Amerikaner tun, wenn in Frankreich Revolution ausbricht?»
  «Wir  würden tun, was man uns befehlen wird», sagte Eisenstein bitter. «Wir sind  eine Herde Sklaven.»
  Fuselli  bemerkte, dass Eisensteins bleiches Gesicht flammend rot war und dass in seinen  Augen ein Flackern glänzte, das er vorher nie gesehen hatte.
  «Was  meint ihr, Revolution?» fragte Fuselli verwirrt. Der Franzose heftete seine  schwarzen Augen forschend auf ihn.
  «Ich  meine, Schluss mit den Verbrechern. Die kapitalistische Regierung stürzen — die  soziale Revolution.»
  «Aber ihr  lebt doch schon in einer Republik, nicht wahr?»
  «Genau so  einer Republik, wie ihr auch.»
  «Du  sprichst wie ein Sozialist», sagte Fuselli. «Man erzählt mir, dass sie in  Amerika die Leute erschießen, wenn sie so sprechen.»
  «Du  siehst», sagte Eisenstein zu dem Franzosen. «Sind sie alle so?»
  «Fast  ohne Ausnahme. Es ist hoffnungslos», sagte Eisenstein und vergrub sein Gesicht  in den Händen. «Ich denke oft daran, mich zu erschießen.»
  «Erschieße  lieber andere», sagte der Franzose. «Das wird nützlicher sein.»
  Fuselli  bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her. «Wo habt ihr Kerls dieses  Zeugs überhaupt her?» fragte er. Seine Augen trafen sich mit Yvonnes, und sie  lachten beide. Yvonne warf ihr Strickknäuel ihm an den Kopf. Es rollte hinunter,  und sie suchten beide kichernd unter dem Tisch, um es wieder aufzufinden.
  «Zweimal  glaubte ich, es würde geschehen», sagte der Franzose.
  «Wann?»
  «Vor  einiger Zeit setzte sich eine Division in Marsch auf Paris... und als sie in Verdun war... eine Revolution wird kommen... Frankreich ist das Land der  Revolutionen!»
  «Dann  werden wir da sein, um euch niederzuschießen», sagte Eisenstein ingrimmig.
  «Wartet,  bis ihr im Krieg wart. Ein Winter in den Schützengräben macht jedes Heer  bereit zur Revolution.»
  «Aber es  gibt keine Möglichkeit, uns die Wahrheit beizubringen, und in der Tyrannei  wird der Mensch zum Tier, zu einer Schraube in der Maschinerie. Denk daran, dass  ihr freier seid als wir. Wir sind schlimmer dran als die Russen.»
  «Es ist  seltsam. Ihr müsst doch etwas Gefühl für Zivilisation haben. Ich habe immer  gehört, dass Amerikaner frei und unabhängig sind. Werdet ihr euch denn immer  in die Schlächterei treiben lassen?»
  «Oh, ich  weiß nicht.» Eisenstein stand auf. «Wir gehen besser zu den Baracken zurück.  Kommst du mit, Fuselli?» fragte er.
  «Vielleicht»,  antwortete Fuselli gleichgültig, ohne aufzustehen
  Eisenstein  und der Franzose gingen hinaus in den Laden.
  «Bon  swar», sagte Fuselli sanft und lehnte sich über den Tisch. «Heh, Mädchen!» Er  warf sich über den breiten Tisch, legte seine Arme um ihren Nacken und küsste  sie. Alles in ihm war ein einziges Begehren. Sie schob ihn ruhig weg mit kräftigen  kleinen Armen. «Lass», sagte sie und wies mit dem Kopfe in der Richtung auf die  alte Frau, die in ihrem Stuhl in der dunklen Ecke des Zimmers saß.
  Dann  standen sie aneinandergelehnt und horchten auf das schwache, schnaufende  Schnarchen. Wieder legte er seine Arme um sie und küsste sie lange auf den  Mund. «Demain», sagte er. Sie nickte mit dem Kopfe.
  Fuselli  ging schnell die dunkle Straße nach dem Lager hinunter. Das Blut schlug froh  in seinen Adern. Er holte Eisenstein ein.
  «Sag mal,  Eisenstein», sagte er kameradschaftlich, «ich meine, du solltest aufhören, so  zu sprechen. Du wirst dir damit etwas Furchtbares einbrocken.»
  «Ist mir  egal.»
  «Aber  Mann, mach doch nicht solche Dummheiten. Die erschießen Leute für weniger, als  was du sagtest.» «Lass sie.»
  «Sei doch  nicht ein solcher Narr, Mensch!» rief Fuselli aus.
  «Wie alt  bist du, Fuselli?»
  «Zwanzig.»
  «Ich bin  dreißig. Ich habe mehr erlebt als du, Junge, ich weiß, was gut und was schlecht  ist. Diese Schlächterei macht mich unglücklich.»
  «Ich  weiß, es ist die Hölle, aber wer ist schuld daran? Wenn irgendeiner den Kaiser  erschossen hätte...» Eisenstein  lachte bitter.
  Am  Eingang des Lagers wartete Fuselli einen Augenblick und beobachtete die kleine  Gestalt Eisensteins, die mit ihrem etwas watschelnden Gang in der Dunkelheit  verschwand. «Ich werde in Zukunft sehr vorsichtig sein», meinte er zu sich  selbst. «Dieser verdammte Franzose ist vielleicht ein deutscher Spion oder ein  Offizier im Geheimdienst.»
  Ein  kalter Schauer überfiel ihn und erschütterte seine frohe Selbstzufriedenheit.  Seine Füße brachen durch das dünne Eis in die Pfützen, als er die Straße hinauf  zu den Baracken ging. Er fühlte, man beobachte ihn von überall her aus der  Dunkelheit, irgendeine gigantische Gestalt treibe ihn vorwärts durch die  Dunkelheit, halte eine Faust über seinen Kopf und sei bereit, ihn zu Boden zu  schlagen. Als er in seine Decken eingerollt lag, flüsterte er seinem Freunde  Bill Grey zu: «Ich habe da in der Stadt mit einem Mädel 'ne Geschichte  angefangen.»
  «Mit  wem?»
  «Yvonne.  Aber sag's niemand.» Bill Grey pfiff leise: «Du willst hoch hinaus, Dan.»  Fuselli unterdrückte ein Kichern: «Das Beste ist immer noch nicht gut genug für  mich.»
  «Ich  werde euch verlassen», sagte Bill Grey. «Wann?»
  «Sehr  bald. Ich kann dieses Leben nicht ertragen. Verstehe nicht, wie du's fertig  bringst.»
  Fuselli  gab keine Antwort. Er schmiegte sich warm in seine Decken, dachte an Yvonne und  daran, dass er bald Korporal sein werde.
  Im Licht  der einen flackernden Lampe, die einen unruhigen rötlichen Schein auf den  Bahnsteig warf, sah Fuselli auf seinen Pass. Vom Morgen des vierten bis zum  Morgen des fünften Februar war er ein freier Mann.
  Seine  Augen schmerzten noch vom Schlaf, als er den kalten Bahnsteig auf und ab ging.  Vierundzwanzig Stunden würde er niemands Befehlen gehorchen müssen. Trotz der  Einsamkeit, in einem fremden Land nachts in einem Zuge fahren zu müssen, war  Fuselli glücklich. Er klimperte mit dem Geld in seiner Tasche.
  Den  Schienenstrang hinunter erschien ein rotes Auge und wuchs, immer näher kommend.  Er konnte das schwere Geräusch der fahrenden Lokomotive hören. Ein großes,  flackerndes Feuer leuchtete rot auf, als die Lokomotive langsam an ihm  vorbeirollte. Ein Mann mit nackten Armen, die von Kohlenstaub schwarz waren,  lehnte heraus, vom Feuerschein grell beleuchtet. Jetzt glitten die Wagen an ihm  vorbei. Offene Wagen mit Kanonen darauf mit Tuch überspannt, wie die Schnauzen  von Jagdhunden, Güterwagen, aus denen hier und da der Kopf eines Mannes herausschaute.  Der Zug hielt fast an. Die Wagen klirrten gegeneinander, den ganzen Zug  hinunter. Fuselli sah ein paar Augen, die im Lampenlicht glänzten; eine Hand  streckte sich ihm entgegen.
  «Auf  Wiedersehen», sagte eine knabenhafte Stimme. «Weiß nicht, wer du bist. Aber auf  Wiedersehen und viel Glück!»
  «Auf  Wiedersehen», stammelte Fuselli. «Ihr geht an die Front?»
  «Ja»,  antwortete eine andere Stimme.
  Der Zug  setzte sich wieder in Bewegung. Das Geräusch der gegeneinanderklirrenden Wagen  hörte auf, und bald bewegten sie sich wieder schnell vor Fusellis Augen. Dann  war die Station wieder dunkel und leer. Er beobachtete das rote Licht, wie es  kleiner und blasser wurde, während der Zug in die Dunkelheit hineinratterte.
Goldene,  grüne und rote Seide und verworrene Zeichnungen von nackten, fleischigen  Cupidos erfüllten Fusellis verwirrten Sinn, als er voll Staunen die Treppe des  Palastes hinunterspazierte, in den schwach rötliches Sonnenlicht  hineinströmte. Einige Namen, Napoleon, Josephine, das Empire, die nie für ihn  irgendwelche Bedeutung gehabt hatten, gingen ihm geisterhaft durch den Sinn,  wie eine Darstellung lebender Statuen in einem Vaudevilletheater.
  «Diese  Leute müssen Geld gehabt haben», sagte er zu dem Manne, der mit ihm ging, einem  Flieger. «Lass uns gehen und zusammen ein Glas trinken.»
  Fuselli  war still und in seine Gedanken vertieft. Hier war etwas, was seine Visionen  von Reichtum und Ruhm übertraf, die er mit Al zu teilen pflegte, als sie die  großen Schiffe voll glitzernder Lichter beobachteten, die durch das «Goldene  Tor» hereinkamen.
  «Sie  hatten nichts dagegen, nackte Frauen um sich zu haben», sagte der Flieger, der  ein mürrischer kleiner Mann war, schlecht aus dem Munde roch und in einem  Wollgeschäft beschäftigt gewesen war.
  «Hast du  was dagegen?»
  «Nee,  kann nichts dagegen haben... Das  waren aber sicher ganz unmoralische Leute», fuhr er fort.
  Sie  wanderten schlaff durch die Straßen von Fontainebleau, sahen in die Schaufenster  hinein, starrten die Frauen an, die auf Bänken in Parks herumlagen, wo das  schwache Sonnenlicht durch das Spitzenwerk der Zweige purpurrötlich und gelb  hindurchdrang. «Wollen noch einen trinken», sagte der Flieger. Fuselli sah auf  die Uhr. Sie hatten noch Stunden Zeit bis zur Abfahrt. Ein Mädchen mit einer  losen, schmutzigen Schürze wischte den Tisch ab. «Vin blanc», sagte der andere  Mann.
  Fusellis  Kopf war voll der goldenen und grünen Seide und der Zeichnungen, auf denen  nackte, fleischige Cupidos sich unanständig dehnten. «Eines Tages», sagte er  laut zu sich selbst, «werde ich einen Haufen Geld verdienen und in einem  solchen Hause mit Mabe wohnen. Nein, mit Yvonne, oder mit irgendeinem anderen  Mädel.»
  «Müssen  tatsächlich Hurenflegel gewesen sein, diese Leute», sagte der Flieger. Dann  blinzelte er das Mädchen mit der schmutzigen Schürze an.
  Fuselli  erinnerte sich an ein Trinkgelage, das er in dem «Quo vadis»-Film gesehen  hatte, wo Leute in Badekleidung mit großen Schalen in den Händen herumtanzten.
  «Cognac,  beaucoup», sagte der Flieger.
Das Horn  schreckte Fuselli aus seinen Decken, noch halbtot vor Schlaf. «Ich habe wieder  Kopfschmerzen, Bill», murmelte er. Er bekam keine Antwort. Da erst bemerkte er,  dass das Lager neben seinem leer war. Die Decken waren am Ende sauber zusammengefaltet.  Eine plötzliche Angst erfasste ihn. Wie sollte er ohne Bill Grey auskommen! Es  würde niemand da sein, mit dem er umgehen könne. Er starrte auf das leere  Lager. «A-chtung!»
  Die  Kompanie war aufmarschiert im Dunkeln, mit den Füßen in den Schlammpfützen der  Straße. Der Leutnant ging die Front auf und ab, seine Rockschöße standen von  seinem Körper ab wie ein Schwanz. Er hatte eine Taschenlaterne, mit der er der  Kompanie ins Gesicht leuchtete.
  «Falls  irgendeiner weiß, wo William Grey sich befindet, der hat sofort Bericht zu  erstatten, sonst werden wir ihn wegen unerlaubter Entfernung aus dem Lager auf  die Liste setzen. Ihr wisst, was das bedeutet.»
  Der  Leutnant sprach in kurzen, schrillen Sätzen, hackte die Enden seiner Worte wie  mit einem Beil ab. Niemand sagte etwas.
  «Und ich  habe euch noch eine andere Mitteilung zu machen, Leute», sagte der Leutnant.  «Ich ernenne hiermit den Gefreiten Fuselli zum stellvertretenden Korporal.»
  Fusellis  Knie wurden schwer unter ihm. Er glaubte, er müsse schreien und tanzen vor  Freude. Er war froh, dass es dunkel war, so dass niemand sehen konnte, wie sehr  erregt er war.
  «Sergeant,  lassen Sie die Kompanie abtreten», sagte der Leutnant und schraubte seine  Stimme mühevoll in den gewöhnlichen militärischen Ton zurück.
  «Kompanie  abtreten!» befahl der Sergeant gutmütig.
  Die  Kompanie ging zerstreut in einzelnen Gruppen über das große Feld durch den  Schlamm hindurch zu den Baracken.
4
Yvonne  drehte das Omelett mit einem Ruck herum. Es kam zischend in die Pfanne zurück,  und sie trat vor ins Licht und trug die Bratpfanne vor sich her. Hinter ihr war  der dunkle Ofen und darüber eine Reihe von Kupferkesseln, die aus der blauen  Dunkelheit schwach herüberglitzerten. Sie ließ das Omelett aus der Pfanne  herausschnellen auf den weißen Teller, der in der Mitte des Tisches stand.  «Tiens», sagte sie und strich sich ein paar Haare mit dem Handrücken aus der  Stirn zurück.
  «Du  kannst fein kochen», sagte Fuselli und stand auf. Er hatte sich auf einem  Stuhl in der anderen Ecke der Küche herumgeflegelt und von dort Yvonnes  schlanken Körper im engschließenden schwarzen Kleid und blauer Schürze  beobachtet: wie sie ins Licht trat und dann wieder heraus beim Zubereiten des  Essens. Ein Geruch von gebratener Butter mit einem leisen Zusatz von Pfeffer  erfüllte die Küche und ließ ihm das Wasser im Munde zusammenrinnen. «So ist es  richtig», sagte er zu sich selbst, «wie zu Hause.»
  Er hatte  die Hände in den Taschen vergraben und den Kopf zurückgeworfen und beobachtete  sie, wie sie Brot schnitt, den großen Laib an ihre Brust gedrückt. Sie bürstete  einige Krumen mit ihrer dünnen weißen Hand von ihrem Kleide ab.
  «Du bist  mein Mädel, Yvonne, nich'?» Fuselli legte seine Hand um sie.
  «Sale  bête», sagte sie lachend und schob ihn fort.
  Draußen  kam ein schneller Schritt, und ein anderes Mädchen trat in die Küche, ein  dünnes Geschöpf mit gelbem Gesicht, scharfer Nase und langen Zähnen.
  «Ma cousine, mon 'tit americain.» Sie lachten beide.
  Fuselli  wurde rot, als er dem Mädchen die Hand schüttelte.
  «Il est  beau, hein?» sagte Yvonne mürrisch.
  «Mais, ma petite, il est charmant, vot' americain!» Sie lachte wieder.
  Fuselli,  der nicht recht verstand, lachte auch und dachte bei sich, die werden das Essen  kalt werden lassen, wenn sie sich nicht bald hinsetzen.
  «Hole  Maman, Dan», sagte Yvonne.
  Fuselli  ging in den Laden durch den Raum mit dem großen Eichentisch hindurch. In dem  schwachen Licht, das aus der Küche hereinkam, sah er die weiße Haube der alten  Frau. Ihr Gesicht war im Schatten, aber in ihren kleinen, perligen Augen lag  ein schwacher Glanz.
  «Abendbrot,  Madame!» rief er. Sie murmelte irgend etwas in ihrer kreischenden, kleinen  Stimme und folgte ihm dann in die Küche.
  Vom  Lampenlicht vergoldeter Dampf stieg aus der großen Suppenterrine wie Kissen zur  Decke empor. Ein weißes Tuch lag auf dem Tisch und ein großer Laib Brot am  Ende. Die verzierten Teller schienen Fuselli die schönsten, die er je gesehen  hatte. Die Weinflasche stand dunkel neben der Suppenterrine, und der Wem in den  Gläsern warf dunkelrote Lichtflecke auf das Tischtuch. Fuselli aß seine Suppe  schweigend. Er verstand sehr wenig von dem Französisch, das die beiden Mädchen  miteinander sprachen. Die alte Frau sagte selten etwas, und wenn sie es tat,  warf ihr eines der beiden Mädchen eine heftige Bemerkung zu; sie ließen sich  kaum dadurch in ihrem Plaudern stören.
  Fuselli  dachte an die anderen, die jetzt in Reih und Glied vor der dunklen Essbaracke  aufmarschiert standen und an das Geräusch des Essens, wenn es in die großen Essgeschirre  hineingelöffelt wurde. Plötzlich kam ihm ein Gedanke: «Ich werde Yvonne dem  Sergeanten vorführen. Wir können ihn ja zum Essen auffordern. Wird auch meinem  Vorwärtskommen nichts schaden.»
  Das  Omelett schmolz ihm im Munde.
  «Verflucht  bon», sagte er zu Yvonne mit vollem Munde. Sie sah ihn groß an.
  «Bon,  bon», sagte er wieder.
  «Du... bon, bon», sagte sie und lachte. Die  Cousine sah neidisch von einem auf den anderen. Ihre Oberlippe hob sich von  den Zähnen zu einem Lächeln.
  Die alte  Frau kaute schweigend auf ihrem Brot herum.
  «Da ist  jemand im Laden», sagte Fuselli nach einer langen Pause.
  «Je  irey.» Er legte seine Serviette nieder und ging hinaus, nachdem er seinen Mund  mit dem Handrücken abgewischt hatte.
  Eisenstein  und ein Junge mit kreidigem Gesicht waren im Laden.
  «Hallo?  Führst du hier Wirtschaft?» fragte Eisenstein. «Natürlich», sagte Fuselli  eingebildet.
  «Habt ihr  'was Schokolade?» fragte der Junge mit dem kreidigen Gesicht in dünnem,  blutleerem Tone.
  Fuselli  schaute in den Fächern herum und warf eine Tafel Schokolade auf den Ladentisch.
  «Noch  was?»
  «Danke,  Korporal. Wie viel sind wir schuldig?»
  Fuselli  pfiff ein Lied und ging in das Innere des Zimmers zurück. «Combien Schokolade?»  fragte er.
  Nachdem  er das Geld in Empfang genommen hatte, setzte er sich wieder auf seinen Platz  am Tisch und lächelte wichtig.
  «Muss Al  das schreiben», dachte er, und er wunderte sich, ob wohl Al eingezogen sei.
  Nach  Tisch saßen die Frauen eine Weile plaudernd beim Kaffee, während Fuselli  unruhig auf seinem Stuhl hin und her rückte, dann und wann auf die Uhr  schauend. Sein Pass lautete nur bis zwölf Uhr, und es ging jetzt schon auf  zehn. Er versuchte Yvonnes Augen zu erhaschen. Aber sie bewegte sich in der  Küche, machte alles für die Nacht fertig und schien ihn kaum zu beachten.  Endlich schob sich die alte Frau in den Laden, und man hörte einen Schlüssel  schwer in der äußeren Tür knarren.
  Als sie  zurückkam, sagte Fuselli allen gute Nacht und ging durch die hintere Tür in den  Hof hinaus. Dort lehnte er sich verdrießlich gegen die Mauer und lauschte im  Dunkeln auf die Geräusche, die aus dem Hause kamen. Er konnte die Schatten sehen,  die durch das orangefarbene Lichtviereck hindurchgingen, das das Fenster auf  die Pflastersteine des Hofes hinabwarf. Ein Licht erschien in einem oberen  Fenster und sandte einen schwachen Schein nach den unordentlichen Ziegeln des  gegenüberliegenden Daches. Die Tür öffnete sich, und Yvonne und ihre Cousine  standen plaudernd auf der breiten Steintreppe der Tür. Fuselli hatte sich  hinter ein großes Fass zurückgezogen, dessen altes, feuchtes Holz einen  angenehmen Weingeruch ausströmte. Schließlich bewegten sich die Köpfe für einen  Augenblick im Schatten auf den Pflastersteinen aufeinander zu, und dann war die  Cousine über den Hof in die Straßen hinaus. Ihre schnellen Schritte erstarben  allmählich. Yvonnes Schatten war noch in der Tür zu sehen.
  «Dan»,  sagte sie weich. Fuselli kam hinter dem Fass hervor. Sein ganzer Körper zuckte  vor Freude. Yvonne deutete auf seine Schuhe. Er zog sie aus und ließ sie unter  der Tür zurück. Er sah auf die Uhr. Es war ein Viertel auf elf.
  «Viens»,  sagte sie. Er folgte ihr. Seine Knie zitterten ein wenig vor Aufregung, als er  die steilen Stufen hinaufstieg.
Die tiefen Schläge der Turmuhr begannen gerade Mitternacht zu schlagen, als Fuselli in das Lagertor hineineilte. Er gab seinen Pass der Wache und marschierte zu den Baracken. Die standen abgrundschwarz, erfüllt von einem Ton tiefen Atmens und dem gelegentlichen Geräusch von Schnarchen. Ein dicker Geruch von Uniformwolle, in der Schweiß eingetrocknet war, quoll ihm entgegen. Fuselli zog sich ohne Hast aus und dehnte wohlig die Arme. Er wickelte sich in seine Laken, fühlte sich kühl und müde und schlief mit einem Lächeln der Selbstzufriedenheit auf den Lippen ein.
Die  Kompanien waren aufmarschiert und standen steif wie die Spielzeugsoldaten. Der  Abend war fast warm, ein kleiner, spielerischer Wind tändelte mit den  schwellenden Knospen der Platanen. Der Himmel hatte eine schläfrige, violette  Farbe, und das Blut sprang heiß und stechend durch die steifgewordenen Arme und  Beine der Soldaten.
  Die  Stimmen waren heut Abend besonders hart und metallisch. Man murmelte, ein  General werde kommen. Befehle wurden wütend ausgeschrieen. Fuselli stand  hinter seiner Kompanie, die Brust herausgepresst, dass die Knöpfe seiner  Uniform fast abplatzten. Seine Stiefel waren gut geputzt, und er hatte ein Paar  neue Gamaschen um, die so fest gebunden waren, dass seine Beine schmerzten.  Endlich ertönte das Horn über dem schweigenden Feld.
  «Rühren!»  rief der Leutnant.
  Fuselli  war voll von der Armeedienstordnung, die er die ganze letzte Woche hindurch  eifrig studiert hatte. Er dachte an ein Examen, das er vielleicht durchgehen  müsse, um endgültig seine Korporalswürde zu erhalten. Als die Kompanie  entlassen wurde, ging er vertraulich an den ersten Sergeanten heran.
  «Sag mal,  Serge', hast du heute Abend was vor?»
  «Nee»,  meinte der.
  «Nun, dann  komm mit in die Stadt. Ich will dir jemand vorstellen.» «Fein.»
  «Sag,  Sergeant, haben sie den Beförderungsschein schon geschickt?»
  «Nee,  noch nicht, Fuselli», sagte der Sergeant. «Aber es kommt alles schon in  Ordnung», fügte er hinzu.
  Sie  gingen schweigend zur Stadt. Der Abend war silbrig-violett. Die wenigen  erleuchteten Fenster der alten, grau-grünen Häuser warfen ein orangefarbenes  Licht auf den Weg. Ein Wagen des Stabes schoss vorbei, bespritzte sie mit  Schmutz. Sie sahen im Vorüberfahren Offiziere, die sich tief in die Kissen zurückgelehnt  hatten.
  Sie  hatten den Marktplatz erreicht. Sie grüßten stramm, als zwei Offiziere sich an  ihnen vorbeischoben.
  «Wie sind  die Bestimmungen, wenn einer ein französisches Mädchen heiraten will?» kam  Fuselli plötzlich heraus.
  «Hast  dich wohl einfangen lassen?»
  «Nee.»  Fuselli war ganz rot geworden. «Wollte nur so 'mal wissen.»
  Sie  hatten vor dem Gemüseladen Halt gemacht. Fuselli sah durch das Fenster hinein.  Der Laden war voller Soldaten. Zwischen ihnen saß Yvonne und strickte.
  «Wollen  erst 'mal gehen, was trinken und dann zurückkommen», sagte Fuselli.
  Sie  gingen zu dem Cafe, wo Marie mit den weißen Armen war. Fuselli bezahlte für  zwei heiße Punsch.
  «So,  Serge», sagte er vertraulich. «Ich schrieb allen meinen Leuten zu Hause, dass  ich Korporal sei. Es würde 'ne ekelhafte Geschichte sein, wenn man mich nun  tatsächlich nicht befördern würde.»
  Der erste  Sergeant trank das heiße Getränk in kleinen Schlucken herunter. Ein breites  Lächeln ging über sein Gesicht, und er legte seine Hand väterlich auf Fusellis  Knie. «Brauchst dich nicht drum zu sorgen. Ich bring' die Geschichte in  Ordnung», sagte er. Dann fügte er jovial hinzu: «Wollen jetzt mal gehen und  dein Mädchen angucken.»
  Sie  gingen in die dunklen Straßen hinaus. Der Wind hatte den leisen Duft des  Frühlings, trotz des Geruches von Karbid. Yvonne saß unter der Lampe im Laden,  ihre Füße auf einer offenen
  Kiste,  und gähnte gelangweilt. Yvonne sprang auf, als Fuselli und der Sergeant die Tür  öffneten.
  «Du bist  gut», sagte sie. «Je mourais de cafard.» Sie lachte. «Du  weißt, was das heißt: cafard?»
  «Sicher.»
  «Avant la guerre, on ne savait pas, ce que c'était le  cafard. Der Krieg taugt nichts.»
  «Komisch,  nich'», sagte Fuselli zum ersten Sergeanten. «Man kann sich gar nicht ausmalen,  wie der Krieg aussieht.»
  «Sorg  dich nicht darum. Werden schon alle noch an die Front kommen», erwiderte der  Sergeant.
  «Das ist  der Sergeant, Yvonne», stellte Fuselli vor.
  «Oui,  oui, je sais», antwortete die und lächelte den Sergeanten an.
  Sie saßen  in dem kleinen Zimmer hinter dem Laden, tranken weißen Wein und sprachen so gut  sie konnten mit Yvonne, die in ihrem schwarzen Kleid und blauer Schürze auf der  Ecke eines Stuhles saß, ihre Füße fest zusammengepresst, und dann und wann auf  die Streifen am Ärmel des Sergeanten schaute.
Fuselli  ging vertraulich pfeifend in den Gemüseladen hinein und riss die Tür zum  inneren Zimmer auf. Sein Pfeifen hörte plötzlich auf.
  «Hallo»,  fragte er beunruhigt.
  «Hallo,  Korporal», antwortete Eisenstein.
  Eisenstein  und sein französischer Freund, ein schmächtiger Mann mit schwarzem Bart und  brennend schwarzen Augen und Stockton, der junge Mann mit dem kreidigen  Gesicht, saßen am Tisch, sprachen vertraulich und scherzten mit Yvonne, die  neben dem Franzosen saß und alle ihre kleinen Perlenzähne lachend zeigte. In  der Mitte des dunklen Eichentisches stand ein Topf Hyazinthen und einige  Gläser, in denen Wein gewesen war. Der Duft der Hyazinthen schwebte im Zimmer,  mit einem schwachen, warmen Geruch aus der Küche vermischt. Nach kurzem Zögern  setzte sich Fuselli. Er wollte warten, bis die anderen weggehen würden. Es war  lange nach dem Löhnungstage, und seine Taschen waren leer; so konnte er  nirgendwo anders mehr hingehen.
  «Wie  behandelt man dich jetzt?» fragte Eisenstein Stockton nach einem Schweigen.
  «Genau wie  immer», sagte Stockton mit seiner dünnen Stimme ein wenig stotternd. «Manchmal  wünschte ich, ich wäre tot.»
  «Hm»,  sagte Eisenstein, einen seltsamen Ausdruck des Verstehens auf dem Gesicht.  «Eines Tages werden auch wir wieder Zivilisten sein.»
  «Ich  nicht», meinte Stockton.
  «Mensch»,  sagte Eisenstein. «Du musst die Oberlippe steifhalten. Ich dachte auch, ich  würde sterben auf dem Transport über See, und als ich klein war und mit den  Emigranten aus Polen hinüberging, dachte ich auch, ich werde sterben. Der  Mensch kann mehr aushalten, als man so denkt. Habe nie gedacht, dass ich es  aushalten könnte, in der Armee zu sein, wie ein Sklave behandelt zu werden und  all das andere. Und doch bin ich noch hier. Nee, du wirst schon lange leben und  noch viel Erfolg haben.»
  Er legte  seine Hand auf Stocktons Schulter. Der Junge fuhr zusammen und zog seinen Stuhl  weg.
  «Warum  tust du das? Ich will dir nicht wehtun», sagte Eisenstein.
  Fuselli  sah sie beide mit Verachtung an.
  «Ich werde  dir sagen, was du tun musst», meinte er herablassend. «Lass dich zu unserer  Kompanie versetzen. Nich', Eisenstein? Wir haben 'nen anständigen Chef, 'nen  netten Sergeanten und 'ne Menge andere gute Kerls.»
  «Der  Sergeant war vor einigen Minuten hier», sagte Eisenstein.
  «So?»  fragte Fuselli. «Wo ist er hingegangen?» «Weiß nicht.»
  Yvonne  und der Franzose sprachen leise miteinander und lachten dann und wann. Fuselli  lehnte seinen Stuhl zurück, sah sie an und wünschte sich, dass er genug  Französisch könne, um zu verstehen, was sie sprachen. Er kratzte mit den Füßen  ärgerlich auf dem Boden hin und her. Seine Augen fielen auf die weißen  Hyazinthen. «Wie ich diese verfluchte Höhle hier hasse», murmelte er zu sich  selbst. Er dachte an Mabe und machte mit den Lippen ein Geräusch. «Na, die wird  jetzt schon verheiratet sein.» Yvonne, das war ein Mädchen für ihn, wenn er die  nur für sich haben könnte, irgendwo weit weg von den anderen, diesem verfluchten  Franzosen und ihrer alten Mutter. Er dachte, wie er mit Yvonne ins Theater  gehen werde. Wenn man Sergeant ist, kann man sich das ganz gut leisten. Er  zählte die Monate. Es war
  März. Nun  war er schon fünf Monate in Europa, und er war immer noch nur Korporal, und  das noch nicht einmal ganz. Er ballte die Fäuste vor Ungeduld. Dann beugte er  sich hinüber und schnüffelte laut an den Hyazinthen herum. «Riechen gut», sagte  er, «que disay vous, Yvonne?»
  Yvonne  sah ihn an, als ob sie vergessen habe, dass er im Zimmer sei. Ihre Augen  blickten ihn groß an, und sie brach in ein Lachen aus. Ihr Blick hatte ihn  warm gemacht, und er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, sah ihren schlanken  Körper mit einem behaglichen Gefühl des Besitzes an.
  «Yvonne,  komm mal hier rüber», sagte er.
  Sie sah  von ihm provozierend auf den Franzosen, dann kam sie und stand hinter ihm.
  «Que  voulez vous?»
  Fuselli  warf einen Blick auf Eisenstein. Der und Stockton waren wieder in aufgeregter  Unterhaltung mit dem Franzosen. Fuselli hörte jenes unangenehme Wort, das ihn  immer wütend machte, er wusste nicht, warum: Revolution.
  «Yvonne»,  sagte er so, dass nur sie es hören konnte. «Was würdest du dazu sagen, wenn  wir beide uns heirateten?»
  «Marié, moi et toi?» fragte Yvonne ganz verwundert.
  «Wi, wi.»
  Sie  schaute ihm einen Augenblick in die Augen. Dann warf sie den Kopf zurück und  brach in ein schallendes Gelächter aus. Fuselli wurde rot, stand auf und  schlug die Tür hinter sich zu, so dass die Scheiben klirrten. Er ging eilig zum  Lager zurück, wurde unterwegs von den grauen Lastkraftwagen, die ihren Weg  langsam durch die Hauptstraße hindurchratterten, mit Schlamm bespritzt. Die  Baracken waren dunkel und fast leer. Er setzte sich an das Pult des Sergeanten  und wandte mürrisch die Seiten der kleinen, blau gebundenen Heeresordnung um.
Das  Mondlicht glitzerte im Brunnen, der auf dem Marktplatz der Stadt sich befand.  Es war eine warme, dunkle Nacht mit schwachen Wolken, durch die der Mond bleich  hindurchschien, wie durch einen dünnen, seidenen Baldachin.
  Fuselli  stand am Brunnen, rauchte eine Zigarette, sah zu den gelben Fenstern des  «Cheval blanc» hinüber, aus denen das Geräusch von Stimmen und von  gegeneinanderschlagenden Billardkugeln kam. Er stand ruhig, ließ den Rauch der  Zigarette langsam durch seine Nase gehen, in seinen Ohren klang das silbrige  Plätschern des Wassers im Brunnen neben ihm. Der Lufthauch, der launisch aus  Westen kam, trieb warm an ihm vorbei. Fuselli wartete. Dann und wann nahm er  die Uhr heraus und strengte seine Augen an, um sehen zu können, wie viel Uhr es  sei, aber es war nicht hell genug. Endlich ertönte die Glocke der Kirche  einmal; es musste also halb elf sein. Er begann sich in Bewegung zu setzen und  ging zu der Straße hinunter, wo Yvonnes Gemüseladen war. Der schwache Schein  des Mondes beleuchtete die grauen Häuser mit den verschlossenen Fenstern und  den roten Dächern. Fuselli fühlte sich entzückend einig mit der Welt. Fast  konnte er Yvonnes Körper in seinen Armen fühlen, und lächelnd in der  Erinnerung an die Gesichter, die sie ihm oft schnitt, schlich er an den  verschlossenen Fenstern des Ladens vorbei und in die Dunkelheit unter den  Torbogen. Er ging vorsichtig auf Zehen, hielt sich nahe an die moosbedeckte  Mauer, denn er hörte Stimmen im Hof. Um die Ecke des Gebäudes spähend, sah er  verschiedene Leute in der Küchentür stehen und sprechen. Er zog seinen Kopf in  den Schatten zurück. In der Dunkelheit hatte er das Fass neben der Küchentür  gesehen. Wenn er sich nur verbergen könnte, wie er gewöhnlich tat, bis die  Leute weg sein würden!
  Er hielt  sich gut im Schatten, schlüpfte auf die andere Seite und wollte sich gerade  hinter dem Fass verstecken, als er bemerkte, dass schon jemand dahinter war.  Er hielt den Atem an und stand still. Sein Herz sprang vor Aufregung.
  Die  Gestalt wandte sich um, und in der Dunkelheit erkannte er das runde Gesicht des  ersten Sergeanten.
  «Sei  ruhig, Mann», flüsterte der erste Sergeant.
  Fuselli  stand still mit geballten Fäusten. Das Blut lief ihm heiß durch den Kopf. «Der  erste Sergeant ist eben der erste Sergeant», dachte er. «Es taugt nichts,  Dummheiten zu machen.»
  Seine  Beine brachten ihn automatisch zurück in die Ecke des Hofes, wo er sich gegen  die feuchte Wand lehnte und mit funkelnden Augen die beiden Frauen, die an der  Küchentür im Gespräch standen, sowie den dunklen Schatten hinter dem Fass beobachtete.  Schließlich, nach verschiedenen schmatzenden Küssen, gingen die Frauen  auseinander, und die Küchentür wurde geschlossen. Die Glocke im Kirchturm  schlug langsam und traurig elf. Als sie ausgeklungen hatte, hörte Fuselli ein  vorsichtiges
  Tappen  und sah den Schatten des ersten Sergeanten an der Tür. Wie der hineinschlüpfte,  hörte Fuselli ihn in seinem gutmütigen Ton laut flüstern. Dann Yvonne lachen.  Die Tür wurde geschlossen, und das Licht ging aus. Der Hof war nun ganz  dunkel, nur ein ferner Schein stand am Himmel. Fuselli marschierte hinaus und  machte so viel Lärm mit seinen Hacken auf den Pflastersteinen wie möglich. Die  Straßen der Stadt waren schweigend im fahlen Mondlicht. Auf dem Platz  plätscherte der Brunnen laut und metallisch. Er gab seinen Pass der Wache und  ging hinüber zu den Baracken. An der Tür traf er einen Mann mit Gepäck auf dem  Rücken.
  «Hallo,  Fuselli!» sagte eine Stimme, die er erkannte. «Ist mein altes Bett noch hier?»
  «Weiß  nicht», sagte Fuselli. «Ich dachte, sie hätten dich nach Hause gebracht.»
  Der  Korporal bekam einen Hustenanfall.
  «Nee»,  sagte er. «Sie hielten mich in diesem verfluchten Hospital, bis sie sahen, dass  ich nicht gleich sterben werde. Dann meinten sie, ich solle wieder zu meiner  Truppe zurück. So, da bin ich.»
  Er lachte  schwach.
  «Haben  sie dich versetzt?» fragte Fuselli mit plötzlichem Eifer.
  «Nee,  warum denn? Sie haben doch nicht etwa einen neuen Korporal ernannt?»
  «Nee,  nicht ganz», sagte Fuselli.
5
Meadville  stand in der Nähe des Lagertores und beobachtete die Motorlastzüge, die nach  der Hauptstraße zu vorbeidefilierten. Grau, schwerfällig und schlammbedeckt  ratterten sie vorbei, holperten durch die Löcher in der ausgefahrenen Straße  und dehnten sich, so weit er sehen konnte, zu einem endlosen Zuge aus, hinunter  in die Stadt und den ganzen Weg hinauf.
  Er stand  breitbeinig da und spuckte auf die Straße. Dann wandte er sich an den Korporal,  der neben ihm stand und sagte: «Da vorn geht bestimmt was vor.»
  «Sicher»,  sagte der Korporal und schüttelte den Kopf. «Daniels, der an der Front war,  sagt, die Hölle sei ausgebrochen.»
  «Wann  werden wir ne Aktion sehen?» fragte Meadville grinsend. «Ich würde das beste  Stück Vieh von meiner Farm geben, könnte ich 'ne richtige Aktion sehen.»
  «Hast du  'ne Farm?» fragte der Korporal.
  Motorlastzüge  ratterten monoton vorbei. Die Führer waren so mit Schlamm und Schmutz bedeckt, dass  man ihre Uniform nicht sehen konnte.
  «Was  denkst du denn», meinte Meadville. «Glaubst du etwa, dass ich 'n Geschäft  habe?» Fuselli kam an ihnen vorbei.
  «Hör mal,  Fuselli», rief Meadville. «Korporal sagte, da vom sei die Hölle ausgebrochen.  Gibt vielleicht Pulver zu riechen.»
  Fuselli  hielt an und gesellte sich ihnen zu.
  «Der arme  Bill Grey hat wahrscheinlich schon reichlich Pulver gerochen», sagte er.
  «Ich  wünschte, ich wäre mit ihm gegangen», sagte Meadville. «Werde diesen Trick  selbst versuchen, jetzt, wo das schöne Wetter da ist, wenn wir uns nicht bald  in Bewegung setzen.»
  «Zu  gefährlich.»
  «Hört mal  den Mann an. Der glaubt, es sei zu gefährlich in den Gräben... Meinst du etwa, dass du da 'n Federbett  geliefert kriegst?»
  «Ach was,  ich will doch an die Front. Man will aber auch vorwärts kommen in dieser  Armee.»
  «Wozu vorwärts  kommen?» sagte der Korporal. «Man kommt deswegen doch nicht eine Minute früher  nach Hause.»
  Ein neuer  Zug von Lastautos fuhr vorbei und verschluckte ihr Gespräch.
Fuselli  packte Medikamente in eine Kiste. Beim Arbeiten hörte er zu, wie Daniels mit  Meadville sprach, der neben ihm arbeitete.
  «... Na, das Gas ist die  verfluchteste Geschichte, von der ich je gehört habe», sagte er. «Habe Leute  gesehen, denen die Arme wie Blasen davon angeschwollen waren.»
  «Warum  bist du ins Krankenhaus gekommen?» fragte Meadville.
  «Lungenentzündung»,  antwortete Daniels. «Ich hatte einen Kameraden, der von einer Granate direkt in  zwei Teile gespalten wurde. Er stand so nahe bei mir, wie du jetzt und pfiff  Tipperary, als da plötzlich nur ein großer Blutfleck war und er dalag mit  aufgerissener Brust. Der Kopf hing wie an einem Faden herunter.»
  Meadville  spuckte auf die am Boden ausgestreuten Sägespäne.
  «Na, was  glaubst du, geht jetzt an der Front vor?» «Verdammt, wenn ich das wüsste.»
  «Dieses  Hospital da in Orleans war so voll, dass Leute draußen auf dem Pflaster auf  Krankenbahren den ganzen Tag warteten. Kenne das. Die Kerls sagten, dass da  vorne die Hölle ausgebrochen sei. Die Fritzies scheinen im Vormarsch zu sein.»
  Meadville  sah ihn ungläubig an.
  «Diese  Rotznasen», sagte Fuselli. «Die können ja gar nicht vorrücken, sterben ja schon  Hungers.»
  «Du bist  wohl auch so einer», meinte Daniels, «der alles glaubt, was in der Zeitung  steht.»
  Die  Soldaten sahen Daniels unwillig an. Sie arbeiteten schweigend weiter.  Plötzlich kam der Leutnant herein. Er ließ die Tür offen hinter sich.
  «Kann mir  irgend jemand sagen, wo Sergeant Olster ist?»
  «Er war  vor einigen Minuten hier», antwortete Fuselli.
  «Wo ist  er aber jetzt?» schnauzte der Leutnant ärgerlich.
  «Weiß  nicht», murmelte Fuselli und wurde rot.
  «Sieh  nach und suche ihn.»
  Fuselli  marschierte ab. Draußen vor der Tür hielt er an. Sein Blut kochte vor Missmut.  Wie zum Teufel konnte er wissen, wo der erste Sergeant war. Er sollte wohl noch  Hellseher werden! Die ganze Bitterkeit, die sich in seinem Bewusstsein  angestaut hatte, strömte an die Oberfläche. Sie hatten ihn nicht richtig behandelt.  Er fühlte eine hoffnungslose Wut gegen diese ungeheure Tretmühle, an die er  angeseilt war. Die endlose Folge von Tagen, alle gleich, alle voller Befehle,  die endlose Monotonie des Drills und der Paraden erwachte in seinem Bewusstsein.  Er fühlte, er könne nicht weitermachen. Er wusste, dass er weitermachen müsse  und werde, dass es kein Halt gebe, dass seine Füße im Gleichschritt, in dem  Tritt der anderen Füße dieser ungeheuren Tretmühle sich weiterbewegen würden.  Plötzlich sah er den Sergeanten.
  «Sergeant!»  rief er. Dann ging er vertraulich an ihn heran und sagte: «Der Leutnant will  dich gleich da drüben sprechen.»
  Er  schlich zu seiner Arbeit zurück und kam gerade zur rechten Zeit, um den  Leutnant in strengem Tone zu dem Sergeanten sagen zu hören: «Sergeant, wissen  Sie, wie die Papiere für das Kriegsgericht fertiggemacht werden?»
  «Zu  Befehl», antwortete der Sergeant mit überraschtem Gesicht.
  Er folgte  dem Leutnant zur Tür hinaus.
  Fuselli  fühlte einen plötzlichen panischen Schrecken. Er arbeitete weiter,  automatisch, seine Hände aber zitterten. Er durchsuchte sein Gedächtnis, um  irgendeinen Verstoß gegen die Armeeordnung zu finden. Der Schrecken wich so  schnell, wie er gekommen war. Natürlich, er hatte keine Ursache, sich zu fürchten!  Er lachte weich in sich hinein. «Was für ein Narr bin ich doch, so erschreckt  zu sein!» Er fuhr in seiner Arbeit fort, den ganzen langweiligen Nachmittag.  Abends versammelte sich fast die ganze Kompanie in einer Gruppe am Ende der  Baracken. Beide Sergeanten waren weg. Der Korporal sagte, er wisse nichts und  ging mürrisch zu Bett. Schließlich sagte jemand: «Ich wette, dieser Jude, der  Eisenstein, ist 'n Spion.»
  «Der ist  auch nicht in den Vereinigten Staaten geboren, nicht? Irgendwo in Polen oder sonst  so einem verdammten Land. Sprach auch immer so komisch.»
  «Ich  dachte auch immer», meinte Fuselli, «der würde schon noch Scherereien kriegen,  wenn er weiter so redet.»
  «Was hat  er denn gesagt?» fragte Daniels.
  «Oh, er  sagte, dass der Krieg ein Unrecht sei und noch mehr so verfluchtes prodeutsches  Zeugs.»
  «Wisst  ihr, was sie draußen an der Front gemacht haben?» sagte Daniels. «In der  zweiten Division ließen sie zwei ihr eigenes Grab schaufeln, und dann  erschossen sie sie. Die hatten gesagt, der Krieg sei ein Unrecht.»
  «Donnerwetter,  ist das wahr?»
  «Aber sicher, mein Junge. Sage euch, es hat keinen Sinn, in dieser verfluchten  Armee Späße zu machen.»
  «Haltet  doch endlich das Maul! Schon lange Schlafenszeit. Meadville, lösch das Licht  aus!» sagte der Korporal ärgerlich.
  Die  Baracken waren dunkel, man hörte Männer, die sich auf ihren Schlafstellen  auszogen und unterdrückt flüsterten.
  Die  Kompanie war zum Frühstück aufmarschiert. Die Sonne war gerade aufgegangen und  schien rosig durch die weichen Wolken des Himmels, und die Spatzen zwitscherten  laut in den Platanen. Plötzlich kam der Sergeant. Er ging mit steifen Schultern  vorbei, so dass jeder wusste, irgend etwas Bedeutsames gehe vor sich.
  «Achtung,  Leute!» sagte er.
  Die Essgeschirre  klirrten, als die Leute sich umdrehten.
  «Nach dem  Essen habt ihr sofort in eure Baracken zu gehen und euer Gepäck in Ordnung zu  bringen. Danach bleibt jeder bei seinem Gepäck, bis Befehl kommt.»
  Die  Kompanie brach in Hochrufe aus, und die Essgeschirre klirrten gegeneinander wie  Zimbeln. Das Frühstück wurde so schnell wie möglich verschlungen, und jeder aus  der Kompanie lief mit klopfendem Herzen in die Baracken, um sein Gepäck in  Ordnung zu bringen, fühlte sich stolz gegenüber der anderen Kompanie, die keine  Befehle erhalten hatte. Als das Gepäck in Ordnung gebracht war, setzten sie  sich auf die leeren Bettstellen und trommelten mit den Füßen gegen das Holz,  wartend.
  «Werden  wahrscheinlich hier nicht wegkommen, bis die Hölle eingebrochen ist», sagte  Meadville, der gerade den letzten Riemen seines Gepäcks schnürte.
  «'s ist  immer so. Man bricht sich fast das Genick, um den Befehlen nachzukommen,  und... .»
  «Rauskommen!»  schrie der Sergeant und steckte seinen Kopf in die Tür. «Antreten! Achtung!»
  Der  Leutnant in seiner Felduniform und seinen Wickelgamaschen stand der Kompanie  gegenüber und sah sehr feierlich aus.
  «Leute»,  sagte er und biss seine Worte ab wie ein Mann Stücke von einem harten Ende  Wurst abbeißt. «Einer von euch kommt vor das Kriegsgericht, weil er in einem  Briefe an Freunde zu Hause hochverräterische Dinge geschrieben hat. Tut mir  sehr leid, dass in meiner Kompanie so etwas vorgekommen ist. Glaube, ist auch  sonst keiner darunter, der so was tut und solche Ideen hat.»
  Jeder  Mann in der Kompanie presste die Brust heraus und gelobte sich, lieber  überhaupt keine Ideen zu haben, als Gefahr zu laufen, einen Anschnauzer vom  Leutnant zu bekommen.
  Der  Leutnant fuhr nach einer Pause fort: «Alles, was ich sagen kann, ist, falls da  noch so einer in der Kompanie ist, soll er lieber das Maul halten und  vorsichtig sein, was er nach Hause schreibt. Abtreten!»
  Er gab  den Befehl ingrimmig, als ob es der Befehl sei, den Hochverräter zu bestrafen.
  «Diese  verdammte Rotznase Eisenstein», sagte Fuselli.
  Der  Leutnant hörte diese Worte beim Weggehen.
  «Oh,  Sergeant», sagte Fuselli vertraulich. «Ich denke, die anderen haben schon das  richtige Zeug in sich.»
  Die  Kompanie ging in die Baracken und wartete.
Die  Wachstube war voll vom Geräusch der Schreibmaschinen und überheizt von einem  schwarzen Ofen, der in der Mitte stand und von dem von Zeit zu Zeit Bauch in  kleinen Wellen ausströmte. Fuselli stand hinter der Schreibmaschine, mit der  Mütze in der Hand.
  «Was  wünschen Sie?» fragte der Sergeant brummend. «Mir sagte einer, dass Sie einen  Mann mit optischer Erfahrung brauchen.» Fusellis Stimme war wie Sammet so  weich. «Nun und?»
  «Ich habe  drei Jahre in einem optischen Geschäft in Frisco gearbeitet.»
  «Gut, ich  werde mich darum kümmern.»
  «Aber... meine Kompanie ist schon ausgerüstet.  Soll heute abtransportiert werden, Sergeant.»
  «Warum  zum Teufel kommen Sie denn nicht früher? Stevens, schreiben Sie was aus und  versetzen Sie den Mann in 'ne andere Kompanie. Lassen Sie den Major die  Geschichte unterschreiben. So geht es immer!» schrie er und lehnte sich tragisch  in seinem Schreibsessel zurück. «Alle kommen sie zu mir in der letzten Minute.»
  «Vielen  Dank», sagte Fuselli lächelnd.
  Fuselli  eilte zu den Baracken zurück, wo die Kompanie noch wartend stand. Einige hatten  sich in einem Kreis zusammengesetzt und spielten Karten. Der Best hatte sich  mit seinem Gepäck auf die Schlafstellen gelegt. Draußen hatte es zu regnen  begonnen, und der Geruch der nassen, sprossenden Erde kam durch die Tür herein.
  Fuselli  saß auf dem Boden neben seiner Schlafstelle und warf sein Messer so herunter, dass  es in den Brettern zwischen seinen Knien fest stecken blieb. Er pfiff leise.
  Der Tag  zog sich hin, langweilig, ermüdend. Öfters hörte man die Turmuhr in der Feme  schlagen. Endlich kam der erste Sergeant herein, schüttelte das Wasser von  seinem Regenmantel ab. Er hatte einen ernsten, wichtigen Ausdruck auf dem Gesicht.  Der Leutnant und ein Major erschienen plötzlich am anderen Ende der Baracken  und kamen langsam herein. Die Leute sahen sie aus den Augenwinkeln heraus an.  Beim Inspizieren der Sanitätsausrüstungen sprachen sie nachlässig miteinander,  als ob sie allein seien.
  «Ja»,  sagte der Major. «Diesmal sind wir dran. Diese verdammte Offensive!»
  «Nun, wir  werden ihnen schon zeigen können, wozu wir gut sind», sagte der Leutnant lachend.  «Haben bisher noch keine Gelegenheit dazu gehabt.»
  «Hm,  sehen Sie sich lieber die Ausrüstungen näher an, Leutnant. Waren Sie schon an  der Front?»
  «Nein.»
  «Sie  werden die Dinge anders ansehen, wenn Sie mal da waren», sagte der Major.
  Der  Leutnant verzog das Gesicht.
  «Nun, im  großen und ganzen, Leutnant, sind Ihre Leute in guter Ordnung.» Einige  Augenblicke später kam der Sergeant herein.
  «Regenmäntel  anziehen und antreten!»
  Eine  ganze lange Zeit standen sie im Regen aufmarschiert. Es war ein bleierner  Nachmittag. Die Wolken hatten einen schwachen, kupfernen Schein. Der Regen  schlug ihnen ins Gesicht. Fuselli sah den Sergeanten forschend an. Endlich  erschien der Leutnant.
  «Achtung!»  schrie der Sergeant.
  Die Leute  wurden aufmerksam, und ein neuer Mann wurde am Ende der Linie eingereiht, ein  großer Kerl mit vorstehenden Kalbsaugen.
  «Fuselli  vortreten! Sie schließen sich der Stabskompanie an.»
  Fuselli  sah, wie sich Überraschung auf den Gesichtern der Kameraden spiegelte. Er  lächelte blass zu Meadville hinüber. «Sergeant, führen Sie die Leute zur  Station.»
  «Rechts  schwenkt, marsch!» schrie der Sergeant.
  Die  Kompanie marschierte ab im strömenden Regen. Fuselli ging zu den Baracken  zurück, nahm sein Gepäck und seinen Regenmantel ab und wischte sich das Wasser  aus dem Gesicht.
Die  Schienen glitzerten golden im Sonnenschein des frühen Morgens. Fuselli  verfolgte mit den Augen den Strang, bis er sich in den nassen Wiesen verlor.  Der Bahnsteig der Station, wo die Pfützen glänzten und vom Winde bewegt wurden,  war ganz leer. Fuselli begann mit den Händen in den Taschen auf und ab zu  marschieren. Er sollte hier einige Zufuhren, die mit dem Morgenzug erwartet  wurden, ausladen helfen. Er fühlte sich frei und erfolgreich, seitdem er der  Stabskompanie angehörte. Endlich, sagte er zu sich selbst, hatte er einen  Posten, wo er zeigen könne, was er wert sei.
  Er ging  auf und ab und pfiff schrill. Ein Zug fuhr langsam in die Station ein. Die  Maschine hielt an, um Wasser einzunehmen. Der Bahnsteig war plötzlich voll von  Männern in Khaki, die mit den Füßen stampften und laut rufend auf und ab  gingen.
  «Wo fahrt  ihr hin?» fragte Fuselli.
  Plötzlich  hatte Fuselli ein bekanntes Gesicht gesehen. Er schüttelte zwei Leuten mit  braunen Gesichtern die Hand.
  «Hallo,  Chrisfield! Hallo Andrews!» rief er. «Wann seid ihr hier rüber gekommen?»
  «Ungefähr  vor vier Monaten», sagte Chrisfield, der Fuselli forschend mit seinen schwarzen  Augen ansah. «Oh, ich erinnere mich jetzt, du bist Fuselli. Wir waren im  Ausbildungslager zusammen, erinnerst du dich, Andy?»
  «Sicher»,  meinte Andrews. «Wie geht's?»
  «Fein»,  antwortete Fuselli. «Ich bin hier in der optischen Abteilung.»
  «Wo ist  das, zum Teufel?»
  «Grade  hier.» Fuselli zeigte hinter die Station.
  «Wir sind  vier Monate in der Nähe von Bordeaux ausgebildet worden», sagte Andrews, «und  jetzt wollen wir mal sehen, wie es ausschaut...»
  Die  Sirene pfiff, und die Maschine stieß Wolken weißen Dampfes aus.
  «Viel  Glück!» sagte Fuselli. Doch Andrews und Chrisfield waren schon weg. Er sah sie  noch einmal, wie der Zug hinausfuhr, zwei braune, schmutzige Gesichter zwischen  anderen braunen, schmutzigen Gesichtern.
  Der Dampf  zog vorbei in die helle Morgenluft hinauf, der letzte Wagen verschwand in der  Kurve.
Fuselli  saß auf dem einen Ende seines Bettkastens. Er hatte sich gerade rasiert. Es war  an einem Sonntagmorgen, und er hoffte auf einen freien Nachmittag. Er rieb sein  Gesicht noch einmal mit dem Handtuch ab und stand auf. Draußen fiel der Regen  in großen silbrigen Strömen, so dass das Geräusch auf dem Teerpapier der  Barackendächer fast betäubend wirkte.
  Fuselli  bemerkte an dem anderen Ende der Bettreihe eine Gruppe Leute, die alle dasselbe  anzustarren schienen. Er streifte seine Ärmel herunter, nahm den Waffenrock  über den einen Arm und ging die Reihe hinunter, um zu schauen, was los ist.  Durch das Geräusch des niederknatternden Regens hindurch hörte er eine schwache  Stimme sagen:
  «Ich kann  nicht, Sergeant, ich bin krank. Ich werde nicht aufstehen.»
  «Der  Junge ist verrückt», sagte jemand neben Fuselli.
  «Mach, dass  du aufstehst, sofort!» brüllte der Sergeant. Es war ein großer Mann mit  schwarzem Haar, der aussah wie ein Holzfäller. Er beugte sich über den  Bettkasten. In dem Kasten auf einem Bündel von Decken lag Stockton mit  kreideweißem Gesicht. Seine Zähne schlugen zusammen und seine Augen waren rund  und traten scheinbar vor Schrecken aus ihren Höhlen hervor.
  «Ich  sage, mach, dass du aus deinem Kasten rauskommst», brüllte der Sergeant.
  Der Junge  schwieg. Seine bleichen Wangen zitterten.
  «Was zum  Teufel ist denn mit ihm los?»
  «Warum  schmeißen Sie ihn denn nicht einfach raus, Sergeant?»
  «Steh  sofort auf!» schrie der Sergeant wiederum, ohne auf die Worte der anderen Acht  zu geben.
  Die  Herumstehenden gingen weg. Nur Fuselli beobachtete aus einiger Entfernung  fasziniert weiter.
  «Gut,  dann hole ich den Leutnant. Diese Sache gehört vors Kriegsgericht. Hier, Morton  und Morison, Sie haften mir für den Mann.»
  Der Junge  lag still unter seiner Decke. Er schloss die Augen.
  An der  Bewegung der Decke, die mit seiner Brust auf- und niederging, konnte man sehen,  dass er schwer atmete.
  «Stockton,  du dummes Schwein, warum stehst du nicht auf?» sagte Fuselli. «Du kannst doch  nicht gegen die ganze Armee aufbocken.»
  Der Junge  antwortete nicht.
  Fuselli  ging weg. «Er ist verrückt», brummte er.
  Der  Leutnant war ein rundlicher Mann mit einem roten Gesicht, der keuchend  hereinkam. Hinter ihm die große Gestalt des Sergeanten. Er blieb stehen und  schüttelte das Wasser von seinem Hut. Noch immer knatterte der Regen betäubend  auf das Dach.
  «Achtung,  Mann, sind Sie krank? Dann melden Sie sich sofort», sagte der Leutnant mit  betont liebenswürdiger Stimme. Der Junge sah ihn trübe an und gab keine  Antwort.
  «Sie  sollten aufstehen und stramme Haltung einnehmen, wenn ein Offizier mit Ihnen  spricht.»
  «Ich kann  nicht aufstehen», kam die schwache Stimme. Das rote Gesicht des Offiziers  verfärbte sich.
  «Sergeant,  was ist mit dem Mann?» fragte er wütend.
  «Ich kann  nichts mit ihm anfangen, Herr Leutnant; ich denke, er ist verrückt geworden.»
  «Dummes  Zeug... pure Dienstverweigerung... Sie sind verhaftet, verstehen Sie?»  rief er zum Bett zu.
  Es kam  keine Antwort. Der Regen schlug hart auf das Dach.
  «Lassen  Sie ihn auf die Wache bringen, mit Gewalt, falls nötig», schnauzte der  Leutnant. Er ging zur Tür. «Und, Sergeant, setzen Sie sofort die Papiere auf  für das Kriegsgericht.» Die Tür fiel krachend hinter ihm zu.
  «Jetzt  macht ihm einmal Beine», sagte der Sergeant zu den beiden Wachen. Fuselli  eilte, dass er fortkam. «Manche Leute sind verrückte Hunde», sagte er zu einem  Mann an dem anderen Ende der Baracke. Er sah aus dem Fenster hinaus auf die  hellen Bündel Regen, die unablässig vom Himmel herabströmten.
  «Schmeißt  ihn aus dem Bett raus!» schrie der Sergeant.
  Der Junge  lag mit geschlossenen Augen, das kreidebleiche Gesicht halb von der Decke  verborgen; er war sehr still.
  «Nun,  willst du wohl aufstehen und zur Wache gehen oder müssen wir dich dahin  schleppen?» rief der Sergeant.
  Die  Wachen fassten ihn ziemlich behutsam und zogen ihn herauf, bis sein Körper  ungefähr in eine sitzende Stellung kam.
  «So, nun  schmeißt ihn aus dem Bett raus.»
  Die  schwache Gestalt im Khakihemd und weißlichen Hosen wurde für einen Augenblick  zwischen den beiden Männern hochgehalten. Dann fiel sie wie ein welker Haufen  Blätter auf den Boden.
  «Er hat  das Bewusstsein verloren!»
  «Zum  Donnerwetter noch einmal... Morison,  geh mal zum Lazarett und hole jemand von dort.»
  «Es ist  keine Ohnmacht... der Junge ist tot»,  sagte der andere Mann.
  Der  Sergeant half den Körper wieder auf das Bett legen. «Der Teufel soll diese  verfluchte Geschichte holen», brummte er.
Die Augen  hatten sich geöffnet. Sie legten eine Decke über seinen Kopf.
1
Felder  und nebelgraue Wälder glitten langsam vorbei an den fahrenden Güterwagen, die  über die Schienen holperten und stolperten, stundenlang an Abhängen und Wiesen  anhielten, wo eine ungeheure Ruhe herrschte und wo man durch das Gewirr der  Soldatenstimmen hindurch die Lerchen im Himmel singen hören konnte; die dann  wieder über Brücken ratterten und an den Ufern tiefgrüner Flüsse vorbeifuhren,  wo die Pappeln gerade sich mit frischen Blättern bekleideten und in denen von  Zeit zu Zeit ein Fisch hochsprang. Die Männer, die sich in die Türöffnungen  hineingedrängt hatten, lehnten ermattet und stumpf einer auf die Schultern des  anderen gestützt, beobachteten, wie die Äcker vorbeiglitten und die Wiesen, wo  das grüne Gras goldig war von Butterblumen, und schauten sich die Städtchen an  mit ihren kleinen roten Dächern, die in knospenden Bäumen und Bergen von  Pfirsichblüten fast untertauchten. Durch den Geruch des Dampfes, des  Kohlenstaubes und ungewaschener Körper in Uniformen hindurch kam der Duft  feuchter Felder, frisch gedüngter Ackerstücke, von Vieh und Weideland, auf  dem die Blumen gerade in Blüte standen.
  «Möchte  gern mal für 'ne Weile in diesem Land leben, Andy», sagte Chrisfield.
  «Wir  können ihnen ja sagen, sie sollen uns hier freilassen.»
  «Wie dies  hier kann die Front nicht ausschauen», meinte Judkins und steckte seinen Kopf  heraus zu Andrews und Chrisfield, sodass die Borsten seines unrasierten Kinns  Chrisfield in die Backen kratzten. Er hatte einen großen, viereckigen Kopf mit  kurzgeschnittenem hellem Haar und porzellanblauen Augen, die unter weißen  Lidern aus dem roten, sonnverbrannten Gesicht herausschauten, einen eckigen  Kiefer, der unter einem kleinen Bart ein wenig grau aussah.
  «Sag,  Andy, wie lange sind wir schon in diesem rotzigen Zuge...?»
  «Was ist  denn los? Du wirst wohl alt, Chris?» fragte Judkins lachend.
  Chrisfield  hatte seinen Platz verlassen, um sich zwischen Andrews und Judkins  durchzuzwängen.
  «Wir sind  auf diesem Zuge vier Tage und fünf Nächte, und wir haben noch die Bation für  einen halben Tag bei uns. Wir müssen also bald irgendwo hinkommen», sagte  Andrews.
  «So wie  hier kann es an der Front nicht ausschauen.»
  «Auch  dort muss Frühling sein, wie hier», sagte Andrews.
  Flockige,  grünlich gefleckte Wolken bewegten sich über den Himmel, wurden manchmal dunkel  und tiefblau, und ein kleiner Regenguss kam an den Hügeln herunter, manchmal  aber hellten sie sich ganz auf und wurden weiß im klaren Sonnenlicht, dann  warfen die Pappeln blaue Schatten, und der Rauch der Lokomotive bekam einen  gelben Schein.
  «Komisch,  wie klein alles ist», sagte Chrisfield. «Draußen in Indiana würden wir ein Kornfeld  dieser Größe überhaupt nicht anschauen.»
  «Ich  möchte Indiana mal im Frühling sehen», sagte Andrews. «Nun, du wirst schon  kommen, wenn der Krieg aus ist und wir nach Hause gehen, nich' Andy?»  «Natürlich komme ich.»
  Sie kamen  durch die Vororte einer Stadt. Reihen kleiner Backstein- und Stuckhäuser  erschienen an den Straßen entlang. Es begann zu regnen. Der Himmel leuchtete in  gelben und lila Farben. Die Schieferdächer und die grauen Straßen der Stadt  glänzten heiter im Regen. Die kleinen Fleckchen im Garten waren ganz hell  smaragdgrün. Dann schaute man auf Reihen und Reihen roter Schornsteine, die  über nassen Schieferdächern standen. In der Ferne erhob sich der purpurgraue  Turm einer Kirche und die unregelmäßigen Formen alter Gebäude. Sie passierten eine  Station. «Dijon», las Andrews. Auf den Bahnsteigen standen französische  Soldaten in ihrer blauen Uniform, mit vielen Zivilisten durchsetzt.
  «Donnerwetter,  das sind ja fast die ersten richtigen Zivilisten, seit ich über See kam»,  meinte Judkins.
  Sie hatten  die Station verlassen und fuhren an endlosen Güterzügen vorbei. Endlich machte  der Zug halt. Eine Pfeife ertönte.
  «Keiner  aussteigen!» schrie der Sergeant aus dem ersten Waggon.
  «Die  wollen uns wohl hier in dem Rotzwagen halten, wie Stücker Vieh?» murmelte  Chrisfield.
  «Möchte  mal aussteigen und 'n bisschen in Dijon Spazierengehen.»
  «Ich  werde 'n bisschen schlafen», meinte Chrisfield.
  Er  streckte sich auf dem Gepäckhaufen am Ende des Wagens aus. Andrews saß in  seiner Nähe und starrte auf seine schmutzigen Stiefel und fuhr mit seiner  langen Hand, die jetzt genau so braun wie die Chrisfields war, dem Kameraden  durch das helle, kurz geschnittene Haar.
  Chrisfield  lag und sah aus halb geschlossenen Augen hinauf in das hagere Gesicht von  Andrews, das sich scharf im Licht abhob, und er fühlte ein warmes Lächeln in  seinem Innern, und er sagte zu sich selbst: das ist ein anständiger Kerl. Dann  dachte er an den Frühling in Indianas Ebenen, an die Vögel, die im Mondlicht  auf den blühenden Bäumen hinter dem Hause singen. Fast konnte er die schwere  Süße der Akazienblüten riechen, genauso, wie vor langer, langer Zeit, als er  auf der Treppe nach dem Abendbrot zu sitzen pflegte, ermüdet von der schweren  Feldarbeit des Tages, während aus der Küche das Geräusch von der Hausarbeit  seiner Mutter kam. Er wünschte nicht, wieder dort zu sein, aber es war  angenehm, dann und wann einmal daran zu denken, wie das gelbe Farmhaus aussah  und die rote Scheune und die kleinen, niedrigen Ställe, deren Schindeln immer  abfielen. Ein dumpfes Staunen war in ihm, wie es wohl an der Front sein werde.  Es konnte dort nicht grün und angenehm sein, so wie hier das Land war. Die  Kameraden hatten ihm gesagt, es sei wie die Hölle dort draußen. Das war ihm  aber alles gleichgültig. Dann schlief er ein.
Langsam  wachte er auf. Das warme, angenehme Gefühl des Schlafes wich bald, und er  fühlte sich steif und zerschlagen, da
  er auf  einem unregelmäßig zusammengeschichteten Haufen von Gepäck mit den Nägeln einer  Stiefelsohle in den Schultern gelegen hatte. Andrews saß noch genauso wie  vorher in Gedanken verloren. Die übrigen standen an den offenen Türen oder  lagen auf dem Gepäck herum.
  Chrisfield  stand auf, dehnte sich, gähnte und ging an die Tür, um hinauszuschauen. Ein  schwerer, bedeutungsvoller Schritt war auf dem Kies draußen zu hören. Ein  großer Mann mit schwarzen Augenbrauen, die über der Nase zusammenwuchsen, und  einem ganz schwarzen, struppigen Bart, ging an der Tür vorbei. Die Abzeichen  des Sergeanten waren auf seiner Uniform zu sehen.
  «Sieh  doch, Andy!» schrie Chrisfield, «dieser Hurenkerl ist Sergeant.»
  «Wer  denn?» fragte Andrews, stand lächelnd auf und schaute in Chrisfields schwarze  Augen. «Du weißt schon, wen ich meine.»
  Chrisfields  runde Backen waren über und über rot. Seine Augen stachen unter ihren großen  schwarzen Lidern und seine Fäuste waren geballt.
  «Oh, ich  weiß, Chris. Ich dachte nicht, dass er in diesem Regiment sei.»
  «Gott  verfluche ihn», murmelte Chrisfield leise und warf sich wieder auf sein Gepäck  zurück.
  «Halt die  Kandare fest, Chris», sagte Andrews. «Vielleicht müssen wir alle unsere Schecks  bald einlösen... Dann brauchen wir  uns um solche Dinge nicht mehr sorgen.»
  Andrews  streckte sich wieder neben Chrisfield aus. Nach einiger Zeit setzte sich der  Zug lebhaft in Bewegung. Die Bäder holperten und stolperten wieder über die  Schienen, und die Schmutzklumpen auf den splittrigen Brettern des Bodens hüpften  auf und nieder.
  Chrisfield  legte den Kopf auf seinen Arm wie auf ein Kissen und schlief wieder ein, noch  immer rot vor Wut und Aufregung. Andrews schaute durch die Finger hindurch in  den schwarzen Güterwagen hinein, auf die Kameraden, die sich am Boden ausgestreckt  hatten, deren Köpfe mit jeder Bewegung des Wagens hin und her gingen, er sah  auf die graugrünen Wolken und die Fetzen glitzernden blauen Himmels, die er  hinter den Silhouetten der Köpfe und Schultern der an den Türen stehenden  Soldaten erblicken konnte.
  Die Räder  rollten weiter, endlos. Der Wagen hielt mit einem Ruck an, so dass alle  aufwachten und einer von dem Ruck umfiel. Draußen tönte eine Pfeife schrill.
  «Alles raus!... Raus!...» jelpte der Sergeant.
  Die Leute  stiegen steif und frierend aus den Wagen und gaben das Gepäck von Hand zu Hand  heraus, bis es einen wirren Haufen von durcheinander geworfenen Tornistern und  Gewehren bildete.
  «Alles  aussteigen!» schrie der Sergeant wieder.
  Die  Soldaten traten langsam an mit ihren Tornistern und Gewehren. Leutnants  schwirrten herum in ihren steifen, eng anliegenden Uniformen. Schließlich kam  das Kommando «Rühren!» und die Soldaten lehnten sich auf ihre Gewehre und  starrten unbeweglich hinaus. In der Ferne konnte man einen Laut hören, als ob  irgend jemand nachlässig einen eisernen Vorhang schüttle. Der Himmel war voll  kleiner Flecken von Rot und Gelb, und die purpurne Abendröte stand hell über  allem.
  Der  Marschbefehl kam. Sie marschierten eine ausgefahrene Straße hinunter, wo die  Pfützen so tief waren, dass sie unaufhörlich die Marschreihen verlassen mussten,  um überhaupt vorwärts zu kommen. In einem kleinen Fichtenwald an der Seite  waren schwere Motorlastzüge und Munitionswagen aufgereiht. Das Abendessen wurde  in einer Feldküche gekocht, die von den Wagenführern umstanden war. Hinter dem  Walde zog sich die Kolonne auf einem Felde hin. In der Feme war eine Gruppe  Stein- und Stuckhäuser zu sehen, deren Dächer zerstört waren. Auf dem Felde  hielten sie an. Das Gras war glänzend grün, und die fernen Hügel hatten klare,  tiefblaue Schatten. Kleine Schwaden milchblauen Nebels lagen über dem Feld.
  «Kein  Licht! Denkt daran, dass wir angesichts des Feindes sind. Ein Zündholz kann die  ganze Abteilung vernichten», verkündete der Leutnant dramatisch, nachdem er  den Befehl zum Aufbau der Schlafzelte gegeben hatte. Als die Zelte fertig waren,  standen die Leute in dem kühlen weißen Nebel, der ständig dichter wurde, hemm  und aßen ihre kalten Bationen.
  «Lass uns  reingehen, Chris, ehe uns die Knochen einfrieren», sagte Andrews.
  Wachen  waren aufgestellt worden und liefen auf und ab mit wichtigtuenden Schritten.  Sie schauten einander an, forschten in den kleinen Wald hinein, wo die  Wagenführer standen.
  Chrisfield  und Andrews krochen in ihr kleines Zelt, rollten sich in ihre Decken ein und  rückten so nahe aneinander, wie nur möglich. Zuerst war es sehr kalt und hart,  und sie zitterten lange vor Kälte, bis schließlich die Wärme ihrer Körper die  dünnen Decken füllte. Andrews schlief zuerst ein, und Chrisfield lag und  lauschte seinem tiefen Atem. Auf seinem Gesicht lag etwas sehr Zorniges. Er  dachte an den Mann, der in Dijon an dem Zuge vorbeigegangen war. Das letzte Mal,  als er diesen Mann, den Anderson, gesehen hatte, war im Übungslager. Damals  war er noch Korporal gewesen. Er erinnerte sich an den Tag, wo der Korporal  wurde. Es war nicht lange vorher, dass Chrisfield in einer Nacht in den  Baracken mit seinem Messer auf ihn losgegangen war. Einer hatte seine Hand  gerade zur rechten Zeit zurückgehalten. Anderson hatte damals ein wenig bleich  ausgesehen und war dann weggegangen. Doch er hatte seitdem nie mehr ein Wort  mit Chrisfield gesprochen. Wie Chrisfield mit geschlossenen Augen dalag, eng  gegen Andrews' schlafenden Körper gepresst, konnte er das Gesicht des Mannes  deutlich sehen, die Augenbrauen, die über der Nase sich schlossen und das  Kinn, das von dem schweren Bart fast schwarz war. Schließlich ließ die Spannung  in seinem Bewusstsein nach. Einen Augenblick dachte er an Frauen, an ein  blondhaariges Mädchen, das er vom Zug aus gesehen hatte, und plötzlich  erdrückte ihn Schlaf, und alles wurde weich und warm und schwarz, und nur die  eine Empfindung blieb: die Kälte auf der einen und die Wärme des Körpers auf  der anderen Seite.
  Mitten in  der Nacht wachte er auf und kroch aus dem Zelt. Andrews folgte ihm. Ihre Zähne  schlugen ein wenig aneinander, und sie dehnten ihre steifen Beine. Es war kalt,  doch der Nebel war gewichen. Die Sterne schienen hell. Sie gingen ein klein  wenig in das Feld hinaus, von der Gruppe der Zelte fort.
2
Ein  schwaches, raschelndes und atmendes Geräusch wie von zusammengepferchten  Tieren kam von dem schlafenden Regiment. Irgendwo plätscherte ein Bach. Sie  horchten auf, aber sie konnten keine Schüsse hören. Sie standen Seite an Seite  und sahen in die
  Unendlichkeit  der Sterne hinauf. Ein scharfes, zischendes Geräusch entstand im Grase, als  Chrisfield sein Wasser ließ.
  «Da ist der  Orion», sagte Andrews.
  «Wo?»
  «Dieser  Haufen Sterne dort heißt Orion. Siehst du sie? Soll so aussehen, wie ein Mann  mit einem Bogen. Doch ich sehe ihn immer wie einen Kerl, der über den Himmel  schreitet.»
  «Viele  Sterne heute, nich'? Donnerwetter, was ist das?»
  Hinter  den dunklen Hügeln erhob sich ein Glühen und sank dann wieder hinab, wie in  einer Schmiede.
  «Die  Front muss in der Richtung sein», sagte Andrews fröstelnd.
  «Ich  denke, wir werden das morgen wissen.»
  «Ja,  morgen Nacht werden wir wohl mehr darüber wissen», meinte Andrews.
  Einen  Augenblick standen sie schweigend und lauschten auf das Murmeln des Baches.
  «Gott,  wie still ist es hier. Das kann doch nicht die Front sein. Riech mal.»
  «Was ist  denn?»
  «Riecht  wie ein Apfelbaum, der in Blüte steht irgendwo.»
  «Lass uns  wieder reingehen, ehe unsere Decken kalt werden.»
  Andrews  starrte noch immer hinauf nach der Sterngruppe, die er vorhin mit Orion  bezeichnet hatte. Chrisfield hielt ihn noch am Arm. Sie krochen wieder in das  Zelt zurück, rollten sich zusammen ein und fielen sofort wieder in schweren  Schlaf.
  Soweit er  sehen konnte, erblickte Chrisfield Tornister und Köpfe, die mit dem  Marschrhythmus auf und nieder gingen. Ein feiner, warmer Regen fiel und  vermischte sich mit dem Schweiß, der ihm vom Gesicht hernieder rann. Die  Kolonne marschierte schon eine lange Zeit eine gerade Straße hinunter, die vom  vielen Verkehr verbraucht und aufgerissen war. Felder und Hecken, auf denen  gelbe Blumen in Blüte standen, wichen einer Reihe Pappeln. Die hellen, nassen Baumstämme  und steifen Zweige, mit Grün beladen, reihten sich unaufhörlich aneinander,  so unaufhörlich, wie das Schreiten der Füße und das Knarren des Gepäcks, das  ihm unaufhörlich in den Ohren tönte.
  «Sag,  gehen wir an die Front?»
  «Verdammt,  wenn ich das wüsste.»
  «Es gibt  hier ja gar keine Front.»
  Die Sätze  kamen kurz und schweratmend heraus.
  Die  Kolonne schwenkte auf die andere Seite der Straße, um einem Zug Lastkraftwagen  auszuweichen. Chrisfield fühlte, wie der Schmutz über ihn hinweg spritzte, als  Wagen nach Wagen an ihm vorbeiratterte. Mit dem nassen Rücken der einen Hand  versuchte er den Schmutz aus seinem Gesicht zu wischen, doch seine vom Regen  erweichte Haut konnte das nicht ertragen. Er stieß einen Fluch aus. Sein Gewehr  drückte schwer wie ein eiserner Tragbalken.
  Sie kamen  in eine Stadt; durch offene Türen konnten sie behagliche Küchen mit glänzenden  Kupferkesseln und mit sauberen Steinböden sehen, vor den Häusern waren kleine  Gärten, voll von Krokussen und Hyazinthen. Sie marschierten über den Platz, der  mit kleinen gelben, runden Pflastersteinen bedeckt war. Die Kirche hatte einen  Spitzbogen in der Tür, den Cafes waren die Namen farbig aufgemalt. Männer und  Frauen schauten aus Türen und Fenstern. Die Kolonne verlangsamte sichtlich den  Schritt, doch marschierte sie weiter, und als die Häuser seltener wurden und  am Wege weiter auseinander standen, schwand den Leuten die Hoffnung auf einen  Halt. Die Ohren waren taub geworden von dem unregelmäßigen Trapp der Stiefel  auf der Steinchaussee. Die Füße waren schwer wie Blei, die Schultern, schwielig  geworden, wurden wund vom unaufhörlichen Schweiß. Die Köpfe hingen hinunter,  die Augen hefteten sich auf die Hacken des Vormannes, die sich hoben, um wieder  niederzufallen, endlos. Marschieren wurde für jeden zu einem persönlichen  Kampf mit seinem Gepäck, das irgend etwas Lebendiges bekommen hatte, bösartig  und übermächtig geworden schien.
  Der Regen  hörte auf, und der Himmel wurde ein wenig lichter, nahm dann eine etwas  gelbliche Färbung an, als ob die Wolken, welche die Sonne verbargen, dünn  geworden seien.
  Die  Kolonne hielt in der Nähe einer Gruppe von Äckern und Scheunen, die an der  Landstraße entlang lagen. Die Leute streckten sich in allen Richtungen längs  des Weges und bedeckten mit der Schmutzfarbe ihrer Uniformen das helle Grün  des Grases. Chrisfield lag in dem Feld neben der Straße und presste sein heißes  Gesicht in den weißen Frühlingsklee. Das Blut pochte ihm in den Ohren. Seine  Arme und Beine schienen auf dem Boden festgewurzelt zu sein, als ob er nie in  der Lage sein würde, sie wieder zu bewegen. Er schloss die Augen. Langsam stieg  ein Frösteln in seinem Körper auf. Er setzte sich auf und ließ den Tornister  fallen. Irgendeiner gab ihm eine Zigarette, und er zog ein wenig süßlichen  Bauch ein. Andrews lag neben ihm, den Kopf auf seinem Tornister, rauchend,  seine blauen Augen schauten seltsam aus dem flammenden Bot seines schmutzbespritzten  Gesichtes heraus. Chrisfield nahm die ihm angebotene Zigarette und suchte in  seiner Tasche nach einem Streichholz. Eine Pfeife gellte. Langsam erhoben sich  die Männer vom Boden und marschierten in Linien auf. Die Kompanien marschierten  getrennt ab. Chrisfield hörte, wie der Leutnant zum Sergeanten sagte:  «Verdammte Geschichte das. Warum haben sie uns nicht an die erste Stelle  geschickt?»
  «So  kommen wir wohl gar nicht an die Front?» brummte der Sergeant.
  «Front?»  puffte der Leutnant heraus.
  Er war  ein kleiner Mann, der wie ein Jockey mit rauem, rotem Gesicht aussah, das  jetzt in Ärger sich purpurn färbte.
  «Man wird  uns wohl hier einquartieren», meinte jemand.
  Sofort  wiederholten es alle: «Wir werden hier wohl einquartiert werden.»
  Sie  marschierten eine lange Weile in Formation. Das Gepäck schnitt ihnen in den  Bücken und in die Schultern. Endlich rief der Sergeant Befehle aus:
  «Nehmt  euer Zeugs mit nach oben!»
  Oben  kamen sie auf einen dunklen Boden, wo die Luft schwer war vom Geruch des Heus  und eines Kuhstalles, der darunter lag. In den Ecken war ein wenig Stroh, und  diejenigen, die zuerst kamen, breiteten ihre Decken darauf aus. Chrisfield und  Andrews warfen sich in eine Ecke, von wo sie durch ein Loch hinunter in den Hof  sehen konnten. Dort liefen weiße und gefleckte Hühner mit schnellen Bewegungen  herum. Eine Frau in mittleren Jahren stand in dem Torweg des Hauses und sah die  Haufen khakigekleideter Soldaten misstrauisch an, die jetzt langsam sich in  alle Türen der Scheunen hineinschoben. Ein Offizier ging an sie heran mit einem  kleinen roten Buch in der Hand. Ein Gespräch über irgend etwas ging peinlich  langsam vor sich. Der Offizier wurde sehr rot. Andrews warf seinen Kopf zurück  und lachte. Chrisfield lachte auch, er wusste kaum warum. Über ihren Köpfen  konnten sie die Tauben auf dem Dache hören: ein beständiges schläfriges  Ru-ku-ku-ku. Der Geruch in der Scheune veränderte sich allmählich, und man roch  das Essen, das in der Feldküche fertig gestellt wurde.
  «Hoffentlich  geben sie uns was Anständiges zu essen, bin hungrig wie ein Drescher.»
  «Ich  auch», sagte Andrews.
  «Du  kennst doch ihre Sprache ein wenig, Andy.»
  Andrews  nickte mit dem Kopfe.
  «Wir  können vielleicht ein paar Zigaretten von der Dame da unten bekommen, oder  irgend etwas anderes. Versuchs mal nach dem Essen.»
  Sie lagen  beide im Stroh und schlossen die Augen. Ihre Wangen brannten noch vom Regen.  Alles schien sehr friedlich. Die Kameraden um sie herum sprachen leise und  schläfrig. Draußen kam ein neuer Regenguss herunter und schlug weich auf die  Ziegel des Daches. Chrisfield glaubte, noch nie in seinem Leben habe er es so  bequem gehabt, obschon seine durchnässten Schuhe die kalten Füße drückten und  seine Knie feucht und kalt waren. Doch in dem ermüdenden Geräusch des Regens  und der Stimmen, die ruhig um ihn herum sprachen, schlief er ein. Er träumte,  er sei zu Hause in Indiana, doch anstelle seiner Mutter, die sonst immer am  Herd in der Küche kochte, war dort die Französin, die vorhin im Torweg  gestanden hatte, und neben ihr stand der Leutnant mit einem kleinen roten Buch  in der Hand. Plötzlich begann der aus voller Lunge zu schreien: «Du verdammter ... » Aber er konnte scheinbar nichts  anderes sagen. «Du verdammter... »  begann er wieder. Der Leutnant sah ihn an, zog die schwarzen Augenbrauen, die  sich über der Nase trafen, zusammen. Es war der Sergeant Anderson. Chrisfield  zog sein Messer und lief gegen ihn an. Aber dann war es Andy, sein  Schlafkamerad, den er gestochen hatte. Er warf die Arme um Andys Körper und  weinte... Er wachte auf, Essgeschirr  klirrte überall um ihn in dem dunklen Heuboden. Die Kameraden waren schon  dabei, die Treppe hinunterzugehen.
Die  Lerchen erfüllten die bläuliche Luft mit einem beständigen Klingen kleiner  Glocken. Chrisfield und Andrews schlenderten über ein Feld, das auf dem Bücken  eines Hügels lag. Unten im Tal konnten sie eine Gruppe roter Dächer und das  weiße Band der Straße sehen, wo lange Züge von Lastkraftwagen vorwärts krochen  wie Käfer. Die Sonne war gerade hinter den blauen Hügeln auf der anderen Seite  des Tales untergegangen. Die Luft war voll von dem Geruch des Klees und des  Hagedorns der Hecken. Sie zogen den Atem tief ein beim Durchqueren des Feldes.  «Es ist schön, von der Masse da fortzukommen», sagte Andrews. Chrisfield ging  schweigend weiter und zog seine Füße schwer über den Klee. Eine bleierne  Dumpfheit lastete auf ihm, wie eine schnürende Decke um seine Glieder, so dass  es ihm Anstrengung verursachte, zu gehen, Anstrengung, zu sprechen, doch  darunter schienen ihm seine Muskeln sich zu spannen und zu zittern, als ob er  vor einem Kampf um ein Mädchen stände.
  «Warum  zum Teufel schicken sie uns denn nicht nach vorn?» sagte er plötzlich.
  «Ja, das  würde besser sein, als so... warten,  warten, warten.»
  Sie  gingen weiter, das Zwitschern der Lerchen über ihnen, das Geräusch ihrer Füße  im Klee und das schwache Klimpern einiger Kupfermünzen in Chrisfields Tasche  und in der Ferne das unregelmäßige Surren eines Aeroplans. Beim Weitergehen  beugte sich Andrews des Öfteren hinunter und pflückte ein paar weiße  Kleeblumen. Der Aeroplan kam plötzlich näher und stürzte in einer großen Kurve  über dem Feld. Alles ertrank in seinem Gebrüll. Sie konnten den Führer und den  Beobachter genau erkennen, ehe noch das Flugzeug wieder aufstieg und in den  purpurnen Wolkenfetzen des Himmels verschwand. Der Beobachter hatte einmal mit  der Hand gewinkt, als sie vorbeifuhren. Sie standen still in dem dämmerigen  Feld, starrten hinauf in den Himmel, wo noch immer einige Lerchen zwitscherten.
  «Möchte  schon einer von den beiden sein», sagte Chrisfield.
  «So?»
  «Ich  würde alles darum geben, aus dieser beschissenen Infanterie rauszukommen. So  ist's kein Leben, wie ein Neger behandelt zu werden.»
  «Nee, das  ist kein Leben.»
  «Wenn sie  uns wenigstens an die Front schicken würden...  aber alles, was wir tun, ist Drill und Schießen und Drill und  Bajonettübungen und wieder Drill. Kann einen ja verrückt machen.»
  «Wozu  darüber sprechen, Chris?» Andrews lachte. «Da ist das Flugzeug wieder.»
  «Wo?»
  «Da  hinten. Gerade an dem Waldende.» «Dort ist der Flugplatz.» «Die haben 'n  schönes Leben.»
  «Bin im  Übungslager um 'ne Versetzung zu den Fliegern eingekommen, aber nichts mehr  davon gehört. Sonst wäre ich nicht mehr in diesem Dreck.»
  «Es ist  herrlich schön auf dem Hügel an diesem Abend», sagte Andrews und schaute  träumend auf den hell orangefarbenen Streifen Licht, wo die Sonne untergegangen  war. «Gehen wir hinunter und trinken 'ne Flasche Wein.»
  «So ist's  recht. Ob wohl das Mädchen heute Nacht auch unten ist?»
  «Antoinette?  Junge, die möcht' ich mal 'ne Nacht für mich haben!»
  Ihre  Schritte wurden schneller, als sie einen grasbewachsenen Weg hinuntergingen,  der durch hohe Hecken zu einem Dorfe führte. Es war fast dunkel im Schatten der  Büsche auf beiden Seiten. Über ihren Köpfen wurden die purpurnen Wolken von  blassem, gelbem Licht überspült, das allmählich in Grau verblasste. Vögel  zwitscherten und bewegten sich zwischen den jungen Blättern. Andrews legte  seine Hand auf Chrisfields Schulter. «Wollen langsam gehen», sagte er. «Nich'  zu schnell hier rauskommen.»
  Er packte  nachlässig kleine Büschel Heckenblumen im Vorbeigehen.
  «Nich'»,  meinte Chrisfield. «Wir werden heute nichts mehr zu essen kriegen. Es muss  schon spät sein.»
  Sie  beschleunigten ihre Schritte wieder und kamen nach einem Augenblick an die  ersten fest geschlossenen Häuser des Dorfes. In der Mitte der Straße war ein  Feldgendarm, der mit gespreizten Beinen stand und seinen Polizeiknüppel lässig  hin und her baumeln ließ. Er hatte ein rotes Gesicht, seine Augen waren auf das  obere Fenster des Hauses geheftet, dessen Läden herabgelassen waren, durch die  Bitzen kamen einige Streifen gelben Lichtes. Er schwankte ein wenig  unentschieden hin und her. Plötzlich kam ein Offizier aus der kleinen grünen  Tür des Hauses. Der Feldgendarm riss mit einem Sprung die Hacken zusammen und  grüßte, hielt die Hand an die Mütze. Langsam erstarben die Schritte, als der  Offizier die Straße hinunterging, dann nahm der Feldgendarm seine frühere  Haltung wieder ein. Chrisfield und Andrews waren auf der anderen Seite vorbei  und in die Tür eines kleinen, baufälligen Hauses geschlüpft, dessen Fenster  mit schweren hölzernen Läden geschlossen waren. Sie kamen in ein Zimmer, das  einst die gute Stube eines Bauernhauses gewesen war. Der Leuchter mit seinem  Kristall und dem roten Samt unter einer Glasplatte bewies, dass das Mobiliar  herausgenommen war und dass diese vier groben, viereckigen Tische erst  nachträglich hineingestellt worden waren. An einem der Tische saßen drei  Amerikaner und an einem anderen ein junger französischer Soldat, der über  seinem Tisch zusammengesunken traurig in ein Glas Wein schaute.
  Ein  Mädchen in einer verblichenen Bluse, die die starken Rundungen ihrer Schultern  und Brüste hervortreten ließ, kam ins Zimmer, die Hände in den Taschen einer dunkelblauen Schürze, gegen die ihre runden Arme golden-braun abstachen.  Ihr Gesicht hatte dieselbe goldene Farbe unter einer Last dunkelblonden Haares.  Sie lächelte, als sie die beiden Soldaten sah und zog ihre dünnen Lippen über  ihre hässlichen gelben Zähne hinauf.
  «Ca va  bien Antoinette?» fragte Andrews.
  «Oui»,  sagte sie und sah über ihre Köpfe auf die französischen Soldaten, die an der  anderen Seite des Zimmers saßen.
  «Eine  Flasche vin rouge, vite», befahl Chrisfield.
  «Brauchst  heute Nacht nicht so verdammt vite zu sein, Chris», sagte einer der anderen  Leute.
  «Vite?  Wird heute keine Kontrolle sein, der Korporal hat es mir selbst erzählt.»
  Andrews  sah auf den Franzosen, der mit dem Gesicht im Schatten saß und dessen schwarze  Augenlider die Augen bedeckten. Purpurn hatte sich seine olivfarbene Haut über  den Backenknochen gefärbt. Chrisfield drehte sich ein wenig in seinem Stuhl um  und sah auf den Franzosen. Er fühlte in seinen Augen für einen Moment den Blick  der gelbbraunen Augen des Mannes. Andrews lehnte sich zurück gegen die Wand und  schlürfte seinen dunkelfarbigen Wein, die Augen träumerisch zusammengezogen.  Chrisfield knuffte ihn.
  «Wach  doch auf, Andy, schläfst du?»
  «Nein»,  antwortete Andrews lächelnd.
  «Nimm  doch einen Schluck Cognac!»
  Chrisfield  goss unsicher noch zwei Gläser ein. Seine Augen lagen wieder auf Antoinette.  Die verblichene Bluse war am Nacken mit Haken zusammengehalten. Die ersten drei  Haken waren auf und ließen eine golden braune Haut und ein bisschen weißer  Wäsche zum Vorschein kommen. Seine Augen verfolgten die Reihe der Haken, bis  diese in der blauen Schürze verschwanden. Die verblichene Baumwolle ihrer  Bluse zeigte deutlich die Umrisse ihrer Brüste. Chrisfield sah sich mit beiden  Händen die Bluse packen und aufreißen. Sein Blut brannte von dem Cognac. Er  benetzte seine Lippen mit der Zunge.
  «Sag mal,  Andy», brummte er und legte seinen Arm um den Nacken des Freundes. «Willst du  die Nacht mit dem Mädchen bleiben? Sonst sprich mit ihr für mich, ja, Andy?... Will nicht, dass der verdammte  Franzose da sie bekommt, bei Gott nicht! Sprich mit ihr für mich, Andy.»  Andrews lachte. «Werd's versuchen», meinte er. «Antoinette, j'ai un ami»,  begann er und wies mit seiner langen schmutzigen Hand auf Chrisfield.
  Antoinettes  Gesicht wurde ruhig und schön. Chrisfield lehnte sich in seinem Stuhl zurück  mit einem leeren Glas in der Hand und beobachtete seinen Freund bewundernd.
  «Sag ihr,  was ich will. Andy. Mach weiter, Andy», flüsterte er laut.
  «Antoinette,  mon ami vous admire», sagte Andrews in sehr höflichem Tone.
  Eine Frau  steckte ihren Kopf in die Tür: sie hatte genau dasselbe Gesicht und Haar, wie  Antoinette, um zehn Jahre älter, aber die Haut statt gold-braun schmutzig und  faltig.
  «Viens»,  sagte die Frau schrill. Antoinette stand auf, schob sich an Chrisfield vorbei,  seine Beine mit ihren Böcken streifend, und verschwand. Der Franzose erhob sich  und durchkreuzte das Zimmer, grüßte ernst und ging hinaus. Chrisfield sprang  auf. Das Zimmer war wie eine große Mühle, die sich um ihn herum wirbelte.
  «Dieser  Franzmann ist ihr nachgegangen!» schrie er.
  «Setz  dich und trink noch eins, Chris», sagte Andrews. «Ich muss noch etwas zu  trinken haben. Habe den ganzen Abend noch nichts Ordentliches getrunken.» Er  zog ihn auf den Stuhl zurück. Chrisfield wollte wieder aufstehen. Andrews  hängte sich an ihn, so dass der Stuhl umflog. Sie fielen beide auf die roten  Ziegel des Bodens.
  «Setz  dich und trink noch eins, Chris», sagte Andrews.
  Chrisfield  bemerkte, wie Judkins sich über ihn beugte mit seinem breiten Grinsen auf  seinem großen roten Gesicht. Er stand wieder auf und setzte sich missmutig auf  seinen Stuhl. Andrews saß ihm schon gegenüber, ruhig und still als sei nichts  geschehen.
  Alle  Tische waren jetzt besetzt. Irgendeiner sang dösend und schläfrig.
«Indiana»,  schrie Chris, «das ist das Land des lieben Gottes.» Plötzlich fühlte er, dass  er Andy alles von seiner Heimat und den großen weiten Kornfeldern, schimmernd  und glitzernd in der Julisonne, erzählen könne und von dem großen Teich, in dem  er so oft gebadet hatte. Alles stand plötzlich wie lebendig vor ihm: er zog den  weinartigen Duft des Obstes ein, er sah die Viehherden, die ihre wiederkäuenden  Mäuler bewegten, wie sie am Tor warteten, um ans Wasser zu kommen, er sah den  gelben Staub beim Korndreschen, er fühlte den sanften Hauch des Abendwindes,  der kühlend über seinen Hals und Nacken strich, wenn er nach einem Tag voll  heißer Sonne sich auf einem großen Haufen Heu ausstreckte. Doch alles, was er  sagen konnte, war:
  «Indiana  ist wie das Land des lieben Gottes, nicht Andy?»
  «Oh, der  hat viele solcher Länder», murmelte Andrews.
  «Habe zu  Hause mal 'n Hagelstück gesehen, fünfundzwanzig Zentimeter im Umfang. Bei Gott,  ich hab's gesehen.»
  «Kann man  wohl gut als Geschoss verwenden, was?»
  «'s gibt  kein Geschoss, das solchen Schaden anrichten kann, wie unsere Gewitter zu  Hause», brüllte Chris.
  «Ob wir  wohl mal 'ne richtige Schießerei sehen werden?»
  «Keine  Sorge, mein Lieber», sagte irgendeiner vom anderen Ende des Zimmers. «Wirst  noch genug davon sehen. Dieser Krieg wird verdammt lange dauern...»
  «Möchte  heute Nacht einige Hunnen in die Finger kriegen, bei Gott, Andy», murmelte  Chris mit unterdrückter Stimme. Er fühlte, dass seine Muskeln sich in wilder  Wut zusammenzogen. Er sah durch halbgeschlossene Augen auf die Männer im Zimmer  und dachte plötzlich, es müsse doch herrlich sein, eine Granate in eine Masse  Menschen hineinzuschleudern. Dann erblickte er das Gesicht von Anderson, ein  schweres, weißes Gesicht mit Augenbrauen, die über der Nase zusammenliefen, und  einem bläulichen glattrasierten Kinn.
  «Wo ist  der Kerl, Andy? Ich will ihn kaltmachen.»
  Andrews  erriet, was er meinte. «Setz dich und trink noch was, Chris», sagte er. Der  begann trunken zu fluchen.
  Chrisfield  sah eine Frau, die neben dem Tisch mit dem Rücken ihm zugewandt stand. Andy  zahlte gerade. «Antoinette», sagte er, stand auf und legte die Arme um ihre  Schultern. Mit einer schnellen Bewegung der Ellbogen schob sie ihn in seinen  Stuhl zurück. Sie drehte sich um. Er sah das schmutzfarbene Gesicht und die  dünnen Brüste der älteren Schwester. Sie sah ihm überrascht in die Augen. Er  grinste trunken. Als sie das Zimmer verließ, machte sie ihm mit dem Kopfe ein  Zeichen, ihr zu folgen. Er stand auf, schwankte aus der Tür und zog Andrews  hinter sich her. In dem inneren Zimmer war ein großes Bett mit Gardinen, wo die  Frauen schliefen und außerdem eine Feuerstelle, wo gekocht wurde. Es war  dunkel. Nur in einer Ecke flackerte schwach eine Kerze auf einem Tisch. So  konnte man nur unregelmäßige Schatten und das große gardinenverhangene Bett  sehen. Plötzlich erblickte Chrisfield das Gesicht des Franzosen. Der war in  Hemdsärmeln. Das Kerzenlicht fiel ihm plötzlich in die Augen. Chrisfield fühlte  seine ganze Wut plötzlich wie eine Flamme in sich aufbrechen.
  «Du warst  mit dem Mädel!» schrie er und sprang auf den Mann zu. Etwas Hartes schlug ihm  gegen den Schenkel, und die Kerze ging aus. Andrews hielt ihn am Arm fest.
  «Verdammter  Narr, halt dich doch ruhig», sprach die Stimme des Freundes ihm immer und  immer wieder ins Ohr. Der Franzose, irgendwo im Dunkel des Zimmers, hatte auch  etwas gesagt, verschiedene Male.
  «Die  Boches...  Flugzeuge...»
  Sie waren  still. Über sich hörten sie das Surren der Flugzeuge, bald stärker bald  schwächer wie das Summen einer Fliege gegen eine Fensterscheibe. Der Franzose  zündete ein Streichholz an und sah sich alle neugierig an. Antoinette lehnte  gegen das Bett mit ausdruckslosem Gesicht. Ihr schweres Haar hatte sich  aufgelöst und fiel in goldenen Wellen um ihre Schultern. Die alte Frau  kicherte.
  «Komm,  wollen mal sehen, was los ist, Chris», sagte Andrews.
  Sie  gingen hinaus in die dunkle Dorfstraße.
  «Zum  Teufel mit den Weibern, Chris! Das ist der Krieg!» rief Andrews mit lauter,  betrunkener Stimme, als sie Arm in Arm die Straße hinunter wankten.
  «Das ist  der Krieg!» Chrisfield fühlte, wie die Hand seines Freundes sich über seinen  Mund legte. Er ließ sich führen und fühlte, wie er auf die eine Seite der  Straße gedrängt wurde. Irgendwo im Dunkeln hörte er die Stimme eines Offiziers.
  «Bringen  Sie diese Leute mal zu mir!»
  «Zu  Befehl!» kam eine andere Stimme.
  Langsam  drangen schwere Schritte die Straße herauf in ihrer Richtung. Andrews schob ihn  noch weiter an einem Haus entlang, bis sie plötzlich beide in eine Mistgrube  fielen.
  «Lieg  ruhig, um Gottes willen», murmelte Andrews und warf einen Arm über Chrisfields  Brust. Ein dicker Geruch von Hundemist erfüllte ihre Nasen. Sie hörten die  Schritte näher kommen, unentschlossen hin und her wandeln und dann wieder in  der Richtung, aus der sie gekommen waren, abgehen. Inzwischen wurde das Surren  der Motoren oben immer lauter und lauter.
  «Nun?»  kam die Stimme des Offiziers.
  «Hab' sie  nicht finden können», sagte die andere Stimme.
  Chrisfield  begann zu kichern. Er fühlte, er werde gleich in ein schallendes Gelächter  ausbrechen müssen. Das nahende Flugzeug hörte auf zu surren, die Nacht schien  plötzlich totenstill zu sein. Andrews sprang auf. Die Luft wurde von einem fauchenden  Geräusch durchschnitten, dem eine krachende Explosion folgte. Sie sahen die  Mauer über ihrer Grube plötzlich für einen Augenblick rot aufleuchten.  Chrisfield stand auf und erwartete brennende Ruinen zu sehen. Die Dorfstraße  lag da, dunkel wie immer. Ein kleines Licht glitzerte vom Schein des Mondes,  der noch immer unter dem Horizont stand. Ein Fenster in dem gegenüberliegenden  Hause glänzte gelb. Darin war eine blaue Silhouette in Offiziersuniform zu  sehen. Eine kleine Gruppe stand in der Straße drunten.
  «Was war  das?» schrie die Gestalt am Fenster mit entschiedener Stimme.
  «Deutsches  Flugzeug hat eine Bombe abgeworfen, Herr Major», antwortete eine Stimme  atemlos.
  «Warum zu  Teufel schließt er das Fenster nicht?» murmelte eine Stimme die ganze Zeit.  «Direkt eine Zielscheibe für die Boches.»
  «Was  passiert?» fragte der Major.
  In der  Stille sangen die Motoren, drohend in der Luft wie gigantische Moskitos.
  «Da  scheinen noch mehr zu sein», meinte der Major in langen gedehnten Tönen.
  «Oh ja,  massenhaft», antwortete eine eifrige Stimme.
  «Um  Gottes willen, sagen Sie ihm doch, dass er das Fenster schließt, Leutnant»,  murmelte eine andere Stimme.
  «Wie kann  ich es ihm sagen? Sagen Sie es ihm!»
  «Wir  werden alle getötet werden, das ist alles!»
  «'s gibt  keine Unterstände oder Gräben hier!»
  «Das ist  die Schuld des Hauptquartiers!» sagte der Major aus seinem Fenster.
  «Dort ist  ein Keller!» schrie die eifrige Stimme.
  Drei  laute Explosionen in schneller Folge ertränkten alles in einem roten Schein.  Die Straße war plötzlich voll von Dorfleuten, die liefen, um Schutz zu suchen.
  «Wir  machen besser, dass wir nach Hause kommen», sagte Andrews.
  Sie  kletterten vorsichtig aus ihrer Grube heraus. Chrisfield war überrascht, dass  er zitterte. Seine Hände waren kalt. Es fiel ihm schwer, nicht mit den Zähnen  zu klappern.
  «Wir  werden jetzt mindestens eine Woche nach diesem Mist stinken. Machen wir, dass  wir aus diesem dreckigen Dorfe fortkommen», murmelte Andrews.
  Sie  liefen fort, durch einige Obstgärten, brachen durch eine Hecke und kletterten  über offene Felder den Hügel hinauf. Unten an der Hauptstraße hatte ein  Luftabwehrgeschütz zu bellen begonnen, und der Himmel glitzerte von  explodierenden Schrapnells. Das Put-Put-Put eines Maschinengewehrs setzte  irgendwo ein. Chrisfield lief den Hügel hinauf, gleichen Schrittes mit seinem  Freund. Hinter ihnen krachte Bombe auf Bombe, und über ihnen schien die Luft  voll zu sein von explodierenden Schrapnells und von surrenden Flugzeugen. Der  Cognac lag ihnen noch immer etwas im Blut. Auf der Anhöhe hielten sie an und  schauten zurück. Chrisfield fühlte eine zitternde Bewegung, die ihm schneller  durch die Adern sprang als der Cognac. Er legte die Arme um die Schultern des  Freundes. Sie schienen das einzige Lebendige in einer wirbelnden Welt zu sein.  Unten im Tal brannte ein Haus hell. Aus allen Richtungen kam das Bellen der  Luftabwehrgeschütze, und oben setzte sich unbekümmert der Singsang der Motoren  fort. Plötzlich brach Chrisfield in Lachen aus.
  «Bei  Gott, 's gibt immer einen Spaß, wenn ich mit dir ausgehe, Andy», sagte er.
  Sie  wandten sich wieder um und eilten auf der anderen Seite den Hügel hinunter nach  den Bauernhäusern zu, wo sie einquartiert waren.
3
So weit  er sehen konnte, standen die grauen Stämme der Buchen, hellgrün von dem Moos,  das sie auf der einen Seite überwachsen hatte. Der Boden war tief mit den im  letzten Herbst gefallenen Blättern bedeckt, die wütend unter jedem Schritte  raschelten. Über sich im unruhigen, flackernden Licht der Baumkronen und durch  die dunkelgrünen Blätter hindurch konnte er dann und wann einen Flecken grauen  Himmels sehen, grauer als die silbrigen Stämme, die sich beim  Vorwärtsmarschieren um ihn herum bewegten. Er strengte seine Augen an, bis sie  von der ewigen Wiederholung der grauen und grünen Flecken geblendet waren. In  der Ferne konnte er Batterien hören: «Pong, pong, pong», und dann klangen die  Wälder, als ob Hagel niederginge, wenn eine schwere Granate über die  Baumkronen hinwegsauste, um in einem dumpfen Krachen meilenweit entfernt zu  verenden. Chrisfield war von Schweiß durchnässt. Das Gefühl dafür, dass er  Arme und Beine hatte, war ihm fast verloren gegangen. Alle Sinne waren auf  Augen und Ohren konzentriert und in der Aufmerksamkeit auf sein Gewehr  angespannt. Er stellte sich vor, er sehe etwas Graues, das sich bewegt und  schießt. Sein Zeigefinger juckte, gekitzelt von dem Wunsche, den Hahn  abzuziehen. — Ich werde sehr sorgfältig zielen — dachte er bei sich. Er stellte  sich einen Fetzen Grau vor, der hinter einem grauen Baumstamm hervorkommt; er  hörte den scharfen Knall seines Gewehrs und sah den Fetzen Grau sich in den  gefallenen Blättern wälzen. Ein Zweig schlug ihm den Helm vom Kopfe, rollte ihn  vor die Füße und schlug mit einem metallischen Laut
  gegen die  Wurzel eines Baumes. Ein plötzlicher Schrecken machte ihn fast blind. Es  schien, als ob sein Herz von einer Seite der Brust auf die andere rolle. Er  stand steif, als ob ihn der Schlag gerührt habe, bevor er sich niederbeugen  konnte und den Helm aufheben. Ein seltsamer Blutgeschmack war in seinem Munde.
  «Ich  werde ihn schon fassen», murmelte er zwischen zusammengepressten Zähnen. Seine  Finger zitterten noch, als er sich niederbeugte, um den Helm aufzuheben, den er  sehr sorgfältig wieder aufsetzte und mit dem Riemen unter dem Kinn befestigte.  Wütender Ärger hatte ihn erfasst. Er ging wieder weiter. Überall standen die  silbrigen Stämme der Buchen, alle mit einem hellgrünen Streifen auf der einen  Seite. Und bei jedem Schritt rauschten die gefallenen Blätter wütend und laut.  Fast außer Sichtweite, zwischen den Baumstämmen, lag ein Holzklotz. Doch beim Näher  kommen sah er, dass es keiner war, es war ein Bündel graugrünen Tuches. Ohne zu  denken, schlenderte Chrisfield näher. Die silbrigen Stämme der Buchen begannen  sich um ihn zu drehen. Es war ein Deutscher, der ausgestreckt zwischen den  Blättern lag. Chrisfield war wütend glücklich, sein Blut pumpte durch seine  Adern. Er konnte die Knöpfe auf dem Bücken des langen deutschen Mantels sehen.  Er trat den Deutschen. Er konnte die Rippen an seinen Zehen durch das Leder  seines Stiefels fühlen. Er trat noch einmal und noch einmal mit seiner ganzen  Kraft. Der Deutsche rollte schwer herum. Er hatte kein Gesicht. Chrisfield  spürte, wie der Hass plötzlich aus ihm herausebbte. Wo das Gesicht gewesen war,  war jetzt eine schwammige Masse von Purpur und Gelb und Rot, die Hand war an  den verwesenden Blättern kleben geblieben, als der Körper herumrollte. Große  Fliegen mit hellen, glänzend grünen Körpern schwirrten umher. In der braunen,  schmutzigen Hand lag ein Revolver. Chrisfield fühlte Kälte sein Bückgrat  hinaufsteigen. Der Deutsche hatte sich selbst erschossen! Er wandte sich  plötzlich weg, atemlos, um sich dem Rest der rekognoszierenden Truppe  anzuschließen. Die schweigenden Zweige wirbelten um ihn herum und wellten sich  in großen Bogen über seinem Kopfe. Der Deutsche hatte sich selbst erschossen!  Darum hatte er kein Gesicht!
  Chrisfield  schloss sich den anderen an. Der Korporal wartete auf ihn.
  «Hast du  was gesehen?» fragte er.
  «Nein,  nichts», murmelte Chrisfield, fast unhörbar.
  Der  Korporal setzte sich wieder an die Spitze des Zuges. Chrisfield war wieder  allein. Die Blätter rauschten wütend und laut unter seinen Schritten.
4
Chrisfield  schaute hinauf auf die Blätter in den Kronen der Walnussbäume, die metallscharf  gegen den hellen, farblosen Himmel abstachen und mit Zacken von Gold umrändert  waren, wo das Sonnenlicht durch sie hindurchfiel. Er stand steif und bewegungslos,  obschon in seinem linken Knöchel ein heftiger Schmerz war, so stark, dass es  schien, als ob der geschwollene Knöchel den Stiefel sprengen wolle. Er konnte  fühlen, dass Soldaten zu beiden Seiten von ihm standen. Es schien, als ob die  aufmarschierte Linie strammstehender Soldaten in grauen Uniformen endlos auf  irgend jemand warte, sie aus ihrer Erstarrung zu befreien, und sich  ununterbrochen um die ganze Welt erstreckte. Er blickte hinunter auf das  zertrampelte Gras des Feldes, wo das Regiment aufmarschiert war. Irgendwo  hinter ihm konnte er das Klirren von Sporen an den Hacken irgendeines Offiziers  hören. Dann ertönte plötzlich das Geräusch eines Motors auf der Straße, und  Schritte, die die aufmarschierte Reihe von Soldaten hinunterkamen. Eine Gruppe  von Offizieren ging eilig vorbei mit heftigen Schritten, als ob sie ihr ganzes  Leben lang nichts getan hätten als an Kolonnen aufmarschierter Soldaten  vorbeizuschreiten. Chrisfield sah auf ihren Khakischultern Adler, dann einen  einzelnen Stern und einen doppelten Stern. Der General ging zu schnell vorbei,  als dass Chrisfield sein Gesicht hätte erkennen können. Chrisfield fluchte,  weil sein Knöchel so weh tat. Seine Augen glitten wieder hinauf an den Räumen  entlang bis zu der Stelle, wo die golden umrandeten Blätter der Baumkronen in  den hellen Himmel hineinreichten. So, also dafür hatte er diese Woche in den  Gräben gelegen, dafür hatte er die Kugeln in das Unbekannte, gegen die grauen  Flecken, die sich im grauen Schlamm herumbewegten, abgeschossen. Irgend etwas  kroch ihm mitten über den Bücken hinauf. Er war nicht sicher, ob es eine Laus  war, oder ob er sich das nur einbilde. Ein Befehl war ausgerufen worden.  Automatisch hatte er seine Stellung geändert. Irgendwo weit weg marschierte  ein kleiner Mann auf die lange graue Linie zu. Ein Wind hatte sich erhoben und  raschelte in den steifen Blättern des Hains. Der Wind in den Bäumen tönte weit  und rhythmisch wie das strömende Wasser, das an dem Transportschiff, auf dem er  herübergekommen war, vorbeischäumte. Die goldigen Blätter und die olivfarbenen  Schatten tanzten herum, als ob sie irgend etwas wegfegen wollten, hinauf in den  hellen Himmel. Ein Gedanke stieg in Chrisfield auf. Wenn die Blätter in  breiteren und immer breiteren Kurven schwingen könnten, bis dieser ganze Krieg  weggefegt sein würde, all diese Schmerzen und Läuse und Uniformen und Offiziere  mit Ahornblättern oder Adlern oder Einzelstern oder Doppelstern oder dreifachen  Sternen auf ihren Schultern. Plötzlich erschien er sich selbst in seiner alten,  bequemen Kleidung, mit offenem Hemd, der Wind liebkoste seinen Nacken wie ein  Mädchen. Wie schön war es, auf einem Heuhaufen unter der heißen Sonne von  Indiana zu liegen. «Komisch, an all das zu denken», sagte er zu sich selbst.  Bevor er Andy kannte, würde er nie daran gedacht haben. Was war jetzt über ihn  gekommen?
  Das  Regiment marschierte in Kolonnen zu vieren ab. Chrisfields Knöchel schmerzte  scharf und heiß bei jedem Schritt. Seine Uniform war zu eng, und der Schweiß  lief ihm den Rücken hinunter; um ihn herum waren schwitzende Gesichter. Die  wollenen Uniformen mit ihren hochgeschlossenen Kragen waren wie Zwangsjacken an  diesem heißen Nachmittag. Chrisfield marschierte mit geballten Fäusten. Er  wollte mit irgend jemand kämpfen. Sein Bajonett in irgend jemands Körper  rennen, wie er es mit der Puppe während des Bajonettdrills gemacht hatte. Er  wollte sich ganz nackt ausziehen, er wollte die Handgelenke eines Mädchens so  lange pressen, bis es schrie.
  Seine  Kompanie marschierte an einer anderen Kompanie vorbei, die aufmarschiert war  vor einer zerschossenen Scheune, deren Dach in der Mitte eingesackt war wie der  Bücken einer alten Kuh. Der Sergeant stand vor der Kompanie mit gekreuzten  Armen und sah sich die Vorbeimarschierenden kritisch an. Er hatte ein weißes,  schweres Gesicht und schwarze Augenbrauen, die über der Nase zusammenliefen.  Chrisfield starrte ihn an, als sie vorbeimarschierten, aber Sergeant Anderson  schien ihn nicht zu erkennen. Das ärgerte ihn so, als ob ihn ein Freund  geschnitten habe.
  Die  Kompanie löst sich plötzlich in eine Gruppe von Männern auf, die ihre  Uniformen und Hemden aufknöpften vor einer kleinen Unterkunftshütte, die vor  Jahren, während der Marneschlacht, von den Franzosen gebaut worden war. So  hatte es einer Andy erzählt.
  «Was  träumst du von Indiana?» sagte Judkins und knuffte Chrisfield jovial in die Rippen.
  Chrisfield  ballte die Fäuste und holte zu einem Schlag in Judkins Gesicht aus, den dieser  gerade zur rechten Zeit noch abwehrte. Judkins' Gesicht war flammend rot.
  «Was ist  denn mit dem los?» sprudelte Judkins atemlos heraus.
  Kameraden  waren zwischen sie getreten.
  «Lasst  mich an ihn ran!»
  «Halt  doch das Maul!» sagte Andrews und zog Chrisfield weg.
  Die  Kompanie zerstreute sich langsam. Einige legten sich in das lange,  unbeschnittene Gras in den Schatten des Hauses.
  Andrews  und Chrisfield gingen schweigend die Straße hinunter. Chrisfield hinkte. Zu  beiden Seiten der Straße waren Felder mit reifem Weizen, der golden in der  Sonne stand. Weit weg waren niedrige grüne Hügel, die mit dem reifen Getreide  zusammen in blau und blassgelb verblichen. Hier und da durchbrach ein Haufen  Bäume oder eine Reihe Pappeln die glatte Oberfläche der langen Hügel. In den  Hecken tanzten blaue Kornblumen, die im Winde wippten. An der Wegbiegung  verlor sich das Geräusch der Division, und man hörte nur noch die Bienen über  den Blumen schwirren.
  «Du bist  ein wilder Mann, Chris. Was zum Teufel war in dich gefahren, als du Judkins ins  Gesicht schlagen wolltest? Der hätte dich doch nur verprügelt; er ist zweimal  so stark wie du.»
  Chrisfield  ging schweigend weiter.
  «Bei  Gott, ich denke, du solltest genug davon haben. Ich denke, du hättest endlich  einmal genug davon, immer wieder Streit anzufangen. Du kannst doch selbst keine  Schmerzen vertragen, nicht?»
  Andrews  sprach in kurzen Sätzen, bitter, die Augen gesenkt.
  «Habe mir  gestern den Knöchel verstaucht, als ich vom Transportwagen herunter fiel...»
  «Dann  melde dich krank. Sieh, Chris, ich kann diese Geschichte nicht mehr mitmachen,  bin krank davon. Man sollte sich Heber erschießen, als noch einen Tag länger  dabei bleiben.»
  «Lass  das, Andy. Komm, wir wollen schwimmen gehen. Da unten am Weg ist ein Teich.»
  «Ich habe  Seife in der Tasche. Wir können uns den Schmutz etwas abwaschen.»
  «Geh  nicht so schnell, Andy... Du hast  mehr gelernt als ich. Solltest mir sagen können, warum ein Kerl so verrückt  werden kann... Denke immer, hab 'nen  Teufel in mir.»
  Andrews  rieb die sanfte Seide eines Mohnblattes gegen sein Gesicht. «Wie das wohl  wirken wird, wenn ich etwas davon esse?» meinte er.
  «Warum?»
  «Man soll  einschlafen, wenn man sich in ein Mohnfeld legt. Würdest du das nicht gern  wollen, Chris, und nicht wieder aufwachen, bis der Krieg vorbei ist und man  wieder Mensch sein kann?»
  Andrews biss  in die grüne Kapsel, die er in der Hand hatte. Ein milchiger Saft kam heraus.  «Bitter. Ich denke, das ist Opium», sagte er.
  «Was ist  das?»
  «Etwas,  was dich einschlafen lasst und wundervolle Träume verursacht. In China...»
  «Träume?»  unterbrach ihn Chrisfield. «Die letzte Nacht hatte ich einen. Träumte von einem,  der sich selbst erschossen hatte; vor einiger Zeit beim Rekognoszieren...»
  «Was war  da?»
  «Nichts  weiter. Ein Fritzie lag da im Wald, der hatte sich erschossen.»
  «Das ist  besser als Opium», sagte Andrews, zitternd vor plötzlicher Erregung.
  «Träumte,  die herumsummenden Fliegen seien Aeroplane...   Erinnerst du dich an das Dorf, wo wir zuletzt in Ruhe lagen?»
  «Und an  den Major, der das Fenster nicht schließen wollte — gewiss erinnere ich mich  daran.»
  Sie  legten sich auf die Rasenböschung, die von der Straße zum Teich hinunterführte.  Die Straße war durch das hohe Schilf verborgen, durch das der Wind sanft  lispelte. Über ihnen strömten ungeheure weiße Kumuluswolken, die, übereinander  gehäuft wie phantastische Galeonen, vom Winde getrieben, sich langsam in den  grünlichen Himmel hineintrieben. Die Wolken spiegelten sich in dem silbrigen  Glitzern des Teiches, hin und wieder ragten Grasbüschel aus dem Wasser heraus,  einige Blüten trieben auf der Oberfläche. Einige Zeit lagen sie auf dem Rücken,  bevor sie sich auszuziehen begannen. Sie sahen hinauf in den Himmel, der ganz  weit und frei schien wie der Ozean, weiter und freier als der Ozean. Andrews  zog seine Kleider langsam aus.
  «Herrlich,  die Sonne zu fühlen und den Wind auf dem Körper, nicht, Chris?»
  Andrews  ging auf den Teich zu und lag flach auf dem Bauch in dem feinen, weichen Gras  am Bande. «Es ist herrlich, seinen Körper zu fühlen», sagte er mit  träumerischer Stimme. «Die Haut so weich und geschmeidig, und nichts in der  Welt fühlt sich so schön an, wie ein Muskel... Was sollte ich tun ohne meinen  Körper!»
  Chrisfield  lachte.
  «Schau  mal, wie mein Knöchel geschwollen ist.»
  «Chris»,  sagte Andrews. «Komm weg von diesen stinkigen Uniformen. Du wirst dich wieder  wie ein Mensch fühlen, so Sonne auf dem Körper, statt wie ein lausiger Soldat.»
  «Hallo,  Leute!» kam plötzlich die Stimme eines Marketenders.
  «Hallo!»  antwortete Chrisfield missmutig und hinkte zum Wasser.
  «Wo hast  du die Seife?» fragte Andrews.
  «Ihr  wollt wohl schwimmen, Kerls?» meinte der Marketender. Dann fügte er in  überzeugtem Tone hinzu: «Feine Sache.»
  «Solltest  auch 'reinkommen», sagte Andrews.
  «Danke,  danke... Wollt ihr nicht lieber 'n bisschen  unter Wasser gehen?... Da drüben  sehen euch zwei französische Mädchen von der Straße aus zu.» Der Marketender  kicherte leise.
  «Macht  nichts», sagte Andrews und seifte sich ordentlich ein.
  «Haben  das wahrscheinlich gern», warf Chrisfield ein. «Ich weiß, die haben keinen  Anstand... Aber trotzdem... »
  «Warum  sollten sie nicht auf uns schauen. Vielleicht werden nicht mehr viele Leute  Gelegenheit dazu bekommen.»
  «Wie  meinst du das?»
  «Hast du  schon jemals gesehen, was ein kleiner Granatsplitter aus einem menschlichen  Körper machen kann?» fragte Andrews voller Wut.
  Er warf  sich in das Wasser und schwamm nach der Mitte des auf eine Sandbank in dem  warmen, seichten Wasser und schaute zurück auf den Marketender, der noch immer  am Rande stand. Hinter ihm waren andere Männer, die sich auch auszogen, und  bald war der grasbewachsene Abhang voll von nackten Männern und gelblich-grauer  Unterkleidung. Als Chrisfield heraus kam, fand er Andrews bei seinen Kleidern  mit gekreuzten Beinen sitzen. Er griff nach seinem Hemd und zog es an.
  «Gott,  ich kann mich gar nicht entschließen, das verdammte Ding wieder anzuziehen»,  sagte Andrews ziemlich leise, fast, als ob er zu sich selbst spräche. «Ich  fühle mich so rein; freiwillig wieder Schmutz und Sklaverei anziehen? Ich  denke, ich werde nackt über die Felder gehen.»
  «Heißt  dem Vaterlande dienen Sklaverei, mein Freund?» Der Marketender, der zwischen  den Badenden umherstreifte, setzte sich in seiner reinen Uniform und mit seinen  gut polierten Stiefeln, die seltsam von der schmutzbedeckten und schweißdurchtränkten  Kleidung der Leute um ihn abstach, in das Gras neben Andrews.
  «Da hast  du verdammt recht, das nenne ich Sklaverei.» «Du wirst Scherereien kriegen,  mein Junge, wenn du so redest», sagte der Marketender und senkte die Stimme  vorsichtig. «Nun, was nennst du denn eigentlich Sklaverei?» «Du musst immer  daran denken, dass du freiwillig für die Sache der Demokratie arbeitest... Damit deine Kinder einst in Frieden  leben können...»
  «Hast du  je einen Menschen totgeschossen?» «Nein, natürlich nicht... Doch ich hätte mich zum Dienst gemeldet. Nur meine Augen  sind zu schwach.»
  «Das  glaube ich schon, dass deine Augen schwach sind», sagte Andrews, schwer atmend.
  «Oh, es muss  schrecklich, schrecklich dort draußen sein», fuhr der Marketender fort. «Aber  ihr werdet die Geschichte schon bald ins reine bringen. Ihr werdet den Kaiser  in Berlin schon bald aufhängen.»
  «Ist mir  ganz schnurzegal...»
  «Andy,  ich werde verrückt, wenn ich nicht bald eine Frau erwische.»
  «Denkt  daran, dass eure Frauen, eure Schwestern und Bräute und Mütter für euch in  diesem Augenblick beten.»
  «Ich wünschte irgend jemand würde mich in ein reines Hemd
  'reinbeten»,  sagte Andrews und begann seine Kleider anzuziehen.
  «Oh, wenn  ihr rein bleiben könntet und als unbeschmutzte Sieger zu denen zurückkehren,  die euch Heben», murmelte der Marketender.
  «Wie  lange bist du schon hier drüben?» fragte Andrews.
  «Gerade  drei Monate.» Das schmutzige Gesicht des Mannes hellte sich auf: «Aber diese  drei Monate sind mir mehr wert, als alle anderen Jahre meines Lebens...  Hier habe ich das große Herz von  Amerika schlagen hören. Vergesst nie, dass ihr an einem großen, christlichen  Kreuzzug teilnehmt.»
  «Du  meinst wohl, dass Jesus zugleich mit dem Schwert das Maschinengewehr und das  Giftgas auf die Welt mitgebracht hat? Vielleicht tat er es auch», sagte Andrews  voll innerer Wut, während er sich hinunter beugte, um seine Schuhe zuzumachen.
  «Du  meinst das doch nicht wirklich? Du kannst das doch nicht meinen!»
  «So, du  glaubst also, es sei eine bessere Beschäftigung, Deutsche, die wir nicht  kennen, erschießen und sich bei französischen Weibern, die wir auch nicht  kennen, Geschlechtskrankheiten holen, als zu Hause das Land zu bebauen und  reine Kinder zu zeugen.»
  «Aber  denke doch an die Größe des Opfers. Opfern, das ist der wahre Dienst an Gott!»
  «Ja,  andere opfern... Komm, Chris, wir  wollen weitergehen.»
  Sie  verließen den Marketender, der jetzt zwischen den anderen Männern am Rande des  Teiches hin und her lief, doch von der Straße her konnten sie noch seine hohe  Stimme hören.
  «Und so  etwas wird dich und mich überleben», sagte Andrews.
  «Sag mal,  Andy, wie viel zahlen sie eigentlich einem solchen Marketender?»
  «Weiß  nicht.»
  Sie kamen  gerade zur rechten Zeit zum Essen. Alles sprach und lachte, war lebendig  geworden vom Geruch des Essens und dem Geklapper der Essgeschirre. In der Nähe  der Feldküche sah Chrisfield den Sergeanten Anderson und Higgins, dem anderen  Sergeanten, sprechen. Sie lachten zusammen, und er hörte Anderson mit seiner  tiefen Stimme jovial sagen: «Wir haben diese Zeit durchgemacht, Higgins, wir  werden schon weiter durchkommen.» Die beiden Sergeanten sahen sich an, warfen  einen väterlichen Blick auf ihre Leute und lachten laut. Chrisfield fühlte  sich machtlos wie ein Ochse unter dem Joch. Alles, was er tun konnte, war  arbeiten und sich anstrengen und stramm stehen, während dieser weißgesichtige  Anderson herumlungern durfte, als ob er der Eigentümer der Erde sei. Er hielt  seinen Teller vor sich, der Küchensoldat platschte das Fleisch und die Sauce  hinein. Er lehnte sich gegen die geteerte Wand, aß sein Essen und sah voll Missmut  hinüber zu den beiden Sergeanten, die lachten und sprachen, während die Leute  ihrer beiden Kompanien wie Hunde eilig ihr Essen herunterschluckten.  Chrisfield blickte plötzlich zu Anderson hinüber, der im Gras hinter dem Hause  saß, über die Weizenfelder hinausschaute, während der Rauch seiner Zigarette  in Spiralen über sein Gesicht und sein Haar hinaufstieg. Er sah friedlich aus,  fast glücklich. Chrisfield ballte die Fäuste und fühlte Hass gegen diesen  Menschen stechend in sich aufsteigen. «Habe den Teufel in mir», sagte er.
Die  Fenster waren so nahe dem Grase, dass das schwache Licht, welches in die Hütte  hineinsickerte, eine grünliche Färbung annahm. Das gab den braunen Gesichtern  das kränkliche Aussehen von Leuten, die in Büros arbeiten. Schwalben hatten  oben unter dem Dach ihr Nest gebaut, ihr Unrat lag auf dem Fußboden in weißen  Flecken, und jetzt, da alle fort waren, konnte Chrisfield klar das Piep-Piep  der kleinen Schwalben in ihren Nestern hören. Er saß regungslos auf dem Ende  einer der Bettstellen, sah hinaus durch die offene Tür, in die blauen Schatten  hinein, die größer und größer auf dem Grase der Wiese zu werden begannen.  Seine Hände hingen unbeweglich zwischen seinen Beinen. Er pfiff lässig durch  die Zähne. Seine Augen schauten unter ihren langen Wimpern in die Ferne, obwohl  er nichts dachte. Er fühlte ein wohliges Behagen um sich. Es war angenehm,  allein in den Baracken zu sein, wenn die anderen draußen üben mussten. So  würde niemand Befehle in ihn hineinschreien. Eine warme Müdigkeit überkam ihn.  Sein Kopf fiel hinunter auf die Brust.
  Er wachte  mit einem Ruck auf. Ein großer Mann stand schwarz in der hellen Türöffnung.  «Was tust du hier?» fragte eine tiefe Bassstimme.
  Chrisfields Augen blinzelten. Automatisch stand er auf. Es
  konnte ja  ein Offizier sein! Seine Augen wurden plötzlich brennend. Es war das Gesicht  von Anderson, das zwischen ihm und dem Licht stand. In der grünlichen  Dunkelheit sah die Haut kalkig weiß aus im Kontrast zu den schwarzen  Augenbrauen, die über der Nase zusammenliefen, und den dunklen Stoppeln auf dem  Kinn.
  «Wie  kommt es, dass du nicht bei deiner Kompanie bist?»
  «Bin  Barackenwache», murmelte Chrisfield. Er konnte das Blut in seinen Gedanken und  Schläfen hämmern fühlen und in seinen Augen Stechen wie Feuer. Er starrte auf  den Boden vor Andersons Füße.
  «Die  Befehle lauteten, dass die ganze Kompanie raus sollte und keine Wachen  zurücklassen. Werden uns darüber unterhalten, wenn Sergeant Higgins zurück  ist.»
  «Du sagst  also, dass ich lüge?»
  Chrisfield  fühlte sich plötzlich kühn und fröhlich.
  Wut kroch  langsam in ihm auf. Es schien, als ob er selbst irgendwo entfernt von sich  stände und sich selbst beobachte, wie langsam die Wut sich seiner bemächtigte.
  «Hier muss  saubergemacht werden... Der General  kommt vielleicht zur Inspektion», fuhr Anderson kalt fort.
  «Du sagst  also, dass ich lüge», sprach Chrisfield und legte so viel Unverschämtheit wie  nur möglich in seine Stimme. «Du erinnerst dich meiner wohl nicht?»
  «Doch, du  bist einmal mit dem Messer auf mich losgegangen», sagte Anderson ganz kühl und  warf sich in die Brust. «Ich denke, du wirst jetzt etwas Disziplin gelernt  haben. Mach hier mal 'n bisschen sauber.»
  «Denk'  nicht dran.»
  «Mach da  sauber, oder du wirst schon sehen!» rief der Sergeant mit seiner tiefen  Raspelstimme.
  «Wenn ich  je aus diesem Mist hier rauskomme, werde ich dich über den Haufen schießen! Du  bist genug auf mir rumgeritten.» Chrisfield sprach langsam, genauso kühl wie  Anderson.
  «Wir  werden sehen, was das Kriegsgericht dazu zu sagen hat.»
  «Das ist  mir schnurzegal.»
  Sergeant  Anderson drehte sich auf dem Absatz um und ging fort.
  Er  spielte mit dem obersten Knopf seiner Uniform. Schon konnte man das Geräusch  marschierender Füße hören und dann den Befehl «Abtreten!» Dann drängten die  Leute sich in Scharen zusammen, lachten und sprachen. Chrisfield saß ruhig am  Ende seiner Lagerstelle und sah hinaus, in den hellen Türrahmen hinein. Draußen  stand Sergeant Anderson und sprach mit dem Sergeanten Higgins. Sie schüttelten  sich die Hände, und Anderson verschwand. Chrisfield hörte Sergeant Higgins ihm  nachrufen: «Das nächste Mal, wenn ich dich sehe, werde ich wohl die Hacken  zusammen nehmen müssen und grüßen.»
  Andersons  dumpf dröhnendes Lachen verhallte allmählich. Sergeant Higgins kam in die  Baracke, ging an Chrisfield heran und sagte mit harter Dienststimme: «Du bist  verhaftet... Small, bewache diesen  Mann, hol dein Gewehr und einen Patronengürtel.»
  Er ging  hinaus. Alle schauten neugierig auf Chrisfield. Small, ein Mann mit rotem  Gesicht und langer Nase, die ihm über die Oberlippe herunterhing, schob sich  blöde hinüber an seinen Platz neben Chrisfields Lagerstelle und ließ sein  Gewehr mit großem Krach auf den Boden fallen. Jemand lachte, Andrews ging zu  ihnen, mit einem beunruhigten Blick in den blauen Augen.
  «Was ist  los, Chris?» fragte er leise.
  «Habe dem  Dreckkerl gesagt, dass er mir gestohlen bleiben kann», sagte Chrisfield mit  gebrochener Stimme.
  «Andy,  niemand sollte mit dem spaßen», meinte Small. «Weiß überhaupt nicht, warum mir  immer solch dreckige Arbeit aufgehalst wird.»
  Andrews  ging weg, ohne Antwort zu geben.
  «Keine  Sorge, Chris, werden dir nichts tun», sagte Judkins und grinste ihn gutmütig  von der Tür aus an.
  «Ist mir  auch schnurzegal», antwortete Chrisfield. Er legte sich zurück auf seine  Lagerstelle und sah hinauf an die Decke. Die Baracken waren voll von dem  Geräusch des Saubermachens. Judkins fegte den Boden mit einem Besen. Ein  anderer schlug die Schwalbennester mit einem Bajonett herunter. Die Nester  fielen auf den Boden und erfüllten die Luft mit einem Geflatter von Federn und  dem Geruch von Vogelschmutz. Die kleinen, nackten Körper der Schwalben mit  ihren orangefarbenen Schnäbeln gaben einen dumpfen Laut, als sie auf die  Bretter des Bodens aufschlugen, wo sie liegen blieben und schwach quiekten.
  Inzwischen  flogen die großen Schwalben mit schrillem Geschrei in der Baracke hin und her.
  «Heb sie  doch auf!» sagte Small. Judkins fegte gerade die kleinen, quiekenden Körper mit  dem Schmutz und Staub hinaus. Ein etwas dicker Mann, älter als die übrigen,  beugte sich hinab und hob die kleinen Vögel, eins nach dem anderen auf und  spitzte seinen Mund mit zärtlichem Ausdruck. Er formte aus seinen beiden Händen  eine Art Nest, aus dem sich die langen Hälse und die offenen, orangefarbenen  Schnäbel herausstreckten. Andrews stieß in der Tür auf ihn.
  «Hallo,  Dad», sagte er. «Was ist los?»
  «Ich hob  die gerade auf. Sie konnten diese armen kleinen Biester nicht ungestört lassen  dort oben. Bei Gott, es schaut so aus, als ob sie ausgezogen wären, allem  Schmerz zuzufügen, Vogel, Tier und Mensch.»
  «Krieg  ist kein Picknick», warf Judkins ein.
  «Das ist  kein Grund, noch mehr Schmerzen zu bereiten, als man sowieso muss.»
  Ein  Gesicht mit spitzem Kinn und einer Nase, über der eine pergamentfarbene Haut  sich spannte, erschien in der Tür.
  «Hallo»,  rief der Marketender. «Ich wollte euch nur sagen, dass ich die Kantine morgen  eröffne. Es wird Schokolade, Zigaretten, Seife und alles geben.» Alle riefen  Beifall. Der Marketender strahlte vor Freude. Seine Augen fielen auf die  kleinen Vögel in Dads Händen.
  «Wie  konntest du nur», sagte er. «Ein amerikanischer Soldat darf nicht grausam sein.  Ich hätte das nie geglaubt.»
  «Da wirst  du noch viel zu lernen haben», murmelte Dad und wackelte auf seinen Säbelbeinen  hinaus in die Dämmerung. Chrisfield hatte die Szene an der Tür die ganze Zeit  über beobachtet. Eine heftige Nervosität, die er niederkämpfen wollte, kam  über ihn. Es war nutzlos, immer und immer zu wiederholen, dass alles zwecklos  sein werde. Die Aussicht, allein vor die Offiziere gebracht zu werden, ins  Kreuzverhör von diesen kurzen, scharfen Stimmen genommen zu werden,  erschreckte ihn. Was sollte er machen? fragte er sich immer und immer wieder.  Er würde verwirrt werden und Dinge sagen, die er gar nicht meinte, oder  schließlich gar nichts zu sagen wissen. Wenn nur Andy mit ihm gehen könnte,  meinte er. Andy war gebildet wie die Offiziere. Er hatte mehr Wissen als dieses ganze Pack zusammen. Der würde sich selbst und seinen Freund  verteidigen können. Wenn sie es nur gestatten würden!
  Chrisfield  hörte dem Sprecher in seiner Nähe zu, als ob die Laute aus einer anderen Welt  kämen. Er war schon ganz abgeschnitten von den Kameraden. Er würde  verschwinden, und sie würden nie wissen und sich auch nie darum kümmern, was  aus ihm geworden sei.
  Das  Zeichen zum Essenholen kam, und die Soldaten reihten sich auf. Er konnte ihre  Worte draußen hören, und das Klappern ihrer Essgeschirre, als sie sie öffneten.  Er lag auf seinem Lager und starrte hinaus in das Dunkel. Ein schwaches blaues  Licht kam noch von draußen und überstrich das rote Gesicht von Small und seine  lange, gebogene Nase, von der ein glitzernder Tropfen herabhing, mit einer  seltsam violetten Farbe.
Chrisfield  fand Andrews, als dieser gerade ein Hemd in dem Bache wusch, der durch die  Trümmer des Dorfes hindurch floss. Der blaue Himmel, an dem rosa-weiße Wolken  standen, gab dem hellen Wasser einen bläulichen Schimmer. Unten, am Grunde,  konnte man zerschlagene Helme und Ausrüstungsgegenstände sehen. Andrews wandte  den Kopf. Er hatte Schmutz auf der Nase und Seifenflecken auf dem Kinn.
  «Hallo,  Chris!» sagte er und sah ihn mit seinen leuchtenden blauen Augen an. «Wie  geht's?»
  Seine  Stirn zog sich besorgt zusammen.
  «Zweidrittel  des Monatssoldes und Urlaubsentziehung», sagte Chrisfield froh.
  «Da bist  du ja gut weggekommen.»
  «Ja, ja,  sagten, ich sei ein guter Schütze und so; und so ließen sie mich diesmal  laufen.»
  Andrews  begann sein Hemd zu reiben. «Dies Hemd ist mir so schmutzig geworden, dass ich  kaum glaube, es jemals wieder rein zu bekommen», sagte er.
  «Gib mal  her, Andy, ich werd's waschen. Du kannst so was nicht.»
  «Doch ich  werd's tun.»
  «Mach dass  du wegkommst!»
  «Danke  dir schön.»
  Andrews  stand auf und wischte mit seinem nackten Unterarm den Schmutz von der Nase.
  «Ich  werde das Aas doch erschießen», sagte Chrisfield, das Hemd reibend. «Sei nicht  so'n Idiot, Chris!» «Und ich tu's doch, bei Gott!»
  «Was hat  denn das für'n Sinn? Du wirst ihn wahrscheinlich doch nie wiedersehen!» «Ich  werd's doch tun!»
  Er wrang  das Hemd sorgfältig aus und schlug es Andrews um das Gesicht.
  «Da ist  es», sagte er.
  «Bist 'n  guter Kerl, Chris, auch wenn du im allgemeinen ein Idiot bist.»
  «In ein  oder zwei Tagen werden wir wohl an die Front gehen.»
  «Kolossal  viel Artillerie ist die Straße da rauf gezogen. Französische, britische, alle  möglichen Sorten.»
  Sie  gingen langsam über die Straße. Ein Motorradfahrer sauste an ihnen vorbei.
  «Solche  Leute haben 'nen Spaß bei der Geschichte», sagte Chrisfield.
  «Ich  glaube, dabei hat keiner sehr viel Spaß.»: «Und wie steht es mit den Offizieren?»  «Die sind zu sehr damit beschäftigt, sich wichtig zu fühlen, als dass sie einen  wirklichen Spaß haben könnten.»
Der  harte, kalte Regen schlug ihm wie Hagel ins Gesicht. Nirgendwo Licht, und kein  Laut, als das Pfeifen des Windes im Grase. Seine Augen waren angespannt, die  Dunkelheit zu durchdringen, so angespannt, bis rote und gelbe Flecken ihm vor  den Augen tanzten. Er ging sehr langsam und sorgfältig und hielt irgend etwas  sehr behutsam in seiner Hand unter dem Regenmantel. Er fühlte sich voll einer  seltsamen, unterdrückten Wut. Es schien, als ob er hinter sich selbst hergehe  und seine eigenen Bewegungen beobachtete, und was er sah, machte ihn schreiend  glücklich, so dass er den Wunsch verspürte, zu singen. Er wandte sich, so dass  der Regen ihm auf die Backen schlug. Unter seinem Helm fühlte er sein Haar voll  Schweiß, der sich mit dem Regen in seinem brennenden Gesicht mischte. Seine  Finger umklammerten sorgfältigst das Ding, das er in der Hand hielt. Er  stoppte und schloss die Augen für einen Augenblick. Durch das Pfeifen
  des  Regens hindurch hörte er Männer in ihren Unterständen sprechen. Als er die  Augen schloss, sah er das weiße Gesicht von Anderson vor sich mit dem  unrasierten Kinn und den Augenbrauen, die über der Nase zusammenwuchsen.  Plötzlich fühlte er die Mauer eines Hauses vor sich. Er streckte die Hand aus.  Seine Hand zog sich sofort von dem rauen, nassen Teerpapier zurück, als ob sie  auf etwas Totes gestoßen sei. Er tastete sich sehr vorsichtig an der Wand  entlang. Wirre Sätze kamen ihm in den Sinn. Ohne zu denken, was damit gemeint  sei, formten sich die Worte: «der Welt die Demokratie erkämpfen» (Anm.: Wilsons Worte im Kongress zur  Begründung der Kriegserklärung.) in  seinem Kopfe. Sie beruhigten sehr, sie bändigten seine Gedanken. Er sagte sie  sich immer und immer wieder. Inzwischen griff seine freie Hand sorgfältig an  den hölzernen Fensterladen herum. Die Ladenteile öffneten sich, kreischten laut  beim -Öffnen, lauter als der Regen, der auf die Dächer fiel. Ein Wasserstrom ergoss  sich vom Dach her auf sein Gesicht.
  Plötzlich  veränderte ein Streifen Licht alles. Die Dunkelheit war mitten entzwei  geschnitten. Der Regen glitzerte wie ein Bettvorhang. Chrisfield sah ein  kleines Zimmer, worin eine Lampe brannte. An einem Tisch, der mit gedruckten  Blättern verschiedener Größe bedeckt war, saß ein Korporal. Hinter ihm eine  Bettstelle und ein Haufen Ausrüstungsgegenstände. Der Korporal las ein  «Magazin». Chrisfield sah ihn lange Zeit an. Seine Finger umschlossen fest  einen glatten Stock. Niemand sonst war im Zimmer. Eine Art Panik erfasste  Chrisfield. Er marschierte geräuschvoll vom Fenster weg und schob die Tür auf.  «Wo ist Sergeant Anderson?» fragte er atemlos. «Der Korporal ist da, wenn es  irgendwas Wichtiges gibt. Anderson ist nicht hier. Vorgestern ist er  abgefahren.»
  Chrisfield  stand wieder draußen im Regen. Er schlug ihm gerade ins Gesicht, so dass seine  Augen voll Wasser liefen. Er zitterte. Plötzlich erfasste ihn Schrecken. Der  glatte Stab, den er hielt, schien zu brennen. Er ging geradeaus, die Straße  hinunter, immer schneller und schneller, als ob er irgend etwas zu entfliehen  versuche. Er stolperte über einen Haufen Steine. Automatisch zog er die  Handgranate ab und warf sie weit weg. Dann war es einen Augenblick ruhig. Da  spritzte plötzlich eine rote Flamme aus dem weichen Feld auf. Er fühlte das  scharfe Krachen in der
  Erde. Er  ging schnell weiter durch den Regen. Hinter sich, an der Tür des Hauses, konnte  er erregte Stimmen hören. Er setzte seinen Weg unbekümmert fort. Der Regen machte  ihn fast blind. Als er endlich im Licht anhielt, war er so geblendet, dass er  gar nicht sehen konnte, wer im Weinladen war.
  «Nun,  Chris?» fragte Andrews Stimme.
  Chrisfield  wusch sich den Regen mit den Lidern aus den Augen. Andrews saß mit einem Haufen  von Papier und einer Champagnerflasche da und schrieb. Andys Stimme beruhigte  die Nerven, so schien es Chrisfield. Er wusste, er würde immer weiter so  sprechen, ohne Pause. «Du bist ein richtiger Vollblutidiot», fuhr Andrews leise  fort. Er nahm Chrisfield am Arm und brachte ihn in das kleine hintere Zimmer,  wo ein großes Bett mit einer braunen Decke war und ein kleiner Küchentisch,  auf dem die Reste einer Mahlzeit standen.
  «Was ist  denn los? Dein Arm zittert ja wie der Teufel, warum...  Oh, pardon, Crimpette, c'est un ami. Du kennst Crimpette,  was?» Er wies zu einer jungen Frau, die am Bette saß, hinüber. Sie hatte ein  rosiges Gesicht und violette Schatten unter den Augen und aufgelöstes Haar.  Ein schmutziges graues Musenkleid, das halb offen stand, hielt ihre großen  Brüste und ihre etwas dicke Gestalt schlecht zusammen. Chrisfield sah sie  gierig an und fühlte, wie sich seine Wut in ein einziges Begehren entlud.
  «Sag mal,  Andy, wird die...» fragte er mit  eifriger Stimme.
  «Ich  denke schon. Aber was ist denn mit dir, Chris, du bist wohl verrückt, das Lager  ohne Erlaubnis zu verlassen.»
  «Mach dass  du rauskommst, Andy. Bin nicht deiner Art. Mach dass du rauskommst.»
  «Du bist  ein wilder Kerl, wollen einen trinken.»
  «Nich'  jetzt.»
  Andrews  saß da mit seiner Flasche und seinen Papieren, schob die zerbrochenen Teller  weg, um auf dem fettigen Tisch Platz zu machen, nahm einen Schluck aus seiner  Flasche, steckte dann das Ende seines Bleistiftes in den Mund und starrte  schwer auf das Papier.
  «Nein, im  Grunde bin ich doch wie du, Chris», sagte er über die Schulter. «Nur man hat  mich zahm gemacht. Oh, Gott, wie zahm ich bin!»
  Chrisfield  hörte nicht auf das, was Andrews sagte. Er stand vor der Frau und starrte ihr  ins Gesicht. Sie sah ihn blöde und erschrocken an. Er kramte in den Taschen  nach etwas Geld. Da er gerade seinen Sold bekommen hatte, hatte er eine  Fünfzigfrancs-note bei sich. Er breitete sie sorgfältig vor ihr aus. Ihre Augen  glitzerten, die Pupillen schienen kleiner zu werden, da sie sich auf das kleine,  farbige Stück Papier hefteten. Plötzlich ergriff er es, zerknitterte es und  steckte es brutal zwischen ihre Brüste. Sie grinste automatisch und begann ihr  Kleid zu öffnen. Etwas rot war auf ihren dicken Backen erschienen.
  «Monsieur permet?» fragte sie Andrews.
  «Was  geht's mich an!» Er beugte sich über seine Papiere.
Einige  Zeit später setzte sich Chrisfield vor Andrews nieder. Er hatte immer noch  seinen nassen Regenmantel an.
  «Du  denkst wohl, ich bin ein Schwein?» sagte er, wieder mit seiner gewöhnlichen Stimme.  «Glaube übrigens, du hast recht.»
  «Nein,  ich denke das nicht», sagte Andrews. Irgend etwas veranlasste ihn, seine Hand  auf Chrisfields Hand zu legen, die auf dem Tisch ruhte. Sie strömte ein Gefühl  kühler Gesundheit aus.
  «Sag,  warum zittertest du so, als du hier reinkamst? Jetzt scheinst du wieder in  Ordnung zu sein.»
  «Oh, ich  weiß nicht», antwortete Chrisfield mit sanfter, voller Stimme.
  «Das Bett  quiekte vorhin», sagte Andrews. Chrisfield lachte laut und natürlich und schlug  mit der Faust auf den Tisch.
  «So»,  sagte er. «Es quiekte?»
  Sie  schwiegen eine lange Zeit. Hinter sich konnten sie die Schritte der hin und her  gehenden Frau hören. «Wollen nach Hause gehen», meinte Chrisfield. «Gut... Bon soir, Crimpette.»
  Draußen  hatte der Regen aufgehört. Ein stürmischer Wind hatte die Wolken in Fetzen  gerissen. Hier und dort waren am Himmel Gruppen von Sternen zu sehen. Sie  marschierten fröhlich durch die Pfützen.
  «Ich  wünschte, ich wäre wie du, Andy», sagte Chrisfield.
  «Du wirst  nicht so sein wie ich, Chris. Ich bin überhaupt kein Mensch, ich bin zahm. Oh,  du weißt nicht, wie verflucht zahm ich bin.»
  «Wenn man  was gelernt hat, kommt man bestimmt in der Welt vorwärts.»
  «Ja, aber  welchen Sinn hat das überhaupt, vorwärts kommen in einer Welt, zu der man nicht  gehört, die man hasst, in der man nicht vorwärts kommen will. Chris, ich gehöre  zu denen, denen Wissen Qual ist. Ich denke, das Beste wäre, in dieser  Schächterei mit geschlachtet werden. Wir sind eine zahme Generation...  Menschen wie du dürfen nicht getötet  werden...»
  «Ich  tauge nichts... Mir ist auch alles schnurzegal. Bin müde.»
  Als sie  durch die Tür in ihr Quartier hineinschlüpften, sah der Sergeant Chrisfield  forschend an. Andrews sprach ihn sofort an.
  «Die  Zweiunddreißiger sagen, wir würden am Donnerstag losmarschieren.»
  «Die  wissen viel darüber!»
  «Es wird  aber ganz bestimmt behauptet!»
  «Dummköpfe!  Will dir was ganz im Vertrauen sagen, Andrews. Es wird noch vor Donnerstag  sein, oder ich bin ein Boche!»
  Sergeant  Higgins setzte ein mysteriöses, bedeutungsvolles Gesicht auf. Chrisfield ging  an sein Lager, zog sich still aus und legte sich unter seine Decken. Er  streckte seine Arme mehrmals matt aus. Während Andrews noch mit dem Sergeanten  sprach, fiel er in Schlaf.
5
Der Mond  lag zwischen den Wolken am Horizont, wie ein großer roter Kürbis zwischen  seinen Blättern. Chrisfield schielte hinauf durch die Zweige der Apfelbäume,  die vor Äpfeln schwer hinunterhingen und der frischen Luft einen weinartigen  Duft gaben. Er saß auf dem Boden, die Beine schlaff vor sich ausgestreckt, an  den rauen Stamm eines Apfelbaumes gelehnt. Ihm gegenüber, ebenfalls an einen  Apfelbaum gelehnt, war die quadratische Gestalt von Judkins. Zwischen ihnen  lagen zwei leere Cognacflaschen. Um sie herum rauschte der Obstgarten mit seinen  hängenden Zweigen, die ein krachendes Geräusch machten, wenn der Herbstwind in  Stößen durch sie hindurchfuhr. Schwer stieg der Geruch feuchter Wälder und  verwesender Früchte und das ganze Gären überreifer Felder auf. Chrisfield  fühlte, wie der Wind sein  feuchtes Haar ihm in die Stirn wehte, und  durch das
  Summen  des Cognacs in seinem Kopf hindurch hörte er das Plum-Plum-Plum der Äpfel, die  bei jedem Windstoß herunterfielen und das Schwirren der Nachtinsekten und ganz  weit in der Ferne das endlose Brüllen von Kanonen, wie das Tam-Tam bei einem  Tanz.
  «Hast du  gehört, was der Oberst gesagt hat?» fragte Judkins mit einer von zu vielem  Trinken heiseren Stimme.
  Chrisfield  rülpste und nickte vage mit dem Kopf. Er dachte an Andrews' helle Wut, als man  sie hatte abtreten lassen, wie er sich hingesetzt hatte auf einen Baumstamm in  der Nähe der Feldküche und auf den Flecken Erde hinabstarrte, den er mit seinem  Stiefel bearbeitete.
  «Dann»,  fuhr Judkins fort, indem er versuchte, die feierliche Stimme des Obersten zu  imitieren, «was die Gefangenen angeht» — er schluckte und machte eine  unsichere Geste mit der Hand. «Was die Gefangenen angeht, das überlasse ich  euch. Aber denkt daran... denkt  daran, was die Hunnen in Belgien gemacht haben, und ich will hinzufügen, dass  wir kaum genug Lebensmittel für uns selbst haben, und je mehr Gefangene ihr  macht, desto weniger werdet ihr selbst zu fressen haben. So!» sagte er.
  «Und je  mehr Gefangene ihr macht, desto weniger werdet ihr selbst zu fressen haben.»
  Judkins  machte eine triumphierende Bewegung mit seiner Hand. Chrisfield griff nach der  Cognacflasche. Sie war leer. Er schwenkte sie einen Augenblick in der Luft.  Dann warf er sie an den Baum ihm gegenüber. Ein Regen kleiner Äpfel fiel über  Judkins nieder. Er stand unsicher auf.
  «Ich sage  euch, Kerls», stotterte er, «Krieg ist kein Picknick.»
  Chrisfield  ergriff einen Apfel. Seine Zähne knirschten im Fleisch des Apfels.
  «Süß»,  sagte er.
«Süß? Gar  nischt...» murmelte Judkins. «Krieg  ist kein Picknick...  Ich sage euch,  wenn ihr Gefangene macht...» er  schluckte wieder. «Der Oberst sagte, dann haue ich euch die Jacke voll. Brecht  ihnen die Eingeweide raus!»
Seine  Stimme wurde plötzlich kindisch. «Donnerwetter, Chris, ich werde krank»,  flüsterte er.
«Sieh  dich vor», sagte Chrisfield und schob ihn weg. Judkins lehnte sich gegen einen  Baum und kotzte.
Der  Vollmond war über den Wolken aufgestiegen und füllte den Obstgarten mit kühlem,  goldigem Licht. Der Lärm der Kanonen war lauter geworden, wie das Rollen von  Kegeln auf einer harten Kegelbahn, dazwischen ein unaufhörliches Brüllen, als  ob schwere, eiserne Decken hin und her geschüttelt werden.
«Da  draußen ist's sicher wie in der Hölle», meinte Chrisfield.
«Mir ist  jetzt besser», sagte Judkins. «Wollen noch ein bisschen Cognac holen gehen.»
«Bin  hungrig», erwiderte Chrisfield. «Die alte Frau da drüben soll uns ein paar Eier  kochen.»
«Zu  spät», murmelte Judkins.
«Wie spät  ist's eigentlich?»
«Weiß  nicht. Habe meine Uhr verkauft.»
Sie  gingen ziellos durch den Garten. Sie kamen an ein Feld voll großer Kürbisse,  die im Mondlicht glänzten und tief schwarze Schatten warfen. In der Ferne  konnte man waldbewachsene Hügel sehen. Chrisfield nahm einen mittelgroßen  Kürbis in die Hand und warf ihn so kräftig er konnte in die Luft. Er platzte in  drei Stücke, als er auf dem Boden aufschlug und die feuchten gelben Samenkörner  herausspritzten.
«Kräftiger  Kerl bist du», sagte Judkins und warf einen größeren in die Luft.
«Da  drüben ist ein Bauernhaus.»
In diesem  Augenblick ertönte ein Hahnenschrei über die schweigenden Felder. Sie liefen zu  den dunklen Bauernhäusern hinüber.
«Sieh  dich vor, da sind vielleicht Offiziere einquartiert.»
Sie  gingen vorsichtig um die viereckige, schweigende Gruppe von Gebäuden herum.  Kein Licht. Die große, hölzerne Tür des Hofes öffnete sich leicht, ohne  Geräusch. Auf dem Dache der Scheune stand das Taubenhaus schwarz und scharf  gegen die Mondscheibe. Ein warmer Geruch von Ställen strömte ihnen in die Nase,  als sie sich hineinschlichen. Drinnen fanden sie einen Tisch, auf dem viele  Birnen zum Reifen ausgelegt waren. Chrisfield biss in eine hinein. Der süße  Saft lief ihm das Kinn hinunter. Er aß die Birne schnell und gierig und biss  dann in eine andere.
«Füll dir  die Taschen damit», flüsterte Judkins.
«Sie  könnten uns erwischen.»
«Ach was,  erwischen. Morgen oder übermorgen machen wir Offensive.»
«Möchte  schon ein paar Eier haben.»
Chrisfield  machte eine der Scheunentüren auf. Der Geruch von Milch und Rahm und Käse quoll  ihnen entgegen.
«Komm  hierher», flüsterte er. «Willst du Käse?»
Eine  Menge Käse war auf dem Brett aufgeschichtet und leuchtete hell in dem  Mondlicht, das zur Tür hereinkam.
«Taugt  nicht zum Essen», meinte Judkins und bohrte mit seinen schweren Fäusten an  einem der neuen, weichen Käse herum.
«Lass das  doch.»
«Wir haben  sie doch vor den Hunnen gerettet, das ist alles», meinte Judkins.
An der  nächsten Tür fanden sie Hühner. Plötzlich gab es ein lautes Geräusch, und alle  Hühner schrieen vor Schrecken.
«Mach, dass  wir fortkommen», murmelte Judkins und lief nach dem Tor des Bauernhauses.
Schrille  Schreie von Frauen im Hause ertönten hinter ihnen. Eine Stimme: «Ce sont les  boches, ce sont les boches!» übertönte das Geschrei der Hühner.
«Verflucht»,  meinte Judkins atemlos. «Dazu haben sie kein Recht, diese französischen Weiber,  sich so zu benehmen!»
Sie  duckten sich in dem Obstgarten. Das Huhn, das Judkins noch in der Hand hielt  und an den Beinen herumschwenkte, schrie jämmerlich. Judkins packte es am Hals.  Sie zertraten die am Boden liegenden Äpfel, als sie den Obstgarten schnell  durchschritten.
«Wir  haben sie doch vor den Hunnen gerettet.» «Andy denkt nicht so.»
«Wenn du  wissen willst, was ich über diesen Andy denke: halte nicht viel von dem Kerl.  Das ist'n Hetzer», sagte Judkins. «Ist nicht wahr.»
«Ich  hörte den Leutnant das sagen, das ist ein gottverfluchter Hetzer, dieser Kerl.»
Chrisfield  fluchte missmutig.
«Wart mal  ab, sag ich dir, Mensch, Krieg ist kein Picknick. Was wollen wir übrigens mit  dem Huhn machen?» fragte Judkins. «Weißt du noch, was dem Eddy White passierte?»  «Wir sollten es doch lieber hier lassen.»
Judkins  schwang das Huhn um seinen Kopf und warf es so kräftig er konnte in die Büsche.  Sie gingen die Straße hinunter zwischen den Kastanien nach ihrem Dorfe. Es war  dunkel, nur unregelmäßige Streifen hellen Mondlichtes lagen weiß wie Milch  zwischen den dunklen Schatten der Blätter. Rings um sie herum erhob sich der  kühle Geruch von Wäldern, reifen Früchten, sterbenden Blättern und des ganzen  herbstlichen Landes.
Die  Kompanie war in der Dorfstraße mit ihrem Gepäck aufmarschiert und wartete auf  die Befehle zum Vorwärtsmarschieren. Dünne Streifen weißen Nebels lagen noch  in den Bäumen über den kleinen Gärten. Die Sonne war noch nicht aufgegangen,  die Reihen von Wolken in dem blassblauen Himmel glänzten rot und golden. Die  Leute standen in unregelmäßigen Linien, ein wenig vornübergebeugt vom Gewicht  ihrer Ausrüstung. Sie bewegten sich hin und her, stampften mit den Füßen und  schlugen die Arme zusammen; Nasen und Ohren waren rot von der Kälte des  Morgens. Ihr Atem stieg wie Bauch empor.
  Unten in  der nebeligen Straße erschien eine graue Limousine, die langsam näher kam. Sie  hielt vor der aufmarschierten Kompanie. Der Leutnant kam eilig aus dem  gegenüberliegenden Hause und zog ein Paar Handschuhe an. Die Kompanie schaute  neugierig auf die Limousine. Sie konnten sehen, dass zwei der Reifen flach  gedrückt und dass das Glas zerbrochen war. Kratzer waren auf dem Lack, und in  der Tür befanden sich drei lange, ausgezackte Löcher. Ein leises Gemurmel lief  die Linie der Kompanie herab. Die Tür öffnete sich schwer, und ein Major in einem  hellen lederfarbenen Mantel stolperte heraus. Der eine Arm, der in blutige  Tücher eingewickelt war, lag in einer Schlinge, die aus einem roten  Taschentuch gemacht war. Sein Gesicht war weiß und starrte vor Schmutz. Der  Leutnant salutierte.
  «Um  Gottes willen, wo ist hier eine Verbandsstation?» fragte der Major mit lauter,  zittriger Stimme.
  «In  diesem Dorf gibt es keine, Major.»
  «Wo zum  Teufel ist denn eine?»
  «Weiß  nicht», sagte der Leutnant in demütigem Tone.
  «Warum  zum Teufel wissen Sie das nicht? Diese ganze Organisation ist faul, taugt  nichts...  Major Standy ist gerade  getötet worden. Wie heißt dies verfluchte Dorf?»
  «Thiaucourt.»
  «Wo ist  das, zum Teufel?»
  Der  Chauffeur hatte sich herausgelehnt. Er hatte keine Mütze auf.
  «Wir  wollen nach Chalons, Leutnant.»
  «Ja, Chalons-sur...  Chalons-sur-Mame», ergänzte der Major.
  «Der  Quartiermacher hat eine Karte», sagte der Leutnant. «Letztes Haus auf der  linken Seite.»
  «Schnell»,  flüsterte der Major. Er bemühte sich, die. Tür zu öffnen. Der Leutnant öffnete  sie für ihn. Als er die Tür geöffnet hatte, konnten die Zunächststehenden einen  kurzen Blick in das Innere des Wagens werfen. In der einen Ecke war ein großer,  in Decken gehüllter Gegenstand zu sehen, der auf dem Sitz festgeschnallt war.  Durch die Decken quoll Blut.
  Bevor er  einstieg, beugte sich der Major heraus und zog ein wollenes Tuch heraus, das er  mit seinem gesunden Arm von sich forthielt. Der Wagen bewegte sich langsam  weiter, und die ganze Dorfstraße hinunter starrten die Soldaten, die in Erwartung  der Befehle da standen, auf die drei zackigen Löcher in der Tür.
  Der  Leutnant sah auf das Tuch, das in der Mitte der Straße lag. Er berührte es mit  seinem Fuße. Es war voller Blut, das stellenweise in Klumpen getrocknet war.
  Der  Leutnant und die Leute seiner Kompanie sahen das Tuch an, schweigend. Die Sonne  war aufgegangen und schien auf die Dächer der kleinen Häuser hinter ihnen. Weit  unten an der Straße hatte sich ein Regiment in Marsch gesetzt.
6
Als sie  das nächste Mal Halt machten, stand Chrisfield neben einer Batterie  französischer 7,5er. Er sah neugierig die Franzosen an, die auf Holzklötzen  in ihren hellblauen Hemdsärmeln herumsaßen, Karten spielten und rauchten. Ihre  Gesten irritierten ihn.
  «Sag  ihnen doch, dass wir avancieren», sagte er zu Andrews.
  «So?»  fragte der. «Gut. Dites-donc, les boches, courentils comme les lapins?» rief  er. Einer der Männer wandte den Kopf und lachte.
  «Er sagt,  sie laufen schon vier Jahre lang denselben Weg», übersetzte Andrews. Er ließ  sein Gepäck von den Schultern herabgleiten, setzte sich darauf und fischte  sich eine Zigarette heraus. Chrisfield nahm den Helm ab und strich sich mit  seiner schlammbedeckten Hand durch das Haar. Er nahm ein Stück Kautabak und  setzte sich, indem er die Hände über die Knie legte.
  «Wie  lange zum Teufel werden wir diesmal hier warten müssen?» murmelte er.
  Die  Schatten gespaltener Bäume krochen langsam über die Straße. Die französischen  Artilleristen aßen ihr Abendbrot. Ein langer Zug Lastautos holperte vorbei und  bespritzte die auf beiden Seiten der Straße zusammengedrängten Leute mit  Dreck. Die Sonne ging unter, und eine Menge Batterien unten im Tal fingen an zu  feuern und machten ein Gespräch unmöglich. Die Luft war voll von dem Gekreisch  der Granaten. Die Franzosen dehnten sich und gähnten und krochen in ihre  Gräben. Chrisfield beobachtete sie neidisch. Die Sterne begannen im grünen  Himmel hinter den hohen, zerrissenen Bäumen herauszukommen. Chrisfields Beine  schmerzten vor Kälte. Er begann plötzlich, wahnsinnig gespannt, auf irgend  etwas, was geschehen würde, zu horchen, aber die Kolonne wartete regungslos in  der wachsenden Dunkelheit. Chrisfield kaute beständig und versuchte an nichts  als an den Geschmack des Tabaks im Munde zu denken.
  Die  Kolonne setzte sich wieder in Bewegung. Als sie die Höhe eines anderen Hügels  erreichte, fühlte Chrisfield einen seltsamen, süßlichen Geruch, der ihm in der  Nase Schmerz verursachte. «Gas», dachte er und legte seine Hand an die Gasmaske,  die ihm um den Hals hing. Aber er wollte nicht der erste sein, der sie umlegte.  Er marschierte weiter, fluchte auf den Sergeanten und auf den Leutnant. Aber  vielleicht waren die schon davon getötet. Er sah plötzlich, wie das ganze  Regiment langsam, vom Gas überwältigt, auf der Straße zusammensank.
  «Riechst  du was, Andy?» flüsterte er.
  «Ich  rieche was von toten Pferden und Bananenöl und Speiseeis, und von toten  Ratten. Aber was geht uns das jetzt alles an», erwiderte Andrews lachend. «Das  ist das dreckigste Geschäft überhaupt...»
  «Er ist  verrückt», murmelte Chrisfield zu sich selbst. Er sah in die Sterne hinauf, in  den schwarzen Himmel, der sich mit der marschierenden Kolonne vorwärts zu  bewegen schien. Oder standen sie und die Sterne still, während die Bäume sich  von ihnen fortbewegten und mit ihren langen, dünnen Armen winkten? Er konnte fast das Getrampel  der Schritte auf der Straße
  nicht  hören, so laut war der Lärm der Kanonen vor und hinter ihm. Von Zeit zu Zeit  platzte eine Rakete vor ihm, und ihr rotes und grünes Licht vermengte sich für  einen Augenblick mit den Sternen. Doch nur direkt über sich konnte er die  Sterne sehen. Überall sonst waren weiße und rote Leuchtkugeln, die aufstiegen  und fielen, als ob der Horizont in Feuer stände.
  Wie sie  die Böschung hinunter zu marschieren begannen, hörten die Bäume plötzlich auf,  und sie sahen das Tal vor sich, voll von dem Schein der Kanonen und dem weißen  Licht platzender Geschosse. Es war, als ob man in einen Ofen voll glühender  Asche hineinschaue. Der Hügelabhang war voll krachender Detonation und gelber,  züngelnder Flammen. In einer Batterie in der Nähe der Straße konnten sie die  dunklen Gestalten der Artilleristen, die in phantastischen Silhouetten gegen  das Bot des Himmels abstachen, sehen. Betäubt und geblendet setzten sie ihren  Marsch auf der Straße fort. Chrisfield schien es, als ob sie jeden Augenblick  in die flammende Mündung einer Kanone hineinmarschieren würden. Am Fuße des  Hügels neben einem kleinen Hain unversehrter Bäume hielten sie wieder an. Ein  neuer Zug von Motorlastwagen kroch an ihnen vorbei, ungeheure Flecken in der  Dunkelheit. Da in der Nähe keine Batterien waren, konnten sie das Rollen der  Wagen über die unebene Straße von einem Granatloch in das andere hören.
  Chrisfield  legte sich in einen trockenen Graben und döste, mit dem Kopf auf seinem Gepäck.  Rings um ihn herum lagerten sich andere Männer. Irgendeiner hatte seinen Kopf  auf Chrisfields Bein gelegt. Der Lärm hatte ein wenig nachgelassen. Durch seinen  Halbschlaf hindurch konnte er die Männer sprechen hören, leise, als ob sie  Furcht hätten, laut zu reden; auf der Straße riefen die Führer der Motorwagen  sich schrill an. Die Wagen hörten auf zu fahren; es wurde so still, dass  Chrisfield in Schlaf fiel. Irgend etwas weckte ihn; steif vor Kälte und  Schrecken. Einen Augenblick dachte er, man habe ihn allein gelassen, die Kompanie  sei schon weitermarschiert. Über ihm war ein Surren, wie von gigantischen  Moskitos, das immer stärker anschwoll. Er hörte die Stimme des Leutnants schreien.  «Sergeant Higgins! Sergeant Higgins!» Der Leutnant stand plötzlich schwarz ab  vor einem Flammentuch. Chrisfield konnte seine Mütze sehen und seinen steif  abstehenden Rock. Er wurde von der Explosion erfasst. Seine Ohren dröhnten. Die  Kolonne marschierte wieder vorwärts, und er hörte Stöhnen in der Dunkelheit.  Das Getrampel der Füße und das Geräusch der Ausrüstungsgegenstände ließ keinen  anderen Laut aufkommen. Er fühlte, wie seine Schultern wund wurden unter dem  Zug des Gepäcks. Dann und wann zeigte ihm der Schein der hinter ihm platzenden  Aeroplanbomben zerstörte Lastkraftwagen auf der Seite der Straße. Irgendwo  ratterte ein Maschinengewehr. Aber die Kolonne marschierte vorwärts, ermüdet  von dem Gepäck und von der tötenden Spannung.
  Die  Dunkelheit war hell wie im Gewittersturm. Langsam überwand sie der grauende  Morgen. Chrisfield hörte auf zu marschieren. Seine Augenlider stachen, als ob  die Augäpfel flammend heiß seien. Er konnte Beine und Füße nicht fühlen. Die  Kanonen dröhnten unaufhörlich weiter, wie ein Hammer, der ihm ewig auf den Kopf  schlug. Er ging langsam weiter, dann und wann stolperte er gegen seinen  Vordermann. Erde war auf beiden Seiten. Plötzlich stolperte er ein paar  Treppen hinunter in einen Graben, wo es ganz schwarz war. Ein unbekannter  Geruch kam ihm entgegen und verursachte ein Unwohlsein, doch seine Gedanken  schienen ihn aus einer ungeheuren Entfernung zu erreichen. Er stieg den Wall  hinauf. Seine Knie schlugen gegen eine Schlafstelle mit Betttüchern darin. In  der nächsten Sekunde sank er auf dem Bett in tiefen Schlaf.
  Als er  aufwachte, war sein Bewusstsein sehr klar. Das Dach des Unterstandes war aus  Holz. Ein heller Fleck in der Ferne war eine Tür. Er hoffte verzweifelt und  voller Angst, dass er keinen Dienst habe. Er wunderte sich, wo Andy sei. Dann  erinnerte er sich, dass Andy ein verrückter Kerl, ein Hetzer sei, Judkins hatte  ihn doch so genannt. Er setzte sich mit Mühe auf, zog die Schuhe aus und  wickelte sich in die Decke. Rings um ihn ertönte Schnarchen und das tiefe Atmen  schlafender Menschen. Er schloss die Augen.
  Er stand  vor einem Kriegsgericht. Er stand mit den Händen an den Seiten vor drei  Offizieren an einem Tisch. Alle drei hatten dieselben weißen Gesichter mit  schweren blauen Unterkiefern und Augenbrauen, die über der Nase zusammentrafen.  Sie lasen laut aus Papieren vor, aber obschon er seine Ohren anstrengte, konnte  er nicht hören, was sie sagten. Alles, was er hören konnte, war ein schwaches  Stöhnen. Irgend etwas hatte einen unbekannten seltsamen  Geruch, der ihn störte. Er konnte nicht ruhig strammstehen, obschon die  wütenden Augen der Offiziere ihn von überallher anstarrten.
  «Sergeant  Anderson, was ist das für ein Geruch?» fragte er immer und immer wieder mit  verschüchterter, weinerlicher Stimme. «Sag mir doch, was das für ein Geruch  ist.» Doch die drei Offiziere vor dem Tisch lasen immer weiter aus ihren Papieren.  Das Stöhnen wurde immer lauter und lauter in seinen Ohren, bis es zu einem  schrillen Schreien anwuchs. Eine Granate war in seiner Hand. Er zog sie ab und  warf sie. Er sah die Uniform des Leutnants vor einem großen, weißen Flammentuch.  Irgend etwas sprang ihn an. Er rang um sein Leben mit Anderson, der sich  plötzlich in eine Frau mit ungeheuren Brüsten verwandelte. Er erdrückte sie und  wandte sich, um sich gegen die drei Offiziere zu wehren, die gegen ihn  anstürmten mit ihren festgeschnürten Uniformen, die ihnen immer enger um den  Leib wuchsen, bis sie aussahen wie Wespen. Dann verschwand alles, und er wachte  auf.
  Der  seltsame, störende Geruch war immer noch da. Er saß auf der Ecke der  Lagerstelle, wand sich auf seinem Lager, sein Körper war voller Läuse.
  «Donnerwetter,  ist doch komisch, hier zu sein, wo die Fritzies eben raus sind», hörte er eine  Stimme sagen.
  «Halt's  Maul, wir avancieren!» kam eine andere Stimme.
  «Ach was,  avancieren! Haben doch noch überhaupt keinen Deutschen gesehen.»
  «Aber ich  kann sie riechen», sagte Chrisfield und stand plötzlich auf. Sergeant Higgins  Gesicht erschien in der Tür.
  «Antreten!»  kommandierte er. Dann fügte er mit seiner gewöhnlichen Stimme hinzu:
  «Drauf  und dran, Kerls!»
Chrisfield  fing sich mit seiner Gamasche in dem Gestrüpp am Ende einer Lichtung. Er  versuchte durch Hin- und Hertreten sein Bein freizubekommen. Schließlich gelang  es ihm, doch die zerrissene Gamasche schleppte hinterher. Draußen im  Sonnenlicht sah er in der Mitte der Lichtung einen Mann neben irgend etwas am  Boden knien. Ein Deutscher lag dort mit dem Gesicht nach unten und einem roten  Loch im Rücken. Der Mann durchsuchte seine Taschen. Er sah auf, in Chrisfields  Gesicht. «Souvenir», sagte er.
  «Zu  welchem Regiment gehörst du, Junge?» «Hunderteinundvierziger», sagte der Mann  und stand langsam wieder auf.
  «Wo zum  Teufel sind wir?» «Wenn ich das wüsste!»
  Die  Lichtung war menschenleer außer den beiden Amerikanern und dem Deutschen mit  dem Loch im Rücken. In der Ferne hörten sie die Artillerie und in der Nähe das  Put-Put-Put einzelner Maschinengewehre. Die Blätter der Bäume in der Nähe mit  ihren braunen und rötlichen und gelben Schatten tanzten im Sonnenlicht.
  «Sag mal,  das dreckige Geld da ist wohl nichts wert?» fragte Chrisfield.
  «Deutsches  Geld? Nee. Ich habe eine feine Uhr.»
  Der Mann  zeigte eine goldene Taschenuhr und sah Chrisfield die ganze Zeit über aus  halbgeschlossenen Augen forschend an.
  «Ich sah  einen, der hatte einen Säbel mit goldenem Griff», meinte Chrisfield.
  «Wo  denn?»
  «Oh, da  hinten im Wald.» Er schwenkte die Hand vage. «Muss meine Kompanie finden.  Kommst du mit?»
  Chrisfield  setzte sich auf das andere Ende der Lichtung zu in Bewegung.
  «Mir  geht's hier ganz gut», sagte der andere und legte sich wieder auf das Gras in  die Sonne.
  Die  Blätter raschelten, als Chrisfield durch den Wald ging. Die Einsamkeit  erschreckte ihn. Er ging weiter, so schnell er konnte mit seiner Gamasche, die  noch immer hinter ihm her schleppte. Später kam er an eine Wiese, die den Wald  gerade abschnitt, drunten in einem Flecken Sonnenlicht sah er eine Gestalt,  der er sich eilig näherte. Es war ein junger Mann mit rotem Haar und hellem  Gesicht. An dem goldenen Abzeichen am Kragen seines Hemdes sah Chrisfield, dass  er einen Leutnant vor sich hatte.
  Er hatte  keinen Rock oder Kopfbedeckung, und seine Kleidung war voll grünlichen  Schleimes, als ob er mit dem Bauch in einer Dreckpfütze gelegen habe.
  «Wo gehen  Sie hin?»
  «Weiß  nicht.»
  «Gut,  kommen Sie mit.»
  Der  Leutnant begann, so schnell er konnte, weiter zu marschieren und schwang die  Arme wild um sich. «Haben Sie irgendwelche Maschinengewehrnester gesehen?»  «Nicht ein einziges.» «Hm.»
  Er folgte  dem Leutnant, der so schnell ging, dass er fast Schwierigkeit hatte,  mitzukommen.
  «Wo ist  die Artillerie, das will ich wissen!» schrie der Leutnant, plötzlich  einhaltend und mit der Hand durch sein rotes Haar fahrend. «Wo zum Teufel ist  die Artillerie?» Er sah Chrisfield wild an aus seinen grünen Augen.
  «Hat  keinen Sinn, vorwärts zu gehen ohne Artillerie.» Er begann, weiterzugehen noch  schneller als vorher. Plötzlich sahen sie vor sich olivfarbene Uniformen, Maschinengewehre  begannen rings herum in plötzlichen Stößen zu feuern. Chrisfield bemerkte  plötzlich, dass er vorwärtslief über ein Feld voller Stoppeln zwischen einer  Gruppe von Männern, die er nicht kannte. Das peitschenähnliche Geräusch von  Gewehren klang zusammen mit dem Rattern der Maschinengewehre. Kleine weiße Wolken  segelten über den blauen Himmel, und vor ihm war eine Gruppe Häuser, die  dieselbe weiße Farbe mit grünen Schatten hatte wie die Wolken.
  Er stand  in einem Hause mit einer Granate in jeder Hand. Die plötzliche Einsamkeit  erschreckte ihn wieder. Vor dem Hause war der Lärm der Maschinengewehre, der  manchmal plötzlich von dem Bersten der Granaten unterbrochen wurde. Er sah auf  den roten Fußboden und auf das Bild einer Frau, das an der Wand ihm gegenüber  hing. Er war in einer kleinen Küche. Im Herd brannte etwas Feuer, irgend etwas  kochte in einem schwarzen Topfe. Chrisfield ging auf den Zehen hinüber und sah  hinein. Auf dem Grunde des kochenden Wassers sah er einige Kartoffeln. Am  anderen Ende der Küche war zwischen zwei zerbrochenen Stühlen eine Tür. Chrisfield  kroch hinüber. Die Ziegel schienen ihm unter den Füßen zu schwinden. Er legte  den Finger auf das Schloss und machte es plötzlich auf. Er hielt den Atem an  und stand eine Zeitlang auf die Türe sehend. Dann zog er sie auf. Ein junger  Mann mit blondem Haar saß am Tische, den Köpf in den Händen. Chrisfield fühlte  Freude in sich aufsteigen, als er sah, dass die Uniform des Mannes grün war.  Sehr kühl hielt er
  die Granate eine Sekunde in der Hand.   Dann warf er sie. Er
  selbst  sprang mit einem Satz in die Mitte der Küche zurück. Der blondhaarige Mann  hatte sich nicht bewegt. Seine blauen Augen starrten noch gerade vor sich. Auf  der Straße traf Chrisfield auf einen großen Mann, der lief und lief. Der Mann  hielt seinen Arm krampfhaft fest und sagte: «Der Train rückt nach!» «Welcher  Train?»
  «Unserer!  Wir müssen laufen, damit er uns nicht einholt!»
  Er  keuchte nach Luft. Rote Flecken waren auf seinem Gesicht. Sie liefen zusammen  die leere Dorfstraße hinunter. Im Vorbeilaufen sahen sie den kleinen  rothaarigen Leutnant, der gegen eine weißgewaschene Wand gelehnt stand, seine  Beine waren eine Masse von Blut und zerrissenem Zeug. Er schrie unaufhörlich  mit schriller, delirierender Stimme, die sie noch weit die offene Straße  hinunter verfolgte: «Wo ist die Artillerie? Ich will das wissen! Wo ist die  Artillerie?»
Die  Wälder waren grau und nass in der Dämmerung. Chrisfield stand steif auf von dem  Blätterhaufen, auf dem er geschlafen hatte. Er fühlte sich benommen vor Kälte  und Hunger, einsam und verlassen. Rings um ihn waren Leute aus anderen  Divisionen. Ein Hauptmann mit einem mächtigen Schnurrbart ging auf und ab, in  eine Decke gewickelt, auf der Straße, gerade hinter einer Gruppe von Birken.  Chrisfield hatte ihn beobachtet, wie er hin und her ging, hin und her hinter  den nassen Stämmen der Bäume, seitdem es hell geworden war. Er stampfte mit den  Füßen die feuchten Blätter, dann ging er weg von dieser Gruppe. Niemand schien  es zu beachten. Die Bäume schlossen sich hinter ihm. Er konnte nichts sehen als  feuchte, graugrüne Bäume und die gelben Blätter, die ihm in jeder Richtung die  Aussicht versperrten. Er wunderte sich dumpf, warum er gerade in dieser  Richtung weitermarschiere. Irgendwo im Untergrund seines Bewusstseins war der  vage Gedanke, seine Kompanie zu finden. Sergeant Higgins und Andy und Judkins  und Small — was wohl aus ihnen geworden sein mag? Er dachte an die Kompanie,  wie sie zum Essen aufmarschiert war und an den Geruch fettigen Essens, der aus  der Feldküche aufstieg. Er war entsetzlich hungrig. Er hielt an und lehnte sich  gegen den moosbedeckten Stamm eines Baumes. Die leichte Wunde in seinem Bein  hämmerte so, als ob alles Blut seines Körpers dort hinabtreibe. Jetzt, da seine  raschelnden Tritte aufgehört hatten, war der Wald absolut still und ruhig,  nur manchmal tropfte Tau von den Blättern und Zweigen. Er strengte seine Ohren  an, um irgendein anderes Geräusch zu hören. Dann bemerkte er, dass er einen  Baum anstarrte, der voll kleiner, roter Holzäpfel war. Er pflückte eine  Handvoll gierig. Aber sie waren hart und sauer und schienen ihn noch hungriger  zu machen. Der saure Geschmack in seinem Munde machte ihn wütend und ärgerlich.  Er trat gegen den dünnen Stamm des Baumes, während ihm Tränen des Schmerzes in  die Augen traten. Er fluchte laut in einem weinerlichen Singsang, dann  marschierte er ab durch den Wald, die Augen auf den Boden geheftet. Zweige  peitschten ihn bösartig ins Gesicht. In hängenden Ästen verfing er sich; doch  er zwang sich vorwärts. Plötzlich stolperte er gegen irgend etwas Hartes, das zwischen  den Blättern lag. Er hielt an und sah erschreckt um sich. Zwei Granaten lagen  gerade unter seinem Fuß, und ein wenig weiter saß ein Mann mit offenem Munde  gegen einen Baum gelehnt. Chrisfield dachte zuerst, er schlafe, weil seine  Augen geschlossen waren. Er sah die Granaten sorgfältig an, steckte sie dann in  die Tasche, schaute zu dem Manne hinüber, der zu schlafen schien und  marschierte weiter. Dann betrat er einen andern Weg im Walde, an dessen Ende er  Sonnenlicht sehen konnte. Der Himmel über ihm war voll schwerer purpurner  Wolken, die hier und da gelblich gespritzt waren. Wie er im Sonnenlicht  marschierte, dachte er, er hätte sich doch die Taschen des Mannes, der dort an  den Baum gelehnt saß, ansehen sollen. Er stand einen Augenblick still, zögernd,  dann begann er wieder weiter in der Richtung auf das Sonnenlicht zu  marschieren. Irgend etwas glitzerte in dem unregelmäßigen Durcheinander von  Sonne und Schatten. Ein Mann saß da, auf dem Boden, die Mütze über die Augen  gezogen, so dass man den kleinen goldenen Streifen seiner Mütze im Sonnenlicht  sehen konnte. Chrisfields erster Gedanke war, dass der vielleicht etwas zu  essen bei sich habe. «Leutnant!» schrie er. «Wissen Sie, wo man was zu essen  kriegen kann?»
  Der Mann  hob langsam den Kopf. Chrisfield zitterte über und über, als er das weiße,  schwere Gesicht von Anderson sah; sein unrasierter Bart stand sehr schwarz auf  seinem viereckigen Kinn. Eine große Wunde mit geronnenem Blut, die sich von  den Augenbrauen über die linke Backe bis in die Ecke des Mundes erstreckte,  ließ sein Gesicht wie einen Klumpen erscheinen.
  «Gib mir  etwas Wasser», sagte Anderson mit schwacher Stimme.
  Chrisfield  gab ihm seine Feldflasche schweigend. Er bemerkte, dass Andersons Arm in einer  Schlinge lag und dass er gierig trank und das Wasser über sein Kinn und seinen  Arm goss.
  «Wo ist  Oberst Evans?» fragte Anderson mit schwacher Stimme.
  Chrisfield  antwortete nicht und sah ihn nur dumpf an. Die Feldflasche war ihm aus der Hand  gefallen und lag auf dem Boden vor ihm. Das Wasser glitzerte im Sonnenlicht,  wie es durch die rotbraunen Blätter lief. Ein Wind hatte sich erhoben und  rauschte in den Bäumen. Ein Schauer gelber Blätter fiel ringsum herunter.
  «Zuerst  warst du Korporal, dann Sergeant und jetzt Leutnant», sagte Chrisfield  langsam.
  «Sag mir  lieber, wo Oberst Evans ist. Du musst es wissen! Er war vor einiger Zeit da  oben an der Straße irgendwo», sagte Anderson und versuchte aufzustehen.
  Chrisfield  ging weg, ohne zu antworten. Seine Hand lag kalt um die Granate in seiner  Tasche. Er ging langsam und blickte auf seine Füße.
  Plötzlich  bemerkte er, dass er sie abgezogen hatte. Er strengte sich an, sie aus der  Tasche heraus zu bekommen. Sie saß in der engen Tasche fest. Sein Arm und seine  kalten Finger, die die Granate umklammerten, schienen paralysiert zu sein. Dann  durchströmte ihn warme Freude. Er hatte sie geworfen.
  Anderson  war aufgestanden, schwankte hin und her, vorwärts und rückwärts. Die Explosion  ließ den Wald erzittern. Ein dicker Regen gelber Blätter kam herunter. Anderson  lag flach am Boden, so flach, als ob er in die Erde eingesunken sei.
  Chrisfield  zog auch die andere Granate ab und warf sie mit geschlossenen Augen. Sie  platzte zwischen den dicken, frischgefallenen Blättern.
  Ein paar  Tropfen Regen fielen. Chrisfield ging weiter, schnell, mit einem Gefühl von  Wärme und Stärke. Der Regen schlug ihm hart und kalt gegen den Bücken. Er  marschierte, mit den Augen auf dem Boden. Eine Stimme in fremder Sprache hielt  ihn an. Ein Mann in zerfetzter grüner  Uniform mit einem Bart, der vor Schmutz klumpig war, stand vor ihm mit  erhobenen Händen. Chrisfield brach in Lachen aus. «Komm», sagte er, «schnell.»
  Der Mann  schlotterte vor ihm her. Er zitterte so, dass er fast hei jedem Schritt fiel.  Chrisfield gab ihm einen Tritt. Der Mann schlotterte weiter, ohne sich  umzudrehen. Chrisfield trat ihn wieder, fühlte das Rückgrat des Mannes und das  weiche Fleisch seiner Schenkel an seinen Zehen bei jedem Tritt. Er lachte die  ganze Zeit so, dass er kaum sehen konnte, wo er hinging. «Halt!» kam eine  Stimme.
  «Da ist  ein Gefangener!» rief Chrisfield noch lachend.
  «Nicht  viel dran an deinem Gefangenen», sagte der Mann und zeigte mit dem Bajonett auf  den Deutschen.
  «Der ist  verrückt, denke ich. Ich werde ihn in <Verwahrung> nehmen. Hat keinen  Sinn mehr, den noch ins Lager zu schicken.»
  «Gut»,  meinte Chrisfield und lachte immer noch. «Sag mal, wo kann man was zu essen  kriegen? Ich habe seit anderthalb Tagen nichts gehabt.»
  «Da oben  ist eine Rekognoszierungstruppe, die werden dir etwas geben. Was macht ihr da  oben?» Der Mann wies die Straße hinauf.
  «Gott,  wie soll ich das wissen? Ich habe seit anderthalb Tagen nichts zu essen  gehabt.»
Der warme  Geruch des Essens stieg ihm aus dem Geschirr in die Nase. Chrisfield stand,  fühlte sich warm und bedeutsam, füllte den Mund mit weichen, fettigen  Kartoffeln, während die anderen ihn ausfragten. Langsam begann er sich satt  und zufrieden zu fühlen, und ein Wunsch, zu schlafen, überkam ihn. Ein Mann  gab ihm ein Gewehr, er musste mit der Truppe weiter vorwärts. Durch den Wald.
  «Da liegt  ein Offizier», sagte der Hauptmann, der an der Spitze ging, «zwei von euch  Kerls gehen zurück und holen eine Decke und bringen ihn an die Wegkreuzung  zurück. Armer Kerl!»
  Der  Hauptmann marschierte weiter. Chrisfield sah gerade vor sich. Er fühlte sich  nicht mehr einsam, jetzt, da er wieder in Reihen marschierte. Seine Füße  schlugen im Gleichschritt mit den anderen Füßen den Boden. Jetzt braucht man  nicht mehr daran zu denken, ob man links oder rechts gehen soll. Man tut, was  die andern tun.
1
Am  Wegrande in einer der großen, teigfarbenen Pfützen waren kleine, grüne  Frösche. John Andrews verließ auf einen Augenblick die langsam vorwärts  marschierende Kolonne, um sich die Frösche anzusehen. Ihre dreieckigen Köpfe  ragten aus dem Wasser in der Mitte der Pfütze hervor. Er beugte sich hinüber,  die Hände auf den Knien, um sich so die Last des Gepäcks auf seinem Bücken zu  erleichtern. Er konnte die kleinen, topasfarbigen Augen sehen. Es war ihm, als  füllten sich seine Augen mit Tränen der Rührung über die kleinen, biegsamen  Körper der Frösche. Irgend etwas in ihm sagte ihm beständig, er müsse weiter  laufen und sich seiner Kolonne wieder anschließen, er müsse weiter durch den  Schlamm vorwärtsmarschieren, doch er blieb zurück und starrte in den kleinen  Teich, die raschen Bewegungen der Frösche beobachtend. Dann bemerkte er in dem  Wasser sein Spiegelbild. Er sah es neugierig an. Er konnte nur die Umrisse  seines Gesichtes erkennen und die Silhouette des Gewehrlaufes, der ihm von der  Schulter herabhing. So, das hatten sie also aus ihm gemacht! Er heftete die  Augen wieder auf die Frösche, die mit elastischen, leichten Beinbewegungen in  dem teigfarbenen Wasser schwammen.
  Ganz  abwesend, als ob er überhaupt keine Verbindung mit alledem habe, was um ihn  herum vorging, hörte er das Knallen der berstenden Schrapnells unten an der  Straße. Er hatte sich müde aufgerichtet und einen Schritt vorwärts getan, da  sank er in die Pfütze hinein. Ein Gefühl der Befreiung kam über ihn. Seine  Beine versanken im Schlamm. Er lag, ohne sich zu bewegen. Die Frösche waren  verschwunden, aber von irgendwoher zog sich langsam ein kleiner, roter Strom in  das teigfarbene Wasser. Er beobachtete die unregelmäßigen Kolonnen der Männer,  die in ihren olivfarbenen Uniformen vorbeizogen. Ihre Tritte dröhnten in seinen  Ohren. Er fühlte triumphierend sich von ihnen getrennt, als ob er irgendwo an  einem Fenster stehe und Soldaten vorbeimarschieren sehe, oder in einem Theater  bei irgendeinem langweiligen, monotonen Stück. Weiter und weiter entfernte er  sich von ihnen, bis sie ganz klein geworden waren, wie Spielsoldaten, die man  im Staub einer Dachstube vergessen hat. Das Licht war so schwach, dass er  nichts mehr sehen konnte. Er konnte nur noch die Tritte hören, die unaufhörlich  durch den Schlamm gingen.
John  Andrews stand auf einer Leiter, die entsetzlich schwankte. Er wusch die Fenster  der Baracken mit einem kiesigen Schwamm. Er begann in der linken Ecke und  seifte die kleinen, schiefen Scheiben eine nach der anderen ein. Seine Arme  waren wie Blei, und er fühlte, dass er von der schwankenden Leiter herunterfallen  werde, doch jedes Mal, wenn er sich umdrehte, um hinunterzuschauen oder um  hinunterzuklettem, sah er die Mütze des Generals und das vorstehende Kinn, das  unter dem Schirm der Mütze zu sehen war, und seine Stimme, die «Achtung!»  bellte, erschreckte ihn so, dass die Leiter noch mehr schwankte. Dann fuhr er  fort, die schiefen Scheiben mit Seife einzuschmieren, endlose Stunden lang,  obschon jedes Gelenk seines Körpers im Schwanken der Leiter schmerzte, als ob  es in einer Zange gepackt sei. Ein helles Licht flammte drinnen hinter den  Scheiben, die er methodisch eine nach der anderen einseifte. Die Fenster waren  Spiegel. In jeder Scheibe konnte er sein dünnes Gesicht sehen mit dem Schatten  eines Gewehrlaufes auf dem Rücken. Das Schwanken hörte plötzlich auf. Er  versank in einer tiefen, abgrundschwarzen Grube.
  Eine  schrille, gebrochene Stimme sang in sein Ohr:
«Ist ein  Mädchen im Herzen von Maryland, 
  Es ist  das Mädchen mein...»
John Andrews öffnete die Augen. Es war ganz dunkel. Nur eine Reihe schiefer, gelber Fenster glänzte hell. Ein Himmel voller Sterne stand dunkel dahinter. Sein Bewusstsein wurde plötzlich ganz wach. Er begann sich Rechenschaft über das, was vorgegangen war, abzulegen, eilig und erschreckt. Er wandte den Kopf ein wenig. In der Dunkelheit konnte er die Gestalt eines Mannes erkennen, der flach neben ihm ausgestreckt lag und der seinen Kopf seltsam von einer Seite auf die andere bewegte und aus voller Lungenkraft mit schriller, gebrochener Stimme sang. In diesem Augenblick bemerkte Andrews auch, dass der Geruch von Karbol überwältigend stark war, und dass er den ihm so vertrauten Geruch von Blut und schweißigen Kleidern übertäubte. Er bewegte die Schultern so, dass er die beiden Griffe der Krankenbahre fühlen konnte, dann schaute er wieder hinauf zu den drei hellen, gelben Fenstern, die eines neben dem anderen in die Dunkelheit hineinragten. Natürlich, es waren die Fenster irgendeines Hauses in der Nähe. Er bewegte die Arme ein wenig. Sie waren wie Blei, doch unverletzt. Dann bemerkte er, dass seine Beine wie Feuer brannten. Er versuchte sie zu bewegen, doch es wurde ihm wieder schwarz vor den Augen in plötzlichem Schmerz. Die Stimme gellte ihm immer noch in die Ohren:
«Ist ein  Mädchen im Herzen von Maryland, 
  Es ist  das Mädchen mein...»
Man konnte jetzt auch eine andere Stimme hören, sanfter, die zärtlich und ruhig sprach: «Un' er sagte, man würde mich ganz hinunter in den Süden bringen, da sei ein kleines Haus am Strand, so warm un' so ruhig...» Der Gesang des Mannes neben ihm wurde zu einem ganz tonlosen Krächzen, wie ein Phonograph, der abgelaufen ist:
«Und  Maryland ward Feenland... 
  Als sie  sprach, will dein Mädchen sein.»
Eine  andere Stimme setzte plötzlich stöhnend ein und ergoss sich dann in verworrenen  Flüchen. Die ganze Zeit über sprach die sanfte Stimme weiter. Andrews strengte  sich an, sie zu hören. Sie besänftigte seinen Schmerz, als ob irgendein  kühlendes, wohlriechendes Öl über seinen Körper gegossen werde.
  «Un' da  wird sein ein Garten voller Blumen, Rosen und Rosenbüschen dort unten, ganz im  Süden, und es wird so warm und so ruhig sein, und die Sonne wird den ganze Tag  scheinen, und der Himmel wird so blau sein...»
  Andrews  fühlte, dass seine Lippen die Worte wiederholten, wie Lippen, die ein Gebet  nachsprechen:
  «Un' es  wird so warm und ruhig sein, ganz still und ohne irgendeinen Lärm. Un' der  Garten wird voller Rosen sein, un'...»
  Doch die  anderen Stimmen fielen ein und ertränkten diese sanfte Stimme im Stöhnen und in  abgerissenen, winselnden Flüchen.
  «Un' er  sagte, ich würde in dem Gartenhaus sitzen, und die Sonne werde so ruhig und so  warm sein, un' der Garten so schön duften, un' der Strand werde ganz weiß sein,  un' die See...»
  Andrews  fühlte seinen Kopf plötzlich in die Luft steigen und dann auch die Füße. Er  schwang sich hinaus aus der Dunkelheit in einen hellen, glänzenden Korridor.  Seine Beine pochten vor stechendem Schmerz. Das Gesicht eines Mannes mit einer  Zigarette im Munde erschien neben dem seinen. Eine Hand fummelte an seinem  Halse herum, wo die Erkennungsmarke war, und er las: «Andrews,  1 432 286». Doch er horchte auf die Stimme  draußen im Dunkeln hinter ihm, die in krächzenden, delirierenden Tönen schrie:
«Ist ein  Mädchen im Herzen von Maryland, 
  Es ist  das Mädchen mein...»
Dann  entdeckte er, dass er selbst laut stöhnte. Sein Bewusstsein erfüllte sich ganz  mit dem seltsamen Rhythmus seines Stöhnens. Die einzigen Teile seines Körpers,  die überhaupt noch existierten, waren seine Beine, und irgend etwas in seiner  Kehle, das stöhnte und stöhnte. Weiße Gestalten hockten um ihn. Er sah die  behaarten Unterarme eines Mannes in Hemdsärmeln. Lichter flammten auf und  erloschen. Seltsame Gerüche drangen in seine Nase und zirkulierten durch seinen  ganzen Körper, doch nichts konnte seine Aufmerksamkeit von dem Singsang seines  Stöhnens ablenken. Regen fiel ihm ins Gesicht. Er bewegte seinen Kopf von  einer Seite auf die andere. Sein Mund war trocken wie Leder. Er streckte die  Zunge aus und versuchte den Regen mit ihr aufzufangen. Unsanft wurde er auf der  Bahre hin und her geschleudert. Er erhob den Kopf vorsichtig und fühlte eine  ungeheure Freude, dass er den Kopf noch heben konnte.
  «Halt den  Kopf unten», bellte eine Stimme neben ihm. Er hatte den Rücken eines Mannes in  einem glitzernden, nassen Regenmantel an dem einen Ende der Bahre gesehen.  «Gebt doch auf mein Bein acht», stöhnte er winselnd immer und immer wieder,  wie er selbst bemerkte. Plötzlich fühlte er einen Ruck, und er fand sich  selbst, auf eine hölzerne Decke schauend, von der die weiße Lackfarbe sich  abgeschabt hatte. Er roch Karbol und konnte das Stoßen einer Lokomotive  fühlen. Er begann zurückzudenken. Wie lange war es her, dass er sich die kleinen  Frösche angeschaut hatte? Ein lebendiges Bild der Pfütze mit ihrem teigfarbenen  Wasser und den kleinen, dreieckigen Köpfen der Frösche kam ihm ins Bewusstsein.  Es erschien ihm so lange her, wie die Erinnerungen der Kindheit. Sein ganzes  Leben vorher war nicht so lang, wie die Zeit, die vergangen war, seit der  Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte und sein Körper in der Bahre hin und her  schwankte. Der Schmerz in seinem Bein wurde schlimmer und schlimmer. Es schien  ihm, als ob sein übriger Körper einschrumpfe. Unter ihm schrie eine krächzende  Stimme bei jedem Stoß des Ambulanzwagens. Er kämpfte gegen den Wunsch, zu  stöhnen, doch zuletzt gab er nach und lag da, verloren in dem monotonen  Singsang seines Stöhnens.
  Der Regen  war für einen Augenblick wieder in seinem Gesicht. Dann wurde sein Körper  aufgehoben. Eine Reihe Häuser und rötlich-brauner Bäume und Schornsteine, die  gegen einen bleiernen Himmel standen, schwangen sich plötzlich in sein  Blickfeld, wurden jedoch gleich darauf von einer Decke und einem Treppenaufgang  ersetzt. Andrews stöhnte immer noch schwach. Er starrte in das Gesicht des  Mannes, der das untere Ende der Bahre trug. Es war ein weißes Gesicht mit  Blattern um den Mund und gutmütig dummen, wässerigblauen Augen. Andrews sah in  die Augen des Mannes und versuchte zu lächeln, doch der Mann, der die Bahre  trug, sah ihn nicht an.
  Dann,  nach vielen, endlosen Stunden, ergriffen ihn plötzlich raue Hände, zogen seine  Kleider aus und legten ihn auf ein Bett, wo er ächzend lag und den kühlen  Desinfektionsgeruch, der in den Laken war, einatmete. Er hörte Stimmen über  seinem Kopfe: «Nich' sehr schlimm, diese Beinwunde.»
  «Sie  sagten doch, wir würden amputieren müssen.»
  «Na, was  ist denn mit ihm los?»
  «Vielleicht  ein Granatsplitter...»
  Kalter  Angstschweiß übergoss Andrews. Er lag absolut still mit geschlossenen Augen.  Ein Krampf des Aufbäumens nach dem anderen ging durch ihn durch und durch.  Nein, noch hatten sie ihn nicht gebrochen, noch hielt er seine Nerven zusammen,  sagte er immer und immer wieder zu sich selbst. Doch er fühlte, wie seine  Hände, die er über seinem Leib gefaltet hielt, zitterten. Der Schmerz in den  Beinen verschwand in dem Schrecken. Er versuchte verzweifelt sein Bewusstsein  auf irgend etwas außerhalb zu konzentrieren. Er versuchte, an eine Melodie zu  denken, die er singen konnte, aber er hörte nur die Stimme, die ihm, wie es  schien, schon Monate und Jahre lang in die Ohren schrillte:
«Ist ein  Mädchen im Herzen von Maryland, 
  Es ist  das Mädchen mein...»
Die  schrillende Stimme und der Schmerz in seinem Bein vermischten sich seltsam,  bis sie eins geworden schienen und der Schmerz nur ein Pochen in dem wütenden  Singen geworden schien. Er öffnete die Augen. Dunkelheit, die sich zu einem  schwachen, gelblichen Schein abschwächte. Hastig überschaute er sich selbst,  bewegte den Kopf und die Arme. Er fühlte sich sehr kühl und sehr schwach und  ruhig. Er musste eine lange Zeit geschlafen haben. Er strich mit seiner rauen,  schmutzigen Hand über sein Gesicht. Die Haut fühlte sich weich und kühl an. Er  drückte seine Wange auf das Kissen und fühlte, wie er zufrieden lächelte und wusste  nicht, warum.
  Die  Königin von Saba trug einen Sonnenschirm mit kleinen, scharlachroten Glocken am  Rand, die ein sanftes Klingen ertönen ließen, wie sie auf ihn zuging. Sie trug  ihr Haar hoch aufgesteckt und stark gepudert mit blauem Irispuder, und auf ihrer  langen Schleppe, die ein Affe trug, waren in lustigen Farben die Zeichen des  Tierkreises eingestickt. Sie kam näher: Es war doch nicht die Königin von Saba;  es war eine Pflegerin, deren Gesicht er in der Dunkelheit nicht sehen konnte  und die ihren Arm berufsmäßig unter seinen Kopf legte und ihm aus einem Glas zu  trinken gab, ohne ihn anzusehen. Er sagte: «Danke schön», mit seiner  natürlichen Stimme, die ihn in der Stille überraschte. Doch sie ging weiter,  ohne zu antworten, und er sah, dass sie ein Tablett voller Gläser hatte, die  wie kleine Glocken geklungen hatten, als sie auf ihn zugekommen war. Trotz der  Dunkelheit bemerkte er die selbstbewussten Bewegungen der Pflegerin, wie sie  schweigend von einem Bett zum andern ging und das Tablett mit den Gläsern vor  sich hielt. Er drehte den Kopf auf den Kissen herum, um sie zu beobachten, wie  sie ihren Arm unter den Kopf des Mannes neben ihm legte, um dem zu trinken zu geben.
  «Eine  Jungfrau», sagte er zu sich selbst. «Wirklich eine Jungfrau.» Und er kicherte  leise, trotz des stechenden Schmerzes in seinem Bein. Er fühlte plötzlich, sein  Bewusstsein wache aus einer Betäubung auf. Die Schwermut, die ihn Monate  hindurch niedergedrückt hatte, war plötzlich gewichen. Er war frei. Der Gedanke  stieg fröhlich in ihm auf, dass, so lange er in diesem Bett im Hospital liegen  werde, niemand Befehle gegen ihn schreien werde, niemand ihm sagen werde, das  Gewehr zu reinigen, keiner da sein werde, den man grüßen müsse, kein Sergeant,  dem es zu schmeicheln gelte. Hier würde er den ganzen Tag liegen können, seine  eigenen Gedanken denken, sein eigenes Leben leben.
  Vielleicht  war er schwer genug verwundet, um aus dem Heer entlassen zu werden. Der Gedanke  daran ließ sein Herz wie wild schlagen. Das bedeutete ja, dass er, der sich  selbst aufgegeben hatte, der sich hatte niedertreten lassen, ohne Widerstand,  in den Schlamm der Sklaverei, der keinen Ausweg aus dieser Tretmühle erblickt  hatte, als den Tod, leben werde. Er, John Andrews, würde leben.
  Und  plötzlich schien es ihm unfassbar, dass er sich je aufgegeben hatte, dass je  die Disziplin über ihn die Oberhand gewinnen konnte. Er sah sich noch einmal,  wie er sich früher gesehen hatte, bevor sein Leben sich ausgelöscht hatte,  bevor er ein Sklave unter Sklaven geworden war. Er erinnerte sich an den  Garten, wo er in seiner Knabenzeit im drösenden Sommer nachmittags unter den  Myrtenbäumen träumend saß, während die Kornfelder rauschten und in der Hitze  schimmerten. Er erinnerte sich an den Tag, wo er nackt in der Mitte des  Zimmers gestanden hatte, während der Rekrutierungssergeant ihn beklopfte und  abmaß. Er wunderte sich plötzlich, welcher Tag wohl sei, konnte es wirklich  wahr sein, dass das nur ein Jahr her war? Ja, in diesem Jahr waren alle anderen  Jahre seines Lebens ausgelöscht worden. Jetzt konnte er ein neues Leben  beginnen. Er würde dieses feige Kriechen vor äußeren Dingen aufgeben. Ohne  Bedenken er selbst sein.
  Der  Schmerz in den Beinen lokalisierte sich nach und nach in
  den  Wunden. Eine Zeitlang kämpfte er dagegen, um weiter denken zu können, doch ein  beständiges Pochen drängte sich immer mehr in sein Bewusstsein, obschon er  verzweifelt seine blassen Erinnerungen auffrischen wollte, an all das denken,  was lebendig und schön in seinem Leben gewesen war und sich einen neuen Boden  für einen Widerstand gegen die Welt schaffen, von dem aus er neu zu leben  beginnen könne; doch langsam wurde er wieder das klagende Stück schmerzenden  Fleisches, der in der Tretmühle gebrochene Sklave. Er begann wieder zu stöhnen.
  Kaltes,  starrgraues Licht filterte hinein und ertränkte den gelblichen Schein der  Lampe, der zuerst verglimmte und dann verschwand. Andrews beobachtete die Reihe  der Bettstellen ihm gegenüber und die dunklen Balken der Decke über seinem Kopfe.  «Dieses Haus muss sehr alt sein», sagte er zu sich selbst, und dieser Gedanke  erregte ihn etwas. Wie seltsam, dass die Königin von Saba an sein Bett kam! Es  war Jahre her, dass er von all dem geträumt hatte; von dem Mädchen an einem  Kreuzweg, singend unter der Straßenlampe und Rosen zerpflückend, all die halberratenen  Aspekte, all die Wünsche der Phantasie...  Das war die Königin von Saba. Er flüsterte die Worte laut: «la reine de Saba,  la reine de Saba», und mit dem Zittern der Erwartung, demselben Zittern, das er  als Knabe fühlte, am Abend vor Weihnachten, mit dem Gefühl der neuen, großen  Dinge, die seiner warteten, legte er seinen Kopf auf die Arme, wie auf ein  Kissen und begann sanft einzuschlafen.
  «So was  können auch nur diese Franzmänner, aus so einer Dreckbude ein Hospital machen»,  sagte der Diensthabende, der mit den Beinen weit auseinander und mit den Händen  auf den Hüften dastand und mit dem Gesicht einer Reihe von Bettstellen  zugewandt zu allen sprach, die sich wohl genug fühlten, ihm zuzuhören.
  «Ist doch  ganz kunstvoll gemacht hier, nich'?» meinte Appelbaum, der Andrews zunächst  lag, ein knochiger Mann mit großen, erschreckten Augen und einem roten  Gesicht, das aussah, als ob die Haut davon abgeschält sei.
  «Schau  dir die Arbeit an der Decke an. Muss ordentlich was gekostet haben.»
  Andrews  lag bequem in seinem Bett und sah auf die Szene, wie von einer anderen Welt  aus. Er wollte keine Verbindung mit dem Gespräch um ihn herum, mit den Männern,  die schweigend lagen oder sich stöhnend herumwarfen in ihren langen  Bettstellen, die die Renaissancehalle füllten. In dem gelblichen Schein der  elektrischen Lichter konnte er sehr schwach eine Reihe Plastiken erkennen. Sie  schienen ihm vertraut und freundschaftlich zu sein. Er fühlte sich zu Hause in  dieser weiten Halle, in der all die kleinen Quälereien der Armee unwirklich  schienen und die verwundeten Soldaten ausrangierte Automaten, zerbrochene  Spielzeuge, die man in Reihen weggelegt hatte. Andrews wurde aus seinen  Gedanken aufgerissen. Appelbaum sprach zu ihm. Er wandte den Kopf.
  «Wie  gefällt es dir, verwundet zu sein, Junge?»
  «Fein!»
  «Ich  denke auch. Besser, als in der verdammten Armee da draußen.»
  «Wo hat's  dich denn gefasst?»
  «Hab'  jetzt nur noch einen Arm. Ist mir aber ganz, ganz egal... Habe eben meinen letzten Wagen gefahren. Das ist alles.»
  «Was  bedeutet das?»
  «Ich war  früher Droschkenkutscher.»
  «'ne  schöne Beschäftigung.»
  «Sicher.  Man kann viel Geld verdienen, wenn man's richtig anfasst.»
  Der  Diensthabende legte sein Gesicht ernst in Falten und blinzelte bedeutsam.
  «Können  Sie etwas für mich tun?» fragte Andrews.
  «Sicher,  wenn es keine große Mühe macht.»
  «Wollen  Sie mir ein Buch kaufen, ein französisches Buch?» sagte Andrews lächelnd.
  «Ein  französisches Buch? Nun, ich werde sehen, ob es zu machen ist. Wie heißt es?»
  «Von  Flaubert... Wenn Sie ein Stück Papier  und einen Bleistift haben, werde ich es aufschreiben.»
  Andrews  kritzelte den Titel auf ein Blatt Papier und händigte das dem Diensthabenden  aus.
  «Was? Was  für ein Antoine? Donnerwetter, das wird wohl 'ne mollige Geschichte sein, was?  Ich wünschte, ich könnte französisch lesen. Aber ich gehe jetzt. Gute Nacht.»
  Der  Diensthabende ging geräuschvoll hinaus und verschwand.
  Die  Lichter erloschen, außer der Kerze auf dem Tisch der Pflegerin am Ausgang.
  «Wovon  handelt das Buch, Junge?» fragte Appelbaum und drehte seinen Kopf auf dem  dürren Hals, bis er Andrews voll ins Gesicht sehen konnte.
  «Oh, es  erzählt von einem Mann, der alles so sehr erstrebt, dass er am Ende denkt,  nichts sei wert, dass es erstrebt werde.»
  «Du  kommst wohl von der Universität?» fragte Appelbaum sarkastisch.
  Andrews  lachte.
  «Ich  wollte gerade davon erzählen, wie ich Droschkenkutscher war. Viel Geld  verdient, ehe ich eingezogen wurde. Bist du auch eingezogen worden, oder  freiwillig gemeldet?»
  «Eingezogen.»
  «Ich  auch. Halte nicht viel von den Kerls, die sich wunder was einbilden, weil sie  Soldaten sind.» «Ich auch nicht.»
  «So?» kam  eine Stimme von der anderen Seite von Andrews, eine dünne Stimme, die  stotterte. «Ich hätte mir mein ganzes Geschäft verdorben, wenn ich nicht  eingetreten wäre. Von mir kann keiner behaupten, dass ich mich nicht gleich  gemeldet hätte.»
  «Na, das  ist eben dein Standpunkt», meinte Appelbaum. «Aber ist dein Geschäft nicht  trotzdem verdorben?»
  «Nee,  kann es jeden Tag wieder aufnehmen. Hat einen guten, alten Ruf.»
  «So?»
  «Ich bin  von Beruf Leichenbestatter. Schon mein Vater hatte dasselbe Geschäft.»
  «Dann  bist du ja hier am rechten Fleck», warf Andrews ein.
  «Du hast  kein Recht, mir das zu sagen, junger Mann», antwortete der Leichenbestatter  ärgerlich. «Ich habe menschliche Gefühle. Ich werde mich in dieser dreckigen  Schlachtanstalt nie zu Hause fühlen.»
  Die  Pflegerin ging an ihren Bettstellen vorbei.
  «Wie  können Sie nur solch grauenhafte Dinge sagen», sagte sie. «Das Licht ist schon  gelöscht. Ihr müsst jetzt Ruhe halten. Und Sie?» Sie strich über das Bettzeug  des Leichenbestatters. «Erinnern Sie sich doch einmal daran, was die Hunnen in  Belgien taten. Arme Miss Cavell, eine Pflegerin, gerade wie ich!»
  Andrews schloss  die Augen. Der Raum war ruhig, nur das rasselnde Geräusch des schnarchenden  Atmens der Verwundeten um ihn herum ertönte.
  «Ich  dachte, sie wäre die Königin von Saba», sagte er zu sich selbst mit einer  grinsenden Grimasse. Dann dachte er an die Musik, die er der Königin von Saba  hatte schreiben wollen, zu jener Zeit, da er noch nicht sein eigenes Leben  abgestreift hatte wie ein Hemd, und an das Zimmer, wo man ihn abgemessen, bevor  man einen Soldaten aus ihm gemacht hatte. In der Dunkelheit und Verlassenheit  seiner Verzweiflung stehend, konnte er das Geräusch einer Karawane in der Ferne  hören, das Klingen des Sattelzeuges, die schallenden Hörner, das Schreien der  Maulesel und die heiseren Stimmen der Männer, welche Lieder sangen auf  verlassenen Straßen. Er schaute auf, und vor sich konnte er sehen, wie neben  ihren scheuen, wilden Maultieren die drei grünen Reiter regungslos mit ihren  langen Zeigefingern auf ihn deuteten. Dann brach die Musik in einen  plötzlichen, heißen Wirbelwind aus, voller Flöten und Kesselpauken und tönender  Hörner und winselnder Dudelsäcke, und Fackeln flammten rot und gelb, bildeten  ein Lichtzelt über ihm, an dessen Ende Maulesel sich zusammendrängten und die  braunen Treiber und die großen Kamele mit ihren Schabracken, und die Elefanten  mit ihren edelsteinbestickten Decken. Nackte Sklaven beugten ihre glänzenden  Rücken vor ihm und breiteten einen Teppich vor seinen Füßen aus. Im Flackern  der Fackeln bewegte sich die Königin von Saba auf ihn zu, bedeckt mit Smaragden  und goldenen Ornamenten, von einem Affen begleitet, der hinter ihr her hüpfte  und das Ende ihrer langen Schleppe hielt. Sie legte ihre Hand mit ihren feinen,  phantastischen Nägeln auf seine Schulter, und in ihre Augen schauend fühlte er  plötzlich ganz nahe und wirklich all die glühenden Wünsche seiner Phantasie.
  Oh, wenn  er nur frei sein könnte, zu arbeiten! Alle Monate, die er in seinem Leben  verschleudert hatte, schienen wie eine Prozession von Geistern vor seinen Augen  auf ihn zuzumarschieren. Und er lag in seinem Bett, starrte mit offenen weiten  Augen an die Decke und hoffte verzweifelt, dass seine Wunden lange brauchen  würden zum Heilen.
«Nun  Jungens, ihr sterbt wohl schon vor Begierde, zu wissen, was der Krieg macht!»  Eine runde Person mit einer großen
  Hornbrille  brach in den Krankensaal ein wie eine Operettenkönigin auf die Bühne. Sie  rauschte an den Bettreihen vorbei, sprach im Gehen.
  «Seht  ihr, ich war grade an der Front. Aufregend, nich'?»
  Sie  hockte sich am Ende von Appelbaums Bett nieder.
  «Muss  doch nicht etwa gleich sagen, mit wem ich da ging, nich'? Ich bin die erste  Frau, die in den Schützengräben war, wenigstens an der Stelle... Sie waren alle so nett. Habe mit dem  Leutnant in seinem Unterstand Tee getrunken. Oh, ich war so aufgeregt! Man schoss  da gerade nich', aber am Morgen, da war geschossen worden. Jetzt weiß ich aber  auch, wie ihr armen Jungen gelitten haben müsst. Furchtbar!... Ihr da drüben,  ihr müsst aber darum nicht eifersüchtig sein. Am Nachmittag werde ich mich zu  euch rübersetzen. Morgen Nachmittag, da werde ich zu euch kommen!»
  Sie holte  sich vom Schreibtisch der Pflegerin einen Stuhl und ließ sich darin nieder, wie  ein zusammenfallender Ballon. Einige der Männer richteten sich in ihren Kissen  auf, um sie anzusehen.
  «So, da  sind wir. Ihr müsst nicht missmutig sein, nich'? Oh, ich wollte euch doch  erzählen, was der Krieg macht. Wundervoll, Jungens, wundervoll. Aber zuerst... Ich habe hier ein Stück Papier und 'n  Bleistift. Wenn jemand will, dass ich einige Zeilen für ihn schreibe... Aber ihr schaut ja alle so wohl aus,  ihr werdet eure Korrespondenz schon allein erledigen können. Aber ich bin ja  hier, und wenn ich will, kann ich auch diskret sein...»
  Sie  kicherte ein wenig. Ein schwaches Kichern lief antwortend die Reihen der Betten  hinunter.
  «Also,  wenn ihr eurem Schatz etwas schreiben wollt, dann sagt mir's, und ich werde  keiner Menschenseele etwas sagen. Ganz bestimmt nich'. Doch ich wollte euch ja  erzählen: Sieg über Sieg! Jungens, wir haben eine Menge deutscher Städte genommen.  Haben alle so komische Namen. Kann mich nicht daran erinnern...»
  «Deutsche  Namen muss man gar nicht behalten wollen», warf Appelbaum herausfordernd ein.
  «Ganz  recht, Jungens, wenn der kommandierende General hier wäre, ich glaube, ich  würde ihm jetzt 'nen Kuss geben.» Sie kicherte verschämt und schaute durch ihre  Hornbrille auf den Boden. «Ich glaube, ihr seid alle ganz wild danach, wieder  gesund zu werden und ihnen auf die Fersen zu kommen.»
  «Ach, der  General, der ist ja ganz doof», sagte der Leichenbestatter.
  «Da haste  ganz recht», kam eine andere Stimme aus der Reihe der Betten.
  «Aber  Jungens, wenn ihr so sprecht, muss ich ja weggehen.» Die Frau stand auf. «Ich  weiß ganz genau, dass ihr alles geleistet habt, möchte euch am liebsten dafür  umarmen.» Sie kicherte hastig und fuhr fort: «Aber ihr müsst auch daran denken,  dass, obschon ihr Jungens die Muskeln habt, der Mann hinter der Front das  Gehirn dazu. Natürlich erscheinen euch die Leute hinter der Front manchmal  barsch und ungerecht. Aber ihr müsst Geduld haben, Jungens. Denn sicher wollen  die Offiziere immer nur euer Bestes. Denkt mal, Oberst Josephson erzählte mir  gestern, als ich mit ihm und Major Pike speiste — Major Pike, der erzählt  solch entzückende Geschichtchen —, dass er oft die ganze Nacht drei- oder  viermal hintereinander auf war, und ich weiß, dass solche Männer Tag und Nacht  nur euer Gutes im Herzen haben...   Armer Major Pike! Musste fort, ehe die Chocolat soufflé kam. Diese französischen  Restaurants sind so langweilig, langsam und teuer! Die Preise sind tatsächlich  shocking. Die Franzosen plündern uns aus, wo sie nur können... Ich sage euch, Jungens, ihr könnt  geradezu glücklich sein, eure Armeeküche zu haben. Seht mal, ich muss sogar  meinen Zucker mit mir rumtragen... ,  sonst würde ich nie welchen kriegen...  Doch wir müssen jetzt mal an die Arbeit gehen, nich'? Na, wer will zuerst  einen Brief geschrieben haben?»
  Andrews  starrte auf das Bett und erblickte ihren großen Schenkel unter dem braunen  Kleid, als sie sich über den Mann gegenüber beugte.
  «Also,  du? Gut. Aber ihr anderen dürft jetzt nicht zuhören... » Sie zog ihren Stuhl in den Gang zwischen die beiden Betten  und setzte sich, mit dem Bleistift an den Lippen. Andrews hörte das Flüstern  einer Stimme und das Kratzen des Bleistiftes auf dem Papier.
Appelbaum  saß auf seinem Bettrande in einer reinen, neuen Uniform, deren linker Ärmel  leer herunterhing und der noch die Falten zeigte, in die man ihn gebügelt  hatte.
  «So, du  gehst also wirklich», meinte Andrews und rollte den Kopf hinüber in den Kissen,  um ihn anschauen zu können.
  «Da  kannst du dich darauf verlassen, Andy...  Auch du könntest schon hier fortkommen, wenn du dich ein bisschen darum  kümmern wolltest.»
  «Oh, ich  wünschte zu Gott, dass ich könnte...  Nicht, dass ich nach Hause gehen wollte jetzt, aber... Wenn ich nur aus der Uniform heraus könnte...»
  «Du bist  nicht der einzige», kam die stottrige Stimme des Leichenbestatters hinter  Andrews.
  «Ich  dachte, du hättest dich freiwillig gemeldet, Leichenbestatter?»
  «Ja, ich  hab's getan, bei Gott. Aber ich dachte nicht, dass es so sein würde.»
  «Hast du  vielleicht geglaubt, es würde ein Picknick sein?»
  «Zum  Teufel, das ist mir alles egal, alles egal, Gas schlucken, oder verschüttet werden,  oder irgend etwas anderes. Aber ich dachte, wir würden hier Ordnung schaffen... Wir hatten ein lebhaftes Geschäft da  drüben in Tilletsville.»
  «Wo?»  unterbrach Appelbaum lachend.
  «Tilletsville.  Kennst du denn keine Geographie?»
  «Fahr nur  fort, erzähle uns was von Tilletsville», warf Andrews beruhigend ein.
  «Nun, was  glaubt ihr wohl, als Senator Wallace starb, wer dem seinen Leichnam in Ordnung  bringen musste, na wer denn wohl? Natürlich wir. Und ich sollte ein schmuckes  Mädchen heiraten. Wusste, ich hatte genug, um auszukommen. Aber dann meldete  ich mich freiwillig zur Infanterie, wie so'n dummes Schwein, weil jedermann  sagte, dass wir der Welt die Demokratie erkämpfen werden, und dass keiner mehr  mit einem was zu tun haben wolle, der sich daran nicht beteiligt.»
  Er begann  plötzlich zu husten. Endlich konnte er schwach mit seiner kleinen, dünnen  Stimme sagen: «Ja, nun bin ich hier, und mit der Demokratie...»
  «Demokratie  ist... Das ist Demokratie: wir essen  stinkigen Gulasch, un' dieses fette Weib geht mit dem Oberst aus und frisst  Chocolat soufflé...  Wahre  Demokratie! Aber ich will euch was sagen. Man darf nicht immer Schlachtvieh  sein...» stotterte Appelbaum heraus.
  «Es gibt  mehr Schlachtvieh auf der Welt, als irgend etwas anderes», sagte Andrews.
  Appelbaum  in seiner Uniform, die in Falten um seinen mageren Körper hing, ging  unsicheren Schrittes zur Tür hinaus, von den neidischen Blicken aller  begleitet.
  «Der  denkt wohl, er wird bald Präsident sein», sagte der Leichenbestatter bitter.
  «Wird's  auch wahrscheinlich werden», meinte Andrews.
  Er machte  sich wieder in seinem Bett zurecht und versank wieder in die dumpfe  Kontemplation des bohrenden, kriechenden Schmerzes, in dem die zerrissenen  Sehnen seines Schenkels sich langsam wieder aneinander knüpften. Er versuchte  verzweifelt, den Schmerz zu vergessen. Es gab doch soviel, an das er denken  wollte, wenn er nur vollkommen ruhig liegen und die zerfetzten Enden von  Gedanken, die auf der Oberfläche seines Bewusstseins herumschwammen,  aneinanderstücken könnte. Er zählte die Tage, die er nun im Hospital war.  Fünfzehn. Konnte es wirklich so lange schon sein? Bis jetzt hatte er noch  nichts gedacht! Bald würden sie ihn, wie Appelbaum gesagt hatte, in die Klasse  A versetzen und in die Tretmühle zurückschicken, und er würde noch nicht  seinen Mut und die Beherrschung seiner selbst wiedergewonnen haben. Welcher  Feigling war er doch gewesen, sich zu unterwerfen! Der Mann neben ihm hustete  weiter. Andrews starrte für einen Augenblick auf die gelbe Silhouette des Gesichtes  auf den Kissen mit der spitzen Nase und den kleinen, gierigen Augen. Er dachte  an das glänzende Leichenbestattergeschäft, an die schwarzen Handschuhe, an die  langen Gesichter, an sanfte, taktvolle Stimmen. Dieser Mann und sein Vater  vor ihm hatten davon gelebt, von sich Dinge zu behaupten, die sie nicht  fühlten, Realitäten mit Gerank von Krepp und anderem Flitter vorzutäuschen;  für diese Leute starb nie jemand; man schied hinweg, man ging hinüber.  Trotzdem, es musste ja Leichenbestatter geben. Dieser Beruf war in keinem Sinne  schmutziger als irgendein anderer. Und um sein Geschäft nicht zu verderben,  darum war der Leichenbestatter freiwillig eingetreten, und auch, um der Welt  die Demokratie zu erkämpfen. Diese Phrase trat Andrews an wie eine Flut von  Volksliedern, von patriotischen Nummern auf einer Vaudevillebühne. Er erinnerte  sich an die großen Flaggen, die triumphierend über der fünften Avenue wehten  und an die Massen, die pflichtgemäß «hoch» schrieen. Aber das waren ja nur  gültige Gründe für einen Leichenbestatter. Waren es für ihn, John Andrews,  triftige Gründe? Nein, er hatte keinen Beruf. Er war nicht in die Armee hineingetrieben  worden von der öffentlichen Meinung, er war nicht hineingeschwemmt worden von  irgendeiner Woge kritiklosen Vertrauens in die Phrasen gekaufter  Propagandisten. Er hatte eben nicht die Kraft zu leben. Ein Gedanke kam ihm ins  Bewusstsein. Wie viele hatten doch während der langen Tragödie der Geschichte  sich selbst lächelnd geopfert um der Reinheit ihrer Idee willen! Er aber, er  hatte nicht den Mut gehabt, einen Muskel nur zu bewegen für seine Freiheit. Er  hatte fast freudig sein Leben als Soldat gewagt für eine Sache, die er für  vollkommen sinnlos und verbrecherisch hielt. Welches Recht zu existieren hat  überhaupt ein Mensch, der zu feige war, um für das, was er dachte und fühlte,  einzustehen, für seine ganze Art, für alles, was ihn unterschied von seinen  Mitmenschen, um nicht ein Sklave zu sein, um mit der Mütze in der Hand  dazustehen und zu warten auf irgendeinen stärkeren Willen, der ihm gebieten  sollte, zu handeln.
  Ekel  stieg wie plötzliche Übelkeit in ihm auf. Sein Bewusstsein hörte auf, Phrasen  und Gedanken zu formulieren. Er lieferte sich dem Ekel aus, wie ein Mann, der  zu viel getrunken hat, der bis jetzt aber seinen Willen fest an der Kandare  hatte und sich plötzlich Hals über Kopf der Trunkenheit überlasst.
  Er lag  sehr still mit geschlossenen Augen, horchte auf die Geräusche des Saales, die  Stimmen der sprechenden Männer und die Hustenanfälle, die über den Mann neben  ihm herfielen. Der stechende Schmerz quälte monoton. Er fühlte sich hungrig und  dachte, ob nicht bald Abendbrotzeit sei. Wie wenig bekam man doch in diesem  Hospital zu essen! Er rief den Mann im gegenüberliegenden Bett an:
  «Heh,  Storky, wie spät ist es?»
  «Es ist  Essenszeit. Hast wohl guten Appetit auf ein Beefsteak und Zwiebel und gebratene  französische Kartoffeln?» «Halt's Maul.»
  Ein  Klappern von Zinngeschirr am anderen Ende des Saales veranlasste Andrews, sich  weiter in seinen Kissen aufzurichten.
  Nachdem  er gegessen hatte, nahm er wieder die «Tentation de Saint Antoine» auf, das  Buch lag auf seinem Bett neben seinem unbeweglichen Bein; er vertiefte sich  darin, las die prächtig formulierten Sentenzen mit gierigem Eifer, als ob das  Buch eine Medizin sei, aus der er tiefes Vergessen trinken könne.
  Er legte  das Buch nieder und schloss die Augen. Sein Bewusstsein war voll eines seltsam  fließenden Glanzes wie der Ozean in einer warmen Nacht, wenn jede Welle sich blass  und glänzend bricht und geheimnisvolle, milchige Lichter wie von Ewigkeiten her  an die Oberfläche aus dem Dunkel des Wassers heraufsteigen und glimmen und  verlöschen. Seltsame, fließende Harmonien durchströmten sein Fleisch, wie ein  grauer Himmel beim Hereinbrechen der Nacht plötzlich mit endlos wechselnden Flecken  von Licht und Farbe und Schatten sich füllt.
  Als er  dann versuchte, seine Gedanken zu fassen, ihnen einen definitiven musikalischen  Ausdruck zu geben, war er plötzlich leer. Wie in einem tiefen Wasser eine  Sandbank, die eben noch voller kleiner silbriger Fische war, plötzlich dunkel  und leer erscheint, wenn ein Schatten über das Wasser fällt und man statt  schimmernder beweglicher kleiner Körper nur noch die Reflexion seiner eigenen  Gestalt im Wasser sieht.
John  Andrews wachte auf und fühlte eine kalte Hand auf seinem Kopfe.
  «Fühlst  du dich wohl?» hörte er eine Stimme in seinem Ohr.
  Er sah  hinauf in ein puffiges Gesicht von mittleren Jahren mit einer mageren Nase und  grauen Augen und starken Schatten darunter. Andrews fühlte die Augen, die ihn  forschend ansahen. Er sah das rote Dreieck auf dem Khakiärmel des Mannes.
  «Ja»,  sagte er.
  «Wenn du  nichts dagegen hast, möchte ich ein wenig mit dir reden.»
  «Habe  nichts dagegen. Haben Sie einen Stuhl?» sagte Andrews lächelnd.
  «Ich  denke, es war vielleicht nicht ganz recht, dich aufzuwekken. Aber sieh mal, es  war gerade so, du warst der Nächste, und ich fürchtete, ich würde dich  vergessen, wenn ich dich jetzt übergehe.»
  «Ich  verstehe», sagte Andrews mit dem plötzlichen Entschluss, dem Mann die  Initiative der Unterhaltung wegzunehmen.
  «Wie  lange sind Sie schon in Frankreich? Lieben Sie den Krieg?» fragte er hastig.
  Der Mann  lächelte traurig.
  «Du  scheinst ja ein wackerer Kerl zu sein», meinte er. «Du hast es wohl sehr eilig,  wieder an die Front zu kommen und noch ein paar Hunnen zu sehen.» Er lächelte  wieder nachsichtig. Andrews antwortete nicht.
  «Nein,  mein Sohn, mir gefällt's hier nicht», sagte der Mann nach einer Pause. «Ich  wünschte, ich wäre zu Hause. Aber es ist doch angenehm, zu wissen, dass man  seine Pflicht tut.»
  «Kann  sein», meinte Andrews.
  «Hast du  denn schon von dem großen Luftangriff unserer Jungen gehört? Frankfurt ist  bombardiert worden. Wenn sie nur Berlin vom Erdboden wegwischen könnten!»
  «Sag mal,  hasst du sie denn wirklich so?» fragte Andrews leise. «Denn falls du sie  wirklich so sehr hasst, kann ich dir etwas sagen, was dich halbtot kitzeln muss  vor Freude. Beug dich mal 'rüber.»
  Der Mann  beugte sich neugierig herüber.
  «Einige  deutsche Gefangene kommen jeden Tag um sechs Uhr abends zu diesem Hospital.  Wenn du sie wirklich hasst, so brauchst du dir ja nur einen Revolver von einem  unserer Offiziere zu borgen und die ganze Bande über den Haufen zu schießen... »
  «Sag mal,  wo hat man dich denn gemustert, Junge?» Der Mann setzte sich mit einem Ruck und  dem Ausdruck des Schreckens auf. «Weißt du denn nicht, dass Gefangene heilig  sind?»
  «Weißt du  denn nicht, was unser Oberst uns sagte, ehe wir in die Argonnenoffensive  hineingingen: je mehr Gefangene ihr macht, desto weniger werdet ihr zu essen  kriegen. Und weißt du denn nicht, was den Gefangenen, die wir machten, geschah?  Warum hasst du die Hunnen?»
  «Weil sie  Barbaren sind, Feinde der Zivilisation. Du müsstest eigentlich genug Bildung  haben, um das zu wissen», sagte der Mann und erhob seine Stimme in zorniger  Empörung. «Welcher Kirche gehörst du eigentlich an?»
  «Keiner.»
  «Aber du musst  doch mit irgendeiner Kirche in Beziehung stehen. Du kannst doch in Amerika  nicht wie ein Heide aufgewachsen sein. Jeder Christ gehört oder gehörte  irgendeiner Kirche an durch die Taufe.»
  «Ich habe  mit dem Christentum nichts zu schaffen.»
  Andrews schloss  die Augen und wandte den Kopf weg. Er fühlte den Mann über sich schweben, noch  unentschlossen. —
  Nach  einer Weile öffnete er die Augen. Der Mann beugte sich über das nächste Bett.
  Durch das  Fenster auf der anderen Seite konnte er ein kleinwenig blauen Himmels sehen.  Wie diese Leute sich am Hass erfreuen konnten! Dann war es wirklich besser, an  der Front zu sein. Die Menschen waren wirklich humaner, wenn sie einander  töteten, als wenn sie nur darüber sprachen. So war die Zivilisation nichts  anderes, als ein ungeheures Gebäude des Truges, und der Krieg statt ein Produkt  des Zerfalles ihr völligster und endgültigster Ausdruck. — Oh, es musste doch  noch etwas anderes geben, als Gier und Hass und Grausamkeit. Waren das auch  alles Trugbilder, diese gigantischen Phrasen, die wie fröhliche Drachen hoch  über der Menschheit flatterten? Drachen! Ja, das war es. Und Gebilde aus  Seidenpapier, die man an einer Schnur über sich herzieht, Ornamente, die man  nicht ernst nehmen soll. Er dachte an die lange Prozession von Männern, die von  der unaussprechbaren Flüchtigkeit des Menschenlebens erschüttert, versucht  hatten, die Dinge anders zu gestalten, die Unweltliches gedacht hatten.  Rätselhafte Gestalten waren sie - Demokrit, Sokrates, Epikur, Christus, so  viele und so vage in dem silbrigen Nebel der Geschichte, dass er kaum wusste,  ob sie nicht nur in seiner Einbildung lebten; Lukrez, der heilige Franz, Voltaire,  Rousseau und so viele andere, bekannte und unbekannte, in den tragischen  Jahrhunderten; manche von ihnen hatten geweint, und andere hatten gelacht, und  ihre Gedanken waren aufgestiegen, glitzernd, Seifenblasen, um die Menschen zu  verwirren, auf einen Augenblick, und um dann zu zergehen. Er fühlte den wilden  Wunsch, sich ihnen einzureihen, sein Leben zu leben, wie er es sah, trotz  alledem, noch einmal die Falschheit all der Anschauungen zu verkünden, unter  deren Decke Gier und Angst mit mehr und mehr Schmerz die schon fast  unerträgliche Agonie menschlichen Lebens füllte.
  Sobald  ich aus dem Hospital herauskomme, werde ich desertieren: dieser Entschluss  formte sich plötzlich in ihm und ließ das aufgeregte Blut triumphierend durch  seinen Körper schießen. Es gab sonst nichts; man musste desertieren. Er sah  sich schon selbst im Dunkeln auf seinem lahmen Bein weghumpeln, die Uniform  abstreifen, sich in irgendeiner Ecke Frankreichs verlieren oder durch die  Wachen hindurch nach Spanien in die Freiheit entweichen. Er war bereit, alles  zu ertragen, jeder Art Tod ins Antlitz zu schauen, um einiger Monate Freiheit  willen, in welchen er die Degradation dieses letzten Jahres vergessen könnte.  Das sollte sein letzter Gang unter dieser Last sein.
  Eine  ungeheure Aufregung ergriff ihn. Es schien das erste Mal in seinem Leben, dass  er beschlossen hatte, zu handeln. Alles andere war zielloses  Umhergetriebensein. Das Blut sang ihm in den Ohren.
  Die  Lichter gingen aus, und der Krankenwärter kam und goss Schokolade mit einem  angenehm beruhigenden Geräusch in die Zinntassen. Mit dem Fettgeschmack der  Schokolade im Munde und ihrer Wärme im Magen schlief er ein.
Als er  aufwachte, war Lärm im Saal. Rötliches Sonnenlicht strömte durch das  gegenüberliegende Fenster herein, und von draußen kam ein wirres Geräusch:  läutende Glocken und Sirenenpfeifen.
  Andrews  schaute auf das gegenüberliegende Bett hinüber. Storky saß aufrecht im Bett mit  großen, weitaufgerissenen Augen.
  «Leute,  der Krieg ist aus!» «Schmeißt doch den Kerl raus!» «Halts Maul!»
  «Bindet  den Ochsen draußen fest!» schrie es aus allen Enden des Saales.
  «Leute!»  rief Storky noch lauter. «Es ist wahr, der Krieg ist vorbei. Ich träumte  gerade, der Kaiser käme auf der Vierzehnten Avenue auf mich zu und pumpte fünf  Cents von mir für ein Glas Bier. Der Krieg ist vorbei. Hört ihr nicht die  Glocken?»
  «Dann  wollen wir uns alle auf die Beine machen und nach Hause gehen.»
  «Haltet  dochs Maul! Lasst einen doch schlafen!»
  Es wurde  wieder ruhig im Saal. Aber alle Augen waren offen. Die Männer lagen seltsam  still in ihren Betten, wartend und voller Staunen. Plötzlich erschien der  Major mit der Mütze über dem roten Gesicht, eine Messingglocke in seiner Hand,  die er frenetisch läutete.
  «Leute!»  schrie er mit dem tiefen Brüllen des Mannes, der die Ergebnisse des  Baseballspieles verkündet. «Der Krieg ist heute morgen um 4 Uhr 3 zu Ende  gewesen...  Der Waffenstillstand ist  unterzeichnet. Nieder mit dem Kaiser!»
  Dann  läutete er wie wild die Glocke und tanzte den Gang zwischen den Betten hinunter,  an der einen Hand die Oberschwester, die einen kleinen, gelbköpfigen Leutnant  an der anderen hielt, der wieder eine andere Schwester und so weiter. Die  Reihe tanzte lustig durch den Krankensaal, sang die Nationalhymne, und immerzu  läutete der Major seine Glocke. Die Männer, die gesund genug waren, setzten  sich im Bett auf und schrieen «hoch». Die anderen wälzten sich in ihren Kissen,  gestört durch den Lärm.
  «Nun, was  hältst du davon, Leichenbestatter?» fragte Andrews.
  « Nichts  .»
  «Warum?»
  Der Leichenbestatter  wandte seine kleinen, schwarzen Augen Andrews zu und sah ihm gerade ins  Gesicht.
  «Du  weißt, was mit mir los ist außer der Wunde.» «Nein.»
  «Wenn man  so hustet wie ich... Bin lungenkrank,  junger Mann.» «Woher weißt du?»
  «Sie  wollen mich morgen in eine Lungenheilstätte bringen.» «Zum Teufel auch.»
  Andrews  Worte verloren sich in dem Hustenanfall, der den Mann neben ihm packte.
«Heim,  Jungens, heim, 
  Zu Hause wollen wir sein!»
Alle, die  gesund genug waren, sangen mit. Storky führte an. Er stand auf dem Ende seines  Bettes in seinem hellroten Pyjama, der zu kurz war und die langen, knochigen  Beine zeigte.
  «Heim!  Ich werde nie wieder nach Hause kommen», sagte der Leichenbestatter, als der  Lärm ein wenig ruhiger geworden war.
  «Weißt  du, was ich wünschte? Ich wünschte, der Krieg würde weiter fort gehen, bis  all' diese Hunde erschlagen wären.» «Welche?»
  «Die  Leute, die uns hier rübergebracht haben.» Er begann wieder schwach zu husten.
  «Aber die  werden ja gerade in Sicherheit sein, wenn jeder andere...» begann Andrews.
  Er wurde  von einer donnernden Stimme unterbrochen. «Achtung!»
«Heim,  Jungens, heim, 
  Zu Hause  wollen wir sein!»
ging der  Sang weiter.
  Storky  schaute in den Krankensaal hinunter und warf sich, da er den Major erblickte,  so schnell wie möglich in seine Decken zurück.
  «Achtung!»  donnerte der Major wieder. Eine plötzliche unangenehme Stille trat ein, nur  von dem Husten des Mannes nebenan unterbrochen.
  «Wenn ich  noch einmal irgendwelches Geräusch von hier höre, schmeiße ich euch alle aus dem  Hospital raus. Wenn ihr nicht laufen könnt, könnt ihr ja kriechen. Der Krieg  ist zwar vorbei, aber ihr Kerls seid noch immer im Heere. Vergesst das nicht.»
  Der Major  blickte die Reihen der Betten auf und ab. Er wandte sich auf den Hacken und  ging aus der Tür. Der Saal war still. Draußen pfiffen die Sirenen, Glocken  läuteten, und dann und wann hörte man singen.
2
Der  Schnee schlug gegen die Fensterscheiben und fiel auf das Zinndach des  Vorgebäudes, das am Hospital stand.
  Andrews  malte sich aus, dass er schnell durch die Straßen ginge, den Schnee im Gesicht,  und das Leben der Stadt verwirrend um sich, Gesichter, die in der Kälte auf  ihn zukamen, helle Augen unter Huträndern, die ihn einen Augenblick ansahen,  weiche Formen von Frauen, die undeutlich den Umriss der Brüste und Hüften  vermuten ließen. Er dachte nach, ob er je wieder frei sein werde, nach Belieben  durch die Straßen der Städte zu gehen. Er streckte die Beine aus; seltsam steif  und zitternd waren sie. Aber es waren nicht die Wunden, die sie so schwer  erscheinen ließen. Es war die Stagnation des Lebens um ihn herum, die in alle  Ritzen seines Bewusstseins einströmte, so dass er sie nie wieder abschütteln  konnte, die Stagnation staubiger, zerbrochener Automaten, die alles eigene  Leben verloren hatten, deren Glieder so lange gedrillt worden waren, dass  keine eigenen Bewegungen übrig geblieben waren, die jetzt dasaßen, schlaff,  welk, versunken in Langeweile und auf Befehle wartend.
  Andrews  wurde plötzlich aus seinen Gedanken gerissen. Er hatte die Schneeflocken in  ihrem Tanze vor der Fensterscheibe beobachtet. Da hörte er, wie irgend jemand  seine Hände aneinander rieb. Er schaute auf. Ein kleiner Mann mit Pausbacken  und stahlgrauem Haar, das fest an seinem Schädel aufgekämmt war, stand am  Fenster, rieb seine kleinen, fetten, weißen Hände gegeneinander und gab bei  jedem Atemzug ein Schnauben von sich. Andrews bemerkte, dass der Mann ein  Geistlicher war.
  «Sie  sehen schon ganz gut erholt aus, mein Freund», sagte eine singende  Geistlichenstimme.
  «Nehme  schon an, dass ich's bin.»
  «Herrlich,  herrlich. Aber würden Sie nicht hier mit eintreten?»
  Er folgte  Andrews und sprach in predigendem Tone:
  «Wir  wollen ein kleines Gebet sprechen, und dann will ich euch, Jungens, einige  interessante Dinge erzählen.»
  Die  Soldaten schlenderten langsam in das Zimmer, setzten sich auf die Stühle und  waren nach einigem Plaudern ruhig. Einige verließen das Zimmer, und andere  kamen auf Zehenspitzen herein und setzten sich in die erste Reihe. Andrews sank  in einen Stuhl in verzweifelter Resignation, vergrub seinen Kopf in den Händen  und starrte auf den Boden vor seinen Füßen.
  «Leute»,  hub die Stimme des Mannes an, «ich will euch Hochwürden Dr. Skinner  vorstellen, der», die Stimme des Mannes bebte plötzlich vor tiefer patriotischer  Rührung, «gerade von dem Okkupationsheer zurückkehrt.»
  Bei dem  Wort «Okkupationsheer» klatschten sie alle, als ob eine Feder berührt worden  sei und schrieen «hoch».
  Ehrwürden  Dr. Skinner schaute sich die Versammlung mit lächelndem Vertrauen an und erhob  die Hände um Schweigen, so dass man seine dicken, rosigen Handflächen sehen  konnte.
  «Zuerst,  meine lieben Freunde, lasst uns einen Augenblick im stillen Gebet unserem  Schöpfer danken.»
  Seine  Stimme hob sich und fiel, als ob er wie gewöhnlich vor seiner Gemeinde  gutgekleideter und gutgenährter Menschen spräche.
  «... weil Er uns Sicherheit gewährte  und die Beruhigung unserer Betrübnisse, und lasset uns beten, auf dass Er uns  gesund an Körper und rein im Herzen unseren Familien, unseren Frauen, Müttern  und denen, die voller Sorge auf unsere Rückkehr warten, wiedergebe. Und dass  wir den Rest unseres Lebens im treuen Dienst unseres großen Vaterlandes  verbringen werden, für dessen Sicherheit und Ruhm wir unsere Jugend als  williges Opfer geboten haben... Lasset  uns beten.»
  Schweigen  überzog den Raum. Andrews konnte das selbstbewusste Atmen der Männer um ihn  hören und das Rascheln des Schnees auf dem Zinndach. Nach einer langen Pause  begann die Stimme wieder in singenden Tönen:
  «Vater  unser, der du bist im Himmel...  Amen!»
  Nach dem  Amen erhoben alle den Kopf, freudig. Man räusperte sich, Stühle wurden  gerückt. Man setzte sich zurecht, um zuzuhören.
  «Jetzt,  meine Freunde, will ich euch in kurzen Worten einen kleinen Blick in  Deutschland hinein tun lassen, so dass ihr euch vorstellen könnt, wie unsere  Kameraden von der Besatzungsarmee es sich unter den Hunnen bequem machen. Ich  speiste zu Weihnachten in Koblenz. Was haltet ihr davon? Nie hätte ich gedacht,  dass ich Weihnachten nicht zu Hause und bei meinen Lieben sein werde. Aber  noch unerwartetere Dinge passieren doch auf dieser Welt! Weihnachten in  Koblenz unter der amerikanischen Flagge!»
  Er hielt  einen Augenblick an, um das Ende des einsetzenden Klatschens abzuwarten.
  «Der  Truthahn war fein, kann ich euch nur sagen. Ja, unseren Jungens in Deutschland,  denen geht es sehr gut. Sie warten nur auf den Augenblick, um, wenn nötig,  ihren glorreichen Vormarsch nach Berlin fortzusetzen. Denn es tut mir leid,  Jungens, sagen zu müssen, dass die Deutschen den von uns erhofften Sinneswechsel  nicht vollzogen haben. Sie haben allerdings den Namen ihrer Institutionen  verändert, aber den Geist haben sie nicht verändert... Welch' schwere Enttäuschung für unseren großen Präsidenten,  der sich so bemüht hat, den Deutschen Vernunft beizubringen, ihnen Verständnis  dafür einzuflößen, welche Schrecken sie allein und mit Absicht auf die Welt gebracht  haben. Doch wehe, sie sind noch weit davon entfernt. Sie versuchen mit  aufrührerischer Propaganda, die Moral unserer Truppen zu unterminieren» —  Ehrwürden Dr. Skinner erhob seine fetten, rosigen Hände und lächelte gütig —  «die Moral unserer Truppen zu unterminieren, so dass die strengsten  Verordnungen dagegen getroffen werden müssen. Ja, in der Tat, meine lieben  Freunde, ich fürchte, dass wir zu früh unseren siegreichen Vormarsch  eingestellt haben. Jetzt müssen wir wachsam und auf der Hut sein und die  Entscheidung der großen Männer abwarten, die in kurzer Zeit zur Konferenz in  Paris zusammenkommen werden... Lasset  mich, meine lieben Freunde, der Hoffnung Ausdruck geben, dass ihr bald von  euren Wunden genesen werdet, bereit seid, freudig Dienst zu tun in den Reihen  der glorreichen Armee, die noch für einige Zeit auf der Wacht sein muss, als  Amerikaner und Christen die Zivilisation zu verteidigen, die ihr so edel vor  einem ruchlosen Feinde gerettet habt...  Lasset uns singen.»
  Die Leute  standen auf, außer einigen, die keine Beine mehr hatten, und sangen den ersten  Vers der Hymne. Ehrwürden Dr. Skinner zog seine goldene Uhr heraus und machte  ein ärgerliches Gesicht.
  «Oh, ich  werde den Zug versäumen», murmelte er. Der Diensthabende half ihm in seinen  umfangreichen Mantel, und sie beide eilten zur Tür hinaus.
  «Der  hatte feine Gamaschen an», sagte der Mann ohne Beine, den man in einen Stuhl neben  dem Ofen gesetzt hatte.
  Andrews  setzte sich neben ihn, lachend. Es war ein Mann mit hervorstehenden  Backenknochen und mächtigen Kiefern, dessen hellbraune Augen und sanfte Lippen  seinem Gesicht einen Ausdruck großer Milde gaben. Andrews schaute nicht auf seinen  Körper.
  «Einer  hat gesagt, dass der vom Roten Kreuz kam und Zigaretten austeilen wollte... haben uns diesmal zum Narren gehalten»,  sagte Andrews.
  «Willst  du 'ne Zigarette haben? Ich habe eine», sagte der Mann ohne Beine; mit seiner  großen, bleichen, zusammengeschrumpften Hand hielt er ihm die Zigarette hin.
  «Danke.»  Als Andrews ein Streichholz anzündete, musste er sich über den Mann ohne Beine  beugen, um dem auch Feuer zu geben. Sein Blick glitt dabei an der Uniform des  Mannes herunter auf die Hosen, die leer vom Stuhl herabhingen. Ein kalter  Schauder durchfuhr ihn; er dachte an die Narben auf seinen eigenen Schenkeln.
  «Hast du  es auch in die Beine bekommen, Kamerad?» fragte der Mann ohne Beine ruhig.
  «Ja, aber  ich hatte Glück... Wie lange bist du  schon hier?»
  «Seitdem  Christus Korporal war. Zwei Wochen, nachdem wir zuerst an die Front kamen,  seitdem bin ich hier... das war am  16. November 1917...  habe nicht viel vom Krieg gesehen...  habe aber auch sicher nicht viel verpasst.»
  «Nein... Aber du hast trotzdem schon genug von  der Armee gesehen.»
  «Das ist  wahr... Der Krieg wäre vielleicht gar  nicht so schlimm, wenn es nicht wegen der Armee wäre.» «Du kommst bald nach  Hause, nicht?» «Vielleicht... wo  kommst du her?» «New York», antwortete Andrews.
  «Ich  komme von Cranston, Wisconsin. Kennst du das Land da? Viele Seen dort. Man kann  dort tagelang Kanu fahren. Es war eine schöne Zeit da... Haben wie die Wilden gelebt. Einmal habe ich eine Fahrt  gemacht, drei Wochen lang, ohne überhaupt ein Haus zu sehen. Bist du schon mal  so lange Kanu gefahren?»
  «Nein,  aber es muss sicher herrlich sein, tagelang im Kanu auf dem Wasser zu sein.»
  «Morgens,  wenn man aufwacht und die Decken abschüttelt, springt man gleich ins Wasser und  nimmt ein ordentliches Bad. Donnerwetter, ist das schön, zu schwimmen, wenn der  Morgennebel noch auf dem Wasser liegt und die Sonne gerade die Kronen der  Birken berührt... und nachdem man den  ganzen Tag gepaddelt hat und müde ist und sonnverbrannt ist bis unter die Füße,  dann um das Feuer sitzen mit irgendeinem Huhn, das man röstet und das Zischen  des Fettes im Feuer hören... Oh,  Junge!» Er dehnte seine Arme weit.
  «Dieser  verdammten kleinen Pfarrsau von vorhin hätte ich den Hals umdrehen mögen»,  sagte Andrews plötzlich.
  «So?» Der  Mann ohne Beine wandte seine braunen Augen Andrews mit einem Lächeln zu, «der  hat wahrscheinlich genau soviel Schuld wie irgendein anderer...  Diese Sorte gibt's sicher in  Deutschland auch.»
  «Glaubst  du etwa, dass wir jetzt der Welt die Demokratie erkämpft haben?» fragte Andrews  leise.
  «Wie  sollt' ich das wissen? Du hast sicher noch niemals einen
  Eiswagen  durch die Stadt geführt... aber ich  hab's getan, einen ganzen Sommer hindurch...  Das war ein Leben! Um drei Uhr in der Früh aufstehen und ein- oder zweihundert Pfund  Eis in die Eiskästen der Leute tragen. Das war ein Leben! Ich war mit einem  großen Norweger namens Olaf, das war der stärkste Kerl, den ich kenne. Und  trinken konnte der! Einmal putzte der in einer Tour fünfundzwanzig trockene  Martini-Cocktails herunter und schwamm mit den Cocktails im Magen über den See... ich war früher hundertundachtzig Pfund  schwer, und er konnte mich mit der einen Hand hochheben und mich über die  Schulter legen... Das war ein Leben!  Nachts spät ins Bett und morgens früh um drei heraus, frisch wie eine Katze.»
  «Was  macht dein Freund Olaf jetzt?» fragte Andrews.
  «Er starb  auf dem Transport hierüber... sie  haben ihn über Bord geworfen...  Willst du noch eine Zigarette?»
  «Nein,  danke», sagte Andrews.
  Sie  schwiegen. Das Feuer rohrte im Ofen. Keiner sprach ein Wort. Die Männer  streckten sich schlaftrunken in den Stühlen. Dann und wann spie einer aus.  Draußen vorm Fenster konnte Andrews weiche, weiße, tanzende Schneeflocken  sehen. Seine Glieder waren schwer; sein Bewusstsein war dumpf wie eine alte  Rumpelkammer, wo zwischen alten verrosteten Maschinenteilen und staubigen  Koffern haufenweise zerbrochenes Spielzeug liegt.
  Unten im  Büro, in einer von abgestandenem Bier und Zigarettenrauch stickigen Luft,  wartete Andrews lange Zeit, ungeduldig hin und her gehend.
  «Was  wollen Sie?» fragte ein rothaariger Sergeant, ohne von dem Haufen Papier auf  seinem Schreibtisch aufzusehen.
  «Ich  warte auf meine Reisepapiere.»
  «Sind Sie  nicht der Mann, dem ich sagte, er soll um drei Uhr wiederkommen?» «Es ist drei  Uhr.» «Hm.»
  Der  Sergeant sagte zu dem Mann an der Schreibmaschine, der sich langsam umwandte:  «Geh mal hinein und schau zu, ob der Leutnant die Papiere unterzeichnet hat.»
  Der Mann  stand auf, dehnte sich unschlüssig und schob sich durch eine Tür neben dem Ofen  hinaus. Der rothaarige Sergeant lehnte sich in seinem Armstuhl zurück und  steckte sich eine Zigarette an.
  «Zum  Teufel», sagte er gähnend. Der Mann mit dem Schnurrbart neben dem Ofen ließ  das Buch von seinen Knien auf den Boden rutschen und gähnte auch.
  «Dieser  verdammte Waffenstillstand nimmt einem alle Lust zum Arbeiten», meinte er.
  Der  andere kam zurück und sank in einen Stuhl vor der Schreibmaschine, die langsam  wieder zu ticken begann. Andrews machte ein scharrendes Geräusch auf dem Boden.
  «Na, was  ist mit den Reisepapieren?» fragte der rothaarige Sergeant.
  «Der  Leutnant ist nicht da», antwortete der andere von der Schreibmaschine.
  «Hat er  sie denn nicht auf seinem Tisch zurückgelassen?» rief der rothaarige Sergeant  ärgerlich.
  «Konnt's nicht  finden.»
  «Werde  wohl wieder selbst gehen müssen, danach schauen!»
  Der  rothaarige Sergeant stampfte aus dem Zimmer. Einen Augenblick später kam er mit  einem Bündel Papiere zurück.
  «Sie  heißen Johnes?» schnauzte er Andrews an. «Snivisky?»
  «Nein,  Andrews, John.»
  «Warum  haben Sie das nicht gleich gesagt?»
  Der Mann  mit dem Schnurrbart stand plötzlich auf. Ein demütig lächelnder Ausdruck  überzog sein Gesicht.
  «Guten  Tag, Hauptmann Higginsworth», sagte er freudig. Ein untersetzter Mann mit einer  Zigarre, die ihm aus dem breiten Munde heraushing, kam ins Zimmer. Wenn er  sprach, wackelte ihm die Zigarre im Munde. Er trug grünliche Glacehandschuhe,  sehr eng für seine großen Hände, und seine Gamaschen glänzten wie Mahagoni. Der  rothaarige Sergeant wandte sich um und grüßte lässig.
  «Sie  gehen wohl wieder zu 'nem Vergnügen, Herr Hauptmann?» fragte er.
  Der  Hauptmann grinste. «Sagt mal, Kerls, habt ihr hier ein paar  Rote-Kreuz-Zigaretten? Ich habe nur Zigarren. Man kann doch einer Dame keine  Zigarre anbieten.» Der Hauptmann grinste wieder. Ein verständnisvolles Kichern  ging durch das Zimmer.
  «Genügen  einige Päckchen? Ich habe welche hier», meinte der rothaarige Sergeant und  öffnete die Schublade seines Schreibtisches.
  «Sehr  fein.» Der Hauptmann ließ sie in seine Tasche gleiten und schwankte hinaus. Der  Sergeant setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, mit einem  wichtigtuerischen Lächeln.
  «Haben  Sie die Papiere gefunden?» fragte Andrews zage. «Ich soll den Zug um 4 Uhr 2 nehmen...»
  «Kann  nichts finden... Sagten Sie nicht,  Sie heißen Anderson?»
  «Andrews,  John Andrews.»
  «Da,  hier. Warum sind Sie nicht früher gekommen!»
Die  scharfe Luft des rauen Winterabends sprühte Andrews entgegen und ließ ein  Gefühl der Befreiung in ihn einströmen. Er ging mit schnellen Schritten durch  die grauen Straßen der Stadt. Hinter Fenstern glühten schon Lampen rötlich. Er  sagte immer wieder zu sich selbst, dass eine Epoche seines Lebens abgeschlossen  sei. Befreit fühlte er, dass er nie dieses Hospital oder irgendeinen Menschen  daraus wieder sehen würde. Er dachte an Chrisfield. Es war Wochen und Wochen  her, seit er wieder an ihn dachte. Jetzt stieg plötzliche Zuneigung zu dem  Jungen aus Indiana in ihm auf. Aber er wusste noch nicht einmal, ob Chrisfield  noch am Leben war. Eine wilde Freude ergriff ihn. Er, John Andrews, lebte! Was  kümmerte es ihn, wenn alle, die er kannte, starben! Es gab amüsantere  Gefährten, als er bisher gekannt, klügere Leute, als er bisher gesprochen,  stärkere Menschen, von denen er lernen konnte.
  Die kalte  Luft zirkulierte durch seine Nase und Lungen. Seine Arme dehnten sich stark und  kräftig. Er konnte die Muskeln seiner Beine fühlen, wie sie sich streckten und  zusammenzogen beim Gehen.
  Der  Wartesaal des Bahnhofes war kalt und stickig, voll von dem Geruch ausgeatmeter  Luft und unreiner Uniformen. Französische Soldaten in ihren langen, blauen  Mänteln schliefen auf den Bänken oder standen in Gruppen herum, aßen Brot und  tranken aus ihren Bechern. Eine Gaslampe in der Mitte strömte unklares Licht  aus. Andrews setzte sich in eine Ecke, verzweifelt und resigniert. Vier Stunden  noch musste er auf den Zug warten. Schon schmerzten ihn die Beine, und er  fühlte sich erschöpft. Die Freude, das Hospital verlassen und frei durch die  Straßen laufen zu können in der leuchtenden Abendluft, wich schnell einer  drückenden Verzweiflung. Sein Leben würde weiter diese Sklaverei unreiner  Körper sein, zusammengepfercht in Räume, wo die Luft schlecht war vom vielen  Atmen. Was bedeutete es nun, dass der Kampf aufgehört hatte! Die Armeen werden  fortfahren, Leben mit Leben zu zermalmen, Fleisch in Fleisch zu erdrücken.  Würde er je wieder frei dastehen können, wundervolle, fröhliche Stunden zu  erleben, welche ihn für all das Furchtbare, das er in dieser Tretmühle ertragen  musste, belohnen würden? Er hatte keine Hoffnung. Sein Leben würde weiter so  sein, wie dieser schmutzige, schlecht riechende Warteraum, wo Leute in  Uniformen in schmieriger Luft schliefen, bis man sie hinausbeordern würde, um  dann regungslos und endlos in Reihen zu stehen, wie Spielsoldaten, die ein Kind  in einer Dachstube vergessen hat.
  Andrews  stand plötzlich auf und ging hinaus auf den leeren Bahnsteig. Ein kalter Wind  blies. Irgendwo draußen, am Güterbahnhof, ließ eine Lokomotive laut Dampf ab,  und Wolken weißen Rauches zogen durch den schwach erleuchteten Bahnhof. Er ging  auf und ab, das Kinn in seinen Mantel vergraben und die Hände in den Taschen,  als jemand ihn anlief.
  «Oh, es  tut mir leid», sagte der Mann, ein Amerikaner, und sah Andrews forschend ins  Gesicht.
  «Tut nichts»,  meinte Andrews.
  «Trinken  wir einen zusammen», sprach der andere. «Bin ohne Urlaub fort. Wo gehst du  hin?»
  «Nach 'm  Nest in der Nähe von Bar-le-Duc, zurück zu meiner Division. War im Hospital.»
  «Lange?»
  «Seit  Oktober.»
  «Donnerwetter,  wollen 'nen Curacao trinken. Wird dir gut tun. Siehst blass aus. Heiße  Henslowe.»
  Sie  setzten sich an einen der ungewaschenen Marmortische.
  «Ich gehe  nach Paris», sagte Henslowe. «Mein Urlaub ist seit drei Tagen aus. Werd' nach  Paris gehen und mich da krank schreiben lassen wegen doppelseitiger  Lungenentzündung oder irgend 'ner anderen Geschichte. Dieses Heer ist ja langweilig.»
  «Hospital  ist auch um nichts besser», antwortete Andrews mit einem Seufzer, «obschon ich  niemals die Freude vergessen werde, als ich verwundet wurde und raus war.  Dachte damals, es genüge, um nach Hause geschickt zu werden.»
  «Ich  möchte keinen Augenblick dieses Krieges verpasst haben. Aber jetzt ist's  vorbei. Reisen ist heute das Schlagwort. War gerade zwei Wochen in den  Pyrenäen. Nîmes, Arles, Les Baux, Carcassonne, Perpignan, Lourdes, Gavarnie,  Toulouse. Was hältst du von einer solchen Reise? In was für 'ner Truppe warst  du?»
  «Infanterie.»
  «Das muss  ja die Hölle gewesen sein, nicht? Warum kommst du nicht mit mir nach Paris?»
  «Will  mich nicht erwischen lassen», stammelte Andrews.
  «Ach,  keineswegs. Kenne die Schliche. Musst nur von den Bahnhöfen wegbleiben, schnell  gehen und deine Schuhe immer ordentlich putzen, dass sie richtig glänzen. Und  außerdem bist du ja 'n kluger Kerl, was?»
  «Nicht so  schlimm... Wollen eine Flasche Wein  zusammen trinken. Kann man hier nichts zu essen kriegen?»
  «Es gibt  hier nichts Anständiges. Kann hier nicht aus dem Bahnhof rausgehen, weil ein  Militärpolizist draußen vor der Tür auf und ab geht... Aber man kann ja im Marseille-Express zu Abend essen.»
  «Aber ich  kann doch nicht mit nach Paris... » «Aber  sicher. Wie heißt du denn?» «John Andrews.»
  «Nun,  John Andrews, alles, was ich sage, ist: mach dir 'ne gute Zeit, trotz allem.»
  Er setzte  die Flasche so hart auf den Tisch nieder, dass sie zerbrach und der rote Wein  über den schmutzigen Marmor floss und glitzernd auf den Boden tropfte. Einige  französische Soldaten, die in Gruppen herumstanden, wandten sich um.
  «V'la un  gars qui gaspille le bon vin», schrie ein kleiner Mann mit rotem Gesicht und  langem, herabhängendem Schnurrbart.
  «Pour  vingt sous j'mangerai la bouteille», schrie ein kleiner Mann, schob sich  vorwärts und beugte sich trunken über den Tisch.
  «Gib  acht», sagte Henslowe. «Andrews, der sagt, er will die Flasche hier für einen  Franc auffressen...»
  Er legte  einen glänzenden Silberfranc auf den Tisch, neben die Reste der zerbrochenen  Flasche. Der Mann ergriff den Hals der Flasche mit einer schwarzen Hand, die  wie eine Klaue aussah. Er war unsagbar schmutzig, hatte einen langen Bart, der  wie von Motten zerfressen aussah, und rote Flecken auf den Backen. Seine  Uniform war voller Dreck. Als die anderen sich um ihn drängten und ihn davon  abzuhalten suchten, sagte er nur: «M'en fou, c'est mon metier» und rollte mit  den Augen, so dass das Weiße darin in dem schwachen Licht aussah wie die Augen  eines toten Dorsches.
  «Er will  das wirklich fressen!» schrie Henslowe.
  Die Zähne  des Mannes glitzerten und krachten dann auf die Ecken des Glases nieder. Es gab  ein entsetzliches, knackendes Geräusch. Er schwenkte den Flaschenhals.
  «Der frisst  das wirklich!» schrie Henslowe brüllend vor Lachen. «Und du fürchtest dich,  nach Paris zu fahren.»
  Eine  Lokomotive ratterte in den Bahnhof, dumpf zischend.
  «Das ist  der Zug nach Paris. Tiens!»
  Er drückte  den Franc in die schmutzstarrende Hand des Mannes.
  «Komm  mit, Andrews.»
  Als sie  den Raum verließen, hörten sie wieder das knackende Geräusch, da der Mann ein  anderes Stück der Flasche abbiss. Andrews folgte Henslowe über den  dampferfüllten Bahnsteig zur Tür eines Wagens erster Klasse. Sie kletterten  hinein; Henslowe zog sofort das schwarze Tuch über der Lichtglocke hinunter;  das Abteil war leer. Er warf sich mit einem Seufzer des Behagens auf die weiche  Polsterung des Sitzes nieder.
  «Aber was  nun?» stammelte Andrews.
  «M'en  fou. C'est mon metier», unterbrach ihn Henslowe.
  Der Zug  verließ die Station.
3
Henslowe goss  Wein aus einem braunen, irdenen Krug in die Gläser, in denen er hellrot  glitzerte. Andrews lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute mit  halbgeschlossenen Augen auf den Tisch mit seinem weißen Tischtuch, auf dem  kleine verbrannte Brotstückchen ausgestreut waren, und durch die Fenster auf  den Platz draußen, wo zitronengelbe Gaslampen spärliches Licht gossen, und auf  die dunklen Giebel der kleinen Häuser, die draußen herumhockten. An einem Tisch  an der Wand gegenüber saß ein lahmer Junge mit weißem, bartlosem Gesicht und  sanften, dunkelfarbigen Augen, nahe bei dem Mädchen, das um ihn war und das nie  die Augen von seinem Gesicht ließ. Ein Ofen summte leise in der Mitte des  Raumes, und aus der halboffenen Küchentür kam rötliches Licht und das Zischen  einer Bratpfanne.
  «Ich  möchte reisen», sagte Henslowe und dehnte die Worte schläfrig aus. «Abessinien,  Patagonien, Turkestan, Kaukasus, irgendwohin und überall hin. Was sagst du  dazu, wenn du und ich nach Neuseeland gingen und Schafe züchteten?»
  «Aber  warum nicht hier bleiben? Nichts kann so schön, so wundervoll wie das hier  sein.»
  «Ich  werde auf 'ne Woche nach Neuguinea fahren. Ich kann nirgendwo mehr bleiben. Es  ist mir jetzt im Blut, nach all diesem Mord. Der Krieg hat einen Wanderer aus  mir gemacht, einen Abenteurer.»
  «Gott,  ich wünschte, er hätte aus mir auch so was Interessantes gemacht.»
  «Binde an  deinen Skrupeln einen Felsen fest und schmeiß das Ganze von der Pont Neuf  hinunter in die Seine. Oh, Junge, das ist ja jetzt geradezu das goldene  Zeitalter, so nach eigenem Belieben leben zu können!»
  «Du bist  noch nicht aus der Armee raus?»
  «Meine  Sorge. Ich trete ins Rote Kreuz ein.»
  «Wie?»
  «Weiß  schon, wie das zu machen ist.»
  «Wenn du  mir sagst, wie ich aus diesem Heer rauskomme, wirst du mir wahrscheinlich das  Leben retten», sagte Andrews ernst.
  «Es gibt  zwei Wege. Aber ich werde dir später davon erzählen; sprechen wir über etwas  Wichtigeres. Du schreibst Musik?»
  Andrews  nickte und lehnte sich dann in seinen Stuhl zurück.
  «Es ist  wunderbar ruhig und weich hier», sagte er. «Man vergisst so leicht, dass es  überhaupt Freude im Leben gibt.»
  «Es ist  eine Zirkusparade.»
  «Hast du  schon etwas Trostloseres als eine Zirkusparade gesehen? Das ist einer jener  Witze, bei denen man nicht lachen kann.»
  «Justine, encore du vin», rief Henslowe. «So, du kennst ihren Namen?» «Ich lebe hier.»
  Justine  mit ihren roten Händen, die so viel Geschirr abgewaschen hatten, von dem  andere Leute gut gegessen hatten, setzte einen roten Hummer auf den Tisch  nieder.
  «Weißt  du», sagte Andrews plötzlich, schnell und erregt sprechend, während er sich  das unordentliche Haar aus der Stirn strich, «ich hätte nichts dagegen einzuwenden,  am Ende eines Jahres erschossen zu werden, wenn ich die ganze Zeit hier leben  könnte mit einem Klavier und einer Million Blatt Notenpapier... Es würde sich schon lohnen.»
  «Aber das  hier ist ja ein Platz, um zurückzukehren...  Stell dir nur vor... hierher  zurückkehren von dem tibetanischen Hochland, wo du fast ertrunken bist und  skalpiert wurdest und die Tochter eines afghanischen Häuptlings geliebt hast,  die sich die Lippen immer rot einschmierte, so dass ein süßer Geschmack blieb,  wenn man sie viel geküsst hat.»
  Henslowe  strich leicht über seinen kleinen, braunen Schnurrbart
  «Aber  welchen Wert hat es, die Dinge nur zu sehen und zu fühlen, ohne sie ausdrücken  zu können?»
  «Welchen  Wert hat es überhaupt zu leben? Nur um des Spaßes willen, Mann, verflucht noch  mal.»
  Sie  starrten beide schweigend aus dem Fenster in den Nebel, der sich dicht dagegen  gelagert hatte, wie Baumwolle, nur weicher und mit einer grünlich goldenen  Farbe.
  «Die  Militärpolizisten werden uns die Nacht nicht kriegen», sagte Henslowe und  schlug mit der Faust auf den Tisch. «Zum Donnerwetter noch mal. Erinnerst du  dich an den Mann, der die Weinflasche zerbiss? Der gab um nichts was. Und du  sprichst von Ausdrücken. Warum drückst du das nicht aus? Ich denke, das ist der  Wendepunkt deines Lebens. Das ließ dich ja nach Paris kommen. Du kannst es  nicht ableugnen.»
  Sie  lachten beide laut. Andrews versuchte, mit den blassen Violettaugen des lahmen  Jungen und den dunklen Augen des Mädchens Kontakt zu bekommen.
  «Wollen  ihnen davon erzählen», sagte er noch lachend, und sein Gesicht, das nach den  Monaten im Hospital noch immer blutlos war, rötete sich plötzlich.
  «Salut!»  rief Henslowe, wandte sich um und erhob das Glas. «Nous rions, parceque nous sommes  gris de vin gris!»
  Dann  erzählte er ihnen von dem Mann, der Glas gegessen hatte. Er stand auf und  erzählte gestenreich und langsam, mit seiner gedehnten Stimme. Und Justine  lächelte.
  «Und Ihr  lebt hier?» fragte Andrews, nachdem sie alle gelacht hatten.
  «Immer.  Nur selten gehe ich in die Stadt. Es ist so schwierig. Mein linkes Bein ist  ganz abgestorben!»
  Er  lächelte wie ein Kind, das von einem neuen Spielzeug erzählt.
  «Und du?»
  «Wie  könnte ich wo anders sein», antwortete das Mädchen. «Es ist ein Unglück, aber  es ist so.»
  Sie  schlug mit der Krücke auf den Boden und machte ein Geräusch, als ob jemand  damit ginge. Der Junge lachte und legte den Arm fester um ihre Schulter.
  «Ich  möchte gern hier leben», sagte Andrews einfach.
  «Warum  tun Sie es nicht?»
  «Aber  siehst du denn nicht, dass er Soldat ist?» flüsterte das Mädchen.
  Der Junge  runzelte die Stirn.
  «Er ist  es sicher nicht aus freien Stücken», meinte er.
  Andrews  schwieg. Unsagbare Scham ergriff ihn vor diesen Menschen, die nicht begreifen  konnten, dass man sich der Schmach des Soldatseins beugte.
  «Die  Griechen pflegten zu sagen», meinte er bitter und brauchte ein Wort, das ihm  schon lange im Sinn gelegen hatte, «dass, wenn ein Mann Sklave wird, er am  ersten Tage die Hälfte seiner Tugend verliert.»
  «Wenn ein  Mann ein Sklave wird», wiederholte der Lahme sanft, «verliert er am ersten Tage  die Hälfte seiner Tugend.»
  «Wozu  Tugend? Wir brauchen Liebe», sagte das Mädchen.
  «Ich habe  deine Tomaten gegessen, Freund Andrews», warf Henslowe ein, «Justine wird uns  noch welche geben.»
Draußen  hatte der Nebel alles ausgelöscht in gleichmäßige Dunkelheit, die stellenweise  in der Nähe der spärlichen Straßenlampen gelb und rot gefleckt war. Andrews  und Henslowe fühlten ihren Weg tastend die langen Treppenabsätze hinunter
  aus der  ruhigen Dunkelheit in das unruhige Licht und Geräusch bevölkerter Straßen  hinaus. Der Nebel stieg ihnen in die Kehle und strich an ihren Backen vorbei,  wie feuchte Hände.
  «Warum  sind wir von diesem Restaurant fortgegangen? Ich hätte noch gern etwas mehr mit  diesen Leuten gesprochen», sagte Andrews, «und wir hatten ja auch noch keinen  Kaffee getrunken.»
  «Aber  Mann, wir sind hier in Paris. Wir werden hier nicht lange bleiben. Wir können  uns das nicht leisten, lange Zeit an einem Ort zu bleiben. Schon bald Schluss.»
  «Der  Junge ist ein Maler. Er sagt, er lebt davon, Spielzeug anzufertigen. Hast du  gehört?»
  Sie  gingen schnell eine große, abschüssige Straße hinunter. Unter ihnen erschien  bereits der goldene Glanz eines Boulevards. Andrews fuhr fort zu sprechen, fast  zu sich selbst:
  «Oh, ein  wundervolles Leben müsste es sein, hier oben in einem kleinen Zimmer, von dem  aus man die große, graue Ausdehnung der Stadt überschauen kann, zu leben,  irgendeine absurde Arbeit, von der man existieren kann, zu haben, und alle  freie Zeit mit Arbeiten und Konzertbesuchen ausfüllen. Eine ruhige, weiche  Existenz... Denke an mein Leben  früher. Sklavenarbeit in diesem eisernen, metallenen, ehernen New York,  Artikel über Musik in der Sonntagszeitung schreiben müssen, Gott, und dies... »
  Sie  setzten sich an einen Tisch in einem lärmenden Cafe.
  «Möchtest  du das nicht abstreifen?»
  Andrews riss  an seiner Uniform mit beiden Händen:
  «Oh, ich  möchte diese Knöpfe über das ganze Cafe fliegen lassen, die Likörgläser  zerschmettern, diesen Dandies von französischen Offizieren ins Gesicht, die so  stolz über sich selbst aussehen, dass sie lange genug am Leben geblieben sind,  um siegreich zu sein.»
  Der  Kellner war ein feierlicher Mann mit einem Bart, der nach dem Vorbild des  Premierministers geschnitten war. Er kam mit einer Flasche, die er vor sich  hielt und wie religiös erhob. Er spitzte die Lippen mit dem Ausdruck demütigen  Zuvorkommens und goss die weiße, glänzende Flüssigkeit in die Gläser. Als er  geendet hatte, hielt er die Flasche auf mit einer tragischen Geste. Nicht ein  Tropfen kam heraus. «Es ist das Ende der guten, alten Zeiten!» sagte er.
  «Nieder  mit den guten, alten Zeiten!» sagte Henslowe. «Ich bin für die guten neuen  Zeiten, die wie Zirkusparaden sind!»
  «Ich weiß  nicht, für wie viele Leute wohl deine Zirkusparaden gut sind», sagte Andrews.
  «Wo wirst  du die Nacht verbringen?» fragte Henslowe.
  «Weiß  nicht. Werde wohl schon ein Hotel oder so was Ähnliches finden.»
  «Komm  doch mit mir und besuche Berte. Die hat sicher Freunde.»
  «Ich will  allein umhergehen. Nicht, dass ich Bertes Freunde verachte», meinte Andrews.  «Aber ich sehne mich so nach Einsamkeit.»
konnte.
  Die  Lichter flammten auf und verblassten, glühten und verblassten, wie er  weiterschritt, und manchmal konnte er sogar die nackten Zweige von Bäumen  erkennen, in den Lichtstreifen der Lampen. Der Nebel liebkoste ihn beruhigend,  und Schatten schnellten an ihm vorbei, ließen ihn die sanften Kurven von Wangen  und aus dem Nebel und der Dunkelheit heraus glänzende Augen erkennen.  Freundliche, vertraute Menschen schienen den Nebel bevölkert zu haben. Das  ferne Murmeln der Stadt traf auf sein Ohr wie der Laut von Freundesstimmen.
  Von dem Mädchen  an einem Kreuzweg, singend unter den Lampen der Strasse und Rosen zerpflückend ...  all die Wünsche deiner Phantasie... 
  Das  murmelnde Leben um ihn herum setzte sich in lange,
  modulierte  Sentenzen um, Sentenzen, die ihm ein Gefühl ruhigen Wohlseins gaben, als ob er  auf ein Basrelief schaue, das tanzende, aus Porzellan geformte Menschen in  irgendeiner attischen Werkstatt darstellt.
  Einmal  blieb er stehen und beugte sich eine Weile gegen den mit Feuchtigkeit  behangenen Pfahl einer Laterne. Zwei Schatten formten sich beim Zugehen auf  ihn zu den Gestalten eines lahmen Jungen und eines barhäuptigen Mädchens, die  eng umschlungen waren. Der Junge hinkte ein wenig, und seine Sammetaugen  schauten sehnsüchtig aus. John Andrews war plötzlich voll pochender Erwartung,  als ob die beiden auf ihn zukommen würden und ihre Hände auf seine Arme legen  und irgendein Geheimnis von ungeheurer Bedeutung für sein Leben enthüllen  würden. Aber als sie in den vollen Schein der Lampe traten, sah Andrews, dass  er sich geirrt hatte. Es waren nicht der Junge und das Mädchen, mit denen er gesprochen  hatte.
  Er ging  eilig fort und tauchte in winklige Straßen unter, wo er über das holprige  Pflaster schritt und dann und wann durch das Fenster eines Ladens im Licht eine  Gruppe von Menschen erschaute, die ruhig am Tisch unter der Lampe saßen, oder  er blickte in eine Bar hinein, wo ein müder kleiner Junge mit schweren  Augenlidern und aufgerollten Ärmeln, die graue Arme sehen ließen, Gläser  abwusch, oder eine alte Frau, ein formloses Bündel schwarzer Kleider, den  Fußboden fegte. Aus Torbogen hörte er Sprechen und sanftes Lachen. Fenster  sandten von oben gelbe Strahlen von Licht durch den Nebel. In einem Torbogen  zeigte das vage Licht einer Lampe zwei Gestalten, die in enger Umarmung in eins  wuchsen. Als Andrews vorbeiging und seine schweren Armeestiefel laut auf das  nasse Pflaster schlugen, hoben sie ihre Köpfe langsam. Der Junge hatte Sammetaugen  und blasse, bartlose Wangen, das Mädchen war barhäuptig und blickte mit ihren  braunen Augen unablässig in das Gesicht des Jungen. Andrews' Herz schlug wie  wild. Endlich hatte er sie gefunden! Er machte einen Schritt auf sie zu und  ging dann schnell weiter, sich ganz im kühlen, verschwimmenden Nebel  verlierend. Wieder hatte er sich geirrt. Der Nebel wirbelte um ihn herum,  verbarg sehnsüchtige, freundliche Gesichter; Hände, bereit, seine zu  ergreifen, Augen, bereit, in seinen Blicken zu leuchten, Lippen, noch kalt vom  Nebel und ganz bereit, von seinen Lippen berührt zu werden: Von dem Mädchen an einem Kreuzweg, singend unter den Lampen  der Strasse... 
  Und er  ging fort, weiter, allein durch den treibenden Nebel.
4
Andrews  verließ die Station unwillig, zitterte in dem grauen Nebel, in dem die Häuser  der Dorfstraße und die Reihen der Motorlastzüge und die wenigen Gestalten der  französischen Soldaten, die in langen, formlosen Mänteln herumstanden, wie  dunkle, unbestimmte Flecken in dem wirren Dämmerlicht erschienen. Sein Körper  fühlte sich dumpf und stickig an von einer Nacht, die er in der warmen,  fettigen Luft eines überfüllten Eisenbahnabteils verbracht hatte. Er gähnte und  dehnte sich und stand unentschlossen in der Mitte der Straße, sein Gepäck auf  den Schultern. Außer Sichtweite, hinter der dunklen Masse des Stationsgebäudes,  pfiff eine Lokomotive, und ein Zug ratterte ab in die Ferne. Andrews horchte  auf den schwachen Rhythmus des Fahrens mit einem kranken Gefühl der Verzweiflung.  Es war der Zug, der ihn von Paris zurück zu seiner Division gebracht hatte.
  Er ging  ziellos eine Weile durch die Stadt, hoffte ein Café zu finden, wo er einige  Minuten sitzen könnte, um einen letzten Blick auf sich selbst zu werfen, ehe er  wieder in die fürchterliche Atmosphäre dieses Armeelebens untertauchen würde.  Nicht ein Licht zeigte sich. Alle Läden der kleinen Häuser waren geschlossen.  Mit missmutigen, unlustigen Schritten ging er die Straße hinunter, die man ihm  gewiesen hatte. Über ihm der Himmel klärte sich auf und zerstreute den Nebel,  der schwer über der Erde hing, nach allen Seiten in großen, undeutlichen  Wellen. Seine Schritte tönten hart auf dem gefrorenen Weg. Gelegentlich tauchte  aus dem Nebel die Silhouette eines Baumes am Wegrande auf, dessen Äste klar und  rötlich im Sonnenlicht standen.
  Andrews  sagte zu sich selbst, dass der Krieg vorbei sei und dass er in einigen Monaten  auf jeden Fall frei sein werde. Was machten ein paar Monate mehr oder weniger  schon aus! Aber diese
  Gedanken  wurde von der blinden Panik fortgeschwemmt, die über ihn hinwegging wie die  wilde Flucht aufgescheuchter Büffel. Da gab es keine Gegenargumente. Sein Bewusstsein  war so mit Revolte erfüllt, dass sein Fleisch schmerzte und ihm schwarze  Flecken vor den Augen tanzten. Einen Augenblick dachte er daran, ob er  vielleicht verrückt geworden sei. Enorme Pläne stiegen im Tumult seines Bewusstseins  auf und lösten sich dann plötzlich wie Rauch im Winde. Man muss fortlaufen, und  wenn man gefangen wird, Selbstmord begehen. Man muss eine Meuterei in seiner  Kompanie anfangen, durch seine Worte die Kameraden zur Raserei treiben, dass  sie den Gehorsam verweigern, dass sie die Offiziere auslachen, wenn diese  ihnen mit rotem Gesicht Befehle entgegenschreien; die ganze Division muss über  die froststarrenden Hügel fortmarschieren ohne Waffen, ohne Flaggen; alle  Soldaten, alle Armeen aufrufend, sich anzuschließen, weiter zu marschieren,  singend, um den Nachtmahr des Krieges aus dem Blut herauszulachen. Das Bewusstsein  des Menschen, in einem Blitzstrahl der Erleuchtung wird es wieder zum Leben  erwachen! Welchen Sinn hatte es, den Krieg zu beenden, wenn es weiter noch  Heere gab?
  Aber das  war ja alles Rhetorik. Sein Bewusstsein ertränkte sich in Rhetorik, um gesund  zu bleiben. Sein Bewusstsein spritzte Rhetorik aus wie ein Schwamm, um nicht  dem Irrsinn Antlitz in Antlitz gegenüberzustehen.
  Die ganze  Zeit tönten seine harten Schritte auf der gefrorenen Straße in seinen Ohren, brachten  ihn näher und näher zu der Stadt, wo die Division einquartiert war. Er  kletterte einen langen Hügel hinauf. Der Nebel wurde dünner um ihn und glänzte  im Sonnenlicht. Dann schritt er in der vollen Sonne über den Kamm eines Hügels,  den fahlen, blassgelben Himmel über sich. Hinter ihm und vor ihm füllte der  Nebel die Täler. In dem Tal zu seinen Füßen konnte er im Schatten des Hügels,  auf dem er stand, einen Kirchturm und einige Dächer sehen, die aus dem Nebel  wie aus einem Meer herausragten. Zwischen den Häusern riefen Signale zum  Essen. In der Dorfstraße traf Andrews einen Mann, den er nicht kannte und  fragte ihn, wo das Büro sei. Der Mann, der irgend etwas kaute, wies schweigend  auf ein Haus mit grünen Läden auf der gegenüberliegenden Seite der Straße.
  An einem  Pult saß Chrisfield und rauchte eine Zigarette. Als
  er  aufsprang, bemerkte Andrews, dass er die beiden Streifen des Korporals auf  seinem Ärmel hatte. «Hallo, Andy!»
  Sie  schüttelten sich warm die Hände.
  «Wie  geht's?»
  «Fein»,  sagte Andrews.
  Eine plötzliche  Bangigkeit überfiel ihn.
  «Du bist  jetzt Korporal. Gratuliere.»
  «Hm, hm,  schon 'nen Monat her.»
  Sie  schwiegen. Chrisfield saß wieder in seinem Stuhl.
  «Was für  'ne Stadt ist das hier?»
  «Das ist  'n Mistloch hier, dieser Schutthaufen. Ein richtiges Mistloch. Werden bald  weitermarschieren. Okkupationsarmee. Aber das hätte ich dir nicht sagen dürfen.  Sag's bestimmt nicht weiter.»
  «Wo liegt  unsere Abteilung?»
  «Du wirst  sie nicht wieder erkennen. Wir haben fünfzehn Neue.»
  «Gibt's  Zivilisten in der Stadt?»
  «Aber  sicher. Komm mit mir, Andy... Aber  warte noch 'n Augenblick. Dann werden wir um das Exerzieren rumkommen. Findet  seit dem Waffenstillstand jeden Tag statt. Haben Befehl gegeben, den Drill zu  verdoppeln.»
  Sie  hörten draußen eine Stimme, die Befehle ausschrie, und die enge Straße füllte  sich plötzlich mit dem Lärm von Stiefel, die im Gleichschritt auf dem Boden  klangen. Andrews blieb mit dem Rücken gegen das Fenster stehen. Irgend etwas in  seinen Beinen schien mit den anderen Beinen da draußen mitzugehen.
  «Da  marschieren sie ab», sagte Chrisfield. «Der Leutnant ist heute mit ihnen.  Willst du was zu essen?»
Die  Marketenderstube war leer und dunkel. Andrews saß an einem Klavier, ohne zu  spielen. Er dachte daran, wie er einst die ganze verkrampfte Einsamkeit seines  Lebens hatte ausdrücken wollen. Unbewusst, wie er daran dachte, hatten die  Finger der einen Hand einen Akkord gesucht, der auf dem verstimmten Klavier wie  ein Rasseln klang. «Gott, wie dumm», murmelte er laut und zog seine Hände weg.  Plötzlich begann er abgebrochene Bruchstücke von Dingen, die er kannte, zu spielen.  Er veränderte den Rhythmus willkürlich, mischte Fetzen von Ragtimes hinein,  plötzlich hörte er auf und begann im Ernst zu spielen. Hinter ihm ertönte ein  Husten, das einen künstlichen, diskreten Unterton hatte. Er spielte fort, ohne  sich umzusehen. Dann sagte eine Stimme: «Wunderbar, wunderbar.» Andrews wandte  sich um und sah in ein dreieckig geformtes Gesicht mit breiter Stirn und  hervorstehenden Augenbrauen.
  «Oh,  fahren Sie fort zu spielen, es ist schon Jahre her, dass ich Debussy nicht  gehört habe.»
  «Es war  nicht Debussy.»
  «So, es  war nicht Debussy? Es war trotzdem wunderschön. Fahren Sie fort. Ich werde hier  stehen und zuhören.»
  Andrews  fuhr einen Augenblick fort, zu spielen, machte einen Fehler, begann wieder,  machte denselben Fehler, schlug auf die Tasten mit den Fäusten und wandte sich  um.
  «Kann  nicht spielen», sagte er.
  «Oh, Sie  können, mein Junge. Wo haben Sie es gelernt? Ich würde eine Million Dollars  zahlen, um so spielen zu können wie Sie.»
  Andrews  sah ihn schweigend an.
  «Sie  kommen wohl gerade aus dem Hospital zurück?»
  «Ja.»
  «Sehen  Sie, wir müssen versuchen, uns richtig gut kennen zu lernen. Mein Name ist  Spencer Sheffield. Spencer B. Sheffield...   Und außer Ihnen und mir gibt es in der ganzen Division keine Seele, mit der  man sprechen kann. Es ist schrecklich, keine intellektuellen Leute um sich zu  haben. Sie kommen wohl aus New York?»
  Andrews  nickte.
  «Soso,  ich auch. Sie haben wahrscheinlich einige meiner Sachen im <Vain Endeavon  gelesen... Was, Sie haben nie den  <Vain Endeavor> gelesen? Sie haben wohl nicht viel in intellektuellen  Kreisen verkehrt? Kommt bei Musikern übrigens oft vor.»
  «Bin nie  in <Kreisen> herumgekommen. Und ich werde auch nie...»
  «Wir  werden die Sache schon in Ordnung bringen, wenn Sie nach New York zurückkommen.  Und jetzt setzen Sie sich nochmals ans Klavier und spielen Sie mir Debussys  Arabesque. Ich weiß, Sie lieben das ebenso wie ich. Aber zunächst, wie ist Ihr  Name?»
  «Andrews.»
  «Ihre  Leute kommen wohl aus Virginia?» «Ja.»
  Andrews  stand auf.
  «Dann  sind Sie mit den Penneltons verwandt?»
  «Vielleicht  bin ich auch mit dem Kaiser verwandt.»
  «Wissen  Sie, meine Mutter war ein Fräulein Spencer aus Spencer-Falls, Virginia, und  Ihre Mutter war ein Fräulein Pennelton, also sind Sie und ich Cousins. Ist das  nicht ein Zufall?»
  «Ja. Aber  ich muss wieder zu den Baracken zurück.»
  «Kommen  Sie öfters hierher!» rief Spencer B. Sheffield ihm nach. «Und klopfen Sie  zweimal an, damit ich weiß, wer es ist.»
  Vor dem  Hause, wo er einquartiert war, traf Andrews den neuen Sergeanten, der ihm einen  Brief übergab. Der Brief war von Henslowe.
  «Andy»,  begann der Brief, «ich habe endlich die Erlaubnis. Der Kursus beginnt am 15.  Februar. Reiche sofort ein Gesuch ein, an der Universität Paris irgend etwas  studieren zu können. Lüge zusammen, was Du kannst. Poussiere die Sergeanten,  Leutnants und ihre Freundinnen und Wäscherinnen. Dein Henslowe.»
  Sein Herz  hüpfte vor Aufregung. Andrews lief hinter einem Sergeanten her, an einem Leutnant  vorbei, ohne ihn zu grüßen.
  «Was soll  das heißen?» schnarrte der.
  Andrews  salutierte und stand stramm.
  «Warum  haben Sie mich nicht gegrüßt?»
  «Ich war  in Eile und sah Sie nicht. Ich habe Dringendes für die Kompanie zu erledigen,  Herr Leutnant.»
  «Sie brauchen  nicht zu denken, dass Sie aus der Armee raus sind, weil der Waffenstillstand  unterzeichnet ist! Rühren!»
  Andrews  salutierte. Der Leutnant grüßte.
  Er wandte  sich schnell auf den Hacken um und ging weg. Andrews erreichte den Sergeanten.
  «Sergeant  Coffin, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?»
  «Ich  hab's sehr eilig.»
  «Haben  Sie schon etwas davon gehört, dass man Erlaubnis kriegen kann, hier auf einer  französischen Universität zu studieren?»
  «Wird  nicht stimmen. Eine solche Mitteilung ist nicht eingegangen.»
  «Da  können Sie schon recht haben.»
  Die  Straße war dunkelgrau. Ein Gefühl entsetzlichster Hilflosigkeit überkam  Andrews. Verzweiflung und Rebellion stieg in ihm auf. Er hastete die Straße  hinunter, zu dem Gebäude, wo die Kompanie einquartiert war. Es war schon zu  spät zum Essen. Die graue Straße war leer. Ein Fenster strömte rötliches Licht  aus und warf auf die Mauer des gegenüberliegenden Hauses einen großen,  glühenden Schein.
  «Wenn du  mir nicht glaubst, frag den Leutnant...  Unsere Leute haben heißere Arbeit getan, als diese verdammten Trainschweine.  Nicht, Toby?»
  Toby war  gerade in das Cafe hereingekommen, ein großer Mann mit einem braunen  Bulldoggengesicht und einer Narbe auf der linken Wange. Er sprach langsam und  feierlich in südlichem Dialekt.
  «Denke  schon», war alles, was er sagte. Er setzte sich auf die Bank neben dem anderen  Manne, der fortfuhr:
  «Das will  ich meinen, dass du denkst... Ihr  Schipper habt keine Ahnung davon, was da los war.»
  «Schipper!»  Der Ingenieur schlug mit der Faust auf den Tisch. Sein mageres Gesicht, das  voller Pickel war, wurde wild-rot:
  «Wir  haben wahrscheinlich nicht halb so viel Gräben ausgehoben wie ihr  Infanteristen. Und wenn wir sie aushoben, krochen wir nicht rein und blieben  nicht darin wie verdammte, feige Kaninchen.»
  «Ihr  Kerls kommt nicht genügend nahe an die Front.»
  «Wie ihr  verdammten, feigen Kaninchen!» schrie der Ingenieur, und sein Pickelgesicht  verzerrte sich im Lachen. «Ist das vielleicht nicht wahr?»
  Er  schaute sich im Zimmer um, um seine Worte bestätigt zu bekommen. Die Bänke an  den beiden langen Tischen waren voll von Infanteristen, die ihn ärgerlich  anschauten. Das veranlasste ihn, seine Stimme ein wenig zu dämpfen.
  «Infanterie  ist verflucht notwendig. Gebe das zu. Aber wo würdet ihr Kerls sein, wenn wir  euch nicht die Telefonleitungen gelegt hätten!»
  «Im  Oregonwald, wo wir waren, mein Junge, da gab's keine Telefonleitungen. Wozu  braucht man Telefonleitungen, wenn man vorgeht. Schau her... Ich wette eine Flasche Cognac, dass  meine Kompanie mehr Verluste als deine hatte.»
  «Nimm die  Wette an, Joe!» warf Toby ein, ein plötzliches Interesse an der Unterhaltung  bekundend. «Gut, es sei.»
  «Wir  hatten fünfzehn Tote und zwanzig Verwundete», verkündete der Ingenieur  triumphierend.
  «Wie  schwer verwundet?»
  «Was  geht's dich an? Gib den Cognac her.»
  «Was  mich's angeht? Zum Teufel, wir hatten auch fünfzehn Verwundete und zwanzig  Tote. Nicht wahr, Toby?»
  «Ich  denke schon, du hast recht», meinte der.
  «Hab ich  etwa nicht recht?» fragte der andere Mann und wandte sich an die Umsitzenden.
  «Sicherlich!  Du hast recht!» schrieen verschiedene.
  «Dann  bleibt die Sache unentschieden», meinte der Ingenieur.
  «Nein»,  warf Toby ein. «Wir müssen die Verwundeten vergleichen. Der, der die  schlimmsten Verwundeten hat, bekommt den Cognac. Ist das etwa nicht fair?»
  «Sicher.»
  «Sieben  von uns wurden schon nach Hause geschickt!» brüllte der Ingenieur.
  «Von uns  acht! Nicht wahr?»
  «Sicher!»  grölten alle im Zimmer.
  «Wie  schlimm waren sie verwundet?»
  «Zwei von  ihnen waren blind», stellte Toby fest.
  «Das ist  nischt!» polterte der Ingenieur und sprang auf, als ob er beim Poker einen  Trick legen wolle. «Bei uns wurde einer ohne Arme und Beine nach Hause  geschickt, und drei bekamen Lungenschwindsucht vom Gas.»
  John  Andrews hatte in einer Ecke des Zimmers gesessen. Er stand auf.
  «Das ist  nischt! Das ist nischt! Einem unserer Sergeanten musste eine neue Nase  aufgepfropft werden...»
Die  Dorfstraße war voll tiefen Schlammes. Andrews wanderte auf und ab, ziellos.  Schließlich entschloss er sich, zu Sheffield zu gehen. Er klopfte zweimal an  und hoffte fast, es würde keine Antwort kommen. Sheffields winselnde, heisere  Stimme fragte: «Wer ist da?» «Andrews.»
  «Kommen  Sie nur herein. Sie wollte ich gerade sehen.»
  Spencer  Sheffield saß an einem kleinen Pult in einem Zimmer, dessen Wände aus  ungehobelten Brettern und einem kleinen Fenster bestanden. Hinter dem Pult  waren haufenweise Kekspackungen und Zigarettenschachteln aufgebaut.
  Andrews  sah sich nach einem Stuhl um.
  «Oh, ich  vergaß ganz, ich sitze ja auf dem einzigen Stuhl hier im Zimmer», sagte Spencer  Sheffield lachend.
  «Oh,  schon gut. Was ich Sie fragen wollte: wissen Sie etwas über...»
  «Kommen  Sie doch mit mir in mein Zimmer», unterbrach ihn Sheffield, «ich habe ein  nettes, kleines Zimmerchen mit einem offenen Feuer, gerade neben dem Zimmer von  Leutnant Bleezer... und da werden wir  über alles sprechen... Ich sterbe  fast vor Ungeduld, mal mit jemand über geistige Dinge zu reden.»
  «Wissen  Sie etwas davon, dass Leute ausgesucht und auf französische Universitäten  geschickt werden sollen?»
  «Oh, das  ist ja ein fabelhafter Plan. Es gibt in der ganzen Welt nur eine einzige  amerikanische Regierung, Junge, keine andere würde an so was denken.»
  «Aber  haben Sie eigentlich etwas davon gehört?»
  «Nein;  aber ich werde sicher was davon hören...  würden Sie vielleicht das Licht anknipsen?...   So, nun folgen Sie mir... wir können  jetzt ein schönes Gespräch miteinander haben. Sie müssen mir alles erzählen.»
  «Aber  wissen Sie denn wirklich nichts über die Universitätsahngelegenheit? Man sagt,  der Kursus soll schon am fünfzehnten Februar beginnen», begann Andrews wieder  mit leiser Stimme.
  «Ich  werde Leutnant Bleezer fragen, ober etwas davon weiß», sagte Sheffield  beruhigend, legte einen Arm vertraulich um Andrews Schulter und schob ihn in  die Tür hinein. Sie gingen durch einen dunklen Flur in ein kleines Zimmer, wo  ein Feuer leuchtend im Herd brannte und einen viereckigen schwarzen Tisch aus Walnussholz  und zwei leere Lehnstühle, die mit Leder gepolstert waren, flackernd erhellte.
  «Sind Sie  schon lange in Frankreich?» fragte Andrews und ließ sich in einen der Stühle am  Feuer nieder. «Wollen Sie rauchen?» Er bot Sheffield eine verkrumpelte  Zigarette an.
  «Nein,  danke, ich rauche nur Spezialsorten. Ich habe ein schwaches Herz. Deswegen  wurde ich auch bei der Armee nicht angenommen. Aber dass Sie Soldat geworden  sind, das ist herrlich von Ihnen. Es war immer mein Traum, das zu tun, mich in  diesen namenlosen, marschierenden Zug einzureihen.»
  «Ich  meinerseits denke, es war verdammt närrisch, um nicht zu sagen,  verbrecherisch», meinte Andrews dumpf, indem er lange in das Feuer starrte.
  «Das kann  nicht Ihr Ernst sein. Oder meinen Sie etwa, dass Sie Fähigkeiten hätten, die  für Ihr Vaterland in einer anderen Stellung wertvoller gewesen wären?... Ich  habe viele Freunde, die so fühlten.»
  «Nein... Ich glaube, dass es unrecht von einem  Menschen ist, sich selber zu betrügen...  Ich glaube, dass diese Menschenschlächterei keinen Sinn hat... Ich habe so gehandelt, als ob ich  glaubte, sie habe einen Sinn... aus  Nachlässigkeit oder Feigheit...   Eines oder das andere... das ist  schlecht.»
  «Sie  müssen nicht so sprechen», sagte Sheffield eilig. «Sie sind also Musiker, nicht  wahr?» Er fragte diese Frage mit einem heiter-vertraulichen Ausdruck.
  «Pflegte  früher ein wenig Klavier zu spielen. Wenn Sie das meinen...» sagte Andrews. «Aber ich muss jetzt gehen. Wenn Sie etwas  von der Universitätsahngelegenheit hören, benachrichtigen Sie mich bitte.»
  «Aber gewiss,  mein Lieber, gewiss.»
  Sie  schüttelten sich die Hand und Andrews stolperte den dunklen Gang hinunter zur  Tür. Als er in der rauen Nachtluft stand, sog er den Atem tief ein. Im Licht,  das aus einem Fenster herauskam, sah er auf seine Uhr. Es war noch Zeit, zum  Büro des Regimentssergeanten zu gehen.
  Das Regimentsbüro  befand sich in einem großen Zimmer, das einst mit düsteren und schlecht  gemalten Bildern in der Art von Puvis de Chavannes geschmückt war, aber die  Wände waren von den fünf Jahren militärischer Benutzung so zerkratzt und  beschmutzt, dass überhaupt nichts mehr von den Bildern erkennbar war.
  Das Büro  war fast leer. Die mit Papieren aller Art bedeckten Schreibtische und die  schweigenden Schreibmaschinisten verliehen dem Zimmer ein seltsames Aussehen  völliger Trostlosigkeit. Andrews ging kühn an den nächsten Schreibtisch heran.  Hinter dem Tisch saß zusammengekauert über einem Haufen von Papieren ein  kleiner Mann mit wenigen gelblichen Haaren, der seine Augen zu Andrews  hinaufschraubte, als dieser an seinen Tisch herantrat.
  «Na, hast  du mir die Sache in Ordnung gebracht?» fragte er.
  «Welche  Sache?» erwiderte Andrews.
  «Oh, ich  dachte, du wärst ein anderer.» Das Lächeln verließ die dünnen Lippen des  Offiziers. «Was willst du eigentlich?»
  «Können  Sie mir sagen, was man in der Universitätsahngelegenheit tun kann? Wo man das  Gesuch einreichen kann?»
  «Gesuch,  Gesuch! Was geht mich Ihr Gesuch an. Wer hat Ihnen denn eigentlich gesagt, hierher  zu kommen und mich damit zu belästigen?»
  Andrews  verließ das Zimmer. Plötzlich erhob er die Augen und sah vor sich einen Mann,  der ihm schon vorhin im Regimentsbüro aufgefallen war.
  «Welche  Universität haben Sie besucht?» fragte der ihn unvermittelt.
  «Harvard.»
  «Harvard... Ich komme aus dem Nordwesten. Sie  wollen also hier in Frankreich zur Universität gehen, wenn möglich. Ich auch.»
  «Wollen  Sie nicht mitkommen und was trinken?»
  Der Mann  zog die Brauen zusammen, setzte seine Mütze fest auf den Kopf und sah sich  geheimnisvoll um. «Ja», sagte er. Sie patschten zusammen die schlammige  Dorfstraße hinunter.
  «Ich  heiße Walters. Wie heißen Sie?» Er sprach leise, kurz und abgerissen.
  «Andrews.»
  «Andrews,  Sie dürfen über diese Sache nicht reden. Wenn jemand davon erfährt, sind wir  unten durch. Aber studierte Leute müssen zusammenhalten.»
  «Oh, ich  werde bestimmt nicht darüber reden», sagte Andrews.
  «Es ist  fast zu schön, um wahr zu sein. Der eigentliche Befehl ist noch nicht raus.  Aber ich habe ein Zirkular gesehen. Welche Universität wollen Sie besuchen?»
  «Sorbonne,  Paris.»
  «So ist's  richtig. Kennen Sie das hintere Zimmer bei der Baboon?» Walters bog plötzlich  zur Linken in eine Allee ein und brach durch eine Öffnung in einer  Hagedomhecke.
  «Man muss  Augen und Ohren offen halten, wenn man in dieser Armee etwas erreichen will»,  sagte er.
  Sie  setzten sich auf eine Bank, die um den Schornstein herumgebaut war.
  «Monsieur  désire?» Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm kam an sie heran.
  «Das ist  Babette! Ich nenne sie Baboon», sagte Walters mit einem kurzen Lachen.
  «Schokolade!»  rief Walters der Frau zu. Er wandte sich wieder an Andrews. «Jetzt wollen wir  mal über unsere Affäre reden. Wir müssen sofort ein Gesuch schreiben. Ich werde  das morgen mit der Schreibmaschine abschreiben lassen und Sie morgen Abend um  acht Uhr hier treffen und es Ihnen geben...,  dann unterschreiben Sie es sofort und geben es Ihrem Sergeanten, verstanden?»
  Die Frau,  diesmal ohne Kind, erschien in dem Dunkel des Zimmers mit einer Kerze und zwei  Schalen, aus denen Dampf stieg, in der Hand. Walters trank seine Schale  Schokolade in einem Zug aus, grunzte und fuhr zu sprechen fort:
  «Geben  Sie mir 'ne Zigarette, ja?... Sie  müssen aber die Geschichte verdammt schnell erledigen, denn sobald der Befehl  herauskommt, wird die ganze Division behaupten, sie habe die Universität  besucht. Woher wussten Sie eigentlich davon?»
  «Ein  Freund aus Paris...»
  «So, Sie  waren in Paris?» sagte Walters bewundernd, «ist es dort wirklich so, wie man  sagt? Diese Franzosen sind tatsächlich ganz unmoralisch. Schauen Sie sich mal  diese Frau da an. Die schläft mit jedem, ohne erst lange zu fragen. Hat auch  ein Kind.»
  «Wem muss  man eigentlich das Gesuch abgeben?»
  «Wahrscheinlich  dem Oberst. Sind Sie katholisch?»
  «Nein.»
  «Ich auch  nicht. Sehr schade. Haben Sie schon bemerkt, was im Hauptquartier der Division  getrieben wird? Das ist eine richtige Kathedrale. Gibt keinen einzigen  Freidenker... Aber ich werd's schon  schaffen... Wenn Sie mich auf der  Straße treffen, kennen Sie mich nicht, verstehen Sie?»
  «Gut.»
  Walters  eilte zur Tür hinaus. Andrews saß allein, schaute auf die flackernden kleinen  Flammen, die aus dem Herd herauszüngelten und schlürfte seine Schokolade aus  der warmen Schale, die er zwischen den Handflächen hielt. Er erinnerte sich an  eine Rede aus irgendeinem sehr schlechten romantischen Stück, das er gesehen  hatte, als er noch sehr klein war: «Über euren Köpfen schwinge ich das Kreuz  von Rom.» Er begann zu lachen und rutschte auf der glatten Bank hin und her.  Die Frau stand mit ihrem roten Gesicht und den Händen in die Hüften gestützt,  da, sah ihn an, erstaunt, während er lachte und lachte.
  «Mais  quelle gaité, quelle gaité», sagte sie immer wieder.
  Das Stroh  unter seinem Körper raschelte schwach bei jeder schläfrigen Bewegung, die  Andrews in seinen Decken machte. In einer Minute wird das Signal kommen, man  wird aufspringen müssen aus seinen Decken, seine Kleider anziehen und mit all  den anderen in der Dorfstraße antreten. Es konnte doch nicht sein, dass nur ein  Monat vergangen war, seit er aus dem Hospital zurückgekommen war. Nein, er  hatte schon ein ganzes Leben in diesem Dorfe verbracht, war jeden Morgen von  diesem Signal aus seinen warmen Decken herausgeschleppt worden, hatte zitternd  in Reih und Glied auf den Appell gewartet, in langer Linie sich aufgestellt zum  Essenholen, in langer Linie sich eingereiht, um die Essenreste in die Trankfässer  zu werfen, sein Geschirr in dem fettigen Wasser zu waschen, das hundert  andere vorher für ihr Geschirr benutzt hatten, war aufmarschiert zum Drill,  schlammige Straßen entlanggetrottet, von endlosen Zügen von Lastkraftfahrzeugen  bedreckt noch zweimal zum Essen angestanden, um schließlich von einem anderen  Signal wieder in seine Decken hineingezwungen zu werden, schwer zu schlafen mit  dem Geruch schweißiger wollener Kleidung, ausgeatmeter Luft und staubiger  Decken in den Lungen. In einem Augenblick wird das Signal jetzt kommen, ihn  sogar aus diesen elenden Gedanken herausreißen und ihn wie einen Automaten  herauswerfen in den Befehlsbereich anderer Männer. Kindische, trotzige Wünsche  stiegen in ihm auf. Wenn der Signalbläser doch sterben würde! Er konnte sich  ihn so gut vorstellen! Ein kleiner Mann mit einem breiten Gesicht und roten  Backen und einem kleinen rötlichen Schnurrbart und gebogenen Beinen, der auf  seiner Decke wie ein Kalb auf der Marmorplatte in einem Fleischerladen lag.  Welcher Unsinn! Es gab ja noch andere Signalbläser. Er wunderte sich, wie viele  solcher Signalbläser es wohl in dieser Armee geben mochte. Er konnte sie sich  alle vorstellen in schmutzigen, kleinen Dörfern, in steinigen
  Baracken,  in großen Lagern, wie sie ihren kleinen Messinghörnern einen vorbereitenden  Schlag geben, bevor sie ihre Backen aufblasen und einer Million — oder waren es  zwei oder drei Millionen Menschen? — das Leben stehlen und warme Körper in rohe  Automaten verwandeln, die geschäftig gehalten werden müssen, damit sie nicht  störrisch werden, bevor die Mordzeit wieder da ist. Das Horn tönte.
Nach dem  Dienst klopfte Andrews an Sheffields Tür an.
  «Was ist  los, Junge? Sie sehen ja aus, als ob es mit Ihnen zu Ende ginge», sagte  Sheffield und bat Andrews, einzutreten. Andrews hatte sich in einen Stuhl  fallen lassen und saß, mit seinem Gesicht in den Händen vergraben, schaute  durch die Finger auf das Feuer, plötzlich stand er auf und schrie schrill: «Ich  kann dieses Leben nicht mehr ertragen! Hören Sie! Keine überhaupt ausdenkbare  Zukunft ist dies wert! Wenn ich jetzt nach Paris kann — gut. Wenn nicht,  desertiere ich, und alles ist mir ganz gleich.»
  «Aber ich  habe Ihnen doch schon versprochen, alles zu tun, was ich kann.»
  «Gut.  Dann tun Sie es jetzt», unterbrach ihn Andrews brutal. «Wenn Sie wollen — ich  werde zum Oberst gehen und ihm erzählen, was für ein großer Musiker Sie sind.»  «Gehen wir jetzt zusammen!»
  «Es wird  aber sehr komisch aussehen, mein Lieber.» «Ist mir ganz gleichgültig. Sie  können mit ihm sprechen. Sie scheinen ja mit allen Offizieren gut Freund zu  sein.»
  «Sie  müssen warten, bis ich mich fertiggemacht habe», sagte Sheffield.
  «Gut, ich  warte.» Andrews ging auf und ab im Schlamm vor dem Hause, knallte mit den  Fingern vor Ungeduld, bis Sheffield herauskam. Dann gingen sie schweigend ab.
  «Warten  Sie jetzt eine Minute», flüsterte Sheffield, als sie an ein weißes Haus kamen,  wo der Oberst wohnte. Nach einigem Warten fand sich Andrews an der Tür eines  hell erleuchteten Schreibzimmers. Ein starker Zigarrengeruch quoll heraus. Der  Oberst, ein ältlicher Mann mit gütigem Bart, stand vor ihm mit einer  Kaffeetasse in der Hand. Andrews salutierte nach Vorschrift.
  «Man  erzählt mir, Sie seien ein guter Pianist. Schade, dass ich es nicht eher wusste»,  sagte der Oberst in freundlichem Ton. «Sie wollen nach Paris gehen, um dort zu  studieren?»
  «Zu  Befehl.»
  «Wie  schade, dass ich es nicht vorher wusste. Die Liste ist vollkommen fertig. Aber  vielleicht — im letzten Augenblick wenn niemand sonst gehen will. — Ich kann  mir immerhin Ihren Namen notieren.» Der Oberst lächelte gnädig und ging ins  Zimmer zurück.
  «Danke  verbindlichst, Herr Oberst», sagte Andrews und salutierte.
  Ohne ein  Wort zu Sheffield zu sagen, lief er fort, die dunkle Dorfstraße hinunter, in  sein Quartier.
Nachdem  Andrews eine Weile durch das Fenster in das Café «Braves Allies» hineingeschaut  hatte, ging er ein wenig die; Straße hinunter und starrte dann in derselben  Stellung in das «Repos des Poilus» hinein, wo ein großes Schild «American  spoken» das ganze Fenster einnahm. Zwei Offiziere gingen vorbei. Seine Hand  ging automatisch zum Gruß wie ein Signal. Es war schon dunkel. Nach einer Weile  sinnlosen Herumstehens empfand er die Kälte des Windes, der durch die Straßen  strich, zitterte und begann ziellos durch die Straßen zu wandern. Er bemerkte  Walters, der auf ihn zukam und wollte ohne ein Wort vorbeigehen, als Walters  ihn ansprach, ihm ins Ohr murmelte: «Komm zu Baboon», und mit seinen großen,  schnellen, geschäftsmäßigen Schritten weiterging. Andrews stand eine Weile  unentschlossen, mit gebeugtem Kopfe da, dann ging er die Allee hinauf und in  Babettes Küche. Das Feuer brannte nicht. Er starrte wie krank auf die graue  Asche, bis er endlich Walters Stimme neben sich hörte: «Ich habe alles für Sie  in Ordnung gebracht.»
  «Was  meinen Sie?»
  «Was ich  meine? Schlafen Sie, Andrews? Man hat einen Namen von der Schulliste  gestrichen. Das ist alles. Wenn Sie sich beeilen und keiner Ihnen zuvorkommt,  werden Sie in Paris sein, ehe Sie es wissen.»
  «Das ist  anständig von Ihnen, zu mir zu kommen und mir  das zu sagen.»
  «Hier ist  Ihr Gesuch», sagte Walters und zog ein Papier aus seiner Tasche. «Gehen Sie  damit zum Oberst, lassen Sie es ihn unterzeichnen, und dann springen Sie  hinüber zum Büro des Sergeanten...  Die Reisepapiere werden jetzt gerade ausgestellt. Auf Wiedersehen!»
  Walters  war verschwunden. Andrews war wieder allein und starrte auf die graue Asche.
  Plötzlich  sprang er auf und eilte zu den Stabsquartieren. Im Vorraum vom Büro des  Obersten wartete er eine lange Zeit, sah auf seine Stiefel, die dick vom  Schlamm beschmiert waren. «Diese Stiefel werden einen schlechten Eindruck  machen», sagte eine Stimme in ihm immer und immer wieder. Ein Leutnant wartete  auch auf den Obersten, ein junger Mann mit rosigen Backen und einer milchweißen  Stirn, der seinen Hut in der einen Hand hielt, mit ein Paar khakifarbenen  Handschuhen, und der sich immer mit der anderen Hand über sein helles, gutgebürstetes  Haar strich. Andrews fühlte sich schmutzig und übel riechend in seiner  schlechtsitzenden Uniform. Der Anblick dieses tadellos gekleideten jungen  Mannes in gutsitzenden Breeches, mit seinen manikürten Nägeln und sauber  polierten Gamaschen machte ihn wild. Er hätte mit ihm kämpfen mögen, beweisen,  dass er der Bessere sei, ihn niederdebattieren, ihn seinen Rang und sein  wichtigtuerisches Aussehen vergessen machen...   Der Leutnant war hineingegangen, um mit dem Obersten zu sprechen, Andrews  bemerkte, dass er irgendeine Karte, die an der Wand aufgehängt war, zu  studieren begonnen hatte.
  «Machen  Sie, dass Sie reinkommen», flüsterte ihm jemand zu, und er stand mit seiner  Mütze in der Hand vor dem Oberst, der ihn streng ansah und die Papiere, die er  auf dem Tisch liegen hatte, mit wichtigen Gesten befingerte. Andrews  salutierte. Der Oberst machte eine ungeduldige Bewegung.
  «Kann ich  mit Ihnen sprechen, Oberst, über mein Universitätsgesuch?»
  «Ich  nehme an, Sie haben Erlaubnis, zu mir zu kommen?» «Zu Befehl, nein.»
  Andrews  kämpfte verzweifelt um irgendein Wort, das er sagen konnte.
  «Nun,  dann werden Sie besser gehen und sich die Erlaubnis holen.»
  «Aber  Herr Oberst, es ist keine Zeit mehr. Die Reisepapiere werden gerade jetzt  ausgestellt. Man sagte mir, ein Name sei auf der Liste gestrichen worden.» «Zu  spät.»
  «Aber  Herr Oberst, Sie wissen ja gar nicht, wie wichtig das ist. Ich bin Musiker von  Beruf, und wenn ich nicht wieder üben kann, ehe ich entlassen werde, wird es  unmöglich sein, eine Beschäftigung zu finden...  Ich habe eine Mutter und eine alte Tante, die von mir abhängen; meine Familie  hat schon bessere Tage gesehen... Nur  wenn ich in meinem Beruf ein wirklich hervorragendes Niveau erreiche, kann ich  soviel verdienen, um sie erhalten zu können, und ein Mann in Ihrer Stellung,  Herr Oberst, müsste wissen, was auch nur einige wenige Monate Studien in Paris  für einen Pianisten bedeuten können.»
  Der  Oberst lächelte.
  «Lassen  Sie mich Ihr Gesuch sehen», sagte er.
  Andrews  händigte es ihm mit zitternder Hand aus. Der Oberst machte mit einem Bleistift  einige Bemerkungen in einer Ecke.
  «Falls  Sie das dem Sergeanten zur rechten Zeit geben können, gut und in Ordnung.»
  Andrews  salutierte und eilte ab. Ein plötzliches Gefühl des Ekels hatte ihn überkommen.  Er konnte kaum den wütenden Wunsch unterdrücken, dies Papier zu zerreißen.  «Gott, Herr, Herr, Herr», murmelte er zu sich selbst und lief den ganzen Weg zu  dem viereckigen isolierten Gebäude, wo das Regimentsgebäude war. Er blieb  keuchend vor dem Schreibtisch des Regimentssergeanten stehen. Der Sergeant sah  ihn forschend an.
  «Hier ist  ein Gesuch um Teilnahme an dem Universitätssemester in Sorbonne. Oberst Wilkins  sagte mir, ich solle zu Ihnen laufen, er wünsche sehr, dass es sofort erledigt  werde.»
  «Zu  spät», sprach der Regimentssergeant.
  «Aber der  Oberst sagte, es müsse gemacht werden.»
  «Kann  nichts mehr daran machen, zu spät», sprach der Regimentssergeant.
  Das  Zimmer und die Leute in Hemdsärmeln vor den Schreibmaschinen wirbelten um ihn  herum. Plötzlich hörte er eine Stimme hinter sich:
  «Heißt  der etwa Andrews, John?»
  „Woher  soll ich das wissen?« murrte der  Sergeant.
  «Weil ich  für den die Papiere schon ausgestellt habe. Ich weiß gar nicht, wieso.»
  Es war  Walters Stimme, sein Staccato und sein geschäftsmäßiger Ton.
  «Warum  wollen Sie denn mich dann damit belästigen? Geben Sie mir das Papier.»
  Der  Regimentssergeant nahm das Papier aus Andrews' Hand und sah flüchtig darauf.
  «Gut. Sie  reisen morgen, Eine Kopie des Befehls wird morgen früh bei Ihrer Kompanie  sein», brummte der Regimentssergeant.
  Andrews  sah auf Walters, als er hinausging. Doch der erwiderte seinen Blick nicht. Als  er wieder in der frischen Luft stand, stieg Verachtung in ihm auf, schneidender  als vorher. Die Wut über seine Erniedrigung trieb ihm Tränen in die Augen. Irgend  etwas in ihm schrie wie die Stimme jenes fluchenden Verwundeten unaufhörlich  wütende Schimpfworte; nachdem er eine Zeit gegangen war, hielt er plötzlich mit  geballten Fäusten an. Es war völlig dunkel, der Himmel war vom Monde hinter den  Wolken schwach erleuchtet. Als das Geräusch seiner Tritte erstarb, hörte er das  schwache Lispeln fließenden Wassers. Er stand still in der Mitte der Straße und  fühlte, wie alles in ihm langsam sich beruhigte. Er sagte einige Male leise zu  sich selbst: du bist ein Narr, John Andrews. Dann ging er langsam und voller  Gedanken zurück ins Dorf.
5
Andrews  fühlte einen Arm um seine Schultern.
  «Habe  dich wie verrückt gesucht, Andy», hörte er Chrisfields Stimme, die ihn aus der  Träumerei seines Gehens herausriss. Er konnte Chrisfields von Cognac schweren  Atem in seinem Gesicht fühlen.
  «Gehe  morgen nach Paris, Chris.»
  «Weiß  schon, Junge, weiß schon, deswegen will ich ja mit dir reden.»
  «Gut»,  meinte Andrews, «gehen wir zu Babette.» Chrisfield hing sich an seine Schulter  und ging schwankend
  neben  ihm. Er stolperte, und fast wären sie beide gefallen. Sie lachten, und lachend  traten sie in die dunkle Küche ein, wo sie die Frau mit dem roten Gesicht und  ihrem Baby neben dem Feuer sitzen fanden. Die Frau stand auf, und automatisch  mit dem Baby redend, ging sie, um Licht und Wein zu holen.
  Andrews  sah im Licht des Feuers in Chrisfields Gesicht. Seine Backen hatten die  kindliche Rundung verloren, an die sich Andrews noch so gut erinnerte, als sie  zuerst miteinander gesprochen und Zigarrenstummel vor den Baracken des Übungslagers  aufgefegt hatten.
  «Ich sage  dir, Junge, solltest mit uns nach Deutschland kommen...  In Paris gibt's nur Huren.»
  «Sieh,  Chris, ich will ja nicht wie ein König oder wie ein Sergeant oder wie ein  Generalmajor leben. Ich will leben, wie John Andrews.»
  «Was  willst du in Paris, Andy?»
  «Musik  studieren.»
  «Hm, wenn  ich eines Tages in'n Kino gehen werde und man das Licht anmacht, werd' ich wohl  meinen alten Freund Andy auf dem Klavier herumklopfen sehen.»
  «Vielleicht... Wie lange bist du schon Korporal,  Chris?»
  «Oh, ich  weiß nicht.» Chrisfield spie auf den Boden zu seinen Füßen. «Komisch, nich'? Du  und ich waren mal richtige Freunde.»
  Andrews  antwortete nicht. Chrisfield saß schweigend, seine Augen blickten starr ins  Feuer.
  «Ich habe  ihn erwischt... Es war so leicht...» sagte er plötzlich. «Habe ihn  erwischt, das ist alles.»
  «Du  meinst...?»
  Chrisfield  nickte: «Hm, hm, im Oregonwald», sagte er.
  Andrews  antwortete nicht. Er fühlte sich plötzlich sehr müde. Er dachte an alle die,  die er in Stellungen des Todes gesehen hatte.
  «Hätte  nie gedacht, dass es so leicht sei», murmelte Chrisfield.
  Die Frau  kam durch die Tür mit einer Kerze in der Hand. Chrisfield hörte plötzlich zu  sprechen auf.
  «Morgen  gehe ich nach Paris!» rief Andrews plötzlich brüllend aus. «Da hört das  Soldatsein für mich auf.»
  «In  Deutschland wird's schon Spaß geben, Andy, da kannst du dich drauf verlassen.  Der Sergeant sagte, wir gehen nach Kob... Wie heißt das Nest eigentlich?»  «Koblenz.»
  Chrisfield  goss ein Glas Wein ein, trank es in einem Zuge aus und wischte sich nachher den  Mund mit dem Rücken der Hand.
  «Erinnerst  du dich noch, Andy, wie wir beide Zigarettenstummel auf dem verdammten  Übungsfeld aufkehrten?» «Seitdem ist einige Zeit vergangen.» «Vielleicht werden  wir uns nicht wieder treffen.» «Warum nicht?»
  Sie  schwiegen wieder, starrten in das verglimmende Feuer.
  Im  unbestimmten Licht der Kerze stand die Frau, mit den Händen auf dem Leib, und  schaute sie starr an.
  «Wenn man  jetzt aus der Armee raus müsste, wüsste man gar nicht, was anfangen, nich',  Andy?»
  «Auf  Wiedersehen, Chris», sagte der nur und sprang auf.
  «Auf  Wiedersehen, Andy, alter Kerl! Werde den Wein bezahlen.»
  Chrisfield  winkte mit der Hand zu der Frau hinüber, die langsam im Schein der Kerze näher  kam. «Danke, Chris.»
  Andrews  schritt aus der Tür. Ein kalter, nadelartiger Regen fiel. Er schloss seinen  Rockkragen und lief die schmutzige Dorfstraße hinunter.
6
Hingestreckte  Körper in grauen Uniformen lagen über dem zarten, grünen Gras am Wegrande. Die  Kompanie war in Ruhe. Chrisfield saß auf einem Baumstumpf und spielte lässig  mit seinem Taschenmesser. Judkins lag ausgestreckt neben ihm.
  «Warum  zum Teufel werden wir hier geschliffen wie die Wilden, Korporal? Die glauben  wahrscheinlich, wir würden sonst das Gehen verlernen.»
  «Das ist  doch besser, als den ganzen Tag rumlungern und wünschen, zu Hause zu sein»,  sagte einer, der auf der anderen Seite saß und den Tabak in seine Pfeife mit  dicken Fingern hineinstopfte.
  «Das  macht einen geradezu krank, den ganzen Tag in Reihen herumtreten. Und diese  verfluchten Franzmänner, die einen immerzu anstarren!»
  «Die  lachen uns nur aus. Verdammt noch mal!» brach eine andere Stimme ein.
  «Werden  bald zum Okkupationsheer stoßen», sagte Chrisfield fröhlich. «Deutschland, das  wird ein richtiges Picknick sein.»
  «Weißt du  auch, was das heißt?» schrie Judkins und setzte sich plötzlich wieder ganz  aufrecht. «Weißt du, wie lange die Truppen in Deutschland sein werden? Fünfzehn  Jahre.»
  «Mensch,  so lange können sie uns doch nicht dort behalten!»
  «Die  können mit uns machen, was sie wollen. Wir müssen ihnen immer die Suppe  ausfressen. Ja, mit gebildeten Leuten wie Andrews oder Sergeant Coffin, da ist  das was anderes. Die können sich an Offiziere ranmachen, die poussieren, aber  alles, was wir können, ist salutieren und sagen: <Zu Befehl, Herr Leutnant,  ja> und <Zu Befehl, Herr Leutnant, nein> und sie auf uns rumreiten  lassen, wie sie wollen. Ist das etwa nicht so, Korporal?»
  «Hast  recht, Judkins, wir haben immer die Suppe auszufressen.»
  «Dieser  verdammte gelbe Hund, dieser Andrews, geht jetzt nach Paris und hat dort die  Universität frei und alles andere.» «Andy ist kein gelber Hund, Judkins.»
  «Warum  ging er dann bauchkriechend herum, wenn er mehr wusste als der Leutnant?»
  «Ist doch  kein gelber Hund», antwortete Chrisfield.
  «Trotzdem,  diese Kerls, die nach Paris gehen, die haben doch nicht einen Strich mehr  getan, als wir anderen... Ich habe  noch nicht ein einziges Mal Urlaub gehabt.»
  «Ach,  lassen wir das.»
  «Nein,  wenn wir einmal nach Hause kommen und die Leute wissen, wie man uns behandelt  hat, dann wird eine große Untersuchung kommen, das kann ich nur sagen», meinte  einer der Männer.
  «Es kann  einen geradezu verrückt machen... An  diese Leute in Paris zu denken, die jetzt mit Wein und Weibern sich die Zeit  vertreiben, wo wir hier stehen müssen und Gewehre reinigen und geschliffen  werden... Mit denen möchte ich mal  ins reine kommen.»
  Das  Signal tönte.
  «Antreten!»  schrie der Sergeant. «Achtung! Rechts um! Gradeaus! Marsch! Kerls, ihr habt immer  noch kein Mark in den Knochen! Bauch rein! Knochen grade! In Gruppen rechts  schwenkt! Marsch!»
  Die  Kompanie marschierte durch die schmutzige Straße ab. Ihre Schritte waren alle  gleich. Ihre Arme bewegten sich alle im selben Rhythmus. Ihre Gesichter hatten  alle denselben Ausdruck. Ihre Gedanken waren alle dieselben.
  Das  Tramp-Tramp-Tramp ihrer Schritte erstarb langsam auf dem Wege.
  Vögel  sangen zwischen knospenden Bäumen. Im frischen Gras waren noch die Spuren der  Soldaten zu sehen...
1
Andrews  und sechs andere Leute seiner Division saßen an einem Tisch draußen vor dem  Cafe gegenüber vom Gare de l'Este. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, eine  Tasse Kaffee in der Hand und sah auf die Steinhäuser im Umkreis mit den vielen  Baikonen. Dampf, nach Milch und Kaffee duftend, stieg ihm in die Nase, als er  einen Schluck aus der Tasse nahm. In seinen Ohren lärmte der Verkehr,  klapperten die Stöckel, während Menschen hastig auf dem feuchten Pflaster  vorübereilten. Eine Zeitlang achtete er nicht auf das, was die Männer, die mit  ihm dasaßen, sagten. Sie sprachen und lachten, aber ganz unwillkürlich wanderte  sein Blick an ihren Khakiuniformen und ihren kahnförmigen Mützen vorbei. Der  Geruch des Kaffees und des Nebels nahm ihn völlig gefangen. Ein bisschen rostbrauner  Sonnenschein fiel auf den Kaffeetisch und die dünne feuchte Kotschicht, die den  Asphalt bedeckte. Als er, vom Bahnhof weg, die Avenue entlangblickte, sah er  die Häuser, dunkelgrau, im Schatten eher grünlich und in der Sonne violett, in  den sanften Nebel der Ferne entschwinden. An den Baikonen schimmerten matte  Goldbuchstaben. Im Vordergrunde bewegten sich mit hastigen Schritten die  Passanten, die raue Morgenluft peitschte eine leichte Röte in ihre Wangen. Der  Himmel war von einem blassen rosigen Grau. Walters sagte gerade: «Das erste,  was ich überhaupt sehen will, ist der Eiffelturm.» «Warum willst du den sehen?»  fragte ein kleiner Sergeant
  mit  schwarzem Schnurrbart und Ringen unter den Augen, wie ein Affe.
  «Mensch,  weißt du denn nicht, dass die Welt mit dem Eiffelturm anfängt? Wenn es keinen  Eiffelturm gäbe, hätte man auch keine Wolkenkratzer bauen können.»
  «Und wie  steht's mit dem Flat-Iron-Gebäude und der Brooklynbrücke? Die wurden doch vor  dem Eiffelturm gebaut?» unterbrach der Mann aus New York.
  «Der  Eiffelturm ist die erste vollkommene Eisenkonstruktion in der ganzen Welt!»  wiederholte Walters dogmatisch.
  «Ich gehe  zuerst zu den Folies Bergere. Ich bin für die wilden Weiber.»
  «Lass die  wilden Weiber lieber in Ruhe, Bill», sagte Walters.
  «Ich  werde keine Frau anrühren», sagte der Sergeant mit dem schwarzen Schnurrbart.  «Habe in meinem Leben genug Weiber gesehen, und außerdem ist der Krieg ja  vorüber.»
  «Warte  nur, Kerl, bis dir so 'ne richtige Pariserin in Schussweite kommt... Da wirst du nicht mal warten, um dich  nach der nächsten Sanitätsstation zu erkundigen», sagte ein plumper, unrasierter  Mann, brüllend vor Lachen.
  «Na, wenn  man 'n bisschen vorsichtig ist, ist die Geschichte nicht so sehr gefährlich.»
  Ein  verwegen aussehender Mann mit dünnen Lippen und grünlichen Augen sprach vom  nächsten Tisch herüber.
  «War mit  Weibern überall hier in Frankreich und auch in Amerika und habe nie was  abgekriegt. Aber ich gehe nicht gleich mit dem ersten Mädel, das mir in die  Finger läuft. Habe noch nie einer einen roten Heller bezahlt und werde es auch  nie tun, bei Gott nicht.»
  Andrews  beachtete das Gespräch nicht mehr. Er starrte träumerisch durch  halbgeschlossene Augen die lange, große Straße hinunter. Er wollte allein  sein, nach seinem eigenen Belieben durch die Straßen wandern, Menschen  träumend anschauen und Dinge, Männer und Frauen wie im Zufall ansprechen, mit  seinem ganzen Leben in dieses nebelige, leuchtende Straßenleben versinken. Der  Geruch des Nebels erinnerte ihn an irgend etwas. Lange Zeit tastete er danach,  bis er plötzlich sich seines Diners mit Henslowe und der Gesichter des jungen  Mannes und des jungen Mädchens, mit denen er gesprochen hatte, erinnerte. Er musste  Henslowe sofort finden. Sekundenlang durchzuckte ihn ein heftiger Abscheu vor  all diesen Menschen rings um ihn. Himmel! Er musste sie loswerden. Er hatte  sich seine Freiheit schwer genug erkämpft. Nun wollte er sie bis zum Äußersten  genießen.
  «Ich  werde mich dir anschließen, Andy.»
  Walters'  Stimme zerschnitt seine Träumerei:
  «Du  solltest Dolmetscher werden.»
  Andrews  lachte.
  «Weist du  den Weg zur Schulabteilung des Hauptquartiers?» «Der R.T.O.(Anm.: Railway  Transport Officer.) hat mir gesagt, wir sollen die Metro nehmen.» «Ich gehe zu  Fuß», erwiderte Andrews. «Du wirst dich verirren.»
  «Keine  Bange — leider nicht», sagte Andrews und stand auf. «Wir treffen uns in der  Schulabteilung des Hauptquartiers — oder wie das Ding heißt... Bis dann!»
  «Werde da  auf dich warten, Andy!» rief Walters hinter ihm her.
  Andrews  schritt in eine Nebenstraße hinein. Er konnte sich kaum davon abhalten, laut zu  schreien, weil er nun endlich allein war, frei, mit Tagen und Tagen vor sich,  zu arbeiten und zu denken, und um endlich Schritt für Schritt seine Glieder von  den steifen Bewegungen des Heeresautomaten zu befreien.
  Der Straßengeruch  und der Nebel, undefinierbar scharf, zogen wie Weihrauch in phantastischen  Spiralen durch sein Hirn, machten ihn hungrig und schwindlig, machten seine  Arme und Beine geschmeidig und so lebensfreudig wie eine Katze, die zum Sprung  ansetzt. Seine schweren Stiefel tappten wie im Tanz unter seinen federnden  Schritten über das feuchte Pflaster. Er ging sehr rasch, blieb ab und zu  stehen, um das Grün, Gelb und Rot der Gemüse auf einem Karren zu betrachten,  um einen Blick in verwinkelte Gassen zu werfen oder in das üppig braune Dunkel  eines kleinen Weinladens, in dem Arbeiter an der Theke standen und Weißwein  tranken. Ovale, zarte Gesichter, bärtige Mannsgesichter, fast hagere Gesichter  junger Frauen, rote Knabengesichter, verrunzelte Altweibergesichter, in deren Hässlichkeit  all die Schönheit der Jugend und die Tragödie des gelebten Lebens auf eine  rührende Weise verborgen lagen: — die Gesichter der Menschen, an denen er vorüberkam,  fesselten ihn wie die Rhythmen eines Orchesters. Nachdem er lange so gegangen  war, stets die Straße wählend, die er am nettesten fand, kam er an ein Rondell  mit dem Standbild einer pompösen Figur auf einem sich bäumenden Ross. «Place  des Victoires», las er auf dem Schild, ein wenig belustigt. Mit einem  spöttischen Lächeln betrachtete er die heroischen Züge des Sonnenkönigs und  ging dann lachend weiter. «Damals haben sie sich besser aufs Grandiose  verstanden!» murmelte er vor sich hin. Und sein Vergnügen wurde doppelt so  groß, als er Schulter an Schulter neben den Menschen einherspazierte, deren  Abbilder niemals auf stolzierenden Rossen erscheinen würden — mitten auf  Plätzen, die dem Andenken großer Siege geweiht sind. Er gelangte zu einer  breiten schnurgeraden Avenue, wo er zahlreichen amerikanischen Offizieren  begegnete, die er grüßen musste, und Militärpolizei, und Läden mit breiten  Schaufenstern voller funkelnder, kostspielig aussehender Sachen... <Noch so ein klarer Fall von  Sieg!> dachte er, während er in eine Seitenstraße einbog und einen Blick auf  die bläulich-graue Masse der Oper mit ihren pompösen Fenstern und ihren  lampentragenden nackten Bronzedamen mitnahm.
  Er befand  sich in einer engen Gasse voller Hotels und eleganter Friseurgeschäfte, aus  denen kosmopolitische Parfumdüfte strömten, einer Gasse voller Kasinos,  Ball-Lokale und diplomatischer Empfangsräume. Ein amerikanischer Offizier trat  ein wenig schwankend auf ihn zu. Es war ein großer, ältlicher Mann mit rotem  Gesicht und einer Flaschennase. Er salutierte. Der Offizier hielt an, schwankte  von der einen Seite auf die andere und sagte in weinerlicher Stimme: «Söhnchen,  weißt du, wo die Henry-Bar ist?»
  «Nein,  Herr Major», antwortete Andrews, der sich in ein Gewölk von Cocktails  eingehüllt fühlte.
  «Hilf mir  suchen, Söhnchen, ja? Es ist schrecklich, dass ich sie nicht finden kann! Ich muss  Leutnant Trevors in der Henry-Bar treffen.»
  Der Major  hielt sich an Andrews' Schulter. Ein Zivilist kam an ihnen vorbei.
  «Dih-donc!»  rief der Major hinter ihm her. «Dih-donc, Mossjeh, ou ey Henrybar?»
  Der Mann  ging weiter, ohne zu antworten.
  «Ist doch  so'n richtiger Franzmann! Versteht noch nicht mal seine eigene Sprache!» sagte  der Major.
  «Aber da  ist die Henry-Bar, gleich hier über die Straße», meinte Andrews plötzlich.
  «Bon,  bon», stotterte der Major.
  Sie  gingen über die Straße und traten ein. Am Eingang zur Bar flüsterte der Major  in Andrews' Ohr, sich immer noch fest auf seine Schulter stützend: «Bin fort  ohne Urlaub, hm, hm, alle von der Flugabteilung sind fort ohne Urlaub. Willst  du einen mit mir trinken? Kümmert sich keiner drum... Die Demokratie hat die Welt erobert.»
  Andrews  setzte gerade seinen Cocktail an die Lippen, schaute amüsiert auf die Menge  amerikanischer Offiziere und Zivilisten, die sich in der kleinen Mahagonibar  zusammendrängten, als eine Stimme hinter ihm ausrief: «Donnerwetter noch mal!»  Andrews wandte sich um und sah Henslowes braunes Gesicht und kleinen, seidigen  Schnurrbart. Er überließ den Major seinem Schicksal.
  «Bin ich  aber froh, dich zu sehen! Hatte schon Angst, würdest es nicht schaffen», sagte  Henslowe und stotterte ein wenig.
  «Ich bin  fast verrückt vor Freude, Henry, bin gerade vor ein paar Stunden angekommen.»
  Sie  lachten, unterbrachen einander im Sprechen und redeten aufeinander ein in  abgebrochenen Sätzen.
  «Aber,  wie in Dreiteufelsnamen, bist denn du hierhergekommen?»
  «Mit dem  Major», erwiderte Andrews lachend. «Ach was!»
  «Ja, mit  dem Major», flüsterte Andrews seinem Freunde ins Ohr. «Er sah recht mitgenommen  aus, bat mich, ihn in Henrys Bar zu lotsen, und spendierte mir einen Cocktail  in memoriam der inzwischen selig entschlafenen Demokratie... Aber was machst denn du hier? Es ist  nicht gerade sehr — exotisch.»
  «Ich will  einen Mann aufsuchen, der mir sagen soll, wie ich mit dem Roten Kreuz nach  Rumänien kommen kann... Aber das hat  Zeit...»
  «Wollen  hier 'rausgehen», sagte Henslowe schließlich. «Gott, ich hatte schon Angst, du  würdest es nicht schaffen.»
  «Ich musste  auf dem Bauch kriechen und den Leuten die Stiefel lecken... Gott war das gemein... Aber nun bin ich hier!»
  Sie waren  wieder draußen auf der Straße, liefen und gestikulierten.
  «Libertad!  Libertad! Allons, ma femme! Wie Walt Whitman sagen würde», schrie Andrews.
  «Es ist  ein einziges großes und glorreiches Gefühl. Seit drei Tagen bin ich hier. Meine  Abteilung ist fort. Gott sei mit ihr.»
  «Aber was  hast du zu tun?»
  «Zu tun?  Nichts!» rief Henslowe aus. «Kein einziges, verdammtes Bisschen zu tun!»
  «Ja, es  hat eigentlich keinen Zweck, sich anzustrengen...  Das Ganze ist eine so große Schweinerei, dass man gar nichts ausrichten  könnte, auch wenn man wollte.»
  «Ich will  mich mit den Leuten in der Schola cantorum unterhalten.»
  «Da  kommst du noch lange zurecht. Die Musik wird dir nie etwas einbringen, wenn du  sie ernst nimmst.»
  «Außerdem  muss ich mir schließlich irgendwoher etwas Geld beschaffen.»
  «Endlich  ein vernünftiges Wort!» Henslowe zog eine braune Lederbrieftasche aus der  Innentasche seines Waffenrocks. «Monaco!» sagte er und klopfte auf die  Brieftasche, in die ein dunkelrotes Blumenmuster eingraviert war. Er schürzte  die Lippen, zog einige Hundertfrancscheine hervor und schob sie Andrews in die  Hand.
  «Gib mir  nur einen», sagte Andrews.
  «Alles  oder nichts...  Jeder reicht für etwa  fünf Minuten.»
  «Aber  dann muss ich so viel zurückzahlen.»
  «Zurückzahlen  — meine Güte!... Da, nimm und halt  den Mund! Wahrscheinlich werde ich nie wieder so viel Geld haben, also nütze  die Gelegenheit aus. Ich mache dich darauf aufmerksam — Ende der Woche ist es  futsch.»
  «Na  schön! Ich bin halb verhungert.»
  «Setzen  wir uns an den Boulevard und denken wir darüber nach, wo wir zu Mittag essen,  um Miss Libertad zu feiern... Aber so  wollen wir sie nicht nennen, es klingt fast wie Liverpool, Andy, ein  scheußliches Nest.»
  «Na, wie  wäre es mit <Freiheit!>», sagte Andrews, als sie sich im rötlich gelben  Sonnenschein auf Rohrstühlen niederließen.
  «Landesverrat... Ab mit dem Kopf!»
  «Aber  überlege es dir, Mann», sagte Andrews, «die Schlächterei ist vorbei, und du  und ich und auch alle anderen werden bald wieder Menschen sein. Menschlich —  allzumenschlich...»
  «Nicht  mehr als achtzehn Kriege im Gang», murmelte Henslowe.
  «Ich habe  seit einer Ewigkeit keine Zeitung gelesen...  Was meinst du damit?»
  «Überall  wird gekämpft, nur nicht im Westen», erwiderte Henslowe. «Aber da werde ich  mich einschalten. Das Rote Kreuz schickt Nachschubzüge, um den Leuten zu helfen... Wenn ich es durchsetzen kann, fahre ich  nach Russland.»
  «Und die  Sorbonne?»
  «Die  Sorbonne kann mir den Buckel runterrutschen.»
  «Aber,  Henny, ich falle tot um, wenn du nicht schnell mit mir essen gehst.»
  «Willst  du in einem pompösen Lokal mit rotem Plüsch oder mit lachsrosa Brokat speisen?»
  «Warum  denn überhaupt in einem pompösen Lokal?»
  «Weil  Pomp zum guten Essen gehört. Nur das fromme Restaurant bringt dem Bauch die  nötige Andacht entgegen. Ach, ich weiß schon, wir gehen nach <Brooklyn>  hinüber.»
  «Wohin?»
  «Rive  Gauche. Ich kenne jemanden, der darauf besteht, es <Brooklyn> zu nennen.  Ein sehr ulkiger Knabe — war noch nie in seinem Leben nüchtern. Du musst ihn kennen  lernen.»
  «Aber  gern... Es ist Gott weiß wie lange  her, dass ich jemanden kennengelernt habe — außer dir. Ich kann nicht leben,  ohne alle möglichen Typen um mich zu haben. Du?»
  «Du  brauchst dich nur umzuschauen. Serben, Franzosen, Engländer, Amerikaner,  Australier, Rumänen, Tschechoslowaken — mein Gott, gibt es denn eine Uniform,  die man hier nicht zu sehen bekäme?... Ich will dir was sagen, Andy, der Krieg  war großartig für Leute, die es verstanden haben, ihn auszunützen. Schau dir  bloß die Gamaschen an!»
  «Hoffentlich  wird man es auch verstehen, den Frieden richtig hinzukriegen.»
  «Na, das  wird noch das Beste vom Ganzen...  Komm! Seien wir leichtsinnig, nehmen wir ein Taxi.»
  «Ja, das  ist wirklich die Hauptstraße von Cosmopolis.»
  Sie  bahnten sich einen Weg durch die Menschenmenge voller Umformen, voller Gefunkel  und bunter Farben, die sich in zwei
  Strömen  zwischen den Cafes und den Stämmen der kahlen Bäume hin und her übers breite  Trottoir wälzte. Sie stiegen in ein Taxi ein und holperten in schnellem Tempo  durch Straßen, wo im dunstigen Sonnenschein Graugrün und Graublau sich mit  blauen und matten Reflexen vermischten wie die Farben im Brustgefieder einer  Taube. Sie kamen an den entlaubten Tuileriengärten vorbei, hatten an der  anderen Seite die großen Innenhöfe des Louvre mit ihren roten Mansardendächern  und den hohen Schornsteinen, und sahen eine Sekunde lang den Fluss, den  jadegrünen Fluss, und an den Kais die braun und gelblich gesprenkelten  Platanen, bevor sie sich in die schmalen, bräunlichgrauen Gässchen der alten  Viertel verirrten.
  «Das war Cosmopolis  — hier fängt Paris an», sagte Henslowe. «Momentan bin ich nicht wählerisch»,  rief Andrews vergnügt Der Platz vor dem Odeon war nur ein Flecken Weiß und die  Kolonnade ein verwaschenes Dunkel, während das Taxi um die Ecke fegte und am  Luxembourg entlangfuhr, wo hinter dem schwarzen Eisengitter viele braune und  rötliche Farben im verwickelten Muster entlaubter Zweige hier und dort den  Blick auf Statuen, Balustraden und in dunstige Fernen lenkten. Das Taxi hielt  mit einem Ruck.
  «Das ist  der Place de Médicis», sagte Henslowe. Am Ende einer ansteigenden Straße stand  die Kuppel des Pantheon und sah im Nebel recht flach aus. Mitten auf dem  Platz, zwischen gelben Trams und niedrigen grünen Bussen, lag ein stiller  Teich, in dem die horizontalen Schatten der Häuserfassaden sich spiegelten.
  Sie saßen  am Fenster und schauten hinaus auf den Platz. Henslowe bestellte beim Kellner.
  «Erinnerst  du dich, wie sentimental Geschichtsbücher von den Gefangenen zu erzählen  pflegen, die man nach Jahren aus ihren Löchern hinauslasst, die dann aber nicht  fähig sind, das auszuhalten und in ihre Zellen zurück wollen?» «Möchtest du  sole meuniére essen?»
  «Was du  willst! Aber am liebsten alles...  Aber lass es dir gesagt sein — es ist lauter dummes Zeug. Wirklich, ich glaube,  ich war im Leben noch nie so glücklich...  Weißt du, Henslowe, in mir ist irgend etwas, das sich davor fürchtet,  glücklich zu sein...»
  «Tu nicht  so morbid... Es gibt nur ein einziges  wirkliches
  Übel in  der Welt: irgendwo zu sein, ohne die Möglichkeit zu haben, wegzulaufen. Habe  Bier bestellt. Dies ist das einzige Lokal in ganz Paris, wo man ein anständiges  Bier bekommt.»
  «Und ich  werde mir jedes anständige Konzert anhören... Am Sonntag Colonne-Lamoureux, das  ist mal sicher! Das einzige Übel in der Welt ist, keine Gelegenheit zu habeji,  Musik zu hören oder Musik zu machen...  Diese Austern hätten sogar Lucullus befriedigt.»
  «Warum  nicht John Andrews und Bob Henslowe?... Warum jedes Mal die Geister armer,  alter, toter Römer zitieren, wenn einer eine Auster isst? Das sehe ich nicht  ein. Wir sind genauso gut wie die. Ich bin mir immer noch mehr wert, als so 'n  alter, vermoderter Lucullus, sogar wenn ich noch keine Lamprete gegessen habe.»
  «Und  warum solltest du keine essen, Bob?» ertönte eine heisere Stimme neben ihnen.
  Andrews  schaute auf, in ein rundes, weißes Gesicht mit großen, grauen Augen, die  hinter dicken Brillengläsern verborgen waren. Außer den Augen hatte das Gesicht  etwas Chinesisches.
  «Hallo,  Heinz! — Mister Andrews — Mister Heinemann», stellte Henslowe vor.
  «Freut  mich, Sie zu treffen», sagte Heinemann mit seiner jovialen, heiseren Stimme.  «Ihr scheint euch ja tatsächlich zu überfressen; wie ihr auf eurem Tisch habt  anfahren lassen!» Hinter der Heiserkeit in Heinemanns Stimme entdeckte Andrews  einen leichten näselnden Yankee-Akzent.
  «Setz  dich lieber her und hilf uns», sagte Henslowe.
  «Warum  nicht...»
  «Wissen  Sie, wie ich diesen Mann da nenne?» Er wandte sich an Andrews: «... Sindbad.»
«Sindbad  ging's dreckig in Tokio und Rom,
  In Trinidad ging's übel aus,
  In Tokio, Rom und Trinidad, 
  Und  doppelt schlimm zu Haus.»
Er sang  die Worte laut und dirigierte dazu mit einem langen, dünnen französischen  Weißbrot.
  «Halts  Maul, Heinz, sonst wirft man uns hier raus — wie man uns neulich abends aus dem  Olympia rausgeschmissen hat.»
  Beide  lachten.
  «Und  erinnerst du dich an Monsieur Le Guy mit seinem Mantel?»
  «Und ob  ich mich erinnere! Lieber Gott!»
  Sie  lachten, bis ihnen die Tränen die Backen hinunterliefen. Heinemann nahm seine  Gläser ab und putzte sie. Er wandte sich zu Andrews.
  «Oh,  Paris ist die schönste Stadt der Welt. Erstens: die Friedenskonferenz und ihre  999 Ausschüsse. Zweitens: die Spione. Drittens:  amerikanische Offiziere ohne Ausgangserlaubnis in der Stadt. Viertens: Die  Sieben Schwestern (Anm.: Gemeint sind die Plejaden.) zum Mord verschworen.» Er  brach wieder in Lachen aus bis sein gedrungener Körper auf dem Stuhl davon zu  beben anfing.
  «Wer sind  denn die?»
  «Drei von  ihnen haben sich verschworen, Sindbad zu erschlagen, und vier haben sich  verschworen, mich zu erschlagen... Aber  das ist zu kompliziert, um es beim Mittagessen zu erzählen... Achtens: sind da  noch die Damentröster, Sindbads Spezialität. Neuntens: Sindbad selber...»
  «Halt  doch's Maul, Heinz, du redest mich besoffen!» platzte Henslowe heraus.
«Ach, Sindbad saß immer im Dreck»
sang Heinemann. «Aber warum gibt mir denn niemand zu trinken!» schrie er. «Garcon, une bouteille de Macon pour un cadet de Gascogne! Was kommt dann? Es endet auf <vergogne>, Ihr habt doch das Stück gesehen. Das großartigste Stück, das momentan läuft... Zweimal habe ich es in nüchternem Zustand gesehen — und außerdem noch siebenmal.» «Cyrano de Bergerac?»Das  Kaninchen war recht unförmig, sehr flaumig und hatte einen irren Ausdruck in  den rosigen Augen mit dem schwarzen Punkt in der Mitte. Wie ein Sperling hüpfte  er übers Pflaster, aus seinem Rücken kam ein Gummischlauch mit einem Ballon,  den ein Mann in der Hand hielt und zusammendrückte, um das Kaninchen  voranzutreiben. Trotzdem sah das Tierchen seltsam lebendig aus. Als Andrews es  erblickte, brach er in schallendes Lachen aus. Der Verkäufer, der einen ganzen  Korb mit solchen Kaninchen am Arme trug, sah Andrews lachen und näherte sich  schüchtern dem Tisch. Er hatte ein rosiges Gesicht mit schmalen, sensiblen  Lippen, die an ein richtiges Kaninchen erinnerten, und große, ängstliche Augen  von einem fahlen Braun.
  «Stellen  Sie sie selber her?» fragte Andrews lächelnd.
  Mit  nachlässiger Gebärde ließ der Mann das Karnickel auf den Tisch hüpfen.
  «Oh, oui, Monsieur, d'aprés la nature.»
  Er  drückte plötzlich fest auf den Gummiballon, und das Kaninchen machte einen  Purzelbaum. Andrews lachte, der Kaninchenverkäufer lachte.
  «Wenn man  sich vorstellt, dass ein großer starker Mann sich damit sein Brot verdient...» sagte Walters angewidert.
  «Ich mache alles...  de matière première au profit de l'acca-pareur», sagte der Kaninchenverkäufer.
  «Hallo, Andy... Furchtbar verspätet...  Entschuldige...»
  Henslowe  ließ sich neben ihnen auf einen Stuhl sinken. Andrews stellte ihm Walters vor,  der Kaninchenverkäufer lüftete seinen Hut, verbeugte sich vor den Herren und  ging davon. Das Kaninchen hüpfte am Bordstein vor ihm her.
  «Was ist  aus Heinemann geworden?»
  «Da kommt  er», sagte Henslowe.
  Eine  offene Droschke war vor dem Cafe vorgefahren. In ihr saß Heinemann, ein breites  Grinsen auf dem Gesicht, und neben ihm eine Frau in einem lachsfarbenen Kleid,  einer Hermelinboa und einem smaragdgrünen Hut. Die Droschke fuhr weg. Heinemann,  immer noch lächelnd, kam an den Tisch.
  «Wo ist  das Löwenjunge?» fragte Henslowe.
  «Es hat  angeblich Lungenentzündung.»
  «Mister  Heinemann — Mister Walters.»
  Das  Lächeln wich aus Heinemanns Zügen. Er sagte kurz: «Guten Tag!», warf Andrews  einen wütenden Blick zu und setzte sich auf einen Stuhl.
  Die Sonne  war untergegangen. Der Himmel war voller Lila, Hellblau und Karminrot. In den  tiefblauen Schatten flammten Lichter auf, primelfarbene Straßenlaternen,  violette Bogenlampen, rötliche Lichtbahnen, die aus den Schaufenstern  fluteten.
  «Gehen  wir rein, ich friere erbärmlich», sagte Heinemann verdrossen. Im Gänsemarsch  gingen sie durch die Drehtür, ein Kellner trug ihnen die Getränke nach.
  «Ich war  den ganzen Nachmittag im Roten Kreuz, Andy...  Ich glaube, die Sache mit Rumänien wird klappen... Willst du mitkommen?» flüsterte Henslowe Andrews ins Ohr.
  «Wenn es  mir gelingt, ein Klavier aufzutreiben und ein bisschen Unterricht zu nehmen,  und wenn die Konzerte nicht aufhören, dann wirst du mich nicht mit zehn  Pferden aus Paris wegkriegen. Nein, mein Lieber, ich will mir Paris gründlich  anschauen... Es steigt mir zu Kopf —  es wird Wochen dauern, bevor ich weiß, was ich mir eigentlich dabei denke...»
  «Denken  Sie sich lieber gar nichts - trinken Sie!» brummte Heinemann mit böser Miene.
  «Weiber  und Suff - beides werde ich mir hier in Paris vom Leibe halten», sagte Walters.  «Und das eine ist nicht ohne das andere zu haben.»
  «Sehr  richtig, sehr richtig», sagte Heinemann. «Beides hat man dringend nötig.»
  Andrews  hörte nicht zu. Er drehte den Stiel seines Wermutglases zwischen zwei Fingern  und dachte an die Königin von Saba, die von den Schultern ihres Elefanten  herabgleitet, phantastisch funkelt ihr Schmuck im Licht der knisternden,  harzigen Fackeln. Musik sickerte ihm durch den Kopf, wie das Wasser in ein Loch  sickert, das man in den Sand des Meeresstrandes gegraben hat. In allen Gliedern  spürte er die Spannung der Rhythmen und der Worte, die Gestalt annehmen  wollten, noch nicht ganz greifbar, noch an der Schwelle des Bewusstseins verweilend.  Vom kleinen Mädchen an der Straßenkreuzung, das unter der Laterne singt, bis  zu der Patrizierin, welche auf ihrem hochgetürmten Pfühl Rosen zerpflückt... Alle die Träume deines Verlangens... Er dachte an das junge Mädchen mit  einem Teint wie altes Elfenbein, das er auf dem Place de Médicis gesehen hatte.  So war nun in seinen Phantasien das Gesicht der Königin von Saba, still und  unergründlich. Ein jäher Zymbelklang der Freude ließ sein Herz heftig pochen.  Nun war er befreit von den Träumen seines Verlangens, den ganzen Tag an Cafétischen zu  lungern; zuzuschauen, wie die Tische vor ihm sich zu wechselnden Ornamenten  formen; Körper und Geist mit dem Widerhall der Rhythmen all dieser Menschen zu  füllen, die sich vor seinen Augen über den Fries des Lebens bewegen, die nicht  mehr gleich hölzernen Automaten nur die Griffe des Exerzierreglements kennen,  sondern geschmeidig sind und bunt, voller Kraft, voller Tragik...
  «Um  Gottes willen, hauen wir hier ab...   Dieses Lokal geht mir auf die Nerven.» Heinemann schlug mit der Faust auf den  Tisch.
  «Schön»,  sagte Andrews und erhob sich gähnend.
  Henslowe  und Andrews entfernten sich und überließen es Walters und Heinemann, ihnen zu  folgen.
  «Wir  essen im Le Rat qui Danse», sagte Henslowe, «das ist ein sehr ulkiges Lokal... Jetzt haben wir gerade noch Zeit, gemächlich  hinzuschlendern und uns Appetit zu machen.»
  Sie  folgten der langen, mattbeleuchteten Rue de Richelieu bis zu den Boulevards, wo  sie sich eine Weile in der Menge treiben ließen. Die grellen Lichter schienen  die Luft mit Goldstaub zu erfüllen. Die Cafés und die Tischchen davor waren  dicht besetzt. Es roch nach Wermut und Kaffee und Parfüm und Zigarettenrauch,  vermischt mit den Benzindünsten der Taxis.
  «Ist das  nicht toll?» sagte Andrews.
  «Um  sieben ist immer Karneval auf den großen Boulevards... »
  Sie  begannen die steilen Straßen zum Montmartre hinaufzugehen. An einer Ecke  schritten sie an einem Mädchen mit geschminkten Lippen und gepuderten Backen  vorbei, die lachend am Arm eines amerikanischen Soldaten ging, der ein blasses  Gesicht und graugrüne, im Scheine der Straßenlaterne glitzernde Augen hatte.
  «Hallo,  Stein!» rief Andrews.
  «Wer ist  das?»
  «Einer  aus unserer Division, der heut' morgen mit mir ankam.»
  «Der hat  einen komischen Mund für 'nen Juden», sagte Henslowe.
  An der  Gabelung von zwei abschüssigen Straßen traten sie in ein Restaurant, das  kleine, mit rotem Papier beklebte Fenster hatte, durch die das Licht nur  spärlich hereinkam. Drinnen gab es viele dicht beieinanderstehende Eichentische  und Eichentäfelung, die oben mit einem Bord abschloss; darauf standen Granathülsen  und ein paar Schädel, etliche gesprungene Majolikateller und eine Reihe  ausgestopfter Ratten. Die einzigen Menschen hier waren eine fette Frau und ein  Mann mit langem, grauem Haar und Bart, die über zwei kleine Gläser gebeugt saßen  und ein ernstes Gespräch zu führen schienen. Eine eckige, alte Kellnerin mit  holländischer Haube und Schürze hockte an der Tür, aus der der Duft gebackener  Fische kam.
  «Der Koch  hier kommt aus Marseille», sagte Henslowe, als sie sich an einem Tisch für vier  niederließen.
  «Ob wohl  die anderen den Weg finden werden?» meinte Andrews.
  «Wahrscheinlich  wird Heinz unterwegs 'nen kleinen Schluck zu sich genommen haben!» erwiderte  Henslowe. «Wollen die Wartezeit mit einigen Hors d'ceuvre ausfüllen.»
  Die  Kellnerin brachte eine Kollektion bootartiger Platten mit roten Salaten und  gelben Salaten und grünen Salaten und zwei kleine Holzgefäße mit Heringen und  Anchovis. Henslowe hielt sie an, als sie fortgehen wollte und fragte: «Rien de  plus?» Die Kellnerin betrachtete den ganzen Aufbau mit tragischem Gesicht, die  Arme über ihren reichhaltigen Busen gefaltet.
  «Que voulez vous, Monsieur? C'est l'armistice.»
  «Der  größte Schwindel in dieser ganzen Kriegsaffäre ist der Frieden. Ich sage dir,  Junge, nicht einen Augenblick eher, als die Hors d'oeuvre die ihnen gebührende  Fülle und Mannigfaltigkeit wiedererlangt haben, gebe ich zu, dass der Krieg zu  Ende ist.»
  Die  Kellnerin kicherte.
  «Die  Dinge sind nicht mehr wie früher», sagte sie und ging zurück in die Küche.
  In diesem  Augenblick brach Heinemann in das Restaurant ein, knallte die Tür hinter sich  zu, dass die Fenster klirrten, und die fette Frau und der haarige Mann  erschreckt in den Stühlen auffuhren. Er purzelte grinsend auf einen Stuhl.
  «Und was  hast du mit Walters angefangen?»
  Heinemann  wischte seine Brillengläser umständlich ab.
  «Oh, der  starb an einem Glas Himbeerwasser...»  sagte er. «Dii dong, ptih, dü weng de Burgonj!» schrie er der Kellnerin zu.  Dann fügte er hinzu: «Der Bursche wird wohl bald kommen, ich sprach ihn  gerade.»
  Das  Restaurant füllte sich allmählich mit Männern und Frauen in den verschiedensten  Kleidungen, auch viele Amerikaner in Uniform und ohne kamen herein.
  «Ich  hasse Leute, die nicht saufen», sagte Heinemann und goss sich ein Glas Wein  ein. «Ein Mann, der nicht trinkt, schändet die Erde!»
  «Aber was  machst du dann in Amerika, nach dem Alkoholverbot?»
  «Red  nicht davon. — Da kommt ja der Bursche. Der darf unter keinen Umständen  erfahren, dass ich einer Nation angehöre, die guten Likör verbietet...  Monsieur le Bursche, Monsieur Henslowe, und Monsieur Andrews!» fuhr er  zeremoniell fort. Ein kleiner Mann mit aufgezwirbeltem Schnurrbärtchen und  einem kleinen zackigen Bart setzte sich auf den vierten Stuhl. Er hatte eine  rote Nase und kleine, zwinkernde Augen.
  «Wie froh  bin ich», sagte er und machte eine seltsame Bewegung, so dass seine steifen  Röllchen ihm auf die Hände rutschten, «dass ich nicht allein speisen muss. Für  alte Leute ist Einsamkeit eine unmögliche Sache. Nur die Jugend darf es wagen,  zu denken...  Nachher denkt man nur  noch an eins, an das Alter.»
  «Man kann  doch arbeiten», warf Andrews ein.
  «Sklaverei.  Jede Arbeit ist Sklaverei. Welchen Sinn hat es, sich intellektuell zu befreien,  wenn man sich gleich drauf dem ersten besten Ausbeuter wieder verkaufen muss.»
  «Faul»,  sagte Heinemann und entkorkte eine neue Flasche.
  Am Tisch  gegenüber saß ein Mädchen mit einem blassen Jungen in blauer französischer Uniform,  der ihr außerordentlich ähnlich sah. Andrews sah sie an: sie hatte hohe  Backenknochen und eine Stirn, in der sich die Formen des Schädels stark durch  die durchsichtige, hellbraune Haut abzeichneten. Ihr schweres, kastanienbraunes  Haar war am Hinterkopf leicht aufgesteckt. Sie sprach sehr leise und presste  die Lippen zusammen, wenn sie lächelte. Sie aß schnell und sauber wie eine  Katze.
  Das  Restaurant hatte sich langsam mit Leuten gefüllt. Die Kellnerin und der  Besitzer, ein fetter Mann mit einer weiten, roten Schürze, die er sich straff  umgebunden hatte, konnten sich nur mit Mühe in dem vollbesetzten Lokal bewegen.  Eine Frau an einem Tisch in der Ecke mit toter, weißer Haut und unnatürlich  leuchtenden Augen lachte heiser und bog ihren Kopf hinüber zur Wand. Beständig  klirrten Gläser und Geschirr, und ein öliger Dunst von Essen und Frauenkleidung  und Wein war in dem Raume.
  «Willst  du wissen, was ich wirklich mit deinem Freund gemacht habe?» sagte Heinemann  und beugte sich zu Andrews.
  «Hoffentlich  hast du ihn nicht in die Seine gestoßen.»
  «Es war  verdammt unhöflich von mir... Aber gottverdammich,  es war auch verdammt unhöflich von ihm, nicht zu trinken... Es hat keinen Zweck, seine Zeit an  einen Mann zu verschwenden, der nicht trinkt. Ich ging mit ihm in ein Café und  bat ihn, zu warten, während ich telefonierte. Er sitzt wohl noch immer dort und  wartet. Eines der schlimmsten Hurencafés am ganzen Boulevard Clichy.» Heinemann  lachte schallend und begann, es M. de Guy in näselndem Französisch zu erklären.
  Andrews  wurde einen Augenblick lang rot vor Ärger, dann fing auch er zu lachen an.
  Heinemann  hatte wieder begonnen zu singen:
«Sindbad  ging's dreckig in Tokio und Rom, 
  In  Trinidad ging's übel aus,
  In Tokio, Rom und Trinidad, 
  Und  doppelt schlimm zu Haus 
  Ach,  Sindbad saß immer im Dreck!»
Alle  klatschten, die bleiche Frau in der Ecke schrie «Bravo, Bravo!» mit schriller  Stimme. Heinemann verbeugte sich. Sein großes, grinsendes Gesicht nickte  herunter und wieder herauf wie das Gesicht einer Figur aus chinesischem  Porzellan.
  «Lui est  Sindbad!» schrie er und zeigte auf Henslowe.
  «Sing  noch mehr, Heinz!» lachte der. «Sing noch mehr.»
«Die  braunen Damen, hochhackig,
  Am italienischen Strand,
  Goldzöpfig und pausbackig,
  An der Zuiderzee, der Zuiderzee 
  die  Mädchen von Nederland.»
Alle  klatschten wieder. Andrews schaute auf das Mädchen am nächsten Tisch, ihr  Gesicht war rot vor Lachen. Sie hatte sich ein Taschentuch gegen den Mund gepresst  und sagte immerzu mit leiser Stimme: «O qu'il est drôle, celui-là... O qu'il  est drôle!»
  Heinemann  nahm ein Glas Wein auf und schwenkte es in der Luft, ehe er es austrank, in  einem Zuge. Einige standen auf und füllten es aus ihren Flaschen mit rotem und  weißem Wein. Der französische Soldat am Nebentisch zog eine Feldflasche unter  seinem Stuhl hervor und hängte sie Heinemann um den Hals. Heinemann stand  wieder auf, und mit rotem Gesicht verbeugte er sich wie eine Porzellanfigur  und begann zu singen, feierlich und getragen:
«Die  Hulas, die Hulas,
  mit  Lippen, rot geschwellt,
  In ihren  Kugellager-Hüften
  dreht  sich ihm die Welt;
  Sie waren  so braune Vögelchen,
  denen man  leicht verfällt...»
Sein untersetzter Körper bewegte sich mit im Rhythmus des Ragtime. Die Frau in der Ecke hob ihre langen weißen Arme und bewegte sich auf ihrem Stuhl im Rhythmus mit. «Die ist bestimmt eine Schlangenbeschwörerin», lachte Henslowe.
«Die  wilde Frau, sie liebt das Kind,
  Er macht zehn Weiber wild und blind! 
  Ach,  Sindbad saß immer im Dreck!»
Heinemann  schwenkte die Arme, zeigte auf Henslowe und sank in seinen Stuhl. Dann sagte er  wie ein Shakespeare-Schauspieler: «C'est lui, Sindbad.»
  Von  Lachen geschüttelt legte das Mädchen den Kopf auf den Tisch. Andrews konnte  hören, wie sie mit ihrer kleinen, vor Lachen zitternden Stimme sagte: «O qu'il  est rigolo... »
  Heinemann  nahm die Feldflasche ab und gab sie dem französischen Soldaten zurück.
  «Merci,  Camarade», sagte er feierlich.
  «Eh bien,  Jeanne, c'est temps de ficher le camp», sagte der französische Soldat zu dem  Mädchen. Er stand auf und schüttelte den Amerikanern die Hände. Andrews  schaute dem Mädchen in die Augen, und sie begannen beide zu lachen. Andrews  bemerkte, wie aufrecht und biegsam ihr Gang war und folgte ihr mit den Augen  bis zur Tür.
  Andrews'  Gesellschaft folgte auch sehr bald.
  «Wir  müssen uns beeilen, wenn wir vor der Sperrstunde beim Lapin Agile sein  wollen... und ich muss noch was  zu trinken haben», sagte Heinemann — noch immer mit seiner theatralisch shakespeareschen  Stimme.
  «Sind Sie  einmal Akteur gewesen?» fragte Andrews.
  «Wieso  Akteur, Sir? Ich bin jetzt im letzten Akt...  ich bin Kunstphotograph, sonst nichts...  Moki und ich beabsichtigen, zusammen Filme zu drehen, sobald die Herrschaften  sich entschließen, Frieden zu machen.»
  «Wer ist  Moki?»
  «Moki  Hadj ist die Dame in dem lachsfarbenen Kleid», sagte Henslowe mit lautem  Bühnengeflüster in Andrews' Ohr. «Die beiden haben ein Löwenjunges namens  Bubu.»
  «Unser  Erstgeborener», sagte Heinemann mit einer flotten Handbewegung.
  Die  Straßen waren leer. Ab und zu brach ein schmaler Mondstrahl durch die schweren  Wolken und beleuchtete niedrige Häuser, holpriges Pflaster und die Treppen mit  den spärlichen, trüben Laternen an den Hauswänden, die zur Butte hinaufführen.
  Vor dem  Eingang des Lapin Agile stand ein Gendarm. Die Straße war noch voller Gruppen,  die soeben aus dem Lokal gekommen waren, amerikanische Offiziere,  Pfadfinderinnen und dazwischen ein paar Leute, die in der Gegend wohnten.
  «Siehst  du, wir sind zu spät dran», klagte Heinemann weinerlich.
  «Egal,  Heinz», sagte Henslowe, «le Guy nimmt uns zu de Clocheville mit, wie letztes  Mal, n'est ce pas, le Guy?» Dann hörte Andrews ihn hinzufügen — einem Mann  zugewendet, den er vorher nicht gesehen hatte: «Kommen Sie mit, Aubrey, ich  stelle Sie später vor.»
  Sie  gingen noch weiter bergan. In der Luft hing ein Geruch von feuchten Gärten, es  war ganz still bis auf das Geräusch ihrer Schritte auf dem Steinpflaster.  Heinemann tänzelte voran. Vor einem hohen, altersbleichen Haus blieben sie  stehen und stiegen dann eine wacklige Holztreppe hinauf.
  «Mit  Informationen muss man Dusel haben...  Ich habe sie von einem Mann, der mit dabei ist, wenn die Friedenskonferenz tagt...» Andrews hörte hinter sich auf der  Treppe die Stimme Aubreys mit rollendem Chicago-RRR.
  «Schön —  heraus mit der Sprache!» sagte Henslowe.
  «Wa'?  Sagtest du, die Friedenskonferenz ist beduselt?» rief Heinemann, den man pusten  hörte, wie er an der Spitze der Prozession die Treppe hinaufkletterte.
  «Halts  Maul, Heinz.»
  Sie  stolperten über eine hohe Schwelle in eine geräumige Dachkammer mit  Fliesenboden. Dort empfing sie ein hochgewachsener, magerer Mann in einem  mönchisch aussehenden Morgenrock aus irgendeinem braunen Stoff. Eine einzige  Kerze brannte, phantastisch tanzten die Schatten an den schrägen weißen  Wänden. An der einen Seite befanden sich drei große Fenster, die vom Fußboden  bis zur Decke reichten. Hier und dort war ein Sprung in der Scheibe mit  Zeitungspapier geflickt. Vor ihnen standen zwei mit Kissen beladene Couches. An  der entgegengesetzten Wand lehnten schlampige Stöße aufeinander getürmter  Gemälde, wie Kraut und Rüben.
«C'est le bon vin, le bon vin,
  C'est la  chanson du vin...»
sang  Heinemann. Alle ließen sich auf den Couches nieder. Der schlaksige Mann in dem  braunen Morgenrock holte einen Tisch aus dem Schatten hervor, stellte einige  schwarze Flaschen und dickwandige Gläser drauf und zog für sich selber einen  Feldstuhl heran.
  «So haust  er... Es heißt, dass er nie ausgeht.  Er malt, und wenn Bekannte kommen, setzt er ihnen Wein vor und verlangt das  Doppelte. Davon ernährt er sich», sagte Henslowe.
  Der  hagere Mann fischte Kerzenstümpfe aus der Schublade des Tisches und zündete sie  an. Andrews sah, dass seine Füße unter dem zerfransten Saum des Morgenrocks  nackt waren. Das Kerzenlicht beleuchtete die geröteten Mannsgesichter und die  grellen Farben, Bananengelb und Arsenikgrün, auf den Bildern an den Wänden.  Glaskrüge voller Pinsel warfen ihre verschwommenen Schatten darauf.
  «Was ich  Ihnen eben erzählen wollte, Henny...»  sagte Aubrey. «Meine Information ist, dass der Präsident die Konferenz  verlassen wird, ihnen allen ins Gesicht sagen wird, dass er sie für gemeine  Schurken hält, und abmarschieren wird, während die Kapelle die Internationale  spielt.»
  «Na, das  ist mal eine Nachricht, die sich gewaschen hat!» rief Andrews aus.
  «Wenn er  das macht, wird er die Sowjets anerkennen», sagte Henslowe. «Ich melde mich zu  der ersten Rotkreuzmission, die loszieht, um die hungernden Russen zu retten... Großartig! Ich schicke dir eine  Ansichtskarte aus Moskau, Andy, wenn dort nicht die Ansichtskarten als  bourgeoiser Firlefanz abgeschafft worden sind.»
  «Nein,  nein, um Gottes willen!... Ich besitze russische Pfandbriefe im Wert von  fünfhundert Dollar, die mir die Vera gegeben hat... Aber sie sind fünf Millionen, zehn Millionen, fünfzig  Millionen wert, wenn der Zar zurückkehrt...  Ich setze auf Väterchen!» rief Heinemann aus. «Übrigens behauptet Moki, dass er  noch lebt. Savarow hat ihn im Ritz in einem Apartement eingesperrt... Und Moki muss es wissen.»
  «Moki  weiß sehr viel, das gebe ich zu», sagte Henslowe.
  «Aber  überlegt euch das mal!» sagte Aubrey. «Das bedeutet die Weltrevolution mit den  Vereinigten Staaten an der Spitze. Was haltet ihr davon?»
  «Moki ist  anderer Meinung», sagte Heinemann. «Und Moki weiß Bescheid.»
  «Sie weiß  nur, was die reaktionären Kriegshetzer ihr erzählen», sagte Aubrey. «Der Mann,  mit dem ich im Crillon gesprochen habe — wenn ich euch bloß seinen Namen  nennen dürfte! - hat es aus erster Quelle gehört — na ja, ihr wisst schon, von
  wem...» Er wandte sich an Henslowe, der  vielsagend lächelte. «Schon in diesem Augenblick befindet sich eine Mission in Russland  und schließt Frieden mit Lenin.»
  «Eine  Affenschande!» schrie Heinemann und warf eine Flasche vom Tisch. Der magere  Mann hob geduldig und ohne ein Wort die Scherben auf.
  «Die neue  Ära beginnt, Leute! glaubt mir...»  begann Aubrey. «Die alte Ordnung löst sich auf. Sie bricht unter dem Gewicht  des Elends und Verbrechens zusammen...  Das ist der erste Schritt zu einer neuen und besseren Welt. Es gibt keine Alternative.  Die Gelegenheit kommt nie wieder. Entweder müssen wir mutig vorwärts schreiten  oder in die unvorstellbaren Gräuel der Anarchie und des Bürgerkriegs versinken... Friede — oder zurück ins finstere  Mittelalter!»
  Andrews  spürte schon seit einiger Zeit, wie ihn eine unbezwingliche Schlafsucht  überkam. Er wickelte sich in eine Decke und streckte sich auf der leeren Couch  aus. Eine Weile noch lärmten ihm die Stimmen im Ohr, zänkisch, bissig, pompöse  Phrasen dreschend. Er schlief ein.
  Als er  aufwachte, fiel sein Blick auf den rissigen Bewurf eines fremden Plafonds. Ein  paar Sekunden lang hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Henslowe lag  schlafend neben ihm, gleichfalls in eine Decke gehüllt. Bis auf Henslowes Atem  herrschte völlige Stille. Silbergraue Lichtfluten strömten durch die breiten  Fenster herein, durch die Andrews einen Himmel voll heller taubengrauer  Wölkchen sah. Vorsichtig setzte er sich auf. Irgendwann im Laufe der Nacht musste  er Rock, Stiefel und Gamaschen ausgezogen haben, die neben der Couch auf dem  Fußboden lagen. Die Tische mit den Flaschen waren verschwunden und der  schlaksige Mann nirgends zu sehen.
  Andrews  ging in Strümpfen ans Fenster. Gegen Paris zu breitete sich wie ein  Perserteppich eine schiefergraue und taubenblaue Schwade aus mit einem  silbernen Nebelstreif, dort, wo der Fluss lag, und aus den Dünsten ragte der  Eiffelturm empor wie ein watender Mensch. Hier und dort stieg in Spiralen  blauer und brauner Rauch empor und verlor sich in dem matten Baldachin braunen  Nebels, der hoch über den Häusern hing. Lange blieb Andrews so stehen an den  Fensterrahmen gelehnt, bis er hinter seinem Rücken Henslowes Stimme vernahm.
  «Depuis le jour où je me suis donnée... Du siehst  aus wie <Louise>...» Andrews wandte sich um.
  Henslowe  saß mit zerrauften Haaren auf der Couchkante und kämmte sich mit einem  Taschenkamm das seidige Schnurrbärtchen.
  «Mein  Gott, habe ich einen Schädel!» sagte er. «Meine Zunge fühlt sich an wie eine  Muskatreibe... Deine nicht?»
  «Nein.  Ich fühle mich wie ein Kampfhahn.»
  «Was  meinst du, wenn wir an die Seine runtergehen und in Benny Franklins Wanne ein  Bad nehmen?»
  «Wo ist  denn das? Es klingt großartig.»
  «Und dann  frühstücken wir wie noch nie.»
  «So ist  es richtig... Wo sind denn alle die  anderen abgeblieben?»
  «Der olle  Heinz hat sich wahrscheinlich zu seiner Moki begeben und Aubrey ins Crillon,  um neue Informationen zu sammeln. Er sagt, vier Uhr morgens ist die beste Zeit  für einen Journalisten, da kommen die Besoffenen nach Haus.»
  «Und  unser mönchischer Gastgeber?»
  «Keene  Ahnung.»
Die  Straßen waren voller Männer und Frauen, die zur Arbeit hasteten. Alles  leuchtete, sah aus, als ob es gerade geputzt sei. Sie kamen an Bäckereien  vorbei, aus denen der angenehme Geruch frisch gebackenen Brotes strömte. Aus  Cafes strich der Geruch gerösteten Kaffees. Sie durchquerten Märkte, auf denen  schwere Handwagen hin- und hergeschoben wurden und Frauen mit schönen  Markttaschen voll Gemüse dahingingen. Es roch scharf nach zertretenen  Kohlblättern, Karotten und feuchtem Lehm. Der Nebel am Kai war rau und  beißend, er trieb das Blut in die Wangen und die vor Kälte steifen Hände.
  Das  Badehaus war ein großes, breites Boot, mit einem rautenförmigen Oberbau. Sie  schritten hinüber über eine kleine Planke, auf der einige Geranien-Töpfe standen.  Der Wärter gab ihnen zwei Kabinen nebeneinander auf dem unteren Deck, mit vor  Dampf nassen Fenstern, durch die Andrews draußen das vorbeifließende grüne  Wasser sehen konnte. Er legte seine Kleider schnell ab. Die Wanne war aus  Kupfer, innen weiß verzinkt. Das Wasser strömte durch die Hälse kupferner  Schwä-
  ne  herein. Als Andrews in das heiße, grüne Wasser stieg, flog ein kleines Fenster  in seiner Zelle auf, und Henslowes Stimme schrie zu ihm hinüber:
  «Sprechen  wir über die Annehmlichkeit des modernen Lebens. Man muss plaudern beim  Baden.»
  Andrews  rieb sich mit einem viereckigen Stück rosa Seife ein und platschte im Wasser  herum wie ein kleiner Junge. Er stand auf, seifte seinen ganzen Körper ein und  ließ sich dann ins Wasser gleiten, das sich über den ganzen Boden ergoss.
  «Du  denkst wohl, du bist ein dressierter Seehund!» rief Henslowe.
  «Es ist  alles so widersinnig!» rief Andrews und begann sich vor Lachen zu schütteln.  «Sie hat ein Löwenjunges namens Bubu — Nicolaus Romanow lebt im  Ritz-Carlton-Restaurant, und die Revolution ist auf übermorgen zwölf Uhr  mittags angesetzt.»
  «Ich  möchte sie lieber am ersten Mai haben», antwortete Henslowe, im Wasser  herumpatschend. «Ich werde Volkskommissar, und du kannst gehen und den Dalai  Lama von Tibet revolutionieren.»
  «Oh, es  ist alles so entzückend wahnsinnig!» rief Andrews hinüber und ließ sich ein  zweites Mal in die Wanne gleiten.
2
Zwei  Militärgendarmen gingen draußen an dem Fenster vorbei. Andrews sah ihnen nach,  bis ihre gelben, schweinsledernen Revolvertaschen außer Sicht waren. Er fühlte  sich glücklich sicher vor ihnen. Der Kellner, der an der Tür mit einer  Serviette unterm Arm stand, erhöhte sein Gefühl der Sicherheit so, dass er  lachen musste. Vor ihm auf dem Marmortischchen befanden sich ein kleines Glas  Bier, ein Notizbuch mit linierten Blättern und zwei gelbe Bleistifte. Das Bier,  von der Farbe eines Topas, in dem klaren grauen Licht, das durchs Fenster fiel,  warf einen mattgelben Reflex mit heller Mitte auf den Tisch. Auf dem Boulevard  gingen einige Menschen eilig vorüber. Ein leerer Marktwagen fuhr laut ratternd  vorbei. Auf einer Bank zählte eine Frau in einem schwarzen Strickshawl und mit  einem Bündel Zeitungen auf den Knien ihr Geld in andächtiger Konzentration.
  Andrews  schaute auf die Uhr. Er hatte noch ungefähr eine Stunde Zeit vor der  Universität.
  Er stand  auf, bezahlte den Kellner, schlenderte mitten auf dem Boulevard dahin und  dachte lächelnd an Seiten, die er geschrieben hatte, an Seiten, die er noch  schreiben würde und war von einem Gefühl frohen Zufriedenseins erfüllt. Es war  ein grauer Morgen, gelblicher Nebel lag in der Luft. Das Pflaster war feucht  und spiegelte Frauenkleider und Beine und die Umrisse von Droschken wider. Von  einem Blumenstand mit Veilchen und roten und rosa Nelken rannen zackige  Farbflecken auf das bräunliche Grau des Pflasters hinab. Ein Geruch von Veilchen  traf Andrews, als er im Nebel an dem Blumenstand vorbeiging. Er erinnerte sich  plötzlich, dass der Frühling nahte. In diesem Frühling werde ich nicht einen  einzigen Augenblick vergeuden, sagte er zu sich selbst. «Man muss ihn Schritt  für Schritt verfolgen, von dem ersten Veilchen an. Wie intensiv muss man doch  leben, um sich für all die vergeudeten Jahre schadlos zu halten.»
  Er ging  weiter auf dem Boulevard. Er erinnerte sich daran, wie er und das Mädchen, das  der Soldat Jeanne genannt hatte, zusammen gelacht hatten, als ihre Augen sich  in jener Nacht in dem Restaurant trafen. Er wünschte, mit einem Mädchen wie  diesem den Boulevard hinabgehen zu können und im nebligen Morgen zu lachen.
  Er  wundert sich, in welchen Teil von Paris er wohl kommen werde. Aber er war zu  glücklich, um sich darum zu kümmern. Wie wundervoll lang waren die Stunden am  frühen Morgen!
  Am  gestrigen Abend hatte er bei einem Konzert im Salle Gaveau Debussys  Nocturnes und Les Sirènes gehört. Die Rhythmen dieser Musik zogen sich durch  alle seine Gedanken. Vor dem Hintergrund der grauen Straße und des bräunlichen  Nebels, der alle Perspektiven mit einem Schleier verhängte, begann er sich  eigene Rhythmen vorzustellen, Variationen und Wendungen, die aufleuchteten und  verblassten, die eine Weile wie bunte Fahnen über seinem Kopf durch das Rattern  der Straße flatterten.
  Er  bemerkte, dass er an einem langen Gebäude mit glänzenden Fensterreihen vorbeiging,  an dessen Haupteingang Gruppen rauchender amerikanischer Soldaten standen. Unbewusst  beschleunigte er seine Schritte, in der Angst, einen Offizier, den
  man  grüßen müsse, zu treffen. Er ging an den Soldaten vorbei, ohne sie anzuschauen.  Eine Stimme hielt ihn zurück: «Hallo, Andrews!»
  Als er  sich umwandte, sah er einen kleinen Mann mit lockigem Haar, dessen Gesicht,  obschon bekannt, er nicht identifizieren konnte, und der jetzt auf ihn  zuschritt.
  «Hallo,  Andrews! Dein Name ist Andrews, nich'?»
  «Ja.»
  Andrews  gab ihm die Hand und versuchte, sich zu erinnern.
  «Ich bin  Fuselli. Erinnerst du dich nicht? Als ich dich das letzte Mal sah, fuhrst du  gerade in einem Zuge mit Chrisfield an die Front... Wir nannten ihn immer Chris, nich'? In Cosne. Erinnerst du  dich nicht?»
  «Natürlich.»
  «Wie  geht's Chris?»
  «Der ist  jetzt Korporal», sagte Andrews.
  «Donnerwetter... Ich sollte auch mal Korporal werden.»
  Fuselli  trug fleckige olivfarbene Hosen und schlecht gewickelte Gamaschen. Sein Hemd  war am Hals offen. Aus seinem blauen Kitteljackett kam der Geruch ranzigen  Fettes, den Andrews sofort erkannte: der Geruch von Armeeküchen. Sofort erinnerte  er sich daran, wie er inmitten langer Reihen an kalten, dunklen Morgen  gestanden hatte und an das Geräusch, das das Essen verursachte, wenn es in das Essgeschirr  hineingeschüttet wurde.
  «Warum  bist du denn nicht Korporal geworden, Fuselli?» fragte Andrews nach einer Pause  mit gezwungener Stimme.
  «Habe  Dummheiten gemacht, nehme ich an.»
  Sie  lehnten sich gegen die staubige Hausmauer. Andrews sah an sich hinunter. Der  Schmutz des Trottoirs, der an der Wand emporspritzte, bildete an ihrem unteren  Rand einen ebenmäßigen Sockel, an dem Andrews mit der Stiefelspitze hin und  her kratzte.
  «Nun, wie  geht's dir jetzt?» Andrews fragte und schaute plötzlich auf.
  «Ich bin  in einem Arbeitsbataillon. So geht's.»
  «Mein  Gott, so ein Pech!» Andrews wollte fort. Er hatte plötzlich Angst, zu spät zu  kommen. Aber er wusste nicht wie abbrechen.
  «Wurde  krank», sagte Fuselli grinsend. «Vielleicht bin ich's noch. Sie behandeln einen  hier wie Dreck...»
  «Warst du  die ganze Zeit in Cosne? So ein Pech, Fuselli!»
  «Ja,  Cosne ist ein Drecknest... Du bist  wohl immer vorne gewesen. Mein Gott, du musst froh gewesen sein, dass du nicht  bei den Sanitätern warst.»
  «Ich weiß  nicht, ob ich immer so froh war, vorne zu sein...  Oder vielleicht doch...»
  «Weißt  du, ich habe es schon verdammt lange gehabt, bevor sie dahinter kamen... Militärgericht war verdammt streng —  und noch dazu nach dem Waffenstillstand...  Mein Gott, können sie uns nicht endlich nach Haus gehen lassen?»
  Eine Frau  in einem hellblauen Hut ging vorbei. Andrews erblickte ein weißes, gepudertes  Gesicht. Ihre Hüften zitterten auf und ab wie Gelee unter ihrem blauen Rock,  bei jedem schweren Tappen ihrer hohen Absätze auf das Pflaster.
  «Die  sieht ja wie Jenny aus. Bin froh, dass sie mich nicht gesehen hat.»
  Fuselli  lachte.
  «Hätte  vor ein paar Nächten bei ihr sein sollen. Wir waren so betrunken, dass wir uns  nicht rühren konnten.»
  «Ist das  nicht schlecht für dein Leiden?»
  «Ich  pfeif schon drauf — was hat es für einen Zweck?»
  «Aber, du  lieber Gott — Mann!» Andrews verstummte jäh. Dann sagte er in verändertem Ton:  «Bei welcher Einheit bist du jetzt?»
  «Ich bin  hier beim ständigen Küchendienst — da drin.» Fuselli zeigte mit dem Daumen auf  das Tor des Gebäudes. «Nicht so übel, zwei freie Tage die Woche, kein Drill,  gutes Essen... Zumindest kann man  sich satt essen... Aber es war  säuisch, sage ich dir, Ascheimer leeren und Kohlen schaufeln — und jetzt hat  man mich auch noch trockengelegt.»
  «Du wirst  wohl bald nach Hause kommen, nicht? Sie können dich aber wohl nicht entlassen,  ehe du geheilt bist.»
  «Weiß  nicht. Einige sagen, dass so etwas nie heilt.»
  «Findest  du nicht, dass die Küchenarbeit verdammt langweilig ist?»
  «Nicht  langweiliger als irgend etwas anderes. Was machst du in Paris?»
  «Abteilung  Schulen.»
  «Was ist  denn das?»
  «Leute,  die studieren wollten und die jetzt endlich dazu kommen.»
  «Bin  froh, dass ich nicht wieder zur Schule muss.» «Auf Wiedersehen, Fuselli.» «Auf  Wiedersehen, Andrews.»
  Fuselli  wandte sich um und schlenderte zurück zu der Gruppe Soldaten am Eingang.  Andrews beeilte sich, fortzukommen. Als er um die Ecke ging, sah er Fuselli mit  den Händen in den Taschen und gekreuzten Beinen, an die Mauer des Toreingangs  gelehnt, stehen.
3
Die  Dunkelheit, in der der Regen durch den trüben Glorienschein der  Straßenlaternen fiel, wurde von blassgoldenen Blitzen durchzuckt. Andrews'  Ohren waren von dem Rauschen der Rinnsteinbäche und dem Geplätscher der  Regenrinnen erfüllt und von dem unablässigen harten Prasseln des Regens auf dem  Straßenpflaster. Es war nach der Sperrstunde. Vor den Cafefenstern waren die  Wellblechläden herabgezogen. Andrews' Mütze war nass. Wasser rieselte ihm über  die Stirn und an der Nase entlang und in die Augen. Seine Füße waren durchnässt,  er fühlte, wie die nassen Flecken an seinen Knien immer größer wurden, dort, wo  das Wasser landete, das an seinem Mantel entlanglief. Breit und finster lag vor  ihm die Straße, hier und dort schimmerte der grünliche Abglanz einer Laterne.  Während er mit langen Schritten durch den Regen plantschte, merkte er  plötzlich, dass er mit einer Frau unter einem Regenschirm Schritt hielt, einer  schlanken Person, die mit kleinen, resoluten Schritten den Boulevard  entlangeilte. Als er sie erblickte, regte sich plötzlich eine wilde Hoffnung in  ihm. Er erinnerte sich an ein vulgäres Theaterchen und den grellen Glanz eines  Scheinwerfers. Durch die Schminke und den Puder hatte die goldbraune Haut  einer jungen Frau ihm entgegengeleuchtet, so fest, so strahlend, dass er sich  an weites, sonnverbranntes Hochland und an tanzende Figuren auf griechischen  Vasen erinnert fühlte. Seit er sie vor zwei Abenden gesehen hatte, konnte er an  nichts anderes mehr denken. Mit fieberhaftem Eifer hatte er ihren
  Namen  festgestellt. <Naya Selikow>. Eine wilde Hoffnung durchzuckte ihn, diese  Frau, die neben ihm ging, könnte das junge Mädchen sein, dessen schlanke  Glieder wie ein endloser Fries durch seine Gedanken wanderten. Mit regentrüben  Augen schielte er zu ihr hin. Was bin ich für ein Esel! Natürlich kann sie es  nicht sein, es ist ja zu früh... In  diesem Augenblick stand sie noch auf der Bühne. Andere gierige Blicke musterten  ihre Schlankheit, andere gierige Hände verlangte es danach, ihre goldbraune  Haut zu streicheln. Wie er so durch den steten Guss dahinschritt, der gegen  sein Gesicht und gegen die Ohren peitschte und ein winziges kaltes Rinnsal an  seinem Rücken entlanglaufen ließ, überkam ihn plötzlich ein schwindelerregendes  Verlangen. Seine tief in die Taschen vergrabenen Hände ballten sich  krampfhaft. Er glaubte sterben zu müssen, er befürchtete, seine pochenden  Blutgefäße würden platzen.
  Der Regen  rauschte schwer um ihn und machte seine Nerven ganz lebendig und sein Fleisch  zitternd vor Erregung. Das Gurgeln des Wassers, das durch die Straßen rinnend abfloss,  erweckte in ihm Vorstellungen von einschläfernder, wollüstiger Musik, Die  fiebrige Erregung seiner Sinne schuf rasende Rhythmen in seinen Ohren.
  «O, ce pauvre poilu! Qu'il doit être mouillé», sagte  eine kleine, zitternde Stimme neben ihm.
  Er wandte  sich um. Das Mädchen bot ihm ihren Schirm an.
  «O, c'est  un Américain», sagte sie, als ob sie noch zu sich selbst spreche.
  «Mais 9a ne vaut pas le peine.»
  «Mais  oui.» Er trat unter den Schirm neben sie.
  «Aber Sie  müssen mir schon erlauben, ihn zu halten.»
  «Bien.»
  Als er  den Schirm in die Hand nahm, sah er sie an. Er blieb stehen.
  «Aber Sie  sind ja das Mädchen aus der Rat qui  Danse.» «Und Sie waren an dem nächsten  Tisch mit dem Mann, der das Lied sang?» «Wie amüsant!» «Et celui là, o, il  était rigolo... »
  Sie brach  in Lachen aus, ihr Kopf, in ein rundes, schwarzes Hütchen gezwängt, bewegte  sich unter dem Schirm auf und ab. Andrews lachte auch.
  Als sie  den Boulevard Saint Germain überschritten, wurden sie beinahe von einer  Droschke angefahren, die sie mit einer gehörigen Ladung Dreck beschlammte.
  Sie hielt  sich an seinem Arm fest und blieb dann zitternd vor Lachen stehen.
  «O, quelle horreur, quelle horreur», sagte sie.
  Andrews  lachte und lachte.
  «Aber  halten Sie doch den Schirm über uns...  Der Regen läuft auf meinen besten Hut», sagte sie.
  «Ihr Name  ist Jeanne?» meinte Andrews.
  «Impertinent... Sie hörten meinen Bruder mich so nennen... Armer Kerl. Musste in jener Nacht wieder  zur Front. Er ist erst neunzehn Jahre alt...  Sehr klug... Oh, wie bin ich  glücklich, dass der Krieg vorbei ist!»
  «Sie sind  älter als er?»
  «Zwei  Jahre... Ich bin das Haupt der  Familie... Ich bin eine  Respektsperson.»
  «Haben  Sie schon immer in Paris gelebt?»
  «Nein.  Wir kommen aus Laon... wegen des  Krieges.»
  «Flüchtlinge?»
  «Nennen  Sie uns nicht so; wir arbeiten.» Andrews lachte.
  «Gehen  Sie weit?» fragte sie und sah ihm ins Gesicht.
  «Nein,  ich wohne hier in der Nähe... Mein  Name ist übrigens genau der gleiche wie der Ihre.»
  «Jean?  Wie komisch. Wo gehen Sie hin?»
  «Rue Descartes, hinter Saint Etienne.»
  «Dann  wohne ich ja ganz in Ihrer Nähe.»
  «Aber Sie  dürfen nicht kommen. Die Pförtnerin ist eine Tigerin. Etienne nennt sie immer  Madame Clemenceau.»
  «Wer, der  Heilige?»
  «Nein,  Sie Dummkopf, mein Bruder. Er ist Sozialist, Setzer bei der Humanité.»
  «So? Ich  lese oft die Humanité.»
  «Armer  Junge. Er hat früher immer geschworen, nie ins Heer einzutreten. Er wollte nach  Amerika.»
  «Das  würde ihm jetzt nicht viel helfen», meinte Andrews bitter. «Was arbeiten Sie  jetzt?»
  «Ich?»  Erbitterung überlief ihre Stimme. «Warum sollte ich's Ihnen nicht sagen? Ich  arbeite bei einer Schneiderin.»
  «Wie  Louise?»
  «Haben  Sie <Louise> gehört? Ach, wie ich geweint habe...!» «Warum wurden Sie  traurig?»
  «Ach, ich  weiß nicht, warum... Aber ich lerne  stenographieren... Und hier bin ich  zu Haus.»
  Neben  ihnen ragte wuchtig das Pantheon in den Regen. Vor ihnen war der Turm von St.  Etienne-du-Mont kaum zu sehen. Rings um sie prasselte der Regen nieder.
  «Oh, wie nass  ich bin!» rief Jeanne aus.
  «Übermorgen  gibt die Opera Comique <Louise>... Wollen Sie mit mir hingehen?» «Nein,  ich würde wieder zu sehr weinen.» «Ich werde mitweinen.» «Aber es ist doch  nicht —» Andrews unterbrach sie. «C'est l'armistice.» Beide lachten.
  «Wollen  wir uns nicht wieder treffen?»
  «Gut. Im  Cafe am Ende des Boulevard Saint Michel. Aber Sie werden wahrscheinlich doch  nicht kommen.» «Ich schwöre, dass ich kommen werde!» rief Andrews eifrig aus.  «Werden sehen.»
  Sie lief  fort, die Straße neben St. Etienne-du-Mont hinunter. Andrews blieb allein  inmitten des rauschenden Regens. Er fühlte sich ruhig und müde.
  Als er in  sein Zimmer zurückkam, fand er keine Streichhölzer in der Tasche. Durch das  Fenster drang kein Licht. Er hörte nur das zischende Geräusch des Regens im  Hof. Er stolperte über einen Stuhl.
  «Bist du  betrunken?» kam Walters' Stimme aus dem Bett. «Auf dem Tisch sind  Streichhölzer.»
  «Aber wo  zum Teufel ist der Tisch?»
  Endlich  gelang es ihm, die Streichholzschachtel zu erwischen. Das rote Flackern des  Zündholzes blendete ihn. Er blinzelte. Die Lider waren noch voller  Regentropfen. Als er eine Kerze angezündet und sie zwischen die Noten auf den  Tisch gestellt hatte, riss er sich die nassen Kleider vom Leibe.
  «Habe  gerade ein entzückendes Mädchen getroffen, Walters.»
  Andrews  stand nackt neben dem Haufen Kleider und rieb sich mit einem Handtuch ab.
  «Donnerwetter,  bin ich nass...  Aber sie ist  wirklich das entzückendste Geschöpf, das mir bisher in Paris über den Weg  gelaufen ist.»
  «Ich  dachte, du wolltest die Weiber zufrieden lassen?» «Die Dirnen, meinst du wohl.»
  «Ist  nicht jedes Mädchen, das du von der Straße raufholst,
  'ne  Dirne?» «Unsinn.»
  «In  diesem verfluchten Land gibt's nur Dirnen...  Gott, ich möchte mal wieder so'n nettes, fesches, gesundes amerikanisches  Mädchen zu sehen kriegen.»
  Andrews  antwortete nicht. Er blies das Licht aus und stieg ins Bett.
  «Aber ich  habe neue Arbeit», sagte Walters. «Ich arbeite im Büro der Schulabteilung.»
  «Warum,  zum Donnerwetter? Du bist doch hergekommen, um an der Sorbonne zu studieren.»
  «Ja, ja.  Ich gehe zu den Vorlesungen. Aber solange ich beim Militär bin, will ich  mitmischen, verstehst du, damit man mich nicht übers Ohr haut.»
  «Da ist  was dran.»
  «Da ist  sehr viel dran, mein Junge. Das ist das einzig Richtige — immer auf dem  laufenden bleiben, damit einen die hohen Herrschaften nicht vergessen... Wer weiß, vielleicht fangen die Kämpfe  wieder an. Diese verfluchten Deutschen benehmen sich gar nicht sehr schön —  nachdem der Präsident so viel für sie getan hat... Ich hoffe auf jeden Fall dabei Sergeant zu werden.»
  «Na ja,  ich will jetzt schlafen», sagte Andrews verdrossen.
John  Andrews saß an einem Tisch vor dem Café Rohan. Die Sonne war soeben über einem  rötlichen Abend untergegangen, alles mit blauviolettem Licht und  grünlichkalten Schatten überflutend. Der Himmel war von einem hellen Lila, mit  einigen ambragelben Wolken gestreift. In allen Schaufenstern des gegenüberliegenden  Magasin du Louvre brannte Licht, so dass sie wie geschliffene Glasscherben  im Nachglanz der Sonne funkelten. Zwischen den Säulen des Palais Royal wurden  die Schatten tiefer und kälter. Ein gleichförmiger Menschenstrom wälzte sich an  der Métro aus und ein. Grüne, gestopft volle Busse fuhren in endloser Reihe  vorbei. Der Verkehrslärm, das Fußgetrappel und das dumpfe Stimmengewirr  umschwirrten Andrews' Kopf wie Tanzmusik. Plötzlich bemerkte er, dass der  Kaninchenverkäufer vor ihm stand. Ein Karnickel baumelte vergessen am Ende des  Gummischlauchs.
  «Et 9a va bien — le commerce?» fragte Andrews.
  «Mäßig,  mäßig», erwiderte der Kaninchenverkäufer und ließ zerstreut das Kaninchen zu  seinen Füßen einen Purzelbaum schlagen. Andrews sah zu, wie die Leute in die  Métro strömten.
  «Der Herr  amüsiert sich in Paris?» fragte der Kaninchenverkäufer schüchtern. «O ja. Und  Sie?»
  «Mäßig.»  Der Mann lächelte. «Zu dieser Abendstunde sind die Frauen sehr schön», fuhr er  mit einer äußerst schüchternen Stimme fort.
  «Es gibt  nichts Schöneres als diese Abendstunde — in Paris.»
  «Oder die  Pariserinnen.» Die Augen des Kaninchenverkäufers funkelten. «Entschuldigen Sie  mich, mein Herr», fügte er hinzu. «Ich muss versuchen, Kaninchen zu verkaufen.»
  «Au  revoir!» sagte Andrews und hielt ihm die Hand hin.
  Der  Kaninchenverkäufer drückte ihm mit jäher Kraft die Hand und ging weg, ein  Kaninchen am Bordstein vor sich hertreibend. Schnell verschwand er in der  dahinflutenden Menge.
  Auf dem  Platz flammten violette Bogenlampen auf und erhellten ihre vergitterten  Kugeln, die wie grelle Monde über dem Pflaster hingen.
  Henslowe  ließ sich neben Andrews nieder.
  «Wie geht  es Sindbad?»
  «Er  funktioniert noch, mein Junge...  Frierst du nicht?» «Warum, Henslowe?»
  «Überhitzt,  Mensch — in diesem Polarwetter draußen zu sitzen...»
  «Nein,  aber ich meine — wie funktionierst du?» sagte Andrews lachend.
  «Morgen  fahre ich nach Polen.» «Wieso?»
  «Als  Wachtposten mit einem Transportzug des Roten Kreuzes. Wehn du mitkommen  willst, lasst es sich vielleicht noch arrangieren, wenn wir schnell ins Rote  Kreuz laufen, bevor Major Smithers geht. Oder wir laden ihn zum Essen ein.»  «Aber, Henny, ich bleibe in Paris!»
  «Warum,  zum Donnerwetter, willst du in diesem Loch hocken bleiben?»
  «Mir  gefällt es hier. Der Instrumentationsunterricht ist so gut, wie ich es mir nie  habe träumen lassen, und neulich habe ich ein Mädel kennen gelernt, und ich bin  vernarrt in Paris.»
  «Wenn du  dich in was einlasst, dann schlage ich dir mit einem polnischen Knüppel den  Schädel ein... Natürlich hast du ein  Mädel kennen gelernt. Ich habe auch Mädels kennen gelernt — dutzendweise. In  Polen werden wir noch mehr kennen lernen und mit ihnen Polonaise tanzen.»
  «Nein,  aber dieses Mädchen ist reizend... Du  hast sie doch gesehen. Sie war mit dem Poilu im Rat qui Danse — an meinem  ersten Abend in Paris. Wir haben uns zusammen <Louise> angesehen.»
  «Das muss  geradezu rührend gewesen sein...  Schau, ich laufe auch ab und zu hinter einer Schürze her, aber sie dürfen mir  nie in mein Leben pfuschen!» murmelte Henslowe mürrisch.
  Beide  schwiegen.
  «Bald  wirst du genauso unerträglich sein wie Heinz mit seiner Moki und dem  Löwenjungen namens Bubu... Übrigens  ist das Vieh gestorben...  Na, wo  essen wir?»
  «Ich esse  mit Jeanne — wir treffen uns in einer halben Stunde. Es tut mir sehr leid,  Henny, aber wir könnten ja zu dritt essen gehen.»
  «Enormes  Angebot! Nein, nein, ich werde sehen, ob ich diesen Hornochsen Aubrey  aufstöbern kann, er soll mir was über die Friedenskonferenz erzählen... Heinz kann Moki nicht allein lassen,  weil sie wegen Bubu hysterische Anfälle hat. Wahrscheinlich werde ich am Ende  gezwungen sein, mich mit Berthe zu begnügen...  Du bist mir ein schöner Freund!»
  «Wir  veranstalten morgen eine grandiose Abschiedsfeier, Henny!»
  «Pass  auf, beinahe hätte ich es vergessen. Du sollst Aubrey morgen um fünf Uhr im  Crillon treffen, er nimmt dich zu Geneviève Rod mit.»
  «Wer zum  Kuckuck ist Geneviève Rod?»
  «Als ob  ich das wüsste... Aber Aubrey sagt,  du müsstest mitkommen. Sie ist eine Intellektuelle, sagt Aubrey.» «Das Letzte,  wonach ich mich sehne.» «Mach, was du willst. Bis dann!»
  Andrews  blieb noch eine Weile an dem Tischchen vor dem Cafe sitzen. Es wehte ein kalter  Wind. Der Himmel war blauschwarz, die aschweißen Bogenlampen verbreiteten ein  Licht wie in einem Leichenschauhaus. Zwischen den Säulen des Palais Royal  waren die Schatten schroff und tintig. Auf dem Platz wurde das Gedränge  allmählich geringer. Die Lichter im Magasin  du Louvre waren erloschen. Aus dem Cafe  hinter ihm kam ein schwacher Geruch nach frischgekochtem Essen und begann die  kalte Straßenluft zu sättigen.
  Dann sah  er Jeanne über das aschgraue Pflaster des Platzes herankommen, schlank und  schwarz unter den Bogenlampen. Er lief ihr entgegen.
Der runde  Ofen mitten auf dem Fußboden brummte leise. Vor ihm hatte die weiße Katze sich  zu einem flaumigen Ball zusammengerollt. Die Ohren und die Nase bildeten  winzige rosa Pünktchen wie die an den Spitzen der Blütenblätter einer bestimmten  weißen Rosensorte. Neben dem Ofen, an einem Tisch vor dem Fenster, saß ein  alter, braunhäutiger Mann mit einem hellroten Fleck auf jedem Backenknochen. Er  hatte einen verdrückten Manchesteranzug an, der so braun war wie seine Haut.  Er hielt den kleinen Löffel in der knotigen Hand und rührte langsam und  unablässig eine gelbe und dampfende Flüssigkeit in einem Glase um. Hinter ihm  lag das Fenster, Hagel schlug gegen die Scheiben im bleiernen Licht eines  Winterabends. An der anderen Seite des Ofens befand sich eine Zinktheke mit  gelben Flaschen und grünen Flaschen und einem Wasserhahn mit einem Giraffenhals  neben einem gefirnissten Holzpfeiler, auf dem ein Farbtopf aus Terrakotta  stand, die Zierde dieses Winkels. Von der Polsterbank aus gesehen, auf der  Andrews im Hintergrunde saß, bildeten die Farne ein schwarzes Flechtwerk vor  der linken Fensterscheibe, während sich von der anderen Scheibe die braune  Silhouette des alten Mannes abhob, sein Kopf und die schiefe Mütze. Die Tür  wurde durch den Ofen verdeckt, und die weiße Katze, rund und symmetrisch,  bildete den Mittelpunkt des sichtbaren Universums.
  Auf dem  Marmortisch neben Andrews waren ein paar mit Butter bestrichene knusprige  Brotbrocken zu sehen, ein Tellerchen mit Pflaumenmus und eine Tasse mit Kaffee  und heißer Milch, aus welcher der Dampf in einer dünnen Spirale emporstieg. Den  Uniformrock hatte er aufgeknöpft, den Kopf in die Hände gestützt. Durch die  Finger betrachtete er einen dicken Stoß linierten Notenpapiers voll hastig  hingekritzelter Zeichen, manche mit Tinte, manche mit Bleistift, und ab und zu  setzte er mit einem Bleistift ein Strichlein hinzu. Hinter dem Papierstoß  lagen zwei Bücher, ein gelbes und ein weißes, mit Kaffee bekleckert.
  Das Feuer  brummte, die Katze schlief, der alte braunhäutige Mann rührte und rührte, hielt  kaum eine Sekunde lang inne, um das Glas an die Lippen zu führen. Gelegentlich  war das Prasseln des Hagels an den Scheiben zu hören oder ein entferntes  Geräusch von Geschirr durch die Hintertür.
  Die Uhr  mit dem fahlen Zifferblatt über dem Spiegel hinter der Theke räusperte sich und  schlug einmal, die halbe Stunde. Andrews blickte nicht auf. Die Katze schlummerte  noch immer vor dem Ofen, der sein brummendes Lied sang. Der alte Mann rührte  noch immer die gelbe Flüssigkeit in seinem Glas um. Die Uhr tickte der vollen  Stunde entgegen.
  Andrews  Hände waren kalt. In den Handgelenken und in der Brust saß ein nervöses Flattern.  In ihm strömte ein Licht, unendlich weit und unendlich fern. Durch diesen  Lichtstrom drangen Laute von irgendwoher, die ihn bis in die Fingerspitzen  durchzitterten, Klänge wurden zu Rhythmen, die hin und her wogten und einander  kreuzten wie Meereswellen in einer Bucht, Klänge ballten sich zu Akkorden.
  Hinter  allem Flauberts Königin von Saba, die ihre phantastische Hand mit den langen,  vergoldeten Fingernägeln ihm auf die Schulter legte, und er beugte sich über  den Rand des Lebens. Aber das Bild war undeutlich, wie ein Schatten, der auf  den Glanz seiner Gedanken fiel.
  Die Uhr  schlug vier.
  Langsam  entrollte sich der weiße, flaumige Katzenknäuel. Ihre Augen waren sehr rund und  gelb. Erst streckte sie das eine und dann das andere Bein vor sich auf dem  Fliesenboden aus und spreizte weit die rosiggrauen Krallen. Ihr Schwanz reckte  sich hoch wie ein Schiffsmast. Mit gemächlich feierlichen Schritten ging die  Katze zur Tür.
  Der alte  braunhäutige Mann goss das gelbe Nass hinunter und schmatzte zweimal mit den  Lippen, laut, versonnen.
  Andrews  hob den Kopf; seine blauen Augen starrten ins Leere, ohne etwas zu sehen. Er  ließ den Bleistift fallen, lehnte sich an die Wand zurück und räkelte die Arme.  Dann nahm er die Kaffeetasse in beide Hände und trank ein wenig. Der Kaffee  war kalt geworden. Er löffelte etwas Pflaumenmus auf ein Stück Brot, aß es und  leckte sich nachher die Finger ab. Dann sah er zu dem alten braunhäutigen Mann  hin und sagte:
  «On est bien ici, n'est ce pas. Monsieur Morue?»
  «Oui, on  est bien ici», erwiderte der alte braunhäutige Mann mit einer Stimme, so  barsch, dass sie zu poltern schien. Ganz langsam stand er auf. «Gut! Ich muss  auf meinen Kahn!» Dann rief er: «Chipette!»
  «Oui,  M'sieu.»
  Ein  kleines Mädchen in einer schwarzen Schürze, das Haar in zwei festen Zöpfen, die  hinter ihrem winzigen, kugelrunden Köpfchen einherflatterten, kam durch die Tür  aus den hinteren Regionen gelaufen.
  «Da, gib  das deiner Mutter», sagte der alte braunhäutige Mann und legte ihr einige  Kupfermünzen in die Hand.
  «Oui,  M'sieu.»
  «Bleiben  Sie doch lieber hier in der Wärme», sagte Andrews gähnend.
  «Ich muss  arbeiten gehen», polterte der alte Mann. «Nur die Herren Soldaten brauchen  nicht zu arbeiten.»
  Als die  Tür aufging, wirbelte ein rauer Luftzug durch die Weinkneipe, und von dem  kotbespritzten Kai kam Windessausen und Hagelzischen. Die Katze flüchtete zum  Ofen, mit buckeligem Rücken und zuckendem Schwanz. Die Tür fiel zu. Die  Silhouette des alten braunhäutigen Mannes, schief in den Wind geneigt, glitt an  dem grauen länglichen Viereck des Fensters vorbei.
  Andrews  machte sich wieder an seine Arbeit.
  «Aber Sie  sind sehr fleißig, M'sieur Jean!» sagte Chipette, stützte das Kinn auf den  Tisch neben den Büchern und blickte zu ihm auf mit Äuglein wie schwarze Perlen.
  «Na, wer  weiß?»
  «Wenn ich  mal groß bin, rühre ich keine Hand mehr. Dann fahre ich in einer Kutsche  spazieren.»
  Andrews  lachte. Chipette betrachtete ihn eine Weile und ging dann mit der leeren  Kaffeetasse ins Hinterzimmer.
  Vor dem  Ofen saß die Katze auf den Hinterbeinen und leckte sich rhythmisch die eine  Pfote mit einer rosigen, gekringelten Zunge, die wie ein Rosenblatt aussah.
  Andrews  pfiff einige Takte vor sich hin, den Blick auf die Katze gerichtet.
  «Was  hältst du davon, Minet? Das ist la reine de Saba - la reine  de Saba...»
  Mit  großer Behutsamkeit rollte die Katze sich wieder zusammen und schlief ein.
Andrews  begann an Jeanne zu denken, und der Gedanke an sie ließ ein Gefühl ruhigen  Wohlseins durch seinen Körper strömen. Wenn er mit ihr durch die abendlichen,  menschengefüllten Straßen schlenderte, besänftigte die Berührung mit ihrem  Körper die Erregtheit seiner Nerven, so wie er es noch nie vorher gekannt  hatte. Es erregte ihn, mit ihr zu sein, doch sehr süß und sanft, so dass er  fast vergaß, dass seine Glieder steif in eine unbequeme Uniform eingepresst  waren, so dass seine fiebrigen Wünsche fast aus ihm auszuströmen schienen, bis  er mit ihrem Körper zusammen mühelos in dem Strome all der Leben der  vorübergehenden Menschen zu treiben schien. Er war dann so matt von der ruhigen  Liebe, die ihn umströmte, dass die harten Wälle seiner Individualität fast  ganz in dem nebligen Straßenzwielicht zu zerfließen schienen, und auf einen  Augenblick, wie er daran dachte, stieg ihm der Geruch von Blumen, schwer von  Blütenstaub und von sprießendem Gras und feuchtem Moos und schwellenden Säften  in die Nase. Manchmal, wenn er an einem rauen Tage im Ozean schwamm, hatte er  dieselbe unbekümmerte Heiterkeit gefühlt, wenn er von einer ungeheuren,  brausenden Welle gefangen an die Küste getragen wurde. Er saß ruhig und still  in dem leeren Weinladen an diesem grauen Nachmittag und fühlte sein Blut in den  Adern murmeln und anschwellen, wie das neue Leben jetzt murmelte und anschwoll  in den klebrigen Knospen der Bäume, im zarten Grün, das sich unter ihrer rauen  Rinde regte, in den kleinen Tieren der Wälder und in dem süß duftenden Vieh,  das auf den Wiesen zur Weide hinausging. Dieser Vorfrühling war eine unwiderstehliche  Kraftquelle, die ihn und alle mit sich forttrug.
  Die Uhr  schlug fünf. Andrews sprang auf und stürzte, noch kaum in seinen Mantel  geschlüpft, aus der Tür.
  Ein rauer  Wind blies auf dem Platze. Der Fluss war schmutzig graugrün angeschwollen und  reißend. Ein heiseres, triumphierendes Brüllen entstieg seinen Wellen. Der Regen  hatte aufgehört, aber das Pflaster war mit Matsch bedeckt, und in der Gosse  waren große Pfützen, die der Wind kräuselte. Alles - Häuser, Brücken, Fluss und  Himmel - war kalt graugrün beschattet und nur von einem Fetzen Ockergelb am  Himmel unterbrochen, gegen den Notre Dame und ihr schlanker Turm dunkel und  rötlich aufragten. Andrews ging mit schnellen Schritten, patschte durch die  Pfützen, bis er gegenüber dem niedrigen Gebäude der Morgue einen überfüllten  grünen Autobus erreichte.
  Draußen  vor dem Hotel Crillon waren viele Limousinen, olivgrau, mit weiß gemalten  Zahlen auf den Türen. Die Fahrer, Männer in olivgrauen Mänteln, deren Kragen  rund um ihre roten Gesichter standen, warteten in Gruppen unter dem Portal.  Andrews passierte die Wache und ging durch die Drehtür in die Halle, die ihm  seltsam vertraut war. Hier roch es genau wie in den Vestibülen der New Yorker  Hotels - nach Zigarettenrauch und Möbelpolitur. Auf der einen Seite führte eine  Tür in ein großes Esszimmer, wo viele Frauen und Männer Tee tranken und aus dem  Geruch von Backwerk strömte. Auf dem roten Teppich vor ihnen standen Offiziere  und Zivilisten, die leise miteinander sprachen. Das Geräusch von klirrenden  Sporen und klapperndem Geschirr war aus dem Restaurant zu hören, und in Andrews'  Nähe, der von einem Fuß auf den anderen trat, saß in einem Ledersessel ein  dicker Mann mit einem schwarzen Velourhut über den Augen und einer großen  Uhrkette, die über seinem voluminösen Bauch spannte. Gelegentlich räusperte er  sich und spuckte in den Spucknapf neben sich.
  Endlich  erblickte Andrews Aubrey, der mit seinen weißen Backen und seiner großen,  runden Hornbrille wie eine abgewaschene Porzellanpuppe aussah.
  «Komm  mit», sagte er und presste Andrews am Arm. «Du kommst spät!»
  Dann fuhr  er fort und sprach flüsternd in Andrews' Ohr beim Hinausgehen durch die Tür:  «Große Dinge sind heute auf der Konferenz vor sich gegangen, kann ich dir nur  sagen, alter Junge!»
  Sie  überschritten die Brücke. Bei der Deputiertenkammer, den Fluss hinunter, konnte  man undeutlich den Eiffelturm sehen, der wie ein Stück Spinnengewebe, zwischen  die Stadt und die Wolken gehängt, von dünnem Nebel umflossen war.
  «Müssen  wir wirklich zu diesen Leuten gehen, Aubrey?»
  «Ja, du  kannst nicht mehr zurück. Geneviève Rod will etwas von dir über amerikanische  Musik hören.»
  «Aber was  in aller Welt kann ich ihr von amerikanischer Musik erzählen?»
  «Hat es  denn nicht einen Mann namens MacDowell gegeben, der verrückt wurde — oder so  ähnlich?» Andrews lachte.
  «Aber du  weißt doch, dass ich keine guten Manieren habe... Ich muss wohl verkünden, dass  ich Foch für einen kleinen Blechgötzen halte, ja?»
  «Wenn du  nicht willst, brauchst du gar nichts zu sagen... Übrigens sind es sehr  fortschrittliche Menschen.»
  «Ach, zum  Kuckuck...»
  Sie  gingen eine Treppe mit braunen Teppichen hinauf. Auf den Treppenabsätzen hingen  Stiche an der Wand, und es roch leicht nach abgestandenem Essen und Kehricht.
  Oben  angelangt klingelte Aubrey an einer gefirnissten Tür. Nach einem Augenblick  öffnete ein Mädchen. Sie hatte eine Zigarette in der Hand, ihr Gesicht war  bleich unter einer Masse rötlich-braunen Haares, ihre Augen sehr groß und  hellbraun, so groß wie die Augen der Frauen auf den Gemälden von Artemisias  und Berenike, die man in den Gräbern von Fajum fand. Sie trug ein einfaches  schwarzes Kleid.
  «Enfin»,  sagte sie und streckte Aubrey die Hand entgegen.
  «Hier ist  mein Freund Andrews.»
  Sie hielt  ihm abwesend die Hand entgegen und schaute immer noch hinüber zu Aubrey.
  «Spricht  er Französisch?...  Gut... Hierher bitte.»
  Sie gingen  in ein großes Zimmer, in dem es ein Piano gab, und wo eine ältliche Frau mit  grauem Haar, gelben Zähnen und denselben großen Augen wie ihre Tochter vor dem  Kamin stand.
  «Maman, enfin ils arrivent, ces Messieurs.» «Geneviève hatte Angst, Sie würden nicht kommen»,  sagte Madame Rod zu Andrews lächelnd. «Monsieur Aubrey hat uns
  so viel  von Ihrem Spiel vorgeschwärmt, dass wir den Tag über ganz aufgeregt waren... Wir verehren die Musik.»
  «Ich  wünschte, ich könnte etwas mehr tun, als die Musik nur verehren», sagte  Geneviève Rod hastig. Dann fuhr sie mit einem kurzen Lächeln fort: «Aber ich  vergaß, — Monsieur Andrews — Monsieur Ronsard.»
  Sie  machte mit ihrer Hand eine Geste von Andrews zu dem jungen Franzosen, der sich  in seinem Cutaway und seiner sehr engen Weste zu Andrews hinüber verbeugte.
  «Jetzt  wollen wir ein wenig Tee trinken», sagte Geneviève Rod. «Man kann nur richtig  miteinander sprechen, wenn man Tee getrunken hat. Nur nach dem Tee ist man  amüsant.»
  Sie zog  einige Portieren zurück, die die Tür in das nebenanliegende Zimmer verbargen.
  «Ich  verstehe, warum Sarah Bernhardt Portieren so hebt», sagte sie. «Sie verleihen  dem Dasein etwas Dramatisches... Es  gibt nichts Heroischeres als Portieren!»
  Sie saß  am Kopfende eines Eichentisches, wo Porzellangeschirr mit buntem Gebäck, ein  alter Kessel, unter dem Spiritus brannte, eine Meißener Kanne in mattgelben und  grünen Tönen und Tassen und Teller mit einem dumpfroten Doppeladlermuster in  schöner Anordnung standen.
  «Tout ca», sagte  Geneviève und zeigte mit ihrer Hand über den Tisch, «c'est boche... Aber wir haben nichts anderes. Wir  müssen uns also damit behelfen.»
  Die alte  Frau, die neben ihr saß, flüsterte ihr etwas zu und lachte. Geneviève setzte  eine Schildpattbrille auf und begann Tee einzuschenken.
  «Debussy  hat einmal aus dieser Tasse getrunken...  Sie hat einen Sprung», sagte sie und gab sie John Andrews. «Kennen Sie  Mussorgsky, und können Sie etwas von ihm uns nachher spielen?»
  «Ich kann  überhaupt nichts mehr spielen...  Vielleicht nach drei Monaten wieder.»
  «Oh,  niemand erwartet von Ihnen etwas Vollkommenes. Sie sollen uns nur ein wenig  unterhalten, das ist alles, was ich will.»
  «Ich habe  meine Zweifel.»
  Andrews  schlürfte seinen Tee langsam, sah dann und wann zu Geneviève hinüber, die  plötzlich sehr geschäftig mit Ronsard zu sprechen begonnen hatte. Sie hielt  eine Zigarette zwischen den
  Fingern  ihrer langen, dünnen Hand. Ihre großen, hellbraunen Augen waren erstaunt, als  ob sie heute zum ersten Mal in die Welt schauten. Ein Lächeln erschien und  verschwand maliziös auf der Rundung ihrer Wange — ging von ihren kleinen, festen  Lippen aus. Die ältere Frau neben ihr sah beständig ihre Gäste mit einem  vergnügten Ausdruck von Gastfreundlichkeit an und lächelte verbindlich, so dass  man ihre gelben Zähne sehen konnte.
  Nachher  gingen sie wieder hinüber in das andere Zimmer, und Andrews setzte sich an das  Klavier. Das Mädchen saß sehr gerade in einem kleinen Sessel neben dem Klavier.  Andrews ließ seine Finger über die Tasten gleiten.
  «Sie  sagten, Sie kennen Debussy?»
  «Ich?  Nein. Aber er pflegte meinen Vater zu besuchen, als ich noch ein kleines  Mädchen war. Ich bin mit der Musik aufgewachsen...  Es ist sehr dumm, eine Frau zu sein. Ich habe Musik nicht im  Kopf. Natürlich habe ich ein Gefühl für sie, wie auch die Tische und Stuhle in  diesem Hause, nach der vielen Musik, die sie gehört haben.»
  Andrews  begann Schumann zu spielen. Plötzlich hielt er inne.
  «Können  Sie singen?» fragte er.
  «Nein.»
  «Ich  möchte gern die Croses Lyriques versuchen...  Ich habe sie nie gehört.»
  «Ich habe  einmal versucht, de Soir zu singen», sagte sie.
  «Wunderbar!  Singen Sie!»
  «Ach, du  lieber Gott — es ist mir viel zu schwer.»
  «Was hat  es für einen Zweck, die Musik zu heben, wenn man nicht bereit ist,  draufloszupfuschen, nur um Musik zu machen...   Ehrenwort — ich höre lieber einen Menschen Auprès de ma Blonde auf einer Posaune herunterstottern, als Kreisler so  makellos Paganini fiedeln, dass einem übel davon wird.»
  «Es gibt  einen Mittelweg.»
  Er  unterbrach sie, indem er wieder zu klimpern begann. Während er  drauflosspielte, ohne sie anzusehen, spürte er, dass ihre Blicke an ihm hingen,  dass sie mit angehaltenem Atem hinter ihm stand. Ihre Hand berührte seine  Schulter. Er hielt inne.
  «Oh,  Verzeihung!» sagte sie.
  «Ich war  ohnedies fertig.»
  «Sie  haben etwas Eigenes gespielt.»
  «Haben  Sie je La Tentation de Saint Antoine gelesen?» fragte Andrews leise. «Von Flaubert?» «Ja.»
  «Es ist  nicht seine beste Arbeit, aber immerhin ein sehr interessanter, wenn auch missglückter  Versuch», sagte sie.
  Andrews  stand vom Klavier auf, plötzlich sehr irritiert. «Man scheint hier alle Leute  zu lehren, das zu sagen», murmelte er. Er bemerkte plötzlich, dass auch noch  andere Menschen im Zimmer waren und ging zu Madame Rod hinüber. «Sie müssen  mich entschuldigen», sagte er. «Ich habe noch eine Verabredung.»
  «Aubrey, lass  dich nicht stören, ich komme schon zu spät, ich muss mich beeilen.»
  «Kommen  Sie doch bald wieder, uns besuchen.»
  «Danke  schön», murmelte Andrews.
  Geneviève  Rod begleitete ihn zur Tür.
  «Wir  müssen einander besser kennen lernen», sagte sie. «Ich mag Sie gern, weil Sie  so plötzlich davonlaufen.»
  Andrews  wurde rot. «Ich bin schlecht erzogen», sagte er und drückte ihre dünne, kühle  Hand. «Und ihr Franzosen müsst euch immer daran erinnern, dass wir Barbaren  sind. Manche bedauern es zu sein; ich nicht.»
  Sie  lachte, und John Andrews lief die Treppen hinab und hinaus in die graublauen  Straßen, wo die Lampen gelblich brannten. Er fühlte irgendwie unsicher, dass  er sich wie ein Narr benommen hatte. Ihn packte eine hilflose Wut. Mit langen  Schritten ging er durch die Straßen der Rive Gauche, die voller Menschen  waren, welche von der Arbeit nach Hause gingen, nach dem kleinen Weinlokal am  Quai de la Toumelle.
Es war  ein Pariser Sonntagmorgen. Alte Frauen in schwarzen Tüchern gingen in die  Kirche von Saint Etienne-du-Mont. Jedes Mal, wenn die Ledertüren aufgingen,  wehte ein leichter Weihrauchduft in die verräucherte Morgenluft hinaus. Drei  Tauben spazierten auf den Pflastersteinen herum, setzten mit wichtiger Miene  das eine korallrote Füßchen vors andere. Die scharfe Fassade der Kirche, ihr  schlanker Turm und die Kuppel warfen auf den Platz davor einen bläulichen  Schatten, in dem die Schatten, welche die alten Frauen hinter sich  herschleiften, verschwanden, wenn sie in die Kirche hineinhumpelten. Die  gegenüberliegende
  Seite des  Platzes und das Gelände des Pantheons waren mit orangefarbenem Sonnenlicht  überflutet.
  Andrews  sah in den Himmel und dann auf die Tauben und die Fassaden der Bibliothek von  Sainte Geneviève und auf die wenigen Menschen, die am Rande des Platzes  vorbeispazierten, registrierte mit stiller Freude Formen und Farben und kleine  komische Eigenheiten, alles fast selbstgefällig genießend. Er hatte das  Gefühl, nun gehe es voran mit seiner Musik, unverdrossen, er lebte den ganzen  Tag in ihren Rhythmen. Sein Hirn und seine Finger wurden immer geschmeidiger.  Die harten Krusten, die sein Denken eingeengt hatten, begannen zu zerbröckeln.  Wie er so hin und her marschierte vor der Kirche und auf Jeanne wartete, legte  er sich Rechenschaft über seinen Zustand ab. Er war sehr glücklich.
  «Eh  bien?»
  Jeanne  war unbemerkt an ihn herangekommen. Sie liefen wie Kinder Hand in Hand über den  sonnigen Platz.
  «Habe  noch keinen Kaffee getrunken», sagte Andrews.
  «Wie spät  musst du aufgestanden sein. Aber du kannst keinen bekommen, ehe wir in Porte  Maillot sind.»
  «Warum  denn nicht?»
  «Weil ich  es sage.»
  «Aber das  ist ja grausam.»
  «Es  dauert nicht lange.»
  «Aber ich  sterbe doch vor Hunger. Ich werde in deinen Händen sterben.»
  «Verstehst  du denn nicht? Sind wir erst einmal an der Porte Maillot, liegt dein und mein  Leben weit hinter uns. Dann wird der Tag uns ganz gehören. Man muss das  Schicksal nicht versuchen.»
  «Du bist  ein seltsames Mädchen.»
  Die Metro  war nicht voll. Andrews und Jeanne saßen sich gegenüber, ohne zu sprechen.  Andrews sah auf die Hände des Mädchens, kleine zerarbeitete Hände mit Flecken  an den Fingerspitzen, an denen die Haut zerrissen und wund war. Plötzlich bemerkte  sie seinen Blick. Er wurde rot. Sie aber sagte heiter:
  «Nun,  eines Tages werden wir alle reich sein wie die Prinzen und Prinzessinnen in den  Märchenbüchern.»
  Sie  lachten beide.
  Als sie  den Zug an der Endstation verließen, legte er seinen Ann zaghaft um sie. Sie  trug kein Korsett. Seine Finger zitterten in der Biegsamkeit des Fleisches  unter ihren Kleidern. Er fühlte eine Art Schrecken und nahm den Arm weg. Als  sie in das Sonnenlicht hinaustraten unter die nackten Bäume der breiten  Straße, sagte sie ruhig:
  «Du  kannst jetzt so viel Kaffee trinken, wie du willst.»
  «Du musst  welchen mittrinken.»
  «Warum so  verschwenderisch? Ich habe ja schon gefrühstückt.»
  «Aber ich  will doch den ganzen Tag verschwenderisch sein. Wir können also schon jetzt  damit beginnen. Ich weiß nicht, warum, aber ich bin sehr glücklich. Wir werden  Weißbrötchen essen.»
  «Aber,  mein Lieber, heutzutage können doch nur noch Schieber Weißbrötchen essen.»  «Na, dann Pass mal auf.»
  Sie  gingen in eine Bäckerei. Eine ältliche Frau mit magerem, gelblichem Gesicht und  dünnem Haar bediente sie und warf aus ihren Augen neidische Blicke auf sie, als  sie vor ihnen die schönen, knusprigen Weißbrötchen aufhäufte.
  «Sie  werden den Tag wohl auf dem Lande verbringen?» fragte sie sinnend, als sie  Andrews das Geld herausgab.
«Ja, wie  gut Sie es erraten haben!»
Als sie  zur Tür hinausgingen, hörten sie sie murmeln: «Oh, la jeunesse, la jeunesse!»
Sie  fanden einen Tisch in der Sonne in einem Cafe gegenüber dem Tor, von dem aus  sie die Menschen und Automobile und Wagen sehen konnten. Dahinter war ein  grasbewachsenes Stück Befestigung, das dem Ganzen ein 1870er Aussehen  gab.
«Wie  lustig es an der Porte Maillot ist!» rief Andrews aus.
Sie sah  ihn an und lachte.
«Ach, und  wie lustig der Herr heute ist!»
«Hier  gefällt es mir immer. Hier fühlt man sich immer wohl... Auf dem Hinweg hat man das schöne Gefühl, die Stadt zu verlassen  — auf dem Rückweg den Spaß, wieder in die Stadt zurückzukehren...  Aber du isst ja keine Brioches.»
«Ich habe  eine gegessen. Iß du sie. Du bist hungrig.»
«Jeanne,  ich glaube nicht, dass ich je in meinem Leben so glücklich gewesen bin... Diese Freude über die Freiheit ist es  wert, in der Armee gewesen zu sein. Dieses Leben in Angst... Wie geht es Etienne?»
«Der ist  in Mainz und langweilt sich.»
«Jeanne,  wir müssen sehr viel leben, wir, die wir frei sind, für alle diese Menschen,  die sich immer noch so langweilen.»
«Wird  ihnen nicht sehr viel helfen!» rief sie lachend.
«Es ist  seltsam, Jeanne, ich habe mich danach gedrängt, zum Militär zu kommen; ich war  fast krank davon, frei zu sein und nichts zu erreichen. Jetzt habe ich gelernt,  dass man das Leben nutzen muss, dass man es nicht in der Hand halten darf wie  eine Bonbonschachtel, aus der niemand isst.»
Sie sah  ihn fragend an.
«Ich  meine, ich glaube nicht, dass wir aus dem Leben genug herausholen», sagte er.  «Wir wollen gehen.» Sie standen auf.
«Was  meinst du eigentlich?» fragte sie langsam. «Man nimmt eben das, was das Leben  gibt, das ist alles. Es gibt keine Wahl... Aber  schau, da ist der Malmaison-Zug. Wir müssen laufen.»
Kichernd  und atemlos kletterten sie auf den Anhänger und standen eingezwängt auf der  hinteren Plattform, wo alles stieß und schimpfte. Der Wagen begann durch  Neuilly zu holpern. In dem dichten Menschenknäuel wurden sie aneinandergepresst.  Andrews legte den Arm fest um Jeannes Mitte und blickte auf ihre blasse Wange  hinunter, die an seine Brust gedrückt wurde. Ihr rundes, schwarzes Strohhütchen  mit dem roten Blumentupfer reichte ihm gerade bis ans Kinn.
«Ich sehe  gar nichts», stieß sie kichernd hervor und schnappte ein wenig nach Luft.
«Ich  werde dir die Gegend beschreiben», erwiderte Andrews. «Schau, jetzt fahren wir  schon über die Seine.»
«Ach, wie  hübsch muss das sein!»
Ein alter  Herr mit einem weißen Spitzbart stand neben ihnen und lachte wohlwollend.
«Aber  finden Sie denn nicht, dass die Seine schön ist?» Jeanne blickte frech zu ihm  auf.
«Zweifellos,  zweifellos...  Sie haben es nur so  komisch gesagt. Die Herrschaften fahren nach St. Germain?» fragte der alte  Herr,
«Nein,  nach Malmaison.»
«Oh, Sie  sollten lieber nach St. Germain fahren. Dort befindet sich Monsieur Reinachs  prähistorisches Museum. Großartig! Sie sollten nicht in Ihre Heimat  zurückkehren, ohne es gesehen zu haben.»
«Gibt es  dort auch Affen!» fragte Jeanne.
«Nein»,  sagte der alte Herr und wandte sich ab.
«Ich habe  Affen zum Fressen gern», sagte Jeanne.
Der Zug  fuhr an einem breiten, leeren Boulevard mit Bäumen und Rasen und Reihen kleiner  Häuser vorbei. Viele Leute waren ausgestiegen, und es war genug Platz. Andrews  aber behielt seinen Arm um des Mädchens Hüften. Die beständige Berührung mit  ihrem Körper machte ihn matt und schlaff.
«Wie gut  es hier riecht», sagte Jeanne. «Das ist der Frühling.»
«Ich  möchte im Rasen hegen und Veilchen essen. Oh, wie gut warst du, mich so  hinauszunehmen, Jeanne.»
«Du  kennst doch gewiss genug feine Damen, mit denen du hättest herausgehen können;  du bist ja so gebildet. Wie kommt es, dass du nur ein gewöhnlicher Soldat  bist?»
«Guter  Gott, ich möchte doch nicht Offizier sein!»
«Es muss  doch herrlich sein, Offizier zu sein.»
«Will  Etienne vielleicht Offizier sein?»
«Der ist  ja Sozialist. Das ist was anderes.»
«Nun,  vielleicht bin ich auch einer. Aber sprechen wir von etwas anderem.»
Andrews  ging zur anderen Seite der Plattform. Sie kamen an kleinen Villen und Gärten  vorbei, in denen gelbe und blassrote Krokusse blühten. Dann und wann war der  Duft von Veilchen in der feuchten Luft zu riechen. Die Sonne war hinter  sanften, rötlich-grauen Wolken verschwunden. Gelegentlich strich ein feuchter  Wind an ihnen vorbei.
Andrews  dachte plötzlich an Geneviève Rod. Seltsam, wie lebhaft er sich an ihr Gesicht  erinnern konnte, an ihre großen Augen und an ihre seltsame Art zu lächeln, ohne  ihre festen Lippen zu bewegen. Wie dumm war es doch gewesen, plötzlich  davonzulaufen! Er spürte unvermittelt den Wunsch, wieder mit ihr zu sprechen.  Dinge, die er ihr sagen wollte, kamen ihm ins Bewusstsein.
«Nun,  schläfst du?» fragte Jeanne und zog ihn am Arm. «Hier sind wir.» Andrews wurde  plötzlich rot.
«Oh, wie  schön ist es hier, wie schön ist es hier!» sagte Jeanne. «Oh, es ist schon  elf», sagte Andrews.
«Wir  müssen uns noch vor dem Mittagessen das Schloss ansehen!» rief Jeanne und lief  durch eine Lindenallee, wo die fetten Knospen sich soeben zu kleinen,  runzligen, grünen Fächern entfalteten. In den feuchten Gräben links und rechts spross  junges Gras. Andrews lief ihr nach, seine Füße stampften schwer über den  nassen Kies. Als er sie eingeholt hatte, umarmte er sie ungestüm und küsste  ihren keuchenden Mund. Sie riss sich los und ging mit sittsamen Schritten  weiter, den Hut zurechtrückend.
«Untier!»  sagte sie. «Diesen Hut habe ich mir eigens zurechtgemacht, um mit dir  auszugehen, und jetzt gibst du dir Mühe, ihn zu ruinieren.»
«Armes  Hütchen!» sagte Andrews. «Aber heute ist es so schön, und du bist sehr süß,  Jeanne.»
«Das hat  sicher auch der große Napoleon zur Kaiserin Josephine gesagt, und du weißt  doch, wie er sie nachher behandelt hat», sagte Jeanne fast ernst.
«Aber sie  hat ihn doch schon vorher gründlich satt gehabt.»
«Nein»,  sagte Jeanne, «so sind die Frauen.»
Sie gingen  durch ein breites Eisentor in den Schlosspark.
Eine  Weile später saßen sie an einem Tisch im Garten eines kleinen Restaurants. Eine  bleiche Sonne war eben zum Vorschein gekommen, Messer, Gabeln und der weiße  Wein in den Gläsern schimmerten matt in ihren Strahlen. Das Essen war noch  nicht serviert. Stumm saßen sie da und sahen einander an. Andrews war müde und  melancholisch. Er wusste nichts zu sagen, es wollte ihm nichts einfallen.  Jeanne spielte mit ein paar winzigen Maßliebchen mit rosa Spitzen an den  Blütenblättern, ordnete sie auf dem Tischtuch zu Kreisen und Kreuzen.
«Das geht  aber langsam», sagte Andrews.
«Aber  hier sitzt man sehr nett, nein?» Jeanne lächelte strahlend. «Ach, sieht der  Herr jetzt wieder finster drein!» Sie warf einige Blumen nach ihm. Dann, nach  einer Pause, fügte sie spöttisch hinzu: «Das macht der Hunger, mein Lieber.  Ach du meine Güte, wie sehr die Männer vom Essen abhängig sind!»
Andrews  leerte sein Glas auf einen Zug. Er hatte das Gefühl, er brauche sich nur  anzustrengen, um die erstickende, trübe Stimmung von sich abzuwälzen, die auf  ihm lastete wie ein Gewicht, das immer schwerer wurde.
Ein Mann  in Khaki, Gesicht und Hals scharlachrot, kam in den Garten gestolpert, ein  schmutzverkrustetes Fahrrad neben sich herschleppend. Er ließ sich auf einen  Eisenstuhl sinken, und das Fahrrad fiel krachend zu Boden.
«He — he  —!» rief er mit heiserer Stimme.
Ein  Kellner erschien und betrachtete ihn misstrauisch. Der Mann in Khaki hatte  Haare so rot wie sein Gesicht, das vor Schweiß glitzerte. Sein Hemd war  zerrissen, er hatte keine Jacke an. Kniehose und Gamaschen waren vor Dreck  nicht zu sehen.
«Gib mir  n Bier!» krächzte der Mann in Khaki.
Der  Kellner zuckte die Achseln und wandte sich zum Gehen.
«Il demande une bière», sagte Andrews.
«Mais,  Monsieur...»
«Ich  bezahle. Bringen Sie es ihm.»
Der  Kellner verschwand.
«Dankeschön,  Yankee!» krächzte der Mann in Khaki.
Der  Kellner brachte ihm ein hohes, schmales, gelbes Glas. Der Mann in Khaki nahm es  entgegen, leerte es auf einen Zug und gab es ihm zurück. Dann spuckte er aus,  wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, erhob sich mühsam und watschelte  auf Andrews' Tisch zu.
«Ich  hoffe doch, die Dame und Sie werden nichts dagegen haben, wenn ich ein bisschen  mit Ihnen quatsche, oder?»
«Los,  setzen Sie sich, Mann! Wo kommen Sie denn her?»
Der Mann  in Khaki zog einen Eisenstuhl näher an den Tisch heran. Bevor er sich  hinsetzte, machte er eine kleine Verbeugung vor Jeanne und zupfte gleichzeitig  mit ernster Miene an einer roten Locke. Nach einigem Gefummel brachte er ein  rotgerändertes Taschentuch zum Vorschein und wischte sich das Gesicht ab. Auf  seiner Stirn blieb ein länglicher schwarzer Schmierölfleck zurück.
«Ich habe  wichtige Geheimmeldungen bei mir, Herr Amerikaner», sagte er und lehnte sich  auf dem Eisenstühlchen zurück. «Ich bin Depeschenfahrer.»
«Sie  machen einen erschöpften Eindruck.»
«Ach wo!  Ich bin überfallen worden. In einem kleinen Wald an einem See. Die Säue wollten  mich umlegen.»
«Was soll  das heißen?»
«Wahrscheinlich  haben sie was läuten hören...  Ich  habe wichtige Mitteilungen von unserem Hauptquartier in Rouen an euren  Präsidenten bei mir. Na, da kam ich mit meinem Motorrad nach der hiesigen Seite  zu durch ein beschissenes Dickicht — keine Ahnung, wie der beschissene Ort sich  schimpft... Ich hatte fünfzig Sachen  drauf, denn der Weg war finster, da sehe ich vier
Rabauken  mitten auf der Straße stehen — sie kamen mir gleich verdächtig vor — also ich  hau' ran, was das Zeug hält, und glatt auf den mittleren zu. Er schmeißt sich  auf die Seite. Dann fingen sie zu ballern an, und eine beschissene Kugel hat  mir das Rad kaputtgeballert... Aber  ich bin ein Glückskind — und das war meine Rettung! Ich rapple mich aus dem  Graben hoch und hau' ab in den Wald; sie haben mich nicht erwischt. Dann kam  ich zu einem andern beschissenen Ort und habe mir dort diese olle Schwitzkarre  requiriert... Wie viele Furzer sind  es denn noch bis Paris, Herr Amerikaner?»
«Ich  glaube, fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer.»
«Was sagt  er, Jean?»
«Man hat  ihn unterwegs überfallen. Er ist Depeschenbote.»
«Ach, ist  er hässlich! Engländer?»
«Ire.»
«Na, aber  sicher, meine Dame! Irländer — bin ich... Sie haben sich etwas Hübsches angelacht, Herr  Amerikaner. Aber warten Sie bloß, bis ich nach Paris komme. Meine Gratifikation! Wird mir glatt  hundert Pfund einbringen. Aus welcher Gegend sind denn Sie?»
«Aus  Virginia. Ich lebe in New York.»
«Ich war  in Detroit. Sowie ich mir hier noch ein paar Prämien zusammengeholt habe, gehe  ich wieder rüber — Automobilbranche. Europa ist tot und stinkt. Nischt für  einen jungen Menschen! Tot und stinkig, weiter nischt.»
«Ich  finde das Leben hier angenehmer als in Amerika...  Sagen Sie mal, passiert es Ihnen oft, dass Sie überfallen werden?»
«Mir ist  es noch nie passiert, aber Kameraden von mir.»
«Wer  könnte es denn gewesen sein?»
«Keene  Ahnung. Rund um die Friedenskonferenz wimmelt's von beschissenen Geheimagenten.  Werden wohl welche gewesen sein...  Aber jetzt muss ich weiter. Die Depesche hat's eilig.»
«Schön.  Das Bier bezahle ich.»
«Dank' schön,  Yankee.» Der Mann stand auf, reichte Andrews und Jeanne die Hand, schwang sich  auf sein Rad und rollte durch den Garten auf die Straße hinaus, sich zwischen  den eisernen Stühlen und Tischen hindurchschlängelnd.
«Ein  komischer Kerl!» rief Andrews lachend aus. «Was für ein Witz ist das doch  alles!»
Der  Kellner kam mit der Omelette, die das Mittagessen einleiten sollte.
«Da  bekommt man einen Begriff davon, wie die alte Lava im Vulkan brodelt. Nirgendwo  tanzt es sich besser als auf einem Vulkan.»
«Aber sag  doch nicht solche Sachen.» Jeanne legte Messer und Gabel hin. «Das ist  schrecklich. Wir vergeuden unsere Jugend — ohne jeden Sinn. Als unsere Väter  jung waren, da haben sie ihr Leben genossen...  Und wenn nicht der Krieg gekommen wäre, wären wir so glücklich geworden,  Etienne und ich. Mein Vater hatte eine kleine Seifen- und Parfumfabrik. Etienne  hätte eine blendende Stellung bekommen. Ich hätte nicht zu arbeiten brauchen.  Wir hätten ein hübsches Haus. Ich wäre verheiratet...»
«So aber  bist du ein viel freierer Mensch, Jeanne.»
Sie  zuckte die Achseln. Dann stieß sie hervor:
«Was  nützt mir die Freiheit? Was fängt man mit ihr an? Man will doch gut leben und  ein hübsches Haus haben und bei den Leuten was gelten. Ach, vor dem Krieg war  das Leben in Frankreich so schön.»
«In  diesem Falle lohnt sich das Leben nicht», sagte Andrews in heftigem Ton, sich  mühsam beherrschend.
Wortlos  aßen sie weiter. Der Himmel überzog sich. Ein paar Tropfen platschten aufs  Tischtuch.
«Den  Kaffee müssen wir drin trinken», sagte Andrews.
«Und du  findest es lustig, dass man auf einen Mann schießt, der mit seinem Motorrad  durch einen Wald fährt! Mir kommt das alles schrecklich vor, schrecklich»,  sagte Jeanne.
«Pass  auf! Jetzt fängt es an zu regnen.»
Sie  rannten durch den ersten prasselnden Guss ins Restaurant und setzten sich an  einen Fenstertisch, sahen zu, wie die Regentropfen auf den grünlackierten  Eisentischen tanzten und glitzerten. Feuchte Windstöße brachten den Geruch  nassen Erdreichs und den Pilzgeruch durchweichten Laubes zur Tür herein. Ein  Kellner machte die Glastür zu und schob die Riegel vor.
«Er  möchte den Frühling aussperren — aber das wird ihm nicht gelingen», sagte  Andrews.
Über die  Kaffeetassen weg sahen sie einander lächelnd an. Nun waren sie wieder ein Herz  und eine Seele.
Als es zu  regnen aufhörte, gingen sie über die nassen Felder auf einem Fußpfad, der voll  kleiner Pfützen war, die den blauen Himmel und die weißen Wolken reflektierten.  Sie gingen langsam, Arm in Arm und pressten ihre Körper aneinander. Sie waren  sehr müde, wussten nicht warum und blieben oft stehen, um sich gegen die  feuchten Stämme der Bäume zu lehnen. Neben einem mattblauen Teich, in dem sich  gelblich und silbern der Himmel spiegelte, fanden sie unter einer dicken Buche  eine Menge wilde Veilchen, die Jeanne begierig pflückte und zu den kleinen,  rotzüngigen Maßliebchen in ihrem festgepressten Strauß tat. An der  Vorortbahnstation saßen sie schweigend, Seite an Seite, auf einer Bank — ab und  zu an den Blumen riechend —, so versunken in erschlaffter Müdigkeit, dass sie  kaum Kraft zusammenholen konnten, um einen Platz auf dem Oberdeck eines  Dritter-Klasse-Wagens zu erklettern, der vollgepfropft war mit Menschen, die  einen Tag auf dem Lande verbracht hatten und jetzt nach Hause fuhren. Jeder  hatte Veilchen, Krokusse und Zweige mit Knospen in der Hand. Aus den steifen  Stadtkleidern der Leute strömte ein Geruch nasser Felder und sprießender  Wälder. Alle Mädchen kreischten und warfen ihre Arme um die Männer, wenn der  Zug durch einen Tunnel oder unter einer Brücke fuhr. Was auch geschah, alle  lachten. Als der Zug in der Station ankam, verließen sie ihn beinahe  widerwillig, als hätten sie das Gefühl, von diesem Augenblick an beginne wieder  der Alltag. Andrews und Jeanne gingen den Bahnsteig hinunter, ohne sich zu  berühren. Ihre Finger waren schmutzig und klebrig von den vielen Knospen und  jungen, saftigen Blättern, die sie zerpflückt hatten. Es fiel fast schwer, die  Stadtluft zu atmen nach der frischen Feuchte der Felder.
  Sie aßen  in einem kleinen Restaurant am Quai Voltaire zu Abend und spazierten nachher  langsam auf den Place St. Michel zu. Sie fühlten, wie der Wein und die Wärme  des Essens neue Kraft in ihre ermüdeten Glieder schickten. Andrews hatte den  Arm über ihre Schulter gelegt, und sie sprachen langsam und vertraut, kaum die  Lippen bewegend, betrachteten aufmerksam die Paare, die eng umschlungen auf den  Bänken saßen, die jungen Pärchen, die immerzu an ihnen vorüberkamen, leise  plaudernd, genau wie sie, dicht aneinandergeschmiegt, genau wie sie.
  «Wie viel  Liebespaare es gibt!» sagte Andrews.
  «Sind wir  ein Liebespaar?» fragte Jeanne mit einem wunderlichen kleinen Lachen.
  «Wer weiß ...  Bist du schon einmal ganz toll  verliebt gewesen, Jeanne?»
  «Ich weiß  es nicht. In Laon gab es einen Burschen namens Marcelin. Aber damals war ich  eine kleine Gans. Zum letzten Mal habe ich von ihm aus Verdun gehört.»
  «Hast du  viele gehabt — solche wie ich?»
  «Ach,  sind wir sentimental!» rief sie lachend aus.
  «Nein.  Ich möchte es bloß wissen. Ich weiß so wenig vom Leben», sagte Andrews.
  «Ich  amüsiere mich, so gut es geht», sagte Jeanne in ernstem Ton. «Aber ich bin  nicht frivol... es hat nur sehr  wenige Männer gegeben, die ich wirklich mochte... Also habe ich eben ein paar Freunde gehabt... Würdest du die <Liebhaber> nennen?  <Liebhaber> haben auf der Bühne die verheirateten Frauen... Das alles ist sehr dumm.»
  «Vor gar  nicht langer Zeit», sagte Andrews, «träumte ich immer von romantischer Liebe,  von Menschen, die durch den Efeu an Schlossmauern hinaufklettern, von wilden  Küssen auf Baikonen im Mondschein.»
  «Wie in  der Opera Comique», sagte Jeanne lachend.
  «Das war  alles sehr dumm. Aber auch jetzt noch verlange ich vom Leben viel mehr, als das  Leben bieten kann.»
  Sie  lehnten sich über die Brüstung und lauschten dem hastigen Rauschen des  Flusses, das bald leise war, bald laut. Wie goldene Schlangen wanden sich im  Wasser die Reflexe der Laternen am gegenüberliegenden Ufer.
  Andrews  merkte, dass jemand neben ihnen stand. Der matte, grünliche Lichtschein der  Laterne am Kai gestattete ihm, den gelähmten jungen Mann wieder zu erkennen,  mit dem er sich vor Monaten auf der Butte unterhalten hatte.
  «Ob Sie  sich noch an mich erinnern?» sagte er.
  «Sie sind  der Amerikaner, der in dem Restaurant am Place du Tertre war, ich weiß nicht  mehr wann, aber es ist lange her.»
  Sie  drückten einander die Hand.
  «Aber Sie  sind allein», sagte Andrews.
  «Ja, ich  bin immer allein», erwiderte der Krüppel mit fester Stimme. Wieder streckte er  die Hand aus. «Au revoir!» sagte Andrews.
  «Viel  Glück!» sagte der Lahme. Andrews hörte seine Krücke über das Kaipflaster  davontapsen.
  «Jeanne»,  sagte Andrews plötzlich, «du kommst mit mir?» «Aber du wohnst doch nicht  allein?»
  «Mein  Freund ist heute nach Brüssel. Er kommt nicht vor morgen zurück.»
  «Ich  nehme an, dass man für sein Essen bezahlen muss», sagte Jeanne maliziös.
  «Guter  Gott, hör doch damit auf.»
  Andrews  vergrub sein Gesicht in den Händen. Der singende Fluss, der drunten an den  Brücken vorbeibrodelte, erfüllte sein Ohr. Schreien wollte er, verzweifelt  schreien. Der wütende Wunsch wie Hass, der sein Fleisch zittern ließ, kroch in  seine Hände, ihre Hände zu nehmen und sie zu zerquetschen.
  «Komm»,  sagte er grob.
  «Ich  wollte dich nicht verletzen», sagte sie mit milder, müder Stimme. «Du weißt,  ich bin kein gebildetes Mädchen.»
  Der  grünliche Schein der Lampe beleuchtete den Umriss einer ihrer Wangen, als sie  den Kopf hob und traf in ihre Augen. Eine sanfte, sentimentale Traurigkeit  ergriff Andrews plötzlich; ein Gefühl, als ob er noch ein kleines Kind sei und  seine Mutter ihm Geschichten erzähle und er sich ganz hilflos von dem Strom  ihrer sanften, erzählenden Stimme forttreiben ließ, hintreiben in etwas  Unbekanntes, Trauriges, gegen das er sich nicht wehren konnte.
  Sie  begannen zu gehen, über die Pont Neuf nach dem leuchtenden Place Michel  hinüber. Drei Namen waren Andrews ins Bewusstsein getreten: Arsinoe, Berenike,  Artemisia. Eine Zeitlang riet er an ihnen herum, und dann erinnerte er sich, dass  Geneviève Rod große Augen hatte und eine weite, glatte Stirn und feste, kleine  Lippen, wie die Frauenbildnisse auf den Mumiensärgen von Fajum.
  «Warum  lachst du?» fragte Jeanne.
  «Weil die  Dinge so verrückt sind.»
  «Vielleicht  meinst du, dass die Menschen verrückt sind», sagte sie und schaute ihn aus den  Augenwinkeln heraus an. «Du hast recht.»
  Sie  gingen schweigend, bis sie Andrews' Tür erreichten.
  «Geh du  zuerst hinauf und sieh nach, ob jemand dort ist», sagte Jeanne in einem fast  geschäftlichen Tone.
  Andrews'  Hände waren kalt. Er fühlte sein Herz pochen, während er die Treppe  hinaufstieg. Das Zimmer war leer. In dem kleinen Kamin war alles für ein Feuer  hergerichtet. Andrews brachte schnell den Tisch in Ordnung und stieß einige  schmutzige Wäschestücke mit dem Fuß unter das Bett. Ein Gedanke kam ihm:  genauso hatte er sich benommen, damals auf der Universität, wenn ein  Verwandter kam, ihn zu besuchen. Er ging auf Zehenspitzen die Treppe hinunter.
  «Bien, tu  peux venir, Jeanne», sagte er.
  Sie  setzte sich etwas steif in den großen Lehnstuhl neben das Feuer.
  «Wie  schön das Feuer ist», sagte sie.
  «Jeanne,  ich glaube fast, ich bin ganz verrückt in dich verliebt», sagte Andrews  aufgeregt. «Wie in der Opéra Comique.» Sie zuckte die Achseln.
  «Das  Zimmer ist ganz nett», sagte sie. «Aber was für ein großes Bett!»
  «Du bist  die erste Frau, die hier oben ist, seitdem ich hier wohne, Jeanne. Aber diese  Uniform ist furchtbar.»
  Andrews  dachte plötzlich an alle die lebenden Körper, die man in Uniformen wie diese  gezwängt, zu Automaten gemacht hatte, an diese ganze hässliche Farce, Menschen  in Maschinen zu verwandeln. Oh, wenn er nur mit einer Bewegung sie alle zum  Leben, zur Freiheit und zur Freude befreien könnte! Der Gedanke daran  ertränkte alles andere für den Augenblick.
  «Aber du  hast ja einen Knopf abgerissen!» schrie Jeanne, hysterisch lachend. «Ich muss  ihn dir nachher annähen.»
  «Lass  doch, wenn du nur wüsstest, wie ich sie hasse!»
  «Was für  eine weiße Haut du hast. Wie eine Frau! Wahrscheinlich, weil du blond bist»,  sagte Jeanne.
Es wurde  heftig an der Tür gerüttelt. Andrews wachte auf. Er stieg aus dem Bett und  blieb eine Weile mitten im Zimmer stehen, ohne sich sammeln zu können. Es  wurde weiter an der Tür gerüttelt, und er hörte Walters' Stimme rufen: «Andy,  Andy!» Andrews spürte, wie ihm die Scham gleich einem Brechreiz durch die Adern  schlich. Er empfand einen heftigen Abscheu vor sich selber, vor Jeanne und  Walters. Er fühlte sich versucht, auf Zehenspitzen zu gehen, als hätte er etwas  gestohlen. Er schlich zur Tür und öffnete sie ein wenig.
  «Hör zu,  Walters, olles Haus», sagte er, «ich kann dich nicht hereinlassen... Ich habe ein Mädchen bei mir. Tut mir  leid... Ich dachte, du kommst erst  morgen zurück.»
  «Machst  du Witze?» kam Walters' Stimme aus dem finsteren Korridor.
  «Nein.»  Andrews machte entschlossen die Tür zu und schob wieder den Riegel vor.
  Jeanne  schlief noch. Ihre schwarzen Haare hatten sich gelöst und hingen über das  Kissen. Andrews wickelte sie sorgfältig in die Decken ein.
  Dann  legte er sich ins andere Bett, lag lange wach und starrte zur Decke hinauf.
4
Die  Leute, die den Boulevard auf und ab gingen, sahen neugierig durch das Gitter  auf die Männer in grauer Kleidung, die in der Ecke des Hofes zusammengeschart  standen. Die Linie schob sich langsam vorwärts an einem Tisch mit einem  Offizier vorbei; auf dem Tisch lagen große Listen mit Namen und Haufen von  Banknoten und Silberfranken, die weiß schimmerten, ausgebreitet. Über den  Köpfen der Männer erhob sich ein dünner Dunst von Zigarettenrauch in das  Sonnenlicht. Stimmen schwirrten, und Füße scharrten im Kies. Die Abgelöhnten  gingen mit frohen Gesichtern fort, das Geld klimperte in ihren Taschen.
  Die  Männer am Tisch hatten rote Gesichter mit gespanntem, ernstem Ausdruck. Sie  schoben das Geld in die Hände der Soldaten und sprachen dabei die Namen aus,  als ob sie tickende Schreibmaschinen seien.
  Andrews  sah, dass einer der Männer am Tisch Walters' war. Er lächelte und flüsterte:  «Hallo», als er an ihn herankam. Walters hob die Augen nicht von der Liste.
  Während  Andrews darauf wartete, dass der Mann vor ihm entlohnt wurde, hörte er zwei  andere sprechen:
  «War das  nicht ein furchtbarer Platz? Erinnerst du dich an den Jungen, der eines Tages  da in den Baracken starb?»
  «Klar,  ich war auch bei den Sanis. In der Kompanie war ein Schweinekerl von einem  Sergeanten, der den Jungen zwingen wollte, aufzustehen, und da kam der Leutnant  und sagte, er wolle ihn vor ein Kriegsgericht stellen. Und dann fauchte ihn der  Sergeant an, bald darauf war er hinüber.» «Woran starb er?»
  «Herz,  denk' ich. Weiß nicht, er war die ganze Zeit nicht recht lebensfroh.»
  «In  diesem Cosne konnte man nur seine Koffer packen.»
  Andrews  bekam sein Geld. Als er fortging, trat er an die beiden Männer heran, deren  Gespräch er gehört hatte.
  «Wart ihr  Kerls in Cosne?»
  «Ja.»
  «Kanntet  ihr einen, der Fuselli hieß?» «Weiß nicht.»
  «Aber  sicher», sagte der andere. «Erinnere dich doch an Dan Fuselli! Der kleine  Italiano glaubte, er würde Korporal! Da hat er sich aber geschnitten!»
  Sie  lachten beide.
  Andrews  marschierte ab, irgendwie verärgert. Auf dem Boulevard Montparnasse waren  viele Soldaten. Er wandte sich in eine Seitengasse, fühlte sich plötzlich  erniedrigt und geduckt, als ob gleich wieder die barsche Stimme eines  Sergeanten ihm Befehle entgegenschreien werde.
  Das  Silbergeld in seinen Taschen klimperte bei jedem Schritt.
Andrews  lehnte sich auf die Brüstung des Balkons und blickte auf den Platz vor der  Opera Comique hinunter. Ihm war noch ganz schwindlig von der Schönheit der  Musik, die er gehört hatte. In den Tiefen seiner Gedanken glaubte er den  mächtigen Rhythmus des Meeres zu spüren. Ringsumher auf dem breiten,  überfüllten Balkon schnatterten Menschen, er aber merkte nichts als die  blaugrauen Nebel der Nacht, durch die die Lampen ihre grüngoldenen und  rotgoldenen Ornamente flochten. Und alles andere aus seinen Sinnen  verscheuchend, durchwogte ihn der Rhythmus wie Meereswellen.
  «Ich habe  mir doch gedacht, dass Sie auch hier sein werden», sagte Geneviève Rod neben  ihm ruhig.
  Andrews  war seltsam verlegen und brachte zuerst kein Wort hervor.
  «Das ist  aber nett, Sie wieder zu sehen», stotterte er, nachdem er sie ein paar Sekunden  lang wortlos angestiert hatte.
  «Natürlich  lieben Sie Pelléas.»
  «Ich habe  die Oper zum ersten Mal gehört.»
  «Warum  haben Sie uns nicht besucht? Es ist schon zwei Wochen her... Wir haben Sie erwartet.»
  «Das wusste  ich nicht... Oh, ich komme bestimmt!  Ich kenne momentan keinen Menschen, mit dem ich mich über Musik unterhalten  kann.»
  «Mich!»
  «Ich  hätte sagen müssen — niemand anderen.»  «Arbeiten Sie etwas?»
  «Ja... Aber das stört mich sehr.» Er zupfte an  seiner Uniformbluse. «Aber ich hoffe bald frei zu kommen. Ich werde um meine  Entlassung bitten.»
  «Wahrscheinlich  werden Sie das Gefühl haben, jetzt viel mehr ausrichten zu können... Sie werden sich viel kräftiger fühlen,  nachdem Sie Ihre Pflicht getan haben.»
  «Nein... Keineswegs.»
  «Sagen  Sie mal, was war denn das, was Sie bei uns zu Hause gespielt haben?»
  «<Die  drei Grünen Reiter auf den Wildeseln>...» erwiderte Andrews lächelnd.
  «Was soll  das heißen?»
  «Ein  Präludium zu der <Königin von Saba>», sagte Andrews. «Wenn Sie nicht über  den Heiligen Antonius genauso dächten wie Monsieur Emile Faguet und alle  andern, würde ich Ihnen sagen, was damit gemeint ist.»
  «Das war  sehr dumm von mir... Aber wenn Sie  sich an all den Dummheiten stoßen, die die Leute so zufällig hinsagen — na,  dann müssen Sie die meiste Zeit böse sein.»
  In dem  trüben Licht konnte er ihre Augen nicht sehen. Ein leiser Schimmer lag auf der  Rundung ihrer Wange, die unter dem Schatten ihres Hutes zu dem etwas spitzen  Kinn abfiel. Hinter ihr sah er fremde Gesichter, dichtgedrängt auf dem Balkon,  schwatzende Gesichter, hart beleuchtet von dem goldenen Glanz, der aus dem  Vestibül durch die Glastüren herausschien.
  «Mich hat  immer die Stelle in La  Tentation fasziniert, wo die Königin von  Saba den Heiligen Antonius aufsucht — c'est tout», sagte Andrews schroff.
  «Ist das  Ihr erstes Werk? Es hat mich ein wenig an Borodin erinnert.»
  «Die  erste Arbeit, die überhaupt etwas sein will. Wahrscheinlich zusammengestohlen  aus allen möglichen Sachen, die ich gehört habe.»
  «Nein, es  hat nicht schlecht geklungen. Wahrscheinlich haben
  Sie es  immer im Kopf gehabt — an der Front — in schrecklichen und in glorreichen  Stunden... Klavier oder Orchester?»
  «Was ich  fertig habe, ist für Klavier geschrieben. Ich hoffe, es mit der Zeit zu  instrumentieren... Aber das ist ja  lauter dummes Gerede. Ich kann noch nicht genug... Ich muss erst noch jahrelang fleißig arbeiten, bevor ich  etwas zu Stande bringen kann... Und  ich habe so viel Zeit vergeudet. Das ist das Allerschlimmste. Man ist ja nur  so kurze Zeit jung.»
  «Es  klingelt, wir müssen auf unsere Plätze. Bis zur nächsten Pause...» Sie schlüpfte durch die Glastür und  verschwand. Andrews kehrte auf seinen Platz zurück, er war sehr aufgeregt, von  einem rastlosen Jubel erfüllt. Die ersten Orchesterklänge taten ihm weh, so  intensiv berührten sie ihn.
  Nach dem  letzten Akt gingen sie stumm durch eine finstere Straße. Sie wollten möglichst  schnell der Menschenmenge auf den Boulevards entrinnen.
  Als sie  zur Avenue de Opéra kamen, sagte sie:
  «Haben  Sie nicht erwähnt, dass Sie beabsichtigen, in Frankreich zu bleiben?»
  «Ja, gewiss,  wenn es geht. Morgen bitte ich um meine Entlassung hier in Frankreich.»
  «Was  wollen Sie dann anfangen?»
  «Ich  werde mir eine Arbeit suchen müssen, irgendeine Arbeit, die mir ermöglicht, an  der Schola Cantorum zu studieren. Aber ich habe etwas Geld, das wird eine Weile  reichen.»
  «Sie sind  mutig.»
  «Ich habe  vergessen, Sie zu fragen, ob Sie lieber die Metro nehmen wollen.» «Nein! Gehen  wir zu Fuß.»
  Sie  spazierten durch die Arkaden des Louvre. Die Luft war von einem feinen,  feuchten Nebel erfüllt und jede Straßenlaterne von einem trüben Lichthof  umgeben.
  «Mein  Blut ist voller Debussy-Musik», sagte Geneviève Rod und breitete die Arme aus.
  «Es hat  keinen Zweck sagen zu wollen, was man dabei empfindet. Worte taugen ohnedies  nicht viel, habe ich recht?»
  «Das  kommt ganz darauf an.»
  Stumm  gingen sie den Kai entlang. Der Nebel war so dicht, dass sie die Seine nicht  sehen konnten, aber so oft sie sich einer
  Brücke  näherten, hörten sie das Wasser zwischen den Pfeilern rauschen.
  «Frankreich  erwürgt einen», sagte Andrews plötzlich. «Es erstickt einen ganz langsam mit  schönen Seidenschnüren... Amerika  schlägt einem mit dem Polizeiknüppel den Schädel ein.»
  «Was  wollen Sie damit sagen?» fragte sie. Ihre Stimme klang etwas kühl und pikiert.
  «Hier in  Frankreich wisst ihr alle so viel. Ihr habt eure Welt so nett eingerichtet...»
  «Aber Sie  wollen doch hier bleiben!» sagte sie lachend.
  «Weil es  sonst nichts gibt. Nur in Paris kann man so viel lernen, besonders in  Musikdingen... Aber ich gehöre zu den  Menschen, die nie zufrieden sind.»
  «Nur  Schafe sind zufrieden.»
  «Ich  glaube, diese vier Wochen in Paris war ich glücklicher als je zuvor in meinem  Leben. Es kommt mir wie ein halbes Jahr vor, so viel hat sich ereignet.»
  «Am  wohlsten fühle ich mich in Poissac.»
  «Wo ist  denn das?»
  «Wir  haben dort ein Landhaus, ein sehr altes, halb verfallenes Haus. Es heißt,  Rabelais sei oft in dem Dorf gewesen. Aber unser Haus ist älter, aus der Zeit  von Henri Quatre. Poissac ist nicht weit von Tours entfernt. Ein unschöner  Name, wie? Aber mir klingt er schön. Das Haus ist rundherum von einem Obstgarten  umgeben, gelbe Rosen mit einem roten Fleck in der Mitte schauen zum Fenster  herein, und es gibt einen kleinen Turm, wie Montaigne einen gehabt hat.»
  «Sobald  ich meine Entlassung habe, werde ich aufs Land ziehen und nur noch arbeiten,  arbeiten.»
  «Musik  soll man auf dem Land treiben, wenn der Saft in den Bäumen hochsteigt.»
  «<D'après  nature>, wie der Kaninchenmann sagt.»
  «Wer ist  der Kaninchenmann?»
  «Ein sehr  netter Mensch», erwiderte Andrews, glucksend vor Lachen. «Sie werden ihn eines  Tages kennen lernen. Er verkauft vor dem Café Rohan kleine ausgestopfte  hüpfende Kaninchen.»
  «Da sind  wir... Schönen Dank, dass Sie mich  nach Hause begleitet haben.»
  «Aber so  schnell? Sind Sie wirklich schon zu Hause? Es kann doch nicht so schnell  gegangen sein.»
  «Ja, hier  bin ich zu Hause», sagte Geneviève Rod lachend. Sie reichte ihm die Hand, und  er schüttelte sie eifrig. Der Schlüssel knackste in der Tür. «Trinken Sie doch  morgen eine Tasse Tee bei uns», sagte sie. «Mit Vergnügen.»
  Die  breite gefirnisste Tür mit ihrem Klopfer, der wie ein Ring geformt war, fiel  hinter ihr zu. Leichten Schrittes entfernte sich Andrews, heiter und vergnügt.
  Als er  über den in den Nebel gehüllten Kai auf den Place St. Michel zusteuerte, drang  das lispelnde Gurgeln des Flusses an den Brückenpfeilern in sein Ohr.
  Walters  schlief bereits. Auf dem Tisch in seinem Zimmer lag eine Karte von Jeanne.  Andrews hielt sie dicht ans Kerzenlicht und las:
<Wie lange haben wir uns schon nicht getroffen. Ich werde am Mittwoch um sieben Uhr auf dem Trottoir gegenüber dem Magasin du Louvre am Café Rohan vorbeikommen.>
Es war  eine Ansichtskarte aus Malmaison.
  Andrews wurde  rot. Eine bittere Melancholie pochte durch seine Adern. Mit schleppenden  Schritten ging er ans Fenster und blickte in den finsteren Hof hinunter. Das  Fenster unter ihm sandte einen warmen goldenen Dunst in die neblige Nacht. Auf  den feuchten Fliesen des Hofes standen, kaum zu sehen, einige Farntöpfe. Von  irgendwoher kam ein starker Hyazinthenduft. Gedankenfetzen glitten ihm durch  den Kopf. Er sah sich wieder — vor langer Zeit — im Ausbildungslager Fenster  putzen und erinnerte sich daran, wie der raue Schwamm ihm die Hände zerschunden  hatte. Unwillkürlich schämte er sich, wenn er an diese Zeit zurückdachte. «Na  ja, jetzt ist das alles vorbei», sagte er sich. Halb und halb irritiert dachte  er über Geneviève Rod nach. Was ist sie eigentlich für ein Mensch? Ihr Gesicht  sah er recht deutlich vor sich, mit den großen Augen und dem spitzen Kinn und  dem rötlichbraunen Haar in unscheinbarem Knoten über der weißen Stirn, aber  wenn er sich an ihr Profil erinnern wollte, gelang es ihm nicht. Sie hatte  schmale Hände mit langen Fingern, die wohl recht gut Klavier spielen müssten.  Würde sie im Alter genauso vergnügt sein und genauso gelbe Zähne haben wie ihre  Mutter? Er konnte sie sich nicht alt vorstellen, sie war zu kraftvoll, es lag  zu viel Bosheit
  in ihren  leidenschaftlich beherrschten Gesten. Die Erinnerung an sie verblasste, und nun  fielen ihm Jeannes abgearbeitete Händchen ein, mit den kleinen Schwielen und  den von der Näharbeit beschmutzten und zerkratzten Fingerspitzen. Aber der  Hyazinthenduft, der aus dem umnebelten Hof heraufstieg, war wie ein Schwamm,  der alle Eindrücke aus seinem Hirn wegwischte. Der starke, süßliche Geruch in  der feuchten Luft erfüllte ihn mit Trägheit und Melancholie.
  Langsam  zog er sich aus und legte sich ins Bett. Ganz schwach nur erreichte ihn der  Hyazinthenduft, so schwach, dass er nicht mehr wusste, ob es nicht vielleicht  Einbildung sei.
Das Büro  des Majors war ein großes, weiß bemaltes Zimmer mit Spiegeln an allen vier  Wänden, so dass Andrews, während er, die Mütze in der Hand, wartete, den  kleinen, rundlichen Major mit seinem rosigen Gesicht und seiner Glatze nach  zwei Seiten hin in dem grauen Glanz der Spiegel bis ins Unendliche vervielfacht  sehen konnte.
  «Was  wollen Sie?» fragte der Major und schaute von den Papieren auf, die zur  Unterzeichnung vor ihm lagen.
  Andrews  trat an den Schreibtisch heran. An beiden Seiten des Zimmers trat eine endlos  oft wiederholte magere Gestalt in grauer Kleidung an endlose  Mahagonischreibtische heran, die ineinander verschwammen in einer endlosen,  staubigen Perspektive.
  «Würden  Sie so freundlich sein, dies Gesuch um Entlassung weiterzugeben, Herr Major?»
  «Wie  viele Angehörige werden von Ihnen erhalten?» murmelte der Major durch die  Zähne.
  «Keiner.  Es handelt sich um Entlassung in Frankreich, um Musik zu studieren.»
  «Is  nicht. Sie brauchen eine Bestätigung, dass Sie sich selbst erhalten können, dass  Sie sich ernähren können, und dass Sie genügend Geld haben, um Ihr Studium  fortzusetzen. Glauben Sie, dass Sie Talent haben? Man muss sehr viel Talent  haben, um Musik studieren zu können.»
  «Zu  Befehl, Herr Major!... Aber brauche  ich außer einer solchen Bestätigung noch irgend etwas anderes?»
  «Nein.  Wird dann wohl ziemlich schnell erledigt werden. Wir freuen uns, anständige  Leute entlassen zu können. Wir freuen uns, jeden Mann entlassen zu können, der  sich anständig aufgeführt hat. Williams!» «Zu Befehl, Herr Majori»
  Ein  Sergeant kam herüber von einem kleinen Tisch an der Tür.
  «Zeigen  Sie dem Mann hier, was er braucht, um in Frankreich entlassen zu werden.»
  Andrews  salutierte. Aus den Augenwinkeln heraus sah er die endlosen Figuren in den  Spiegeln, die in dem endlosen Korridor endlos salutierten.
  Als er  auf die Straße hinauskam vor das große, weiße Gebäude, in dem das Büro des  Majors war, überkam ihn ein drückendes Gefühl der Hilflosigkeit. Da waren viele  Automobile verschiedener Größe und Formen, Limousinen, Runabouts, Tourenwagen,  einer hinter dem anderen, alle olivfarben angemalt und peinlich genau mit  weißen Nummern bezeichnet. Dann und wann kam jemand aus dem großen  Marmorgebäude heraus, Gamaschen und Koppel auf Hochglanz poliert, und stürzte  sich in ein Auto, oder ein lärmendes Motorrad hielt mit einem Ruck vor der  großen Tür an, und ein Offizier mit Motorbrille und schmutzbedecktem Mantel  sprang ab; er konnte sich sehr gut vorstellen, wie der Offizier durch weite  Hallen hindurchschritt, wo aus jeder Tür das befehlshaberische Ticken einer  Schreibmaschine kam, wo Papiere hochgetürmt auf gelb polierten Schreibtischen  lagen, wo bleichgelbe Schreiber in Uniformen in den Räumen herumlungerten, wo  die vier Wände vom Boden bis zur Decke mit Karteikästen bedeckt waren. Und  jeden Tag wurde mehr Papier hinzugefügt, wurden in die kleinen Kästen der  Kartotheken mehr Indexkarten hineingeschoben. Es schien Andrews, dass das  glänzend, weiße Marmorgebäude von all dem darin aufgehäuften Papier platzen  und die breite Straße mit Lawinen von Indexkarten überfluten müsse.
  «Knöpfen  Sie Ihren Mantel zu!» schnarrte eine Stimme in sein Ohr.
  Andrews  sah plötzlich auf. Ein Militärpolizist mit einem roh aussehenden Gesicht, in  dem eine lange, scharfe Nase stand, kam auf ihn zu. Andrews knöpfte seinen  Mantel zu, sagte aber nichts.
  «Lungern  Sie hier nicht so rum!» schrie der Militärpolizist hinter ihm her.
  Andrews  wurde rot und ging weg, ohne den Kopf zu wenden. Die Erniedrigung erbitterte  ihn; eine wütende Stimme in ihm sagte immer und immer wieder: Du bist ein  Feigling, du hättest dich dagegen auflehnen sollen.
  Groteske  Bilder von Revolten flammten durch sein Bewusstsein, bis er sich daran  erinnerte, dass, als er noch sehr klein war, derselbe aufrührerische Stolz ihn  ergriffen und gepeinigt hatte, wenn er irgendeinen Zusammenstoß mit einem  älteren Menschen gehabt hatte. Hilflose Verzweiflung flatterte in ihm wie ein  Vogel, der vergeblich gegen den Draht seines Käfigs mit den Flügeln schlägt.  Gab es keinen Ausweg, keine Bewegung der Empörung dagegen? Muss man Tag für Tag  so weiter leben, die Erbitterung hinunterwürgen, die jedes neue Zeichen der  Sklaverei neu ins Bewusstsein bringt?
  Er ging  aufgeregt durch den Jardin des Tuileries, der voller kleiner Kinder und Frauen  mit Hunden und Kindermädchen mit gestärkten weißen Hauben war. Dort traf er  Geneviève Rod und ihre Mutter. Geneviève war grau angezogen, etwas zu elegant  für Andrews' Geschmack. Madame Rod trag Schwarz. Vor ihnen lief ein schwarzer  Terrier hin und her auf nervösen kleinen Beinen, die wie Stahlfedern  zitterten.
  «Ist er  nicht herrlich, dieser Morgen?» rief Geneviève.
  «Ich wusste  nicht, dass Sie einen Hund haben!»
  «Oh, wir  gehen nie aus ohne Santo. Ein Schutz für zwei einsame Frauen, wissen Sie»,  sagte Madame Rod lächelnd. «Komm, Santo, dis bon jour à monsieur.»
  «Er ist  gewöhnlich in Poissac», sagte Geneviève.
  Der  kleine Hund bellte Andrews wütend an mit einem schrillen Bellen, das wie das  Schreien eines Kindes klang.
  «Der  weiß, dass er einem Soldaten eigentlich nicht so recht trauen sollte... Ich kann mir vorstellen, dass die  meisten Soldaten gern mit ihm tauschen würden, wenn sie Gelegenheit dazu  hätten... Viens, Santo, viens, Santo... Willst du mit mir tauschen, Santo?»
  «Sie  sehen aus, als ob Sie mit jemand gestritten hätten», sagte Geneviève Rod  leichthin.
  «Mit mir  selbst. Ich werde ein Buch über Sklavenpsychologie schreiben. Das müsste  eigentlich sehr amüsant sein», sagte Andrews mit rauer, atemloser Stimme.
  «Aber wir  müssen uns beeilen, meine Liebe, wir werden zu spät zum Schneider kommen», warf  Madame Rod ein. Sie hielt ihre schwarz behandschuhte Hand Andrews hin.
  «Wir  werden heute Nachmittag zum Tee zu Hause sein. Sie könnten mir etwas aus der  <Königin von Saba> vorspielen», sagte Geneviève.
  «Ich  fürchte, ich werde nicht dazu fähig sein. Aber man kann ja nie wissen. Danke  schön.»
  Er fühlte  sich frei, als sie fort waren. Er hatte Angst gehabt, er würde in irgendeine  kindische Tirade ausbrechen. Wie schade, dass Henslowe noch nicht zurück war!  Dem hätte er all seine Verzweiflung ausschütten können. Er hatte es schon oft  getan, und Henslowe war jetzt entlassen!
  Müde  stellte Andrews fest, dass er jetzt wieder intrigieren müsse, wie er intrigiert  hatte, um nach Paris zu kommen. Er dachte an das weiße Marmorgebäude und die  Offiziere und ihre glänzenden Stiefel, die ein und aus gingen, und an die  Schreibmaschinen, die in jedem Zimmer tippten, und seine Hilflosigkeit  gegenüber all diesen Dingen ließ ihn zittern.
  Plötzlich  kam ihm ein Gedanke. Er lief die Treppen hinunter zur Metro. Aubrey würde schon  im Crillon jemanden kennen, der ihm helfen könnte.
  Aber als  der Zug den Concorde-Bahnhof erreichte, hatte er nicht genug Willenskraft, um  auszusteigen. Er fühlte einen heftigen Widerwillen gegen jede Anstrengung  dieser Art. Welchen Sinn hatte es, sich selbst zu erniedrigen und andere um  Gefälligkeiten zu bitten! Es war sowieso hoffnungslos. In einem wilden Ausbruch  von Stolz rief eine innere Stimme ihm zu, dass er, John Andrews, keine Scham  kennen dürfe, weil er intensiver als die übrigen lebte, mehr Schmerzen und mehr  Freude litt, die Kraft hatte, seinen Schmerz und seine Freude auszudrücken und  deshalb seinen Willen denen, die ihn umgaben, aufzwingen solle. «Psychologie  der Sklaverei», stellte Andrews fest und zerblies die Seifenblase seines  Egoismus.
  Der Zug  hatte die Porte Maillot erreicht.
  Andrews  blieb auf dem sonnigen Boulevard vor der Metrostation stehen, wo an den  Platanen bereits winzige goldbraune Blättchen zu sehen waren, er sog die Düfte  eines Blumenstandes ein, vor dem eine Frau stand und mit geschickten, zerstreuten  Gebärden ein Veilchensträußchen nach dem anderen band. Er fühlte plötzlich den heißen  Wunsch, auf dem Lande zu sein, weit weg von Häusern und Menschen. Frauen und  Männer standen Schlange, um Fahrkarten nach St. Germain zu kaufen. Immer noch  unschlüssig, reihte er sich ihnen an, und auf einmal, fast ohne es  beabsichtigt zu haben, holperte er durch Neuilly in dem grünen Anhänger, der  wie ein Entenschwanz wackelte, wenn der elektrische Triebwagen schneller fuhr.
  Er  erinnerte sich an seinen letzten Ausflug zusammen mit Jeanne in diesem selben  Wagen und bedauerte betrübt, dass es ihm nicht gelungen war, sich in sie zu  verlieben, sich und die Armee und alles über einer tollen, romantischen Liebe  zu vergessen.
  Als er in  St. Germain ausstieg, hatte er aufgehört, seine Gedanken zu formulieren.  Dumpfe Verzweiflung pochte in ihm wie eine infizierte Wunde.
  Er setzte  sich für eine Weile in das Café gegenüber dem Schloss, betrachtete die  hellroten Mauern und die kräftigen, mit Steinblöcken umrahmten Fenster und die  luftigen Türmchen und Schornsteine, die über die klassische Balustrade mit  ihren großen Urnen am Dachrand emporragten. Der Park hinter dem hohen  Eisengitter lag von rötlichen und fahlen Strichen durchkreuzt im Nebel des  frischen Laubes. Hatten sie wirklich intensiver gelebt, diese  Renaissancemenschen? Beinahe glaubte er auf dem stillen Platz vor dem Tor des  Châteaus Männer mit Federhüten und kurzen Mänteln und kunstvoll bestickten Röcken,  die Hand am Degengriff, umherstolzieren zu sehen. Und er dachte an den großen,  jähen Freiheitssturm, der aus Italien herangebraust kam, und vor dessen Anhauch  Dogmen und Sklaverei in Staub zerfielen. Im Gegensatz dazu kam ihm die heutige  Welt jämmerlich dürr vor. Neben dem gewaltigen Ausmaß der von ihnen erfundenen  technischen Apparaturen schienen die Menschen an Statur verloren zu haben.  Michelangelo, da Vinci, Aretino, Allini — würden je wieder kraftvolle Gestalten  so die Welt beherrschen? Heutzutage war alles Gewimmel, ein Menschengedränge.  Die Menschen waren zu Ameisen geworden. Vielleicht mussten die Massen  unvermeidlich in immer tiefere Sklaverei versinken. Wer auch siegte, die  Tyrannei von oben oder die spontane Organisation von unten, Individuen konnte  es nicht mehr geben.
  Andrews  ging durchs Tor in den Park. Auf einigen Beeten blühten Maßliebchen. Zwischen  den dunklen Reihen der Ulmenstämme war ein heller Himmel zu sehen, vor dem  sich hier und dort eine moosgrüne Statue abzeichnete. Am Ende einer Allee trat  er auf eine Terrasse hinaus. Jenseits der kräftig geschwungenen, eisernen  Balustrade lag flaches Land, hellgrün, gegen den Horizont zu ins Blaue  hinabgleitend, mit rosaroten und schiefergrauen Häusern betupft und von  Eisenbahngleisen durchsägt. Zu seinen Füssen glitzerte die Seine wie die Klinge  eines Krummsäbels.
  Mit  langen Schritten überquerte er die Terrasse und folgte einem Weg, der in den  Wald einbog. Er vergaß die monotone Tretmühle seiner Gedanken über der Wärme,  die der schnelle Marsch durch seinen ganzen Körper jagte, über der raschelnden  Stille des Waldes, wo das Moos an der Nordseite der Baumstämme smaragdgrün war  und der Himmel hinter dem lavendelfarbenen Flechtwerk der Zweige von einem  weichen Grau. Der grüne, knorrige Wald erinnerte ihn an den ersten Akt von  Pelléas. Mit aufgeknöpftem Waffenrock, das Hemd am Hals geöffnet, die Hände  tief in die Taschen vergraben, schritt er dahin, pfeifend wie ein Schuljunge.
  Nach  einer Stunde kam er auf eine Landstraße hinaus und ging plötzlich neben einem  zweirädrigen Karren her, der genau mit ihm Schritt hielt, so sehr er sich auch  bemühte, ihn zu überholen. Nach einer Weile beugte ein junger Mann sich  heraus:
  «He,  l'Américain, vous voulez monter?»
  «Wohin  fahren Sie?»
  «Nach  Conflans Ste.-Honorine.»
  «Wo ist  denn das?»
  Der Junge  zeigte mit der Peitsche über den Kopf des Pferdes nach vorn. «Schön», sagte  Andrews.
  «Das sind  Kartoffeln», sagte der Junge. «Machen Sie sich's bequem.»
  Andrews  bot ihm eine Zigarette an, die er mit lehmigen Fingern entgegennahm. Er hatte  ein breites Gesicht, rote Backen und plumpe Züge. Rötlichbraunes Haar sträubte  sich strähnig unter einem lehmbespritzten Beret.
  «Wo,  sagten Sie, dass Sie hinfahren?»
  «Conflans  Ste.-Honorine. So dumm, alle diese Heiligen, wie?» Andrews lachte.
  «Wo  wollen denn Sie hin?» fragte der junge Mann.
  «Ich weiß  es nicht. Ich habe einen Spaziergang gemacht.» Der Junge beugte sich zu Andrews  und flüsterte ihm ins Ohr: «Deserteur?»
  «Nein... Ich hatte einen Tag frei und wollte  mich in der Gegend umschauen.»
  «Ich habe  mir eben gedacht, wenn Sie Deserteur wären, könnte ich Ihnen vielleicht  behilflich sein. Es muss sehr dumm sein, als Soldat herumzulaufen. Ein  Hundeleben... Aber es gefällt Ihnen  hier auf dem Land? Mir auch. Aber man kann es eigentlich nicht Land nennen. Ich  bin nicht von hier, ich bin aus der Bretagne. Dort ist man richtig auf dem  Land. Hier ist Paris zu nahe, hier erstickt man, so viele Menschen, so viele  Häuser.»
  «Ich  finde es wunderbar.»
  «Weil Sie  Soldat sind. Schöner als in der Kaserne, hein? So ein Hundeleben. Ich werde nie Soldat werden. Ich  gehe zur Handelsmarine, und wenn ich dienen muss, diene ich zur See.»
  «Das  dürfte angenehmer sein.»
  «Man hat  mehr Freiheit. Und das Meer... Wissen  Sie, wir Bretonen, wir sterben alle am Meer oder am Schnaps.» Sie lachten.
  «Sind Sie  schon lange in dieser Gegend?» fragte Andrews.
  «Seit  sechs Monaten. Die Feldarbeit ist langweilig. Ich bin jetzt Vorarbeiter in  einem Obstgarten, aber nicht mehr lange. Mein Bruder fährt auf einem  Segelschiff. Sowie er nach Bordeaux zurückkehrt, lasse ich mich auf demselben  Schiff anheuern.»
  «Wohin  denn?»
  «Nach  Südamerika — nach Peru — wie soll ich das wissen?» «Ich würde gern auf einem  Segelschiff fahren», sagte Andrews.
  «Ja? Ich  finde es wunderbar, zu reisen und neue Länder zu sehen. Und vielleicht bleibe  ich drüben.» «Wo?»
  «Wie soll  ich das wissen? Das heißt, wenn es mir gefällt...  Das Leben in Europa ist mau.»
  «Man  erstickt», sagte Andrews langsam. «Diese vielen Völker, dieser Hass überall.  Aber — es ist trotzdem sehr schön. In Amerika ist das Leben hässlich.»
  «Trinken  wir ein Glas. Dort ist ein Bistro!»
  Der  Bursche sprang vom Karren herunter und band das
  Pferd an  einen Baum. Sie gingen in eine kleine Weinkneipe mit einer Theke und einem  winzigen viereckigen Eichentisch.
  «Aber  werden Sie sich denn nicht verspäten?» sagte Andrews. «Das ist mir egal. Ich  plaudere gern. Sie auch?» «Ja, sicher.»
  Sie  bestellten Wein bei einer alten Frau in einer grünen Schürze. Wenn sie sprach,  guckten ihr drei gelbe Zähne aus dem Mund.
  «Ich habe  noch nichts gegessen», sagte Andrews.
  «Einen  Augenblick.» Der Junge lief zu dem Karren hinaus und kehrte mit einem  Leinenbeutel zurück, aus dem er ein halbes Brot und ein Stück Käse nahm.
  «Ich  heiße Marcel», sagte der Junge, nachdem sie eine Weile dagesessen und Wein  getrunken hatten.
  «Ich  heiße Jean... Jean Andre.»
  «Ich habe  einen Bruder, der heißt Jean, und mein Vater heißt Andre. Das ist nett, nein?»
  «Aber es muss  doch wunderbar sein, in einem Obstgarten zu arbeiten», sagte Andrews, ein  Käsebrot kauend.
  «Gut  bezahlt. Aber man bekommt es satt, immerzu an derselben Stelle zu sein. In der  Bretagne ist das ganz anders...» Marcel  hielt inne. Er schaukelte ein wenig auf dem Stuhl hin und her und hielt sich  zwischen den Beinen am Sitz fest. Ein seltsamer Glanz trat in seine grauen  Augen. «Dort», fuhr er mit leiser Stimme fort, «ist es auf den Feldern so  still, und von jeder Anhöhe aus sieht man das Meer... Das habe ich gern, Sie nicht auch?» fragte er lächelnd.
  «Sie  dürfen von Glück sagen, dass Sie ein freier Mensch sind», sagte Andrews  erbittert. Er hatte das Gefühl, er müsse in Tränen ausbrechen.
  «Aber Sie  werden doch sehr bald demobilisiert werden. Die Schlächterei ist vorüber. Dann  können Sie zu Ihren Leuten nach Hause fahren. Das wird doch schön sein, hein?»
  «Wer  weiß. Es ist nicht weit genug weg. Bin unruhig!»
  «Was  erwarten Sie denn?»
  Es begann  leicht zu regnen. Sie kletterten wieder auf die Kartoffelsäcke, und das Pferd  begann munter dahinzutrotten. Seine mageren braunen Flanken glitzerten ein  wenig im Regen.
  «Kommen  Sie oft hier raus?» fragte Marcel.
  «Jetzt  werde ich öfters hierherkommen. Es ist die hübscheste Gegend in der Nähe von  Paris.»
  «Dann  kommen Sie mal an einem Sonntag, und ich führe Sie herum. Das Schloss ist sehr  schön. Und dann schauen wir uns Malmaison an, wo der Große Kaiser mit der  Kaiserin Josephine gewohnt hat.»
  Plötzlich  erinnerte sich Andrews an Jeannes Ansichtskarte. Heute war Mittwoch. Er stellte  sich ihre schwarze Gestalt vor in der Menschenmenge auf dem Pflaster vor dem  Café Rohan. Natürlich hatte es so kommen müssen. Verzweiflung überfiel ihn, so  hilflos, dass es fast angenehm war.
  «Und die  Mädchen?» fragte er plötzlich, «sind sie hier hübsch?»
  Marcel  zuckte die Achseln.
  «Wenn man  Geld hat, ist kein Mangel an Mädchen», sagte er.
  Andrews  schämte sich, ohne genau zu wissen, warum.
  «Mein  Bruder schreibt, dass in Südamerika die Frauen sehr braun und sehr hitzig  sind», fügte Marcel mit einem versonnenen Lächeln hinzu. «Aber reisen und  lesen, das macht mir Spaß...  Passen  Sie auf, wenn Sie den Zug nach Paris erwischen wollen... » Marcel brachte das Pferd zum Stehen. «Wenn Sie mit dem Zug  fahren wollen, gehen Sie hier quer übers Feld und folgen dann der Straße links,  bis Sie an den Fluss kommen. Dort gibt es eine Fähre. Der Ort heißt Herblay und  hat einen Bahnhof...  Jeden Sonntag  bin ich bis zwölf Uhr in der Rue de Evéques Nummer drei in Reuil anzutreffen.  Sie müssen kommen und mit mir spazieren gehen.»
  Sie  reichten einander die Hände, und Andrews marschierte über die nassen Felder  davon. Marcels Geplauder hatte in ihm ein seltsam zärtliches und versonnenes  Echo hinterlassen, das er nicht analysieren konnte. Über alles hinaus spürte er  auf wunderliche Art den großen, freien Rhythmus des Meeres.
  Dann  erinnerte er sich, wie er heute früh im Büro des Majors gestanden hatte,  hilflos und unterwürfig vor dem blankpolierten Mahagonischreibtisch, seine  magere Gestalt endlos in den Spiegeln vervielfacht. Sogar hier draußen auf den  Feldern, wo die feuchte Erde zu bersten schien von frisch sprossendem Wachstum,  war er nicht frei. In jenen Bürogebäuden mit den weißen Marmorsälen und dem  Klacken der Offiziersstiefel, in Karteikarten und Stößen maschinengeschriebener  Akten lag sein wirkliches Ich, das sie auslöschen konnten, wenn es ihnen  behagte, sein Name und seine Nummer neben Millionen anderer Namen und Nummern.  Sein fühlender Leib, voller Möglichkeiten und Hoffnungen und Begierden, war  nur ein blasses Gespenst, abhängig von dem anderen Ich, um seinetwillen gequält  und erniedrigt. Er konnte die Erinnerung nicht loswerden, wie er dagestanden  hatte, hager, in der schlechtsitzenden Uniform, sein Bild endlos in den beiden  Spiegeln in dem weißgestrichenen Büro des Majors vervielfacht.
  Plötzlich  sah er zwischen den kahlen Pappeln die Seine.
  Er eilte  die Straße entlang, trat ab und zu in eine glitzernde Pfütze, bis er zur  Landungsstelle kam. Der Fluss war hier sehr breit, silbergrau, mit mattgrünen  und violetten Streifen durchzogen und vom Abendhimmel her mit strohgelbem  Schimmer gefärbt. Auf dem gegenüberliegenden Ufer standen kahle Pappeln,  dahinter kletterten Gruppen brauner Häuser einen grünen Hang zu einer Kirche  empor, und das alles spiegelte sich verkehrt in dem buntgestreiften Fluss. Der  Wasserstand war recht hoch, das Wasser staute sich an den Ufern, so wie es sich  über den Rand eines übervollen Glases wölbt. Aus den Wellen kam ein  unaufhörliches Rauschen und Rascheln, das sich mit stillem Rhythmus in Andrews'  Ohren hob und senkte.
  Andrews  vergaß alles über der mächtigen Melodienwelle, die sich stürmisch in ihm  emporbäumte, mit dem heißen Blut durch seine Adern jagte, mit den bunten  Streifen des Flusses und des Himmels durch seine Augen, mit dem Rhythmus des  brausenden Flusses durch seine Ohren.
5
«So, ich  komme ohne!» sagte Andrews lachend.
  «Wie  lustig!» rief Geneviève. «Aber man wird Ihnen auch so nichts tun können.  Chartres ist sehr nah; es liegt vor den Toren von Paris.»
  Sie waren  allein im Abteil. Der Zug fuhr aus der Station hinaus und durch Vorstädte, wo  die Bäume in den Gärten voller Blätter standen und Obstbäume weiß über den  roten Ziegelwällen zwischen den schachteiförmigen Villen schäumten.
  «Wie dem  auch sei», sagte Andrews, «es war eine Gelegenheit, die man nicht versäumt  haben möchte.»
  «Das muss  ja eines der amüsantesten Dinge im Soldatenleben sein, Verordnungen zu umgehen.  Wahrscheinlich hat Damokles viel Spaß gehabt an dem Schwert über seinem Haupt.  Glauben Sie nicht auch?»
  Sie  lachten.
  «Aber  meine Mutter hat ihre Bedenken gegen diese Ausfahrt mit Ihnen. Sie will sehr  modern und liberal sein, aber im letzten Augenblick erschrickt sie immer. Und  meine Tante wird an Weltuntergang denken, wenn wir erscheinen.»
  Sie fuhren  durch einige Tunnels, und als der Zug in Sèvres hielt, schauten sie in das  Seinetal, wo der blaue Nebel eine Patinaschicht über das sanfte Grün neuer  Blätter gelegt hatte. Dann fuhr der Zug durch weite Ebenen voll blaugrünen  Schimmers junger Eichen und dem goldenen Grün frischer Weizenfelder, wo der  Nebel am Horizont purpurn verfärbt war. Der blaue Schatten des Zuges eilte  neben ihnen einher über Gras und über Zäune.
  «Wie  schön ist es, am frühen Morgen aus der Stadt herauszufahren...  Hat Ihre Tante ein Klavier?»
  «Ja, ein  sehr altes und klappriges.»
  «Es würde  sehr schön sein, Ihnen all das, was ich bisher an der <Königin von Saba>  gearbeitet habe, vorzuspielen. Sie können mir sehr viel helfen.»
  «Ja, ich  bin an Ihrer Arbeit sehr interessiert. Ich denke, Sie werden es eines Tages zu  etwas bringen.»
  Andrews  zuckte die Achseln.
  Sie saßen  schweigend in dem ruckenden Rhythmus der Räder auf den Schienen, schauten sich  dann und wann fast verstohlen an. Draußen hinter den Telegraphenmasten und dem  Draht, auf dem die Sonne rote Kupferstreifen abmalte, glitten Felder und Hecken  und blühende Landflecken und mit zartem Grün bepuderte Pappeln vorbei. Andrews  entdeckte plötzlich, dass der kupferige Glanz der Telegraphendrähte derselbe  war, wie der Glanz in Genevièves Haar.
  Berenike,  Artemisia, Arsinoe! Die Namen krochen langsam in sein Bewusstsein, so dass er  sich, als er aus dem Fenster hinausschaute auf die langen Kurven der  Telegraphendrähte, die aufzusteigen und wieder zu fallen schienen im  Vorbeifahren, ihr
  Gesicht  vorstellen konnte mit den großen, hellbraunen Augen, dem kleinen Mund und der  breiten, glatten Stirn, plötzlich erstarrt zur Glasurmalerei auf dem  Mumiensarg einer jungen Alexandrinerin.
  «Sagen  Sie mir», fragte sie, «wann begannen Sie Musik zu schreiben?»
  Andrews  strich sich das in Unordnung geratene Haar von der Stirn.
  «Ich  glaube, ich habe heute morgen vergessen, mir das Haar zu kämmen. Sie sehen, wie  mich die Vorstellung begeisterte, mit Ihnen nach Chartres zu fahren, so  allein.»
  Sie  lachten.
  «Aber  meine Mutter hat mich im Klavierspielen unterrichtet, als ich noch ganz klein  war», fuhr er ernst fort. «Wir wohnten allein in dem alten Haus in Virginia,  das ihrer Familie gehörte. Wie das von alledem, was Sie bisher erlebt haben,  verschieden sein mag! In Europa wäre es unmöglich, so isoliert zu sein, wie wir  in Virginia waren... Mutter war sehr  unglücklich, ihr Leben war entsetzlich zugrunde gerichtet worden... Jenes unbefreite, hilflose Elend, das  nur eine Frau erleben kann. Sie pflegte mir Geschichten zu erzählen, und ich  machte mir daraus kleine Liedchen zurecht — und auch sonst aus allen möglichen  Themen. Mein größter Erfolg», fuhr er lachend fort, «war ein Lied an einen  Löwenzahn... Ich kann mich noch gut  erinnern, wie meine Mutter die Lippen schürzte und sich über den Schreibtisch  beugte... Sie war sehr groß, und da  es in unserem alten Wohnzimmer sehr dunkel war, musste sie sich weit vorbeugen,  um etwas zu sehen... Sie pflegte  stundenlang wundervolle Kopien meiner Melodien zu machen. Meine Mutter ist der  einzige Mensch, der je in meinem Leben eine wirkliche Bedeutung hatte...  Aber ich entbehre das technische  Training sehr.»
  «Glauben  Sie, dass das so wichtig ist?» fragte Geneviève und beugte sich zu ihm hinüber,  damit er sie im Rattern des fahrenden Zuges verstünde.
  «Vielleicht;  ich weiß nicht.»
  «Aber ich  glaube, es kommt immer früher oder später, wenn man nur intensiv genug fühlt.»
  «Dennoch,  es ist so entsetzlich, zu fühlen, dass alles, was man sagen will, einem  entgleitet. Eine Idee kommt einem in den Kopf, und man fühlt sie wachsen und  wachsen und kann sie nicht fassen. Es ist wie an einer Straßenecke stehen und  eine ungeheure Prozession herankommen sehen, ohne in der Lage zu sein, sich ihr  anzuschließen. Oder wie eine Flasche Bier zu öffnen, dass der Schaum  herausspritzt, ohne ein Glas zu haben um es hineinzugießen.»
  Geneviève  brach in Lachen aus:
  «Aber Sie  können doch aus der Flasche trinken», sagte sie mit leuchtenden Augen.
  «Ich  versuche es ja», erwiderte Andrews.
  «Hier  sind wir. Da ist die Kathedrale! Nein, man sieht sie noch nicht!» rief  Geneviève aus.
  Sie  standen auf. Als sie den Bahnhof verließen, sagte Andrews: «Aber nach alledem:  das einzige, was wichtig ist, ist die Freiheit. Wenn ich erst aus der Armee  heraus sein werde...!»
  «Ja, Sie  haben recht. Wenigstens was Sie betrifft. Der Künstler sollte frei sein. Von  jedem Hindernis.»
  «Ich sehe  keinen Unterschied zwischen einem Künstler und irgendeinem anderen Arbeiter»,  sagte Andrews aufgebracht.
  «Nein,  aber schauen Sie!»
  Von dem  Platz, wo sie standen, über den grünen Kronen eines kleinen Parkes, konnten sie  die Kathedrale sehen, cremegelb und rotbraun, mit dem strengen Turm und dem  verzierten, und der großen Fensterrose dazwischen, die ganze Steinmasse, wie  sie lässig dastand, knietief in den dichtgedrängten Dächern der Stadt.
  Sie  standen Schulter an Schulter und schauten sich an, ohne zu sprechen.
  Nachmittags  gingen sie den Hügel hinunter zum Fluss, der zwischen Häusern und Mühlen, aus  denen das Geräusch mahlender Räder kam, hindurchfloß. Über ihnen und über den  Gärten mit in voller Blüte stehenden Birnbäumen stieß die Kathedrale in den  bleichen Himmel. Auf einer engen und sehr alten Brücke blieben sie stehen und  schauten in das Wasser, das blau und grün und grau schimmerte vom Himmel und  von den frischen Blättern der Weidenbäume, die am Ufer standen.
  Ihre  Sinne waren von der Schönheit des Tages und von der ungeheuren Herrlichkeit der  Kathedrale erfüllt. Müde von alledem, was sie gesehen und gesagt hatten,  sprachen sie von der Zukunft mit ruhigen Stimmen.
  «Man muss  an Arbeit gewöhnt sein», sagte Andrews. «Man muss ein Sklave sein, wenn man was  zustande bringen will. Es kommt darauf an, sich den richtigen Meister zu  wählen, meinen Sie nicht?»
  «Ja. Ich  glaube, dass alle die, die das Leben der Menschen irgendwie mitgeformt haben,  in irgendeinem Sinne Sklaven waren», sagte Geneviève langsam. «Jeder muss sehr  viel vom Leben aufgeben, um intensiv leben zu können. Aber es lohnt sich!»
  Sie sah  Andrews voll in die Augen.
  «Ich  glaube auch, es lohnt sich. Aber Sie müssen mir helfen. Ich bin wie ein Mensch,  der aus einem dunklen Keller ins Licht kommt. Bin fast geblendet, so strahlend  ist alles. Aber ich bin doch wenigstens aus dem Keller heraus.»
  «Sehen  Sie, da sprang ein Fisch!» schrie Geneviève.
  «Ob wir  nicht ein Boot mieten können? Glauben Sie nicht auch, es wäre schön, hier in  einem Boot hinauszufahren?»
  Eine  Stimme übertönte Genevièves Antwort: «Zeigen Sie Ihren Pass her!»
  Andrews  wandte sich um. Ein Soldat mit einem runden, braunen Gesicht und roten Backen  stand neben ihm auf der Brücke. Andrews starrte ihn an. Eine kleine Narbe  oberhalb seines linken Auges stand weiß auf seiner braunen Haut.
  «Zeigen  Sie Ihren Pass her!» sagte der Mann wieder. Er hatte eine hohe, quietschige  Stimme. Andrews fühlte sein Blut in den Ohren pochen.
  «Sind Sie  ein M. P.?»
  «Ja.»
  «Ich  gehöre der Sorbonne-Abteilung an.» «Was ist denn das für'n Dings?» fragte der  Militärgendarm lachend.
  «Was sagt  er?» fragte Geneviève und versuchte zu lächeln.
  «Nichts.  Ich muss mit dem Offizier sprechen und ihm erklären», sagte Andrews atemlos.  «Gehen Sie zu Ihrer Tante. Ich komme hin, sobald ich die Sache in Ordnung  gebracht habe.»
  «Nein,  ich komme mit Ihnen.»
  «Bitte,  gehen Sie zurück. Es kann ernst sein. Ich komme, so schnell ich kann», sagte  Andrews bestimmt.
  Sie ging  den Hügel hinauf mit schnellen, bestimmten Schritten, ohne sich umzusehen.
  «Pech  gehabt, Jüngelchen», sagte der M. P. «Das Weib sah anständig aus. Hätte sie  gern 'ne halbe Stunde für mich allein gehabt.»
  «Ich  gehöre der Sorbonne-Scbulabteilung an, in Paris, und ich bin hier ohne einen Pass.  Was kann ich da tun?»
  «Die  werden dir schon was beibringen, mein Lieber», schrie der M. P. schrill. «Du  bist doch nicht etwa ein Mitglied des Generalstabes in Verkleidung, he? Schulabteilung!  Bill Huggis, der wird lachen, wenn er das hört. Guter Witz, Bürschchen... Aber komm' nur mit», fügte er  vertraulich hinzu. «Wenn du keinen Widerstand leistest, werde ich dir keine  Handschellen anlegen.»
  «Woher  weiß ich, dass Sie überhaupt Militärpolizist sind?» «Wirst schon bald genug  wissen.»
  Sie  gingen eine enge Straße hinunter, zwischen grauen Stuckwänden, die mit Moos  bewachsen waren.
  Auf einem  Stuhl hinter dem Fenster eines kleinen Weinladens saß ein Mann mit einem roten  Militärpolizei-Abzeichen, rauchend. Er stand auf, als er sie kommen sah und  öffnete die Tür, die eine Hand lauernd auf die Pistolentasche gestützt.
  «Da habe  ich 'n Vögelchen gefangen, Bill», sagte der andere und schob Andrews roh durch  die Tür. «Gut gemacht, Handsome. Is' er still?» «Hm», grunzte Handsome.
  «Setz  dich dahin. Wenn du dich bewegst, kriegst ne Kugel in den Nischel.»
  Der  Militärpolizist schob den vierkantigen Unterkiefer vor. Er hatte eine  schmutzige Haut, die unterhalb der grauen, starren Augen gedunsen war.
  «Der  sagt, er sei aus irgendeiner Schulabteilung. Wohl das erste Mal, dass sie'n  erwischt haben, was?»
  «Schulabteilung!  Meinst du 'ne Offiziersschule?» Bill sank lachend in seinen Stuhl am Fenster  und streckte die Beine weit von sich.
  «Gut  gemacht, was?» brüllte Handsome, schrill lachend. «Hast du Papiere bei dir? Musst  doch irgendwelche Papiere haben!»
  Andrews  durchsuchte seine Taschen. Er wurde rot. «Ich sollte eigentlich einen Schulpass  bei mir haben.»
  «Das  solltest du. Gott, ist der Kerl blöd!» sagte Bill. Er lehnte sich tief in  seinen Stuhl zurück und blies den Rauch durch die Nase.
  «Schau  dir mal seine Hundemarke an, Handsome!» Der Mann ging hinüber zu Andrews und riss  ihm die Uniform auf.
  Andrews  wich mit den Schultern zurück. «Ich habe vergessen, sie heute morgen  umzunehmen.» «Keine Marke, keine Abzeichen.» «Doch, Infanterie.» «Keine Papiere...»
  «Der ist  bestimmt schon 'ne ganze Zeit unterwegs», sagte Handsome nachdenklich.
  «Lege ihm  lieber die Handschellen an», brummte Bill gähnend.
  «Wollen  noch 'n wenig warten. Wann kommt der Leutnant?»
  «Erst  nachts.»
  «Sicher?»
  «Ja. 's  kommt vorher kein Zug.» «Was meinst du zu 'nem Schnaps, Bill?» «Der Hund da,  der hat bestimmt Geld.» «Du spendierst uns doch 'n Glas Cognac, was, Schulabteilung?»
  Andrews  saß sehr steif auf seinem Stuhl und starrte sie an.
  «Ja»,  sagte er. «Bestellen Sie sich, was Sie wollen.»
  «Behalte  ihn im Auge, Handsome. Man kann nie wissen, was so einer plötzlich gegen einen  loslasst.»
  Bill  Huggis ging aus dem Zimmer mit schweren Schritten. Nach einem Augenblick kam er  zurück und schwang eine Cognacflasche in der Hand.
  «Habe der  Madame erzählt, du bezahlst, Bürschchen», sagte der Mann, als er an Andrews'  Stuhl vorbeiging. Andrews nickte. Die zwei Militärpolizisten setzten sich an  den Tisch neben Andrews. Andrews musste sie immerzu ansehen. Bill Huggis  summte, als er den Kork aus der Flasche zog:
«Wenn du  lachst, dann bist du glücklich, 
  Wenn du  lachst, dann trauerst du.»
Handsome  beobachtete ihn grinsend. Plötzlich brachen sie beide in Lachen aus.
  «Und dies  Schwein denkt, er sei in einer Schulabteilung!» schrie Handsome mit seiner  schrillen Stimme.
  «Bürschchen,  du wirst bald in einer anderen Sorte Abteilung sein», lachte Bill Huggis.
  Er begoß  sein Lachen mit einem langen Schluck aus der Flasche. Dann schmatzte er mit  den Lippen. «Verdammt, nicht so übel», sagte er, und dann fing er an vor sich  hinzusummen:
«Wenn du lachst, dann bist du glücklich,
  Wenn du lachst, dann trauerst du.»
«Willst  auch n Schluck, Bürschchen?» sagte Handsome und schob die Flasche Andrews zu.
  «Überleg's  dir richtig, Bürschchen. Wird verdammt lange dauern, bis du wieder solch' guten  Cognac zu Gesicht kriegst», grollte Bill Huggis.
  «Gut, ich  nehme einen Schluck.»
  Ein  Gedanke war Andrews plötzlich in den Kopf gekommen. «Donnerwetter, der Hund  kann ja Cognac trinken!» schrie Handsome.
  «Hast du  genug Geld, uns noch 'ne Flasche zu kaufen?»
  Andrews  nickte. Er wischte seinen Mund abwesend mit dem Taschentuch ab. Er hatte den  Cognac getrunken, ohne ihn zu schmecken.
  «Hol noch  'ne Flasche, Handsome», sagte Bill Huggis.
  Eine  purpurne Röte überzog den unteren Teil seiner Bakken. Als der andere  zurückkam, brach er in Lachen aus.
  «Das ist  der letzte Cognac, den das Bürschchen da aus der Schulabteilung für lange Zeit  kriegen wird. Trink ordentlich, Bürschchen...  So was gibts da unten auf der Farm nicht... Schulabteilung!»  Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schüttelte sich vor Lachen.  Handsomes Gesicht war dunkelrot. Nur die Narbe über seinem Auge blieb weiß. Er  fluchte leise, als er den Korken aus der Flasche herauszog. Andrews musste die  Gesichter der Männer immer anschauen. Er sah von einem zum anderen,  widerwillig. Dann und wann traten auf einen Augenblick die gelben und braunen  Karos der Tapete und die Bar mit einigen leeren Flaschen in seinen Blick. Er  versuchte die Flaschen zu zählen: eine, zwei, drei... Doch bald starrte er wieder in die glanzlosen, grauen Augen  von Bill Huggis, der in seinen Stuhl zurückgelehnt lag. Rauch aus der Nase  blasend, dann und warm nach der Cognacflasche greifend und immerzu schwach und  undeutlich summend:
«Wenn du  lachst, dann bist du glücklich, 
  Wenn du  lachst, dann trauerst du.»
Handsome  saß da mit den Ellbogen auf dem Tisch und das Kinn auf seine fleischigen Hände  gestützt. Sein Gesicht war gerötet, aber die Haut sanft gerundet wie bei einer  Frau.
  Das Licht  im Zimmer wurde langsam grau. Plötzlich sprang Andrews auf. Handsome war mit  einem Satz neben ihm und packte ihn bei den Armen.
  «Kann man  denn hier nicht austreten?» fragte Andrews.
  «Nimm den  mit nach hinten und lass ihn nicht aus den Augen, hörst du? Das ist ein  schläfriger Bursche.»
  Als sie  zurückkamen, stand Bill Huggis stramm. Ein junger Offizier mit weit gespreizten  Beinen erfüllte die Mitte des Zimmers. Andrews ging an ihn heran.
  «Ich bin  in der Sorbonne-Abteilung, Paris, Herr Leutnant.»
  «Sie  wissen wohl noch nicht, dass Sie zu grüßen haben?» sagte der Offizier und sah  ihn von oben bis unten an. «Einer von euch Kerls kann mal dem Aas das Grüßen  beibringen», sagte er langsam.
  Handsome  machte einen Schritt vorwärts auf Andrews zu und schlug ihn mit der Faust  zwischen die Augen. Sterne tanzten ihm plötzlich vor dem Gesicht, und das  Zimmer wirbelte herum, hart schlug sein Kopf auf den Boden. Er stand wieder  auf. Die Faust schlug ihn wieder auf dieselbe Stelle, blendete ihn, die drei  Gestalten und das helle Rechteck des Fensters wirbelten durcheinander. Ein  Stuhl krachte mit ihm zu Boden, und ein harter Stoß im Hinterkopf ließ auf  einen Augenblick alles schwarz werden.
  «Genug, lasst  ihn zufrieden!» hörte er eine Stimme weit weg am Ende eines schwarzen Tunnels.
  Ein  ungeheures Gewicht schien ihn niederzuziehen, als er, von Tränen und Blut  geblendet, aufzustehen versuchte.
  Zuckende  Schmerzen schossen wie Pfeile durch seinen Kopf, Handschellen lagen um seine  Handgelenke.
  «Steh  auf!» schnarrte eine Stimme.
  Er stand  auf, schwaches Licht trat durch die strömenden Tränen in seine Augen. Seine  Stirn brannte, als ob heiße Kohlen dagegen gepresst würden. «Achtung,  Gefangener!» schrie die Stimme des Offiziers
  «Marsch!»
  Automatisch  hob Andrews den einen Fuß und dann den anderen. Er fühlte in seinem Gesicht  die kühle Luft der Straße. Auf beiden Seiten tönten die harten Schritte der  Militärpolizisten. In ihm schrie eine Stimme, gellend, gellend.
1
Die  offenen Abfalleimer klapperten, als sie in den Lastkraftwagen verladen wurden.  Schmutz und ein Geruch verfaulter Dinge lag in der Luft, wo die Männer  arbeiteten. Eine Wache stand dabei mit gespreizten Beinen, den Gewehrkolben  fest auf die Erde gestützt. Der Morgennebel lag tief und verbarg die oberen  Fenster des Hospitals. Aus der Tür kam starker Karbolgeruch. Der letzte  Abfalleimer wurde auf den Wagen verladen, die vier Gefangenen und die Wache  kletterten hinauf und suchten sich, so gut sie konnten, einen Platz zwischen  den Eimern, aus denen blutiges Verbandszeug und Asche herauskam, und der  Kraftwagen fuhr ratternd ab nach der Stelle, wo der Müll verbrannt wurde,  durch die Straßen von Paris, am frühen Morgen.
  Die Gefangenen  trugen keine Uniformen. Ihre Hemden und Hosen waren stark mit Fett und Schmutz  befleckt. Ihre Hände waren mit zerrissenen Kanevashandschuhen bekleidet. Die Wache,  ein schläfriger Jüngling, der ununterbrochen freundlich grinste, hatte Mühe,  sein Gleichgewicht zu halten, wenn der Wagen Kurven nahm.
  «Wie  viele Tage wird man mit so 'was beschäftigt, Happy?» fragte ein Junge mit  milden, blauen Augen und heller Gesichtsfarbe und rötlichem, gelocktem Haar.
  «Weiß  nicht, Junge. So lange wie es ihnen Spaß macht», sagte der stiernackige Mann  neben ihm, der ein Gesicht wie ein Boxer mit einem schweren, ausladenden Kinn  hatte. Dann, nachdem er den Jungen einen Augenblick angesehen hatte, das  Gesicht zu einer Art erstauntem Lachen verzogen, fuhr er fort: «Sag mal, Junge,  wie zum Teufel bist du hierher gekommen?»
  «Ich habe  einen Fordwagen gestohlen», sagte der Junge heiter.
  «Was?»
  «Und für  fünfhundert Franken verkauft.»
  Happy  lachte und hielt sich an einem Ascheneimer fest, um nicht von dem schleudernden  Lastauto heruntergeworfen zu werden.
  «Sache,  was Kerl?» schrie er. «Mach du das mal nach.» Die Wache grinste.
  «Man hat  mich nicht nach Leavenworth geschickt, weil ich noch so jung bin», fuhr der  Junge heiter fort.
  «Wie alt  bist du denn, Junge?» fragte Andrews, der gegen den Führersitz gelehnt stand.
  «Siebzehn!»  antwortete der, wurde rot und senkte die Augen.
  «Du musst  ja wie der Teufel gelogen haben, um in diese beschissene Armee  hereinzukommen», brummte die tiefe Stimme des Wagenführers, der sich gerade hinübergebeugt  hatte, um eine Ladung Tabaksaft auszurotzen. Der Führer zog ruckartig die  Bremsen an. Die Eimer schlugen gegeneinander, der Junge schrie auf vor Schmerz:
  «Führe  deine Pferde ordentlich! Hast mir beinahe das Bein gebrochen!»
  Der  Wagenführer ließ eine ganze Kette Flüche los: «Verdammt noch mal! Diese  rammdösigen Wolkenglotzer von französischen Bastarden! Was laufen die uns  gerade in den Weg?»
  «Wer sich  hier sein Bein oder was anderes bricht, der kann nur froh sein. Glaubst du  nicht auch, Kamerad?» flüsterte der vierte Gefangene.
  «Da muss  einem mehr passieren, als ein Beinbruch, um aus dem Arbeitsbataillon hier  rauszukommen, Hoggenback. Nicht wahr, Wache?» sagte Happy.
  Das  Lastauto holperte weiter und ließ einen Schwaden von Staub und Gestank hinter  sich. Andrews bemerkte plötzlich, dass sie die Kais am Fluss entlang fuhren.  Notre Dame stieg hell im nebeligen Sonnenlicht auf. Er starrte lange hinüber.  Wie ein Mann, der vom Boden einer tiefen Grube aus die Sterne ansieht.
  «Mein  Kamerad, der musste nach Leavenworth auf fünf Jahre», sagte der Junge, nachdem  sie lange Zeit geschwiegen und nur auf das Rattern der Eimer im Wagen gehört  hatten.
  «Der hat  dir wohl geholfen, den Fordwagen stehlen?» fragte Happy.
  «Ach was,  Ford! Der hat einen Lebensmittelzug verkauft. War Eisenbahner. Hat nur fünf  Jahre bekommen, weil er von Beruf Steinmetz ist.»
  «Fünf  Jahre, das ist genug für jeden», murmelte Hoggenback mürrisch. Er war ein  breitschultriger, dunkler Mann, der immer den Kopf beim Arbeiten senkte.
  «Ich traf  ihn in Paris; wir waren in der Olympia zusammen, mit einer verdammt netten  Gesellschaft. Dort wurden wir gefasst und auf die Bastille gebracht. War einer  von euch schon mal auf der Bastille?»
  «Ich!»  sagte Hoggenback.
  «Das ist  kein Spaß, was?»
  «Jesus  Christus!» rief Hoggenback aus. Sein Gesicht überzog sich mit einem wütenden  Rot. Er wandte sich ab und sah auf die Zivilisten, die am frühen Morgen schnell  durch die Straßen schritten, auf die Kellner in Hemdsärmeln, die die Cafétische  abwuschen, auf die Weiber, die Handwagen voll Gemüse über die Pflastersteine  schoben.
  «Was wir  durchmachen, das hält so leicht keiner aus», meinte Happy. «Besser, 's wäre  noch Krieg, meine ich. Dann würden sie uns in die Gräben stopfen. Is' nich' so  furchtbar wie hier.»
  «Sputet  euch!» schrie der Wagenführer, als das Lastauto in einem schmutzigen Hof voller  Abfall anhielt. «Habe nicht den ganzen Tag für euch Zeit. Muss noch fünf  Ladungen holen.»
  Die Wache  stand daneben mit ärgerlichem Gesicht und steifen Gliedern, denn sie fürchtete  offenbar, dass Offiziere in der Nähe waren, und die Gefangenen begannen, die  Eimer auszuladen.
  Entsetzlich  war der faulige Geruch, der sie umgab.
  Die Luft  in der dunklen Essstube war dick vor Rauch, der aus der Küche kam. Die Männer  defilierten an der Essenausgabestelle vorbei, hielten ihre Essgeschirre  herauf, in die man das Essen hineinplatschte. Sie aßen zusammengepackt an  langen Tischen, die ganz schmutzig von Fett und vergossenem Kaffee waren und  noch nass vom Säubern. Andrews saß am Ende einer Bank in der Nähe der Tür, aus  der das glimmernde Zwielicht
  kam. Er  aß langsam, überrascht von der Freude, mit der er das fette Essen zu sich nahm.  Hoggenback saß ihm gegenüber.
  «Seltsam»,  sagte er zu Hoggenback. «Es ist wirklich nicht so schlimm, wie ich glaubte.»
  «Was  meinst du? Das Arbeitsbataillon? Ja, man kann sich in alles fügen; man lernt's  wenigstens in diesem gottverdammten Heer.»
  «Ich  glaube, die Menschen fügen sich lieber in alles, als dass sie sich anstrengen,  die Dinge zu ändern.»
  «Du hast  recht. Hast du 'ne Zigarette?»
  Andrews  händigte ihm eine Zigarette aus. Sie standen auf und gingen hinaus in die  Dämmerung, hielten ihre Essgeschirre vor sich, und als sie ihre Geschirre in  einem Fass fettigen Wassers wuschen, sagte Hoggenback plötzlich leise: «Aber es  kommt eines zum anderen. Eines Tages wird schon eine Abrechnung kommen. Hältst  du was von der Reiligion?»
  «Nein.»
  «Ich auch  nicht. Meine Leute zu Hause, die haben auch immer alles mit sich selbst  ausgemacht... Man kann nicht Tag auf  Tag und Tag auf Tag seine eigene Galle fressen.»
  «Ich  fürchte, man kann das doch», brach Andrews ein.
«Wenn du lachst, dann bist du glücklich, 
  Wenn du  lachst, dann trauerst du.»
Es war  fast dunkel. Zwei Männer gingen langsam an ihm vorbei.
  «Sergeant,  kann ich mit Ihnen sprechen?» flüsterte eine Stimme. Der Sergeant grunzte.
  «Zwei  wollen heute Nacht hier ausbrechen.»
  «Wer?  Wenn du mir hier was aufbindest, geht's dir dreckig, denk dran.»
  «Surley  und Watson. Ich hörte sie hinter der Latrine davon sprechen.» «Dumme Schweine.»
  «Sie  sagten, sie wären lieber tot, als noch einen Tag länger in diesem Miststall.»  «So?»
  «Sprich  nicht so laut, Sergeant. Wenn das jemand anders hört... Sag mal, Sergeant», seine Stimme winselte, «meinst du nicht  auch, dass ich meine Zeit nicht schon abgedient habe?»
  «Was weiß  ich? Ist nicht meine Sache.»
  Andrews  ging an ihnen vorbei in die Baracke. Tolle Wut hatte ihn erfasst. Er  entkleidete sich und ging schweigend ins Bett. Hoggenback und Happy sprachen  neben seinem Lager. «Lass nur schon», sagte Hoggenback. «Irgendeiner wird den  schon mal früher oder später fassen.»
  Die Töne  des Signalhorns draußen stachen Andrews in die Ohren. Als ob sie ihn verspotten  wollten! Eine Stimme brüllte: «Ruhe!» Die Lichter gingen aus. Schon konnte  Andrews das tiefe Atmen schlafender Männer hören. Er lag wach, starrte in die  Dunkelheit, in seinem Körper dröhnte der monotone Rhythmus der Fronarbeit des  Tages.
  Es schien  ihm, als ob er immer noch den winselnden Mann zum Sergeanten sprechen hörte.  «Und soll ich auch so werden?» fragte er sich selbst.
Andrews  verließ gerade die Latrine, als eine Stimme ihn leise anrief: «Kamerad!» «Ja»,  sagte er.
  «Komm  her. Ich will mit dir reden.»
  Es war  die Stimme des Jungen. In der übel riechenden Bude, die als Latrine diente, war  kein Licht. Draußen konnten sie die Wache summen hören, als sie vor den  Barackentüren hin und her ging.
  «Du und  ich wollen Schlafgenossen sein, Kamerad.» «Gut», antwortete Andrews.
  «Sag mal,  was hältst du davon, hier durchzubrennen?» «Verdammt riskant», sagte Andrews.
  «Kann man  nicht ein Geräusch wie ein Reifen machen und einfach davonrollen?»
  Sie  kicherten leise. Andrews legte seine Hand auf den Arm des Jungen.
  «Aber  Junge, es ist zu riskant. Ich bin hier reingeraten, weil ich zu viel riskiert  habe. Möchte nicht, dass mir wieder so was passiert. Und wenn sie einen fassen,  dann ist's Desertion. Leavenworth auf zwanzig Jahre, oder Tod durch Erschießen,  das ist das Ende.»
  «Und was  ist das hier?»
  «Oh, ich  weiß nicht, aber eines Tages müssen sie uns doch freilassen!» «Scht!»
  Der Junge  legte seine Hand plötzlich über Andrews' Mund. Sie standen steif, so dass sie  das Pochen ihrer Herzen hören konnten. Draußen ertönte ein schneller Schritt  auf dem Kies. Die Wache hielt an und salutierte. Die Schritte entfernten sich,  und die Wache begann wieder zu summen.
  «Zwei  haben sie neulich auf einen Monat eingesteckt, weil sie so sprachen, wie wir  eben», flüsterte der Junge.
  «Aber  Junge, ich habe nicht die Kraft, so etwas jetzt zu versuchen.»
  «Aber  bestimmt, Kamerad. Du und ich, wir haben mehr Kraft, als alle anderen zusammen.  Gott, wenn die Menschen nur wirklich Kraft hätten, könnte man sie nicht so  behandeln... Ich muss hier raus!»
  «Aber  Junge, nach den Vereinigten Staaten kannst du dann nicht mehr zurück.»
  «Ist mir  ganz egal.»
  «Gehen  wir zu Bett.»
  «Gut, wir  schlafen von jetzt an zusammen, Kamerad.»
  Andrews  fühlte, wie der Junge seinen Arm fest an sich presste. Auf seinem dunklen  Lager lag Andrews eine lange Zeit wach, hörte auf das Schnarchen und das  schwere Atmen um ihn her. Gedanken flatterten ruhelos in seinem Kopfe, aber in  der blassen Hoffnungslosigkeit, die ihn ganz gepackt hielt, konnte er sich nur  die Lippen zerbeißen und den Kopf von einer Seite auf die andere legen und mit  verzweifelter Aufmerksamkeit auf das schwere Atmen der Männer hören, die über  ihm und um ihn schliefen.
Als er einschlief, träumte er, dass er allein mit Geneviève Rod sei und dass er verzweifelt versuche, irgendeine Melodie für sie zu spielen, eine Melodie, die er immer wieder vergaß, und in der verzweifelten Anstrengung, sie wieder zu finden, strömten ihm die Tränen che Backen hinunter. Dann hatte er die Arme um Genevièves Schultern, und er küsste sie, küsste sie, bis er merkte, dass er ein hölzernes Brett küsse, ein hölzernes Brett, auf dem ein Gesicht mit breiter Stirn und großen, hellgrauen Augen und kleinen, festen Lippen gemalt war, und während der ganzen Zeit rief ihm ein Junge, der zuerst Chrisfield und dann sein Schlafgenosse zu sein schien, zu, er solle laufen, laufen, damit ihn die Militärpolizei nicht fasse. Dann saß er fröstelnd vor eisigem Schrecken mit einer Flasche in der Hand, während eine schreckliche Stimme hinter ihm sehr laut sang:
«Wenn du  lachst, dann bist du glücklich, 
  Wenn du  lachst, dann trauerst du.»
  
  Das Signalhorn weckte ihn, und er setzte sich mit einem solchen Ruck auf, dass  er mit dem Kopfe schwer gegen das über ihm liegende Bett schlug. Doch er hatte  keine Zeit, sich mit seinem Schmerz zu beschäftigen, denn er musste sich  beeilen, um rechtzeitig angekleidet zum Appell zu kommen. Fast erlöst stellte  er fest, dass die Soldaten draußen immer noch, mit den Füßen stampfend, vor der  Küche warteten und mit ihren Geschirren klapperten, während sie in dem kühlen  Dämmerlicht des Frühlingsmorgens zitternd standen. Andrews wartete hinter  Hoggenback.
  «Oh, wir  arbeiten alle in demselben Kahn», sagte Andrews lachend.
  «Wünschte,  dass wir sinken», murmelte der andere. «Weißt du», fuhr er nach einer Pause  fort, «hätte nie gedacht, dass ein gebildeter Mann wie du in so 'ne Geschichte  reinkommen könnte. Habe auch 'n bisschen Bildung geschnappt, aber wahrscheinlich  nicht genug.»
  «Glaube  nicht, dass das viel ausmacht. Man leidet genau so, wenn man nur lesen oder  schreiben kann, oder wenn man eine Universität besucht hat.»
  «Weiß  nicht, Kamerad. Wer im Leben hin und her geworfen worden ist, der kann sich mit  vielem abfinden... Hätte wahrscheinlich  eine ganz anständige Anstellung bekommen, wenn ich nicht so verdammt ungeduldig  gewesen wäre... Ein Holzfäller von  Beruf un' mein Oller hat vor einiger Zeit 'nen ordentlichen Fischzug mit  Kriegslieferungen gemacht. Der hätte mich bei den Technikern unterbringen  können, wenn ich mich nicht gemeldet hätte.»
  «Warum  tatest du es?»
  «Hatte  keine Ruhe. Wollte wahrscheinlich die Welt sehen. Um den Krieg habe ich mich  nie viel gekümmert; wollte wissen, wie's hier drüben ausschaut.»
  «Nun,  jetzt hast du ja gesehen», sagte lächelnd Andrews.
  «Im  Nacken», stieß Hoggenback hervor und holte sich seine Tasse Kaffee.
  Auf dem  Lastwagen, der sie zur Arbeit führte, saßen Andrews und der Junge Seite an  Seite und versuchten, trotz des ratternden Geräusches, sich zu unterhalten.
  «Liebst  du Paris?» fragte der Junge.
  «Nicht  vom Lastwagen aus», antwortete Andrews.
  «Sag mal,  einer sagte, du könntest richtig französisch sprechen. Du solltest es mich  lehren.»
  «Aber du  kannst ja schon was.»
  «Schlafzimmerfranzösisch»,  sagte der Junge lachend. «Genügt doch nicht, immer und wieder; vuleh-vuh  cuscheh avec moa, zu sagen.»
  «Wir  gehen nach Passy-Wharf, um Steine auszuladen», sagte jemand murrend.
  «Nein,  Zement. Zement für das Stadion, das wir der Großen französischen Nation  schenken werden. Hast du es nicht in den <Stars and Stripes> gelesen?»
  «Ich  möchte dieser Nation und noch einigen Leuten, die uns näher sind, 'nen Tritt in  'n Arsch schenken.»
  «So, wir  sollen heute also den ganzen Tag schwitzen», murmelte Hoggenback, «um diesen  gottverdammten Franzmännern ein Stadion zu schenken.»
  «Wenn's  das nicht wäre, wär's was anderes.»
«Aber  haben wir denn nicht Angehörige zu Hause, für die wir arbeiten können?» schrie  Hoggenback. «Warum bringt unsere Arbeit und unser Schweiß nicht auch uns was  ein? Ein Stadion bauen! Mein Gott!» «Raus!... Schnell!...» schnarrte eine  Stimme vom Führersitz.
Durch den  Dunst des stickigen weißen Staubes hindurch erhaschte Andrews dann und wann  einen Blick auf den graugrünen Fluss mit seinen Lastkähnen, die von kleinen  Barkassen den Fluss hinaufgezogen wurden. Die Zementsäcke waren sehr schwer,  und die ungewohnte Arbeit schmerzte ihn entsetzlich. Der beißende Staub stach  ihn unter die Fingernägel, in die Augen und in den Mund. Den ganzen Morgen ging  ihm eine Art Refrain durch den Kopf: «Menschen haben ihr Leben verbracht...  und nur dies getan. Menschen haben ihr  Leben verbracht...  und nur dies  getan.» — Wenn er die enge Planke, die vom Kahn zum Ufer führte, überschritt,  sah er in das schwarze Wasser hinab, das unter ihm durchfloss. Er wusste nicht,  warum, aber ein Teil seiner selbst dachte immer wieder, wie wunderbar es sein  müsse, hier zu ertrinken, im ewigen schwarzen Schweigen den hoffnungslosen  Kampf zu vergessen. Einmal sah er den Jungen vor dem Sergeanten stehen in der  Haltung vollkommener Erschöpfung, und er sah, wie der Junge den Sergeanten aus  seinen blauen Augen flehentlich anschaute wie ein Kind, das bittet, ihm die  Prügel zu erlassen. Der Anblick machte ihn wieder froher, und er sprach zu sich  selbst: «Hätte ich rosige Wangen und geschwungene Lippen wie ein Cupido, könnte  ich mich vielleicht davon ernähren», und er stellte sich den Jungen vor als  alten feisten cherubimartigen Mann, aus einer Limousine steigend, wie es die  Leute im Film tun, die ihre milden blauen Augen funkeln lassen. Aber bald  vergaß er alles wieder in der verzweifelten Anstrengung, die schweren Zementsäcke  zu tragen.
  Auf dem  Wagen, beim Nachhausewege, sagte der Junge, der zwischen den schwitzenden  Männern frisch und lächelnd aussah, leise zu Andrews und nahe an ihn  herangerückt: «Du, schwimmst du gern, Kamerad?»
  «Ja. Ich  gäbe was drum, den Zementstaub vom Körper zu kriegen», antwortete Andrews  gleichgültig.
  «Ich hab  mal ein Wettschwimmen gewonnen», sagte der Junge.
  Andrews  antwortete nicht.
  «Warst du  im Schwimmklub oder sowas ähnlichem, Kamerad, als du zur Schule gingst?»
  «Nein... Es müsste herrlich sein, im Wasser zu  sein. Früher schwamm ich nachts immer hinaus in die Chesapeake Bay. Nachts,  wenn das Wasser ganz phosphoreszierend war...»
  Andrews  sah plötzlich in die blauen Augen des Jungen, die hell, wie Flammen, vor  Aufregung waren und in die seinen starrten.
  «Gott,  bin ich ein Esel», murmelte er.
  Er  fühlte, wie die Faust des Jungen ihn sanft in den Rücken knuffte.
  «Der  Sergeant hat gesagt, dass wir wie die Affen bis in die Nacht hinein arbeiten  müssen», sagte der Junge laut zu den anderen, die herumsaßen.
Nach den  ersten zwei oder drei Säcken, die Andrews am Nachmittag getragen hatte, schien  es ihm, als ob jeder der letzte sein würde, den er werde heben können. Sein  Rücken und seine Schenkel pochten vor Ermattung. Sein Gesicht und die Fingerspitzen  fühlten sich wund an vor beißendem Zementstaub.
  Als der Fluss  purpurn im Abend zu schimmern begann, bemerkte er zwei Zivilisten, die die  Arbeit beobachteten.
  «Sollen  Zeitungsreporter sein, die über die Demobilisation schreiben», sagte einer  ärgerlich.
  «Dann  kommen sie hier richtig!» rief ein anderer.
  «Sagt  ihnen, dass wir dabei sind, heimzufahren und unser Gepäck einladen.»
  Die  Zeitungsleute teilten Zigaretten aus. Einige gruppierten sich um sie. Einer  rief: «Wir tun hier die leichte Arbeit. Pershings bestes Arbeitsbataillon!»
  «Der hat  uns so gerne, dass er uns gar nicht entlassen will!»
  Der  Sergeant, ein kleiner Mann mit rotem Gesicht und kurz-geschnittenem  Schnurrbart, ging an die Gruppe heran:
  «Kommt,  Kerls, wir haben noch genug zu tun, um den Zement zu verladen, ehe der Regen  kommt», sagte er mit gutmütiger Stimme.
  «Seht  euch doch mal die Drecksäue an», murmelte Hoggenback mit einem Zementsack auf  dem Wege zum Schiff zurück. Der Junge schob sich an Andrews vorbei, ohne ihn  anzusehen. «Tue genau das, was ich tun werde, Kamerad», sagte er.
  Andrews  wandte sich nicht um, aber sein Herz fing an zu schlagen, sehr schnell, ein  furchtbarer Schrecken erfasste ihn. Er versuchte verzweifelt, all seine  Willenskraft zusammenzunehmen. Aber immer wieder musste er sich daran  erinnern, wie das Zimmer um ihn herum wirbelte, als der Militärpolizist ihn  schlug, und er hörte immer wieder die kalte Stimme des Leutnants: «Einer von  euch Kerls soll mal dem Kerl das Grüßen beibringen!»
  Die Zeit  zog sich endlos hin. Endlich, als sie wieder von einem Gang zurückkamen, sah  Andrews, dass im Schiff keine Säcke mehr waren. Er setzte sich auf die Planke  nieder, zu erschöpft, um zu denken. Blaugrüne Dämmerung lagerte sich nieder  und begann alles zu verbergen. Die Passy-Brücke stand purpurn in einem großen,  roten, verglimmenden Sonnenlicht. Der Junge setzte sich neben ihn und legte seinen  vor Erregung zitternden Arm um seine Schultern.
  «Die  Wachen schauen den andern Weg. Sie werden uns nicht vermissen, bis sie zum  Lastwagen kommen... Los, Kamerad»,  sagte er mit ruhiger, leiser Stimme.
  Er hielt  sich an der Planke fest und ließ sich in das strömende Wasser nieder. Andrews  folgte ihm, kaum wissend, was er tat. Das eisige Wasser schloss sich um seinen  Körper. Er fühlte plötzlich wieder Leben und Kraft. Als er an dem großen Steuer  des Kahns vorbeigetrieben wurde, hielt er sich an dem Jungen fest, der ein  Seil ergriffen hatte. Sie arbeiteten sich, ohne zu sprechen, auf die andere  Seite des Steuers herum. Die Strömung, die furchtbar an ihm zog, machte es  schwer, sich festzuhalten.
  «Jetzt  können sie uns nicht sehen», sagte der Junge durch die Zähne. «Kannst du Schuhe  und Hosen ausziehen?»
  Andrews  begann einen Stiefel auszuziehen. Der Junge half ihm mit der einen, freien  Hand, sich festzuhalten.
  «Meine  sind ab», sagte er. «Ich bin fertig.»
  Er  lachte, obschon ihm die Zähne aufeinander schlugen.
  «In  Ordnung. Meine sind auch raus», sagte Andrews.
  «Kannst  du unter Wasser schwimmen?»
  Andrews  nickte.
  «Wir  wollen auf die Kähne da drüben auf der anderen Seite der Brücke zu halten. Die  Schiffer werden uns verbergen.» «Woher weißt du?»
  Der Junge  war verschwunden.
  Andrews  zögerte einen Augenblick. Dann ließ er sich los und begann in der Strömung mit  aller Kraft zu schwimmen.
  Zuerst  fühlte er sich stark und kräftig. Doch bald drückte ihn der eisige Griff des  Wassers nieder. Seine Arme und Beine schienen steif zu werden. Mehr als gegen  das Wasser kämpfte er gegen die Ermattung, die in seinen Gliedern aufstieg. Er  glaubte, jeden Augenblick würden seine Glieder ihm den Dienst verweigern. Er  kam an die Oberfläche und schnappte nach Luft. In diesem Augenblick sah er  Gestalten, klein wie Spielsoldaten, die wild auf dem Kahn herumgestikulierten.  Der Knall eines Schusses tönte in der Luft. Er tauchte wieder, ohne zu denken.  Als ob sein Körper unabhängig von seinem Verstande arbeite. Als er das nächste  Mal wieder heraufkam, waren seine Augen vor Kälte starr. Ein Blutgeschmack  füllte seinen Mund. Der Schatten der Brücke war gerade über ihm. Er legte sich  für einen Augenblick auf den Rücken. Auf der Brücke waren Lichter.
  Eine  Stromschnelle fegte ihn an einer Barke nach der anderen vorbei: Gewissheit zu  ertrinken. Eine Stimme seufzte ihm grotesk in die Ohren: So ertrank John  Andrews in der Seine, ertrank in der Seine, in der Seine.
  Dann  kämpfte er in wilder Wut gegen das Tauwerk, das ihn herunterziehen wollte. Die  schwarze Seite eines Kahnes flitzte an ihn heran mit blitzartiger Schnelle.  «Wie schnell diese Kähne vorbeifegen», dachte er. Dann plötzlich bemerkte er, dass  er ein Seil gefasst hatte, dass seine Schultern gegen ein kleines Boot  schlugen. Eine starke, warme Hand ergriff seine Schultern von hinten, und er  wurde hinauf und hinein gezogen, heraus aus dem klammernden Tauwerk im Wasser.
  «Verstecken  Sie mich, ich bin Deserteur», sagte er immer und immer wieder auf französisch.  Ein braunrotes Gesicht mit einem stoppeligen weißen Bart, eine Art  Knollengesicht, beugte sich über ihn.
2
«O qu'il est propre, oh, qu'il a la peau blanche...»
  Frauenstimmen  schrillten im Nebel. Eine Decke, die sich weich und warm anfühlte, wurde über  ihn gelegt. Er war sehr warm, aber noch gefühllos. Nach einer langen Zeit  gelang es ihm, sich herumzudrehen und umzusehen.
  «Mais  reste tranquille», schrillte eine Frauenstimme.
  «Und der  andere? Haben Sie den anderen nicht gesehen?» sagte er in einem erstickten  Flüstern.
  «Ja, es  ist alles gut, ich trockne die Sachen am Ofen», ertönte eine andere  Frauenstimme tief und grollig, fast wie die eines Mannes.
  «Maman  trocknet Ihr Geld am Ofen; es ist alles gerettet. Wie reich sie sind, diese  Amerikaner!»
  «Und fast  hätte ich das Geld zusammen mit den Hosen über Bord geworfen», sagte die andere  Frau.
  John  Andrews begann, um sich zu schauen. Er war in einer dunklen, niedrigen Kabine.  Hinter ihm, in der Richtung der Stimmen, flackerte ein gelbes Licht. In dem  Geruch der geschlossenen Kabine war die Wärme von kochendem Essen zu spüren. Er  konnte das beruhigende Zischen von bratendem Fett hören.
  «Aber  haben Sie den Jungen nicht gesehen?» fragte er auf englisch und versuchte sich  verzweifelt zusammenzureißen, zusammenhängend zu denken; dann fuhr er mit einer  mehr natürlichen Stimme auf französisch fort:
  «Es war  noch ein anderer mit mir.»
  «Wir  haben niemand gesehen. Rosaline, frag mal den Alten!» sagte die ältere Frau.
  «Nein,  der hat auch niemand gesehen», ertönte die schrille Stimme des Mädchens.
  Sie ging  hinüber zum Bett und strich mit einer linkischen Bewegung über Andrews  Bettdecke.
  «Qu'il  parle bien francais», sagte sie mit einem Blick auf ihn.
  Schwere  Schritte schoben sich durch die Kabine, und die alte Frau kam an sein Bett und  schaute ihm ins Gesicht.
  «Il va  mieux», sagte sie.
  Es war  eine breite Frau mit einem breiten, flachen Gesicht und einem geschwollenen, in  Schals gewickelten Körper. Ihre Augenbrauen waren sehr buschig; sie hatte  dicke, graue Schnurrbarthaare, die an beiden Seiten des Mundes herauswuchsen.  Ihre Stimme war tief und grollig und schien aus der Höhle eines mächtigen  Körpers zu kommen.
  Schritte  ertönten irgendwo, und der alte Mann sah ihn an durch Brillengläser, die auf  seiner Nasenspitze saßen.
  Andrews  erkannte ein unregelmäßiges Gesicht voll roter Pikkel und Beulen.
  «Vielen  Dank», sagte er.
  Alle drei  sahen ihn eine Zeitlang schweigend an. Dann zog der alte Mann eine Zeitung aus  seiner Tasche, faltete sie sorgfältig auf und hielt sie vor Andrews' Augen. Im  schwachen Licht konnte Andrews den Titel lesen: «Libertaire».
  «Darum»,  sagte der alte Mann und sah Andrews durch seine Brillengläser fest an.
  «Ich bin  eine Art Sozialist», sagte Andrews.
  «Sozialisten,  die taugen nichts», pustete der Alte, und die roten Pickel in seinem Gesicht  schienen noch röter zu werden.
  «Ich habe  eine ganz besonders starke Sympathie für die anarchistischen Genossen», fuhr  Andrews fort und fühlte ein lebhaftes Amüsement.
  «Hast  Glück gehabt, dass du mein Seil ergriffen hast. Der vom nächsten Kahn hätte  dich bestimmt ausgeliefert. Sont des royalistes, ces salauds là.»
  «Wir  müssen ihm was zu essen geben. Er wird was bezahlen, nich, kleiner  Amerikaner?»
  Andrews  nickte mit dem Kopfe:
  «Alles,  was Sie verlangen.»
  «Nein,  wenn er sagt, er ist ein Genosse, soll er nichts bezahlen, keinen Sou»,  grollte der alte Mann.
  «Darüber  werden wir uns noch mal unterhalten!» rief die alte Frau und zog den Atem mit  einem ärgerlich pfeifenden Laut ein.
  «Heutzutage  ist das Leben so teuer», ertönte die Stimme des Mädchens.
  «Oh, ich  werde bestimmt alles bezahlen», sagte Andrews und schloss die Augen schläfrig.  Er lag eine lange Zeit auf dem Rücken, ohne sich zu bewegen. Eine Hand schob  sich zwischen seinen Rücken und das Kissen. Er setzte sich auf. Rosaline hielt  ihm eine Schüssel dampfender Fleischbrühe vor.
  «Mange  ca», sagte sie.
  Er sah  ihr lächelnd in die Augen. Ihr rötliches Haar war sorgsam gekämmt. Ein  hellgrüner Papagei mit einem rötlichen Fleck auf dem Flügel balancierte auf  ihrer Schulter und sah Andrews aus wütenden Augen an.
  «Il est  jaloux, Coco», sagte Rosahne mit einem schrillen kleinen Kichern.
  «Sie ist  zu heiß», sagte er und lehnte sich in die Arme des Mädchens zurück. Der Papagei  quarlte einen Satz heraus, den Andrews nicht verstehen konnte. Andrews hörte  die Stimme des alten Mannes von irgendwo hinter ihm antworten:
  «Nom de dieu.»
  Rosaline lachte:
  «Der alte  Mann hat ihn das gelehrt. Armer Coco; er weiß nicht, was er sagt.»
  «Was sagt  er?» fragte Andrews.
  «Les bourgeois à la lanterne, nom de dieu. Das ist aus einem Lied», sagte Rosaline. «O qu'il est  malin, ce Coco.»
  Rosaline  stand mit gekreuzten Armen vor dem Bett. Der Papagei reckte den Hals und rieb  ihn gegen ihre Wange. Das Mädchen formte ihre Lippen zu einem Kusse und  murmelte mit schläfriger Stimme: «Tu m'aimes, Coco, n'est ce pas, Coco? Bon  Coco.»
  «Kann ich  noch etwas haben? Bin furchtbar hungrig», sagte Andrews.
  «Oh, ich  vergaß ganz!» rief Rosaline und lief mit der leeren Schüssel fort.
  Nach  einem Augenblick kam sie zurück ohne den Papagei, mit einer Schüssel in der  Hand voll brauner Bouillonkartoffeln und Fleisch.
  Andrews  aß mechanisch und gab die Schüssel zurück.
  «Danke  schön», sagte er. «Ich will jetzt schlafen.»
  Er legte  sich in seiner Koje wieder zurecht. Rosahne deckte ihn zu und machte die Decke  um seine Schultern fest. Ihre Hand schien ein wenig zu zögern, als sie an  seiner Wange vorbeifuhr. Doch Andrews war schon wieder in bewusstlosen Schlaf  versunken und fühlte nichts, als die Wärme des Essens und eine große Steifheit  in Beinen und Armen. Als er erwachte, war das Licht grau anstatt gelb, und ein  rauschender Laut verwirrte ihn. Er lauschte lange Zeit und wunderte sich, was  es wohl sein könne. Plötzlich kam ihm mit einer plötzlichen warmen Freude der  Gedanke, dass der Kahn in Bewegung sei. Er lag sehr ruhig auf dem Rücken,  schaute hinauf in das schwache silbrige Licht, dachte an nichts und hatte nur  eine vage Furcht, dass jemand kommen könne, mit ihm sprechen, ihn ausforschen.
  Nach  einer langen Zeit begann er an Geneviève Rod zu denken. Er hatte eine lange  Konversation mit ihr über Musik, und in seiner Einbildung sagte sie zu ihm  immer wieder, dass er die Königin von Saba fertig stellen müsse und dass sie  das Stück Monsieur Gibier geben werde, der Verbindung mit einer Konzertdirektion  habe. Wie lange musste es schon her sein, dass sie über so etwas gesprochen  hatten.
  Großer  Gott, werde ich mein ganzes Leben lang an diese Dinge denken müssen? «Bringt  dem Kerl das Salutieren bei», hatte der Offizier gesagt, und Handsome war an  ihn herangetreten und hatte ihn geschlagen. Werde ich mein ganzes Leben daran  denken müssen?
  «Wir  haben die Uniform an ein paar Steine gebunden und über Bord geworfen», sagte  Rosaline und stieß ihn an der Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
  «Das war  ein guter Gedanke.»
  «Wollen  Sie aufstehen? Es ist fast Essenszeit. Wie haben Sie geschlafen?»
  «Ja, aber  ich habe nichts anzuziehen», sagte Andrews lachend und fuhr mit einem nackten  Arm durch die Luft.
  «Warten  Sie, ich werde irgend etwas von den Sachen des alten Mannes holen. Sagen Sie,  haben alle Amerikaner so weiße Haut wie Sie? Schauen Sie!»
  Sie legte  ihre braune Hand auf Andrews Arm, der ganz weiß dagegen stand.
  «Das ist  nur, weil ich blond bin», sagte Andrews. «Es gibt doch auch blonde Franzosen,  nicht?»
  Rosaline  rannte kichernd weg und kam nach einem Augenblick mit ein paar Hosen und einem  zerrissenen Flanellhemd, das nach Tabakspfeife roch, zurück.
  «Das ist  für jetzt gut genug», sagte sie. «Es ist heute für April recht warm. Heute Nacht  werden wir Kleider und Schuhe kaufen.»
  «Wo  fahren Sie hin?»
  «Gott,  ich weiß nicht. Wir fahren nach Havre.»
  Sie legte  beide Hände an den Kopf und begann ihr wirres rotes Haar in Ordnung zu bringen.
  «Oh, mein  Haar», sagte sie. «Das ist das Wasser, wissen Sie. Man kann in diesen Kähnen  nicht anständig ausschauen. Sagen Sie mal, Amerikaner, warum bleiben Sie nicht  eine Weile mit uns? Sie können dem alten Mann helfen das Boot führen.»
  Er fand  plötzlich, dass ihre Augen mit zitterndem Eifer in die seinen gerichtet waren.
  «Ich weiß  nicht, was ich tun soll», sagte er sorglos. «Ob es sicher ist, an Deck zu  gehen?»
  Sie  wandte sich keck fort und ging die Leiter vor ihm hinauf.
  «O, v'là  le camarad!» rief der alte Mann, der sich mit aller Kraft gegen die Ruderpinne  stemmte.
  «Komm,  hilf mir!»
  Der Kahn  war der letzte von vier, die in dem silbrigen Fluss eine große, weite Kurve  beschrieben. Andrews atmete den feuchten Geruch des Flusses ein und stemmte  sich in die Pinne hinein und beantwortete des alten Mannes kurze Fragen. Er  blieb bei der Pinne, als die übrigen hinunter in die Kabine zum Essen gingen.  Die blassen Farben und das zischende Geräusch des Wassers und die blaugrünen  Ufer, die vorbeiglitten, beruhigten ihn fast wie ein tiefer Schlaf. Doch sie  schienen nur ein Schleier zu sein, der andere Wirklichkeiten bedeckte, wo Männer  endlos in Reihen aufmarschiert standen, mit Beinen, die man alle gleich lang  gemacht hatte auf den Drillplätzen, die alle dieselbe Kleidung trugen und sich  von derselben Hierarchie polierter Offizierskoppel, polierter Gamaschen und  Mützen mit steifen Schirmen misshandeln lassen mussten, die in dem ungeheuren  Büro voller Indexkarten und Kartothekkästen ein genau kontrolliertes Leben  führten, ein Schleier vor einer Welt voll vom Trampeln marschierender Füße, in  der kalte Stimmen immerzu sagten: «Bringt den Kerls das Grüßen bei.» Wie ein  Vogel in einem Netz, so suchte Andrews sich von diesem Gedanken zu befreien.
  Dann  dachte er an den Tisch in seinem Zimmer in Paris, wo sein Notenpapier  aufgehäuft lag, und er fühlte: es gibt nichts auf der Welt, was dem  gleichgestellt werden kann: arbeiten.
  Da stand  er in die große Pinne hineingestemmt, sah auf die blau-grünen Pappeln, die  vorbeiglitten, fühlte den feuchten Geruch vom Fluss und dachte an nichts. Nach  einer Weile kam der alte Mann aus der Kabine herauf mit rotem Gesicht und  puffte Wolken von Rauch aus seiner Pfeife.
  «Gut,  junger Kerl, geh runter und iss», sagte er. Andrews lag flach auf dem Bauche  auf Deck, das Kinn fest in beide Hände gestützt. Der Kahn war zwischen anderen  Kähnen am Ufer festgemacht. Neben ihm bellte ein kleiner, haariger
  Hund  wütend. Es war fast dunkel, und durch den perligen Nebel, der aus dem Fluss  aufstieg, schien rotes Licht aus den Gaststuben am Ufer. Ein Streifen Neumond  zitterte in der Luft hinter den Pappeln. In all den verzweifelten Gedanken trat  plötzlich die Erinnerung an den jungen Kameraden ihn an. Der hatte einen  Fordwagen für fünfhundert Franken gestohlen, war mit einem Mann, der einen  Lebensmittelzug verkauft hatte, davongegangen und wollte italienische Filme schreiben.  Kein Krieg konnte Leute wie diese unterkriegen. Andrews lächelte und schaute in  das schwarze Wasser. Seltsam, der Junge war wahrscheinlich tot, und er, John  Andrews, lebte und war frei. Und hier lag er nun verdrießlich und wimmerte noch  über altes Unrecht. «Um Gottes willen, sei ein Mann», sagte er zu sich selbst.  Er stand auf.
  In der  Kabinentür spielte Rosaline mit dem Papagei.
  «Gib mir  einen Kuss, Coco», sagte sie mit schläfriger Stimme. «Nur einen kleinen Kuss.  Nur einen kleinen Kuss für Rosaline. Arme, kleine Rosaline.»
  Der  Papagei, den Andrews in der Dämmerung kaum sehen konnte, lehnte sich an sie und  flatterte mit den Flügeln. Rosaline erblickte Andrews.
  «Oh, ich  dachte, Sie wären gegangen mit dem Alten einen trinken!» rief sie.
  «Nein,  ich bin hier geblieben.»
  «Lieben  Sie dies Leben?»
  Rosaline  setzte den Papagei wieder in seinen Käfig, wo er von einer Seite auf die andere  schwankte und protestierend schrie: «Les bourgeois à la lanterne, nom de dieu!»
  «Oh, es muss  ein wundervolles Leben sein. Dieser Kahn erscheint mir wie ein Himmel nach dem  Armeeleben.»
  «Aber man  bezahlt euch doch gut, euch Amerikaner.»
  «Sieben  Franken den Tag.»
  «Das ist  ja richtiger Luxus.»
  «Ja, um  den ganzen Tag herumkommandiert zu werden!»
  «Aber ihr  habt gar keine Ausgaben. Es ist reiner Verdienst. Ihr Männer seid seltsam. Der  Alte ist auch so. Es ist schön, hier so ganz allein, nicht wahr, Jean?»
  Andrews  antwortete nicht. Er dachte daran, was Geneviève Rod sagen wird, wenn sie  erfährt, dass er desertiert sei.
  «Ich  hasse das... Es ist schmutzig und  kalt und elend im
  Winter»,  fuhr Rosaline fort. «Wenn doch all diese Kähne unten auf dem Grund des Flusses  lägen... Und mit den Pariser Frauen  haben Sie wohl eine schöne Zeit verlebt, was?»
  «Ich  kannte nur eine. Ich gehe sehr wenig mit Frauen.»
  «Trotzdem.  Die Liebe ist schön, nicht?»
  Sie saßen  auf der Reling. Rosaline hatte sich so gesetzt, dass ihr Bein Andrews' Bein in  seiner ganzen Länge berührte.
  Die  Erinnerung an Geneviève Rod wurde lebhafter und lebhafter in seinen Gedanken.  Er dachte daran, was sie gesagt hatte, an den Ton ihrer Stimme, daran, wie sie  Tee einzugießen pflegte, an ihre hellbraunen Augen...
  «Mutter  spricht mit der alten Frau da im Caf6. Sie sind sehr befreundet. Sie wird vor  zwei Stunden nicht zu Hause sein», sagte Rosaline.
  «Sie  bringt mir Kleider mit, nicht?»
  «Aber Sie  sehen doch auch so gut genug aus!»
  «Ja, aber  es sind die Kleider Ihres Vaters.»
  «Was  macht das!»
  «Ich muss  bald nach Paris zurück. Ich muss jemand dort sprechen.» «Eine Frau?» Andrews  nickte.
  «Aber das  Leben auf dem Kahn ist gar nicht so schlimm. Ich bin nur einsam und habe die  alten Leute satt, darum spreche ich so schlecht von ihnen...  Wir könnten schöne Zeiten zusammen  verleben, wenn Sie noch ein wenig hier bleiben wollten.»
  Sie  lehnte ihren Kopf auf seine Schulter und strich mit der Hand über seinen  nackten Unterarm.
  «Wie kalt  diese Amerikaner sind», murmelte sie und kicherte matt. Andrews fühlte ihr Haar  auf seiner Backe.
  «Nein, es  ist wirklich kein schlechtes Leben hier auf dem Kahn. Das einzige sind diese  alten Leute. Es ist nicht schön, immer mit alten Leuten zusammen sein zu  müssen. Ich will auch einmal eine gute Zeit haben.»
  Sie  drückte ihre Backe gegen die seine. Er konnte ihren Atem schwer in seinem  Gesicht fühlen.
  «Es ist  schön, so im Sommer auf dem Deck zu liegen, das warm vor Sonne ist, und die  Bäume zu schauen und die Felder und die kleinen Häuser, die auf beiden Seiten  vorbeigleiten... Wenn nur nicht so  alte Leute da wären... Alle jungen  gehen fort in die Stadt. Ich hasse alte Leute. Die sind so schmutzig und  langsam. Man darf seine Jugend nicht vergeuden, nicht?»
  Andrews  stand auf.
  «Arme  Rosaline.»
  «Was ist  denn los?» fragte sie heftig.
  «Rosaline»,  sagte Andrews mit leiser, sanfter Stimme, «ich kann nur daran denken, nach  Paris zu gehen.»
  «Oh,  diese Pariser Frau», sagte Rosaline zornig. «Aber was tut das? Sie ist ja jetzt  nicht hier.»
  «Ich weiß  nicht... Vielleicht werde ich sie nie  wieder sehen», sagte Andrews.
  «Sie sind  ein Narr. Man muss sich amüsieren im Leben, wenn man kann, und außerdem sind  Sie ja Deserteur... Wenn man Sie  erwischt, werden Sie erschossen.»
  «Oh, ich  weiß, Sie haben recht. Aber ich bin nun eben nicht so.»
  «Sie muss  sehr gut zu Ihnen sein, Ihr kleines Pariser Mädchen.»
  «Ich habe  sie noch nie angerührt.»
  Rosaline  warf den Kopf zurück und lachte schallend.
  «Aber Sie  sind doch nicht etwa krank?» rief sie.
  «Vielleicht  ist meine Erinnerung nur zu lebendig...  Wie dem auch sei, ich bin ein Narr, Rosaline, und Sie sind ein nettes Mädchen.»
  Schritte  waren auf der Planke, die zum Ufer führte, zu hören. Mit einem Schal über dem  Kopfe und einem großen Bündel unter dem Arm kam die alte Frau schwer atmend an  sie heran. Sie sah von einem zum anderen und versuchte, ihnen in der Dunkelheit  ins Gesicht zu sehen.
  «'s ist  'ne Gefahr...  so...  Jugend...»  murmelte sie zwischen kurzen, schweren Atemstößen.
  «Haben  Sie Kleider gefunden?» fragte Andrews.
  «Ja.  Ihnen bleiben dann noch fünfundvierzig Franken von Ihrem Geld. Ist es recht?»
  «Ich  danke Ihnen sehr für Ihre Bemühungen.»
  «Sie  haben doch dafür bezahlt», sagte die alte Frau.
  Sie gab  ihm das Bündel.
  «Hier  sind Ihre Kleider und die fünfundvierzig Franken. Wenn Sie wollen, kann ich  Ihnen auch genau sagen, was jedes einzelne Stück kostet.»
  Er  kletterte die Leiter hinunter in die Kabine. Die neuen, ungewohnt  geschnittenen Kleider erweckten in ihm ein starkes und fröhliches Gefühl. Die  alte Frau hatte ihm Manchesterhosen gekauft, billige Tuchschuhe und ein blaues  Kattunhemd und wollene Socken. Als er wieder an Deck kam, hielt sie eine  Laterne hoch, um ihn anzuschauen.
  «Schaut  er nicht gut aus? Ganz französisch?» fragte sie.
  Rosaline  wandte sich weg, ohne zu antworten. Ein wenig später kam sie mit dem Papagei  die Leiter hinunter.
  «Les  bourgeois à la lanterne, nom de dieu!» erscholl die Stimme des alten Mannes vom  Ufer.
  «Der ist  ja betrunken wie ein Schwein», murmelte die alte Frau. «Wenn er nur nicht von  der Planke herunterfällt.»
  Ein  schwankender Schatten erschien am Ende der Planke. Andrews streckte die Hand  aus, um ihn im Kahn aufzufangen. Der alte Mann wankte gegen die Kabine.
  «Schimpf  nicht mit mir, Liebling», sagte er und schlang einen Arm um Andrews' Hals. Mit  der anderen Hand winkte er zu seiner Frau hinüber: «Ich habe einen Kameraden  für den kleinen Amerikaner gefunden.»
  «Was?»  fragte Andrews scharf.
  Sein Mund  war plötzlich trocken vor Schreck. Er fühlte, wie sich seine Nägel in seine  kalten Handflächen eingruben.
  «Ich habe  einen anderen Amerikaner für dich gefunden», sagte der alte Mann mit wichtiger  Stimme. «Hier kommt er.»
  Ein  anderer Schatten erschien am Ende der Planke.
  «Les bourgeois à la lanterne, nom de dieu!» rief der  alte Mann.
  Andrews  drückte sich vorsichtig auf die Seite des Kahnes. Alle Muskeln seines Körpers  zitterten. Eine schrille Stimme in seinem Kopfe sagte: «Ertränke dich,  ertränke dich, dann werden sie dich nicht fassen.»
  Der Mann  stand am Ende der Planke. Andrews konnte die Kontur der Uniform im Licht, das  hinter den Pappelbäumen hervorkam, erkennen. «Gott, wenn ich nur eine Pistole  bei mir hätte», dachte er.
  «Sag  Kamerad, wo bist du?» fragte eine amerikanische Stimme.
  Der Mann  kam über das Deck näher. Andrews stand starr, jeder Muskel gespannt.
  «Donnerwetter,  du hast ja deine Uniform ausgezogen...  Beruhige dich, ich bin kein Militärpolizist, bin auch ohne Urlaub fort. Gib  her die Pfote.»
  Er  streckte seine Hand aus. Andrews nahm die Hand, zögernd, ohne sich vom Ende des  Kahnes fortzubewegen.
  «Sag  Kamerad, 's ist 'ne dumme Geschichte, die Uniform ausziehen. Hast keine mehr?  Wenn sie dich erwischen, kostet's dich das Leben.»
  «Ist mir  gleich. Es ist jetzt geschehen.»
  «Du  denkst wohl immer noch, ich bin ein Militärpolizist? Ich schwöre, ich bin's  nicht. Vielleicht aber bist du es. Dieses Leben ist wirklich die Hölle. Man  kann keinem Menschen mehr vertrauen.»
  «Von  welcher Division kommst du?»
  «Ich  komme, dich zu warnen. Dieser Franzose da, der war so'n bisschen angesäuselt  und hat in der Kneipe geplappert, er sei Anarchist und all' so'n Zeugs, und er  hätte 'nen amerikanischen Deserteur, der auch 'n Anarchist sei, und so weiter,  und da sagte ich zu mir, den Jungen werden sie fassen, wenn er nicht acht gibt.  So habe ich mich denn dem alten Franzmann da angeknöpft und gesagt, ich möchte  den Kameraden da sehen, und ich denke, wir machen uns beide besser bald aus dem  Staube.»
  «Verdammt  anständig. Tut mir leid, dass ich so misstrauisch war. War vor Schrecken ganz  starr, als ich dich zuerst sah.»
  «Hattest  auch verdammt recht. Aber warum hast du die Uniform ausgezogen?»
  «Machen  wir, dass wir hier fortkommen. Ich erzähle dir noch davon.»
  Andrews  schüttelte dem alten Mann und der alten Frau die Hände. Rosaline war  verschwunden.
  «Gute  Nacht, danke schön», sagte er und folgte dem anderen Manne über die Planke. Wie  sie die Straße hinunter fortgingen, hörten sie die Stimme des alten Mannes  brüllen: «Les bourgeois à la lanterne, nom de dieu!»
  «Mein  Name ist Eddy Chambers», sagte der Amerikaner.
  «Ich  heiße John Andrews.»
  «Wann  bist du ausgerissen?»
  «Vor zwei  Tagen.»
  Eddy  pfiff vor Staunen.
  «Ich bin  von einem Arbeitsbataillon in Paris ausgerückt. In Chartres hatten sie mich  ohne Pass erwischt.»
  «Ich bin  schon seit über einem Monat weg. Warst du auch bei der Infanterie?»
  «Ja, ich  war bei der Schulabteilung in Paris, als sie mich einsteckten. Sie schickten  mich einfach ohne jede Untersuchung fort. Bist du schon mal in einem  Arbeitsbataillon gewesen?»
  «Gott sei  Dank, nein. Meine Nummer haben sie noch nicht in den Fingern.»
  Sie  gingen schnell eine breite Straße hinunter. Über ihnen stand der Himmel voll  klarer, kristallener Sterne.
  «Ich bin  gestern acht Wochen fort. Was hältst du davon?» fragte Eddy.
  «Musst  ordentlich Geld gehabt haben.»
  «Seit  fünfzehn Tagen keinen Penny.»
  «Wie hast  du das geschafft?»
  «Weiß  nicht. Hab's geschafft. Siehst du, die Abteilung, bei der ich war, ging nach  Hause, als ich im Hospital war. Und als ich raus kam, wollte man mich zum  Okkupationsheer schicken. Gott, ich wäre krank geworden bei einer neuen Truppe,  wo ich niemand kenne, und alle meine Kameraden zu Hause, und überall mit Musik  und Mädchen empfangen. Wo gehst du hin?»
  «Paris.»
  «Verdammt  riskante Sache.»
  «Aber ich  habe Freunde dort, kann dort Geld in die Finger kriegen.»
  «Ich  schaue aus, als ob ich auf der ganzen Welt keinen Freund hätte.» «Was bist du  zu Hause gewesen?» «Zimmermann.»
  «Aber  Mann, mit einem solchen Beruf kann man sich ja überall durchschlagen.»
  «Da hast  du verdammt recht. Aber in diesem Spiel, das wir spielen, muss man ja wie ein  Maulwurf unter der Erde leben. Wenn ich wenigstens in ein Land kommen könnte,  wo ich wie 'n Mensch rumlaufen kann. Da wäre es mir ganz gleich, was passiert.  Wenn diese Armee hier je rausgeht und diese verdammten Militärpolizisten,  werde ich in einer dieser kleinen Städte ein Geschäft aufmachen. Kann ganz gut  parier. Würde auch ganz gern ein französisches Mädchen heiraten und so'n  regelrechter Franzmann werden. Nach dem, was mir mit diesem verdammten Heer  passiert ist, will ich nichts mehr mit dem
  Scheißland  da drüben zu tun haben. Demokratie!» Er räusperte sich und spuckte ärgerlich  auf den Weg. Sie gingen schweigend weiter. Andrews sah hinauf in den Himmel.
  «Warum  hast du nicht versucht, nach Spanien oder Italien zu kommen?» fragte er nach  einer Weile.
  «Kann die  Sprache nicht. Nein, ich gehe nach Schottland.»
  «Aber wie  kannst du dahin kommen?»
  «Auf  einem der Fährboote von Havre nach England. Habe schon mit einigen gesprochen,  die es geschafft haben.»
  «Aber was  wirst du machen, wenn du dahin kommst?»
  «Woher  soll ich das wissen? Leben, so gut ich kann. Was kann ein Mensch tun, wenn er  noch nicht einmal wagen darf, sein Gesicht auf der Straße zu zeigen?»
  «Trotzdem.  Man fühlt sich direkt kräftig und mächtig, so auf sich selbst angewiesen und  ausgerückt zu sein», sagte Andrews prahlend.
  «Warte  mal, bis du zwei Monate raus bist, mein Junge. Und dann denke an das, was ich  dir jetzt sage: Die Armee ist die Hölle, wenn du drin bist. Aber es ist noch  ein gut Teil schlimmer, wenn du raus bist am falschen Ende.»
  «Es ist  eine herrliche Nacht heute», sagte Andrews.
  «Werden  hoffentlich eine Scheune finden, wo wir schlafen können.»
  «Bei mir  ist das ja ganz anders», brach Andrews plötzlich aus. «Ich habe Freunde hier.»
  «Oh, du  hast wohl ein Mädchen getroffen, was?» fragte Eddy ironisch.
  «Ja. Wir  kommen sehr gut miteinander aus.» Eddy lachte auf.
  «Ich  wette, du hast sie noch nicht mal geküsst», sagte er. «Ich kenne auch solche.  Kenne einen, der heiratete so eine und hatte nach zwei Wochen raus, dass er  statt Ehemann Puffmutter geworden war.»
  «Das ist  ja dumm, darüber zu reden. Kann's nicht erklären. Man hat Vertrauen zu allem,  wenn man weiß, dass jemand da ist, der alles versteht, was man tut.»
  «Du wirst  wahrscheinlich heiraten, was?»
  «Ich sehe  keinen Grund dazu. Das würde alles verderben.»
  Eddy  pfiff leise.
  Sie  gingen weiter, schnellen Schrittes, ohne zu sprechen, eine lange Zeit. Ihre  Schritte klangen auf der harten Straße. Der Himmelsdom über ihnen leuchtete  geheimnisvoll. Und aus den Gräben kam das schrillende Quaken der Frösche. Zum ersten  Mal seit Monaten fühlte Andrews fröhliche Abenteuerlust wie Seifenblasen in  sich aufsteigen. Der Rhythmus der drei Reiter, der die Präludie zur «Königin  von Saba» werden sollte, sprudelte ihm durch den Kopf. «Ja, Eddy, das ist  wundervoll. Wir, ganz allein, gegen das Universum», sagte er prahlend. «Warte  nur», erwiderte Eddy.
Als  Andrews an dem Militärpolizisten im Bahnhof Saint Lazare vorbeiging, waren  seine Hände kalt vor Angst. Der Militärpolizist schaute ihn nicht an. Er hielt  einige Schritte vom Bahnhof entfernt auf dem überfüllten Bahnsteig an und  blickte in den Spiegel eines Ladenfensters. Unrasiert, mit einer scheckigen  Mütze schief auf dem Kopfe und Manchesterhosen, sah er aus wie ein junger  Arbeiter, der seit einem Monat arbeitslos war. «Kleider machen Leute», sagte er  zu sich selbst. Er lächelte, als er daran dachte, wie schockiert Walters sein  würde, wenn er so anrücken werde, und er begann schnellen Schrittes weiter zu  gehen durch Paris, wo alles geschäftig an die Morgenarbeit ging, wo aus jedem  Cafe der heiße Dunst von Kaffee kam und frisches Brot in den Schaufenstern der  Bäckereien dampfte. Er hatte noch drei Franken in der Tasche. In einer  Seitenstraße zog ihn der Geruch von röstendem Kaffee in eine kleine Bar. Einige  Männer prahlten da herum. Einer von ihnen wandte ein rotes Gesicht mit einem  Schnurrbart, der wie ein schwarzer Strick aussah, Andrews zu und sagte: «Et  toi, tu vas chômer le premier mai?»
  «Ich  stehe schon im Streik», antwortete Andrews lachend.
  Der Mann  bemerkte seinen Akzent, schaute ihn einen Augenblick scharf und beobachtend an  und wandte sich zu den anderen zurück, senkte aber seine Stimme.
  Andrews  trank seinen Kaffee hinunter und verließ die Bar mit pochendem Herzen. Er musste  des Öfteren zurückschauen, um festzustellen, ob man ihm nicht folge. An einer  Ecke blieb er mit geballter Faust stehen und lehnte sich einen Augenblick gegen  eine Hauswand.
  «Wo sind  deine Nerven?» sagte er immer wieder zu sich selbst. Er ging plötzlich weiter,  voll des festen Entschlusses, sich nicht wieder umzuwenden. Er versuchte, sich  mit Projekten zu beschäftigen.
  «Wollen  schauen. Was soll ich tun? Zuerst in mein Zimmer gehen und sehen, was Henslowe  und Walters machen. Dann zu Geneviève. Dann arbeiten, arbeiten, alles in der  Arbeit vergessen, bis die Armee nach Amerika zurücktransportiert ist und keine  Uniform mehr auf den Straßen zu sehen ist. Und was die Zukunft angeht...» Was ging ihn die Zukunft an?
  Als er um  die Ecke in die bekannte Straße einbog, wo sein Zimmer war, kam ihm ein  Gedanke: wenn er nun dort Militärpolizei vorfände?
  Er schob  den Gedanken ärgerlich beiseite und ging schnell weiter, holte einen Soldaten  ein, der in derselben Pachtung schlenderte, mit den Händen in den Taschen und  den Augen am Boden. Andrews blieb plötzlich stehen, als er an dem Soldaten  vorbeiging und wandte sich um. Der Mann schaute auf. Es war Chrisfield. Andrews  streckte ihm die Hand entgegen. Chrisfield ergriff sie eifrig und schüttelte  sie heftig.
  «Jesus  Christus, ich dachte, du seist ein Franzose, Andy... Sie haben dich wohl entlassen, was? Bin froh, dich zu sehen.»
  «Schön, dass  ich wie ein Franzose aussehe... Hast  du schon lange Urlaub, Chris?»
  Zwei  Knöpfe waren vom an Chrisfields Uniform abgerissen. Schmutz war auf seinem  Gesicht, und seine Gamaschen waren schlammbedeckt. Er sah Andrews ernst in die  Augen und schüttelte den Kopf.
  «Nein.  Habe mich gedrückt, Andy», sagte er leise.
  «Wann?»
  «Vor  einigen Wochen. Erzähle dir noch davon, Andy. Wollte dich jetzt besuchen. Habe  keinen Penny Geld mehr.»
  «Morgen  werde ich wahrscheinlich Geld in die Finger kriegen. Ich bin auch ausgerückt.»
  «Was soll  das heißen?»
  «Ich bin  auch nicht entlassen worden. Ich bin mit der Geschichte fertig. Ich bin  desertiert.»
  «Was? Das  ist aber komisch, dass wir beide das getan haben, Andy. Aber warum hast du das  getan?»
  «Dauert  zu lange, das jetzt hier zu erzählen. Komm mit hinauf auf mein Zimmer.»
  «Sind  vielleicht Leute da. Warst du schon mal bei dem Chink?»
  «Nein.»
  «Ich  wohne da. Auch noch andere, die ausgerückt sind. Der Chink hat 'ne Kneipe.»
  «Wo?»
  «Am Petit  Jardin.»
  «Wo ist  das?»
  «Hinter  dem Garten, wo die Tiere sind.»
  «Ich  werde dich dort morgen früh aufsuchen, und ich werde 'was Geld mitbringen.»
  «Ich  erwarte dich, Andy, um neun. Es ist eine Bar. Ohne mich kommst du nicht rein.  Die Jungens haben vor Leuten in Zivil Angst.»
  «Ich  denke, es ist vollkommen sicher, jetzt zu mir raufzukommen.»
  «Nein,  ich mache, dass ich hier fortkomme.» «Aber, Chris, warum bist du desertiert?»  «Oh, ich weiß nicht... Einer hat mir  deine Adresse gegeben.»
  «Hat der  nichts über mich gesagt?» «Nein, nichts.»
  «Seltsam.  Nun, Chris, ich werde morgen früh da sein, wenn ich das Lokal finden kann.»  «Mensch, du musst kommen.»
  «Ich  komme bestimmt», sagte Andrews mit einem Lächeln. Sie schüttelten sich erregt  die Hände.
  «Sag,  Andy», sprach Chrisfield stockend und hielt immer noch Andrews' Hand, «... bin desertiert, weil 'n Sergeant... Das reitet furchtbar auf mir die  letzten Tage herum... Ein Sergeantweiß  davon... Habe dir doch von Anderson  erzählt... Ich weiß, du hast mit  niemand darüber gesprochen, Andy...»
  Chrisfield  ließ Andrews' Hand fallen und sah ihm unerwartet von der Seite ins Gesicht.  Dann fuhr er durch die Zähne fort:
  «Und ich  schwöre bei Gott, habe keiner anderen lebenden Seele davon erzählt... und 'n Sergeant in der Kompanie weiß es...»
  «Um  Gottes willen, Chris, rege dich nicht so auf.» «Bin ganz ruhig. Sage dir nur:  einer weiß davon.» Chrisfields Stimme schwoll plötzlich schrill an. «Schau,  Chris, wir können nicht auf der Straße weiter so sprechen. Das ist nicht  sicher.»
  «Aber  vielleicht kannst du mir morgen raten, was zu tun. Denk nach, Andy. Vielleicht  fällt dir bis morgen ein, was wir tun können. Auf Wiedersehen.»
  Chrisfield  lief schnell weg. Andrews sah ihm einen Augenblick nach und ging dann durch den  Hof des Hauses, wo sein Zimmer lag. An der Treppe erschreckte ihn plötzlich die  Stimme einer alten Frau:
  «Mais, Monsieur Andre, que vous avez l'air étrange! Wie seltsam sehen Sie so angezogen aus!»
  Die  Hausmeisterin lächelte ihn aus ihrer Loge neben der Treppe an. Sie saß  strickend, mit einem schwarzen Schal um den Hals, eine winzige, alte Frau mit  einer Hakennase wie ein Vogel und tief eingesunkenen Augen.
  «Ja, in  der Stadt, wo ich demobilisiert wurde, konnte ich nichts anderes kriegen»,  stammelte Andrews.
  «Oh, Sie  sind demobilisiert? Darum waren Sie so lange fort! Monsieur Walters sagte, er  wisse nicht, wo Sie seien. So ist's besser, nicht?»
  «Ja»,  sagte Andrews und begann die Treppen hinauf zu steigen.
  «Monsieur  Walters ist jetzt da», fuhr die alte Frau fort. «Und Sie sind gerade  rechtzeitig vor dem 1. Mai noch  reingekommen.»
  «O ja,  der Streik», sagte Andrews und blieb auf der Hälfte der ersten Treppe stehen.
  «Es wird  schrecklich sein», sagte die alte Frau. «Ich hoffe, Sie werden nicht ausgehen.  Die Jugend kommt so leicht in Zusammenstöße...   Oh, alle Ihre Freunde waren sehr besorgt um Sie.»
  «So?»  meinte Andrews und ging weiter die Treppe hinauf.
  «Au revoir, Monsieur.»
  «Au revoir, Madame.»
3
«Nein,  nichts kann mich jetzt veranlassen, zurückzukehren. Es hat keinen Sinn, darüber  zu sprechen.»
  «Aber du  bist ja verrückt, Mensch, du bist verrückt. Ein Mann allein kann doch nicht  sich so gegen das ganze System auflehnen, nicht, Henslowe?»
  Walters  sprach ernst und beugte sich über den Tisch neben der Lampe. Henslowe, der sehr  steif auf einer Ecke des Stuhles saß, nickte mit zusammengepressten Zähnen.  Andrews lag in voller Länge auf dem Bett, außerhalb des Kreises der Lampe.
  «Aufrichtig,  Andy», sagte Henslowe mit Tränen in der Stimme, «ich denke, du tätest besser,  was Walters sagt. Es hat keinen Zweck, sich heroisch zu benehmen.»
  «Ich bin  nicht heroisch, Henny!» schrie Andrews und setzte sich im Bett auf.
  Er zog  die Füße an sich wie ein Schneider und fuhr sehr ruhig fort:
  «Schau,  es ist eine rein persönliche Frage. Ich bin an einem Punkt angelangt, wo es mir  ganz gleich ist, was mir geschieht. Es ist mir gleich, ob man mich erschießt,  oder ob ich achtzig Jahre alt werde...  Ich habe es satt, herumkommandiert zu werden. Achtzig Jahre Leben sind es nicht  wert, noch ein einziges Mal angeschnauzt zu werden... wenigstens für mich. Das ist alles. Sprechen wir über etwas  anderes.»
  «Aber wie  oft hat man dich denn überhaupt angeschrieen, seitdem du in der Schulabteilung  bist? Nicht ein einziges Mal. Du kannst wahrscheinlich noch deine Entlassung  durchsetzen.»
  Walters  stand auf und kratzte mit dem Stuhl auf dem Boden herum.
  «Schau  her, das ist mein Vorschlag», fuhr er fort.  «Glaube nicht, dass man dich im Büro schon als desertiert gemeldet hat. Es ist  ja alles schlecht organisiert da. Du gehst und sagst, du seist krank gewesen  und bittest um dein rückständiges Geld. Und keiner wird was sagen. Oder ich  werde mit dem ersten Sergeanten sprechen. Ist 'n guter Freund von mir. Wir  können das schon irgendwie zurecht machen. Aber um Gottes willen verdirb doch  nicht dein ganzes Leben mit dieser Hartnäckigkeit und um einiger anarchistischer  Ideen willen, die ein Kerl mit Verstand, wie du, längst hätte abschütteln  sollen...»
  «Er hat  recht, Andy», sagte Henslowe leise.
  «Bitte,  sprich nicht darüber. Ihr habt mir das alles schon erzählt», sagte Andrews  scharf. Er warf sich auf das Bett zurück und rollte sich hinüber zur Wand. Sie  schwiegen eine Zeitlang. Stimmengewirr und Schritte kamen aus dem Hof herauf.
  «Aber  schau her», Andy», sagte Henslowe, nervös seinen Schnurrbart zupfend. «In  Wirklichkeit ist dir deine Arbeit doch mehr wert, als irgendeine abstrakte  Idee, dein Recht auf individuelle Freiheit durchzusetzen. Sogar wenn man dich  nicht fasst... ich glaube nicht, dass  die Möglichkeit, gefasst zu werden, groß ist, wenn man ordentlich aufpasst... Aber sogar wenn man dich nicht fasst... du hast doch nicht genug Geld, um lange  hier zu leben.»
  «Glaubt  ihr etwa, dass ich an all das nicht gedacht habe? Bin doch nicht verrückt! Ich  habe mir alles genau ausgerechnet. Das einzige ist nur, dass ihr Kerls nichts  verstehen könnt. Wart ihr vielleicht schon in einem Arbeitsbataillon? Hat euch  schon mal einer, mit dem ihr noch vor fünf Minuten gesprochen habt, plötzlich  niedergeschlagen? Großer Gott, ihr wisst ja gar nicht, worüber ihr sprecht, ihr  beiden. Ich muss frei sein, das ist das einzige, worauf es jetzt ankommt.»
  Andrews  lag auf dem Rücken und sprach zur Decke hinauf, Henslowe stand auf und ging  nervös durch das Zimmer.
  «Als ob  irgendeiner frei ist», murmelte er.
  «Gut,  gut, und so weiter, und so weiter, und so weiter. Du kannst alles, wenn du  willst, fortargumentieren. Natürlich, Feigheit ist die beste Politik,  notwendig, um zu den Überlebenden zu gehören. Der Mann, der den stärksten  Willen zum Leben hat, ist bestimmt der feigste. Fahre fort!»
  Andrews'  Stimme war schrill und aufgeregt und brach fast von Wort zu Wort wie die Stimme  eines halberwachsenen Jungen.
  «Andy,  was um Gottes willen hat dich denn erfasst?... Ich hasse es, so wegzugehen»,  fügte Henslowe nach einer Pause hinzu.
  «Werde  schon gut durchkommen, Henny. Werde dich wahrscheinlich in Syrien als  arabischer Scheich verkleidet besuchen.» Andrews lachte aufgeregt.
  «Wenn ich  dir helfen könnte, würde ich bleiben. Aber was soll ich tun? Jeder muss sein  Leben auf seine eigene närrische Art zurechtbringen. Auf Wiedersehen, Walters.»
  Walters  und Henslowe schüttelten sich abwesend die Hände. Henslowe kam hinüber zum  Bett und streckte Andrews die Hand entgegen.
  «Schau  her, alter Kerl, sei so vorsichtig, wie möglich, und schreibe mir: Adresse  Amerikanisches Rotes Kreuz, Jerusalem. Werde sehr auf deine Nachrichten  warten.»
  «Sorge  dich nicht. Wir werden schon noch 'ne Reise zusammen machen», sagte Andrews,  setzte sich auf und nahm Henslowes Hand.
  Sie  hörten Henslowes Schritt auf der Treppe und dann einen Augenblick auf dem  Pflaster des Hofes. Walters setzte seinen Stuhl an Andrews' Bett. «Wir wollen  mal wie Männer zusammen sprechen, Andrews. Sogar, wenn du selbst dein Leben  ruinieren willst, du hast nicht das Recht dazu! Du hast deine Familie, und  der Patriotismus... Erinnere dich, es  gibt so etwas wie Pflicht in der Welt!»
  Andrews  setzte sich auf und sagte mit leiser, aber wütender Stimme — er machte nach  jedem Wort eine Pause: «Ich kann es nicht erklären... Aber ich werde nie wieder eine Uniform anziehen... also um Gottes willen, halt's Maul.»
  «Mach,  was du willst. Will nichts mehr mit dir zu tun haben.»
  Walters  schrie plötzlich vor Wut. Dann begann er sich schweigend auszuziehen. Andrews  lag eine lange Zeit flach auf dem Rücken in seinem Bett, starrte auf die Decke,  dann zog er sich aus, drehte das Licht ab und ging ins Bett.
Die Rue  Petit Jardin war eine kurze Straße in einem Bezirk, der hauptsächlich von  Speicherhäusern eingenommen wurde. Eine graue, fensterlose Wand sperrte das  Licht auf der einen Seite ganz ab. Gegenüber lagen drei alte Häuser, die aneinandergelehnt  standen, als ob eines das andere stützen müsse. Hinter ihnen erhob sich ein  ungeheures Gebäude mit Reihen und Reihen schwarzer Fenster. Als Andrews  anhielt, um sich umzuschauen, fand er die Straße vollkommen verlassen. Die  erschreckende Ruhe, die über der Stadt lag, während seines ganzen Ganges von  seinem Zimmer am Pantheon an, schien hier in völliger Einöde und Verlassenheit  ihren Höhepunkt zu erreichen. In dem Schweigen konnte er hören, wie ein Hund,  der am anderen Ende der Straße herumtrottete, die Füße auf das Pflaster, einen  nach dem anderen, aufsetzte.
  Andrews  schob die Tür auf, die sich leicht öffnete. Irgendwo drinnen klingelte eine  Glocke, erschreckend laut nach dem Schweigen der Straße. An der Mauer gegenüber  der Tür war ein fleckiger Spiegel mit einem Sprung darin und darunter eine Bank  mit drei Marmortischen. Andrews ging hinein zur Bar. Er wartete. Seltsame  Unruhe bemächtigte sich langsam seiner.
  «Wie dem  auch sei», dachte er, «man vergeudet hier seine Zeit. Ich muss eigentlich  draußen sein und mich um meine Zukunft kümmern.» Er ging zurück zu der  Straßentür. Die Glocke klingelte wieder, als er sie öffnete. Im selben  Augenblick kam ein Mann aus der Tür, die mit Zeitungen bekleistert war. Es war  ein dicker Mann in einem schmutzigen weißen Hemd. Er hatte ein welkes, grünlich  gefärbtes Gesicht. Schwarze Augen schauten Andrews durch nur wenig geöffnete  Lider scharf an. «Das ist der Chink», dachte er.
  «Nun?»  sagte der Mann und nahm seinen Platz hinter der Bar ein.
  «Ein Bier  bitte», sagte Andrews. «Es gibt hier keines.» «Dann bitte ein Glas Wein.»
  Der Mann  nickte mit dem Kopfe und ging zur Tür hinaus, behielt aber bis zum Verlassen  des Raumes Andrews fest im Auge. Einen Augenblick später kam Chrisfield heraus  mit wirrem Haar, gähnend und rieb sich die Augen mit den Knöcheln der einen  Hand.
  «'n Tag,  Andy. Bin gerade aufgewacht. Komm mit.»
  Andrews  folgte ihm durch ein kleines Zimmer mit Tischen und Bänken, einen Korridor  hinunter, wo starker Ammoniakdunst ihm in die Augen stach und eine Treppe  hinauf, auf der Schmutz und Abfall lag. Chrisfield öffnete eine Tür direkt von  der Treppe aus, und sie stolperten in ein großes Zimmer mit einem Fenster, das  auf den Hof hinausführte. Chrisfield schloss die Tür sorgfältig und wandte sich  mit einem Lächeln an Andrews:
  «Hatte  richtig Angst, würdest nicht finden, Andy.»
  «So, hier  lebst du also?»
  «Hm, hm.  'ne Masse von uns leben hier.»
  Ein  großes Bett ohne Bettzeug, in dem ein Mann in olivfarbener Kleidung in eine  Decke schlecht eingerollt schlief, war das einzige Möbelstück im Zimmer.
  «Wir  schlafen zu dritt in dem Bett», sagte Chrisfield.
  «Wer ist  das?» schrie der Mann im Bett und setzte sich plötzlich auf.
  «Beruhige  dich, Al, is'n Kamerad von mir», sagte Chrisfield. «Hat die Uniform abgelegt.»
  «Jesus,  du hast sehr viel Mut», sagte der Mann im Bett. Andrews sah ihn scharf an. Ein  Stück Handtuch, das hier und da Flecken getrockneten Blutes zeigte, war um  seinen Kopf gewickelt, und seine Hand, auch dick bandagiert, lag in einer  Schlinge an seinem Körper. Der Mund des Mannes zeigte einen verbissenen  Ausdruck von Schmerz, als er seinen Kopf wieder langsam auf das Bett  zurücklegte.
  «Mann,  was hast du dir denn getan?» rief Andrews.
  «Ich habe  versucht, mit einem Güterzug nach Marseille durchzubrennen.»
  «Man  braucht Übung, um so was zu machen», sagte Chrisfield, der auf dem Bett saß  und seine Schuhe auszog. «Will mich wieder hinlegen, Andy. Bin todmüde. Ich  habe die ganze Nacht auf dem Markt Kohl gerupft. Man kriegt da Arbeit, ohne  erst viel gefragt zu werden.»
  «Willst  'ne Zigarette?»
  Andrews  setzte sich nieder am Fuß des Bettes und warf Chrisfield eine Zigarette  hinüber. «Du auch?» fragte er Al.
  «Nein,  könnte doch nicht rauchen. Werde fast verrückt mit dieser Hand. Ein Rad lief  darüber... Was vom kleinen Finger  übrig blieb, habe ich mit dem Rasiermesser abgeschnitten.»
  Andrews  sah, wie ihm Schweißperlen die Backen hinunterliefen, als er sprach.
  «Mann,  dieser arme Kerl da, der hat was erlebt! Wir haben zu viel Angst, zum Doktor zu  gehen und wussten alle nicht, was tun.»
  «Ich habe  mir reinen Alkohol verschafft und die Wunde darin gewaschen. Kein Schmutz  darin. Ich denke, wird schon wieder in Ordnung kommen.»
  «Wo  kommst du her, Al?» fragte Andrews.
  «Frisco.  Oh, ich möchte schlafen. Ich habe seit vier Nächten kein Auge zugetan.»
  «Schau  her, Chris», sagte Andrews, «ich werde mit dir teilen. Ich habe fünfhundert  Franken.»
  «Jesus,  Mensch, scherze nicht mit so was.»
  «Hier  sind zweihundertfünfzig. Ist nicht so viel, wie es klingt.»
  Andrews  gab ihm fünf Fünfzig-Frankennoten. «Sag mal, warum bist du denn ausgerissen?»  fragte Al und wandte seinen Kopf nach Andrews.
  «Ich war  in einem Arbeitsbataillon. Das ist alles.»
  «Erzähl  mir doch davon, Kamerad. Ich fühle meine Hand nicht so, wenn ich mit jemandem  spreche... Meine Abteilung war in  Koblenz. Da habe ich Chris getroffen. Dann war ich in Straßburg, wo wir 'ne  feine Zeit verlebt haben. Donnerwetter, alles in dieser Stadt richtig  pittoresk, gerade so, wie mir einer zu Hause immer erzählte, dessen Eltern aus  Italien gekommen waren. Da unten traf ich ein Mädchen, das mir erzählte, sie  wolle mal runter kommen, um nach ihrem Bruder zu sehen, der in der  Fremdenlegion sei.»
  Andrews  und Chrisfield lachten.
  «Warum  lacht ihr?» fragte Al mit eifriger und gespannter Stimme.
  «Wirklich  und wahrhaftig, ich werde sie heiraten, wenn ich je hier rauskomme. Sie ist das  beste kleine Mädchen, das mir je begegnet ist. Sie war Kellnerin in einem  Restaurant... Ich blieb und blieb,  immer länger. Jeden Tag dachte ich, werde den nächsten Tag fahren. Na, der  Krieg war vorbei... Hat denn der  Mensch überhaupt keine Rechte mehr? Dann begann die Militärpolizei Straßburg  zu bearbeiten. Und da habe ich gemacht, dass ich fortkam. Und jetzt sieht es  aus, als ob ich nie wieder zurück könnte.»
  «Sag, Andy»,  fiel Chrisfield plötzlich ein, «wollen mal runtergehen und einen trinken.»
  «Gut. Al,  sollen wir dir was mit raufbringen?»
  «Nein.  Ich will still liegen und die Hand in Alkohol baden dann und wann... Wie dem auch sei, es ist heute der  erste Mai. Verrückt, auszugehen. Man kann euch fassen. Aufstände sollen  bevorstehen.»
  «Das habe  ich ja ganz vergessen. Es ist der erste Mai heute!» rief Andrews.  «Generalstreik zum Protest gegen den Krieg mit Russland und...»
  «Einer  sagte mir», unterbrach Al mit schriller Stimme, «eine Revolution werde kommen.»
  «Komm  mit, Andy», sagte Chrisfield von der Tür aus.
  Auf der  Treppe drückte Chrisfield Andrews' Arm hart. «Sag, Andy», Chrisfield legte  seine Lippen nahe an Andrews' Ohr und sprach heiser flüsternd: «Du bist der  einzige, der weiß — und weißt was. Du und der Sergeant. Sag hier keinem was,  damit sie mich nicht fassen können, hörst du?»
  «Gut,  Chris, werde kein Wort sagen. Aber Mann, nimm dich doch ein wenig zusammen. Du  bist nicht der einzige, der mal einen erschossen...»
  «Halt  dochs Maul, hörst du?» murmelte Chrisfield wild.
  Sie  gingen die Treppe schweigend hinunter. In dem Raum neben der Bar saß der Chink  in seine Zeitung vertieft.
  «Ist der  Franzose?» flüsterte Andrews. «Weiß nicht, was er ist. Ist kein Weißer», sagte  Chrisfield. «Aber er verrät bestimmt nichts.»
  «Wissen  Sie, was vorgeht?» fragte Andrews auf französisch und ging an den Chink heran.
  «Wo?» Der  Chink stand auf, warf aus seinen Schlitzaugen einen misstrauischen Blick zu  Andrews hinüber. «Draußen, auf den Straßen, in Paris, überall wo die Leute  draußen sind und was unternehmen können. Was halten Sie von der Revolution?»
  Der Chink  zog die Schultern zusammen. «Es ist vieles möglich auf der Welt», murmelte er.
  «Meinen  Sie wirklich, dass man an einem Tage wie diesem die ganze Armee und die  Regierung über den Haufen werfen kann?» «Wer?» warf Chrisfield ein.
  «Nun, das  Volk, Chris, das gewöhnliche Volk, wie du und ich, das müde ist,  herumkommandiert zu werden, das müde ist, niedergetreten zu werden von anderen  Leuten, nicht besser und nicht mehr als man selbst, die nur das Glück hatten,  an die richtige Stelle in diesem System zu kommen.» «Wissen Sie, was ich tun  werde, wenn die Revolution kommt?» brach der Chink ein mit plötzlicher  Intensität und schlug sich mit der einen Hand auf die Brust. «Ich werde  geradeaus in einen dieser Juwelierläden in der Rue Royale gehen und meine  Taschen anfüllen und nach Hause kommen mit den Händen voller Diamanten.»
  «Welchen  Sinn soll das haben?» fragte Andrews. «Welchen Sinn? Ich werde sie im Hof  vergraben und warten. Ich werde sie am Ende doch brauchen. Wissen Sie, was das  heißt, Ihre Revolution? Ein anderes System! So lange es noch ein System gibt,  wird es immer Menschen geben, die man mit Diamanten kaufen kann. Das ist so  auf der Welt.» «Aber die Diamanten werden ja nichts wert sein. Nur die Arbeit,  die wird Wert haben.»
  «Wollen  abwarten», sagte der Chink.
  «Meinst  du wirklich, Andy, dass eine Revolution kommen kann un' keine Sklaven mehr sein  werden un' wir herumlaufen können wie Zivilisten? Ich glaub's nicht. Kerle wie  wir haben nicht Mumm genug, gegen das System anzugehen, Andy.»
  «Viele  Systeme sind früher schon untergegangen. Auch dieses System wird seinem  Schicksal nicht entgehen.»
  «Sie  kämpfen gegen die Garde Républicaine dort unten vorm Gare de l'Este», sagte der  Chink mit tonloser Stimme. «Was wollt ihr hier unten? Bleibt lieber oben. Man  kann nie wissen, was die Polizei unternimmt hier bei uns.»
  «Zwei  Flaschen Weißwein, Chink», sagte Chrisfield.
  «Wann  wirst du blechen?»
  «Gleich.  Der da hat mir fünfzig Franken gegeben.»
  «Reich  also?» sagte der Chink mit Hass in der Stimme und wandte sich zu Andrews.
  Er ging  hinüber zur Bar und schloss die Tür sorgsam hinter sich. Ein plötzliches  Klingeln der Glocke ertönte. Laute Stimmen und stampfende Füße. Andrews und  Chrisfield gingen auf Zehenspitzen in den dunklen Korridor, wo sie eine lange Zeit standen, wartend und die faulige Luft  widerwillig einatmend. Schließlich kam der Chink mit drei Flaschen Weißwein  wieder.
  «Sie  haben recht», sagte er zu Andrews. «Auf der Avenue Maguenta werden Barrikaden  errichtet.»
  Als er  Chrisfield wieder in das Zimmer folgte, sah Andrews einen Mann auf dem  Fensterbrett rauchend sitzen. Er war gekleidet wie ein Secondleutnant, seine  Gamaschen waren glänzend geputzt, und er rauchte eine lange, weiße  Zigarettenspitze. Seine Nägel waren sorgfältig manikürt.
  «Das ist  Slippery, Andy», stellte Chrisfield vor. «Das ist 'n alter Kamerad von mir.»
  «So?»
  «Du hast  deine Uniform ausgezogen. Sehr dumm», sagte Slippery. «Wenn sie dich nun  fassen?»
  «Habe  nicht die Absicht, mich fassen zu lassen», antwortete Andrews.
  «Wir  haben Wein», meinte Chrisfield.
  Andrews  ging hinüber zum Bett. Al lag dort und wand sich vor Schmerzen.
  «Hallo»,  sagte er, «was gibt's Neues?»
  «Barrikaden  sollen beim Gare de l'Este gebaut werden. Kann vielleicht was werden.»
  «Ich  hoffe es. Gott, ich wünschte, sie machten hier genau dasselbe wie in Russland.  Dann werden wir frei sein. Nach den Vereinigten Staaten können wir ja doch  nicht zurück. Aber dann gäb's hier wenigstens keine Militärpolizei mehr, die  hinter uns her ist wie hinter Verbrechern. Will mich 'ne Weile aufsetzen und  sprechen.»
  Al  kicherte hysterisch einen Augenblick.
  «Willst  du 'nen Schluck Wein?» fragte Andrews.
  «Sicher.  Wird mir vielleicht gut tun. Danke.»
  Er trank  gierig aus der Flasche.
  «Sag mal,  ist dein Gesicht schlimm zerschnitten, Al?»
  «Nein.  Nur die Haut ab. Wird wie ein Beefsteak aussehen, denk ich... Bist du schon mal in Straßburg  gewesen?»
  «Nein.»
  «Mann,  das ist 'ne Stadt, und die Mädchen in dem Kostüm...»
  «Sag, du  kommst aus Frisco, nicht?»
  «Sicher.»
  «Kennst  du vielleicht einen Mann — ich lernte ihn im Übungslager kennen, auch aus  Frisco — der Fuselli heißt?»
  «Jesus,  Mann, das ist ja mein bester Freund...  Weißt du, wo er jetzt ist?...»
  «Ich sah  ihn vor zwei Monaten, in Paris.»
  «Verflucht  noch mal.»
  Als  Stimme sprang in einem aufgeregten Stakkato auf und ab.
  «So, du  hast Dan im Übungslager kennengelernt. Sein letzter Brief — 's fast ein Jahr  her — gerade Korporal geworden. War 'n verdammt kluger Junge, und auch  ehrgeizig... Hast du ihn wirklich gut  gekannt?»
  «Ja. Ich  erinnere mich sogar, dass er mir von einem erzählte, der Al hieß. Er erzählte  mir immer, wie ihr zusammen nach dem Hafen rausgegangen seid und die großen  Schiffe mit ihren Lichtern nachts durch das <Goldene Ton hereinkommen  sahet. Und er erzählte mir auch, dass er immer davon gesprochen habe, mit einem  solchen Schiff einmal nach Europa zu fahren.»
  «Darum musste  ich in Straßburg an ihn denken!» rief Al vor Aufregung zitternd. «Weil es da so  pittoresk war... Dan, der ist sicher  schon Offizier heute.»
  «Nein»,  antwortete Andrews. «Aber bleib doch ruhig. Pass auf deine Hand auf.»
  «Verdammte  Hand. Wird schon heilen, wenn ich nur nicht daran denke.»
  «Der  Chink erzählt, dass man auf der Avenue Maguenta Barrikaden errichtet.» «Es  geht los, Junge.»
  «Ach  was!» rief Slippery von seinem Fensterplatz aus, wo er und Chrisfield über die  Würfel gebeugt standen. «Ein Tank und einige Schwarze, dann laufen deine  gottverfluchten Sozialisten so schnell, dass sie vor Dijon überhaupt nicht zum  Halten kommen...  Ihr Kerls solltet  doch mehr Verstand haben.»
  Slippery  kam zum Bett hinüber und schüttelte die Würfel in der Hand.
  «Da  braucht man mehr als eine Handvoll von den Boches bezahlter Sozialisten, um  die Armee nieder zu kriegen. Meint ihr nicht, dass wenn man sie niederkriegen  könnte, die Leute das schon längst getan haben würden?»
  «Sei mal  n Augenblick still. Ich dachte, ich hätte was gehört», sagte Chrisfield  plötzlich und ging an das Fenster. Sie hielten den Atem an. Das Bett kreischte,  als Al sich unruhig hin und her bewegte. «Nein, es war nichts. Ich dachte, ich  hätte Leute singen gehört.»
  «Die  Internationale!» rief Chrisfield leise und mürrisch.
  Durch die  Stille des Zimmers hörten sie Schritte auf der Treppe.
  «'s ist  schon gut, es ist nur Smiddy», sagte Slippery und warf die Würfel wieder aus.
  Die Tür  öffnete sich langsam, und herein trat ein großer Mann mit abschüssigen  Schultern, langem Gesicht und langen Zähnen.
  «Wer ist  der Franzmann?» fragte er erschreckt, mit einer Hand am Türknauf.
  «Ist  schon gut, Smiddy. Ist kein Franzose. Is'n alter Kamerad von Chris. Hat die  Uniform ausgezogen.»
  «So»,  sagte Smiddy und schüttelte Andrews die Hand. «Siehst ja wie ein leibhaftiger  Franzmann aus.»
  «'s ist  gut so», erwiderte Andrews.
  «Der  Teufel ist los», brach Smiddy plötzlich atemlos aus. «Ihr kennt doch Gus Evans  und den kleinen Schwarzhaarigen, der immer mit ihm ist? Die haben sie gefasst.  Habe es selbst gesehen, am Place  de la Bastille, und einer erzählte mir da unter der Brücke, wo ich die letzte  Nacht geschlafen habe, dass ihm einer gesagt habe, man werde ganz Paris nach  Deserteuren durchsuchen, auch wenn man jedes einzelne Haus Zimmer für Zimmer  durchgehen müsse.»
  «Wenn die  hierher kommen, wird ihnen was passieren, worauf sie nicht gefasst sind»,  murmelte Chrisfield.
  «Ich gehe  nach Nizza, 's wird mir hier zu heiß», sagte Slippery. «Ich habe Reisepapiere  in der Tasche.» «Wie bist du daran gekommen?»
  «Leicht  wie Kuchen», sagte Slippery und steckte sich eine Zigarette an. «Habe in einer  Bar einen Leutnant getroffen. Wir haben zusammen gesoffen und waren dann bei  zwei Weibern, ich kenne. Morgens bin ich in aller Frühe aufgestanden, und jetzt  habe ich fünftausend Franken und 'nen Urlaubsschein und eine silberne  Zigarettenschachtel, und Leutnant I. B. Franklin läuft herum und erzählt, er sei von einer Pariser Hure ausgeraubt  worden; oder vielleicht zieht er vor, nichts von der Geschichte zu erzählen. Das ist mein System.»
  «Aber  Gott verdammt noch mal, ich verstehe nicht, wie du dich mit einem herumtreiben kannst und mit ihm trinken und  ihn dann ausrauben!» rief Al vom Bett aus. «Meinst du vielleicht, wenn der gewusst  hätte, dass ich nur 'n Gemeiner bin, der hätte mich nicht sofort der  Militärpolizei ausgeliefert, was?»
  «Nein,  nein», sagte Al, «die sind genau wie wir, erschreckt dorthinaus, dass sie  Dummheiten machen, aber die geben niemanden an, wenn sie nicht müssen.»
  «Das ist  'ne gottverdammte Lüge!» schrie Chrisfield. «Die reiten auf dir herum, weil  sie's gern tun. 'n Gemeiner, der ist für sie weniger als 'n Hund. Ich würde  jeden von ihnen über'n Haufen schießen, wie 'n Nigger.»
  Andrews  beobachtete Chrisfields Gesicht. Es wurde plötzlich ganz rot. Chrisfields Augen sahen angstvoll zu Andrews  hinüber. «Es gibt alle möglichen Sorten von Offizieren, wie es alle möglichen  Sorten von uns gibt», beharrte Al.
  «Aber  hört doch mal endlich auf, ihr verdammten Dummköpfe, ihr!» schrie Smiddy. «Was  zum Teufel sollen wir denn tun? Es ist hier nicht mehr sicher.»
  Sie  schwiegen. Endlich sagte Chrisfield: «Was wirst du tun, Andy?»
  «Ich weiß  nicht recht. Werde nicht in Paris bleiben. Außerdem muss ich hier noch ein  Mädchen aufsuchen. Ich will sie sehen.»
  Andrews  brach plötzlich ab und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
  «Du musst  verdammt vorsichtig sein. Wenn sie dich schnappen, erschießen sie dich», sagte  Slippery. Andrews zuckte die Achseln.
  «Ich  würde lieber erschossen werden, als auf zwanzig Jahre nach Leavenworth gehen!»  rief Al.
  «Habt ihr  hier was zu essen?» fragte Slippery.
  «Werde  mal sehen, ob ich hier was kaufen kann», sagte Andrews.
  «Gut,  hier sind zwanzig Franken», sagte Slippery und gab Andrews einen Schein.  Chrisfield folgte Andrews die Treppe hinunter. Als sie den Durchgang am  Treppenende erreicht hatten, legte er seine Hand auf Andrews' Schulter und  flüsterte: «Sag, Andy, glaubst du, dass was mit 'ner Revolution los ist? Habe  noch nie daran gedacht, dass man gegen das System angehen kann.»
  «In Russland  haben sie es ja getan.»
  «Dann  wären wir ja frei, Andy, wie vor dem Kriege! Aber das ist nicht möglich, Andy,  das ist nicht möglich, Andy.»
  «Wollen  sehen», sagte Andrews, als er die Tür zur Bar öffnete. Er ging aufgeregt zu  dem Chink hinüber, der hinter einer Reihe von Flaschen in der Bar saß.
  «Was ist  los?»
  «Wo?»  sagte der.
  «Am Gare  de l'Este, wo sie Barrikaden errichtet haben.»
  «Barrikaden?»  rief ein junger Mann in einem roten Kittel, der an einem Tische saß und trank.  «Die haben ja nur einige eiserne Gitter heruntergerissen; wenn Sie das  Barrikaden nennen! Aber es sind ja Feiglinge. Wenn die Stops kommen, laufen  sie. Dreckige Feiglinge.»
  «Glauben  Sie, dass was geschehen wird?»
  «Was kann  denn geschehen mit diesem Rudel dreckiger Feiglinge?»
  «Was  halten Sie davon?» sagte Andrews und wandte sich an den Chink. Der Chink  schüttelte den Kopf ohne zu antworten
  Andrews  ging hinaus. Als er zurückkam, fand er Al und Chrisfield allein im Zimmer.  Chrisfield ging auf und ab und biss sich die Fingernägel. Auf der Wand  gegenüber dem Fenster lag ein rechteckiger Sonnenfleck, der von der  gegenüberliegenden Wand des Hofes reflektiert war.
  «Um  Gottes willen, Chris, mach, dass du fortkommst. Ich werd's schon allein  schaffen», sagte Al gerade mit schwacher Stimme. Sein Gesicht war vor Schmerz  verzogen.
  «Was ist  los?» rief Andrews und legte ein großes Paket nieder.
  «Slippery  hat die Militärpolizei hier in der Nähe herumlungern sehen.»
  «Großer  Gott!»
  «Die  anderen sind weg... »
  «Al ist  zu krank...  Al, ich bleibe bei dir.»
  «Nein,  wenn du 'ne Stelle weißt, wo du hinkannst, Chris, mach, dass du fortkommst. Ich  bleibe hier bei Al und spreche französisch mit der Militärpolizei, wenn sie  kommt. Wir werden die schon an der Nase herumführen.»
  Andrews  fühlte sich plötzlich sehr froh und glücklich.
  «Wirklich,  bei Gott, Andy, ich würde bleiben, wenn dieser Sergeant nicht darum wüsste»,  sagte Chrisfield krampfhaft.
  «Mach, dass  du davonkommst, Chris. Es ist vielleicht keine Zeit mehr zu verlieren.»
  «Auf  Wiedersehen, Andy!»
  Chrisfield  schlüpfte aus der Tür.
  «Komisch,  Al», sagte Andrews und setzte sich auf das Bettende und packte das Essen aus.  «Ich habe überhaupt keine Angst mehr. Ich denke, ich habe mich von der Armee  befreit. Al, wie geht's deiner Hand?»
  «Weiß  nicht. Oh, jetzt wünschte ich in Koblenz zu sein. Ich bringe es nicht zustande,  gegen die ganze Welt anzugehen. Wenn doch Dan mit uns wäre... Komisch, dass du Dan kennst...  Der würde Tausende von Ideen haben, um  aus dieser Klemme rauszukommen. Aber ich bin froh, dass er nicht hier ist. Er  würde mich ausschimpfen, weil ich mich so benommen habe, 'n mächtig ehrgeiziger  Kerl, Dan.»
  «In der  Armee, Al, da hat ein anständiger Mensch nichts zu suchen», sagte Andrews  langsam. Dann schwiegen sie. Im Hofe war kein Laut zu hören. Nur ganz weit in  der Ferne das Geklapper von Hufen über Pflastersteinen. Der Himmel hatte sich  bedeckt, und das Zimmer war dunkel. Das Licht aus dem Hofe hatte grünlichen  Schein, der ihre Gesichter blass und tot aussehen ließ, wie die Gesichter von  Männern, die lange zwischen nassen Gefängnismauern eingeschlossen waren.
  «Und  Fuselli hatte ein Mädchen, das Mabe hieß», sagte Andrews.
  «Oh, die  hat einen von der Marine geheiratet. Sie haben 'ne große Hochzeit gemacht»,  erzählte Al.
4
«Endlich  erreiche ich Sie!»
  John  Andrews hatte Geneviève auf einer Bank im Garten unter einer Laube von Wein  entdeckt. Ihr Haar schien hell in der Sonne, als sie aufstand. Sie streckte ihm  beide Hände entgegen.
  «Wie gut  Sie so ausschauen!» rief sie.
  Jetzt  fühlte er nur noch ihre Hände in den seinen und ihre hellbraunen Augen und die  hellen Sonnenflecken und die grünen Schatten, die um sie herum tanzten.
  «So, Sie  sind aus dem Gefängnis heraus und demobilisiert! Wie schön! Warum haben Sie  nicht geschrieben? Ich war wegen Ihres Schicksals so beunruhigt. Wie haben Sie  mich hier ausfindig gemacht?»
  «Ihre  Mutter erzählte mir, dass Sie hier seien.»
  «Und wie  gefällt es Ihnen hier?»
Sie  machte eine weite, ausladende Bewegung mit der Hand. Einen Augenblick standen  sie schweigend Seite an Seite und blickten sich um. Vor ihnen waren große  Rosenbüsche, von denen die Blüten unordentlich in Bündeln herunterhingen und  dahinter ein großer, grünglänzender Rasen voller Butterblumen, der zu einem  alten, grauen Hause hinunter führte, das an dem einen Ende einen runden,  breiten Turm hatte. Hinter dem Hause waren große, grüne Pappeln, durch die  hindurch Flecken silbergrauen Wassers und gelber Flussufer schimmerten. Aus  der Ferne kam der einschläfernde Geruch gemähten Grases.
«Wie  braun Sie sind», sagte sie wieder. «Ich dachte, ich hätte Sie verloren... Sie könnten mir schon einen Kuss geben,  Jean.»
Die  Muskeln seines Armes schlossen sich fest um ihre Schultern. Ihr Haar glänzte  in seinen Augen. Der Wind, der durch das Weinlaub rauschte, ließ das Licht und  den Schatten um sie herumtanzen.
«Wie heiß  Sie von der Sonne sind!» sagte sie. «Ich liebe den Geruch Ihres heißen Körpers.  Sie müssen sehr gelaufen sein, um hierher zu kommen.»
«Erinnern  Sie sich an die Nacht im Frühling, als wir nach Hause gingen von <Pelleas  und Mélisande>? Wie gern hätte ich Sie damals geküsst, so wie jetzt.»
Andrews'  Stimme klang seltsam heiser, als ob er nur schwer sprechen könne.
«Da ist  das Château très froid et très profond», sagte sie mit einem kleinen Lachen.
«Und Ihr Haar...  je les tiens dans les doigts, je les tiens dans la bouche. Toute ta chevelure,  toute ta chevulure, Mélisande, est tombée de la tour... erinnern Sie sich?»
Sie saßen  Seite an Seite auf der Steinbank, ohne einander zu berühren.
«Es ist  verrückt», brach Andrews erregt aus. «Wir sollten Vertrauen zueinander haben.  Sobald wir auch nur den kleinsten Fetzen einer Romanze zu erleben beginnen,  ertrinken wir sofort in einem Literatur-Wasserfall. Wir sind mit Literatur vergiftet,  wir kommen überhaupt nicht dazu, zu leben, wenigstens nicht unser eigenes  Leben.»
«Jean, wie  sind Sie hierher gekommen? Sind Sie schon lange demobilisiert?»
«Ich bin  fast den ganzen Weg von Paris hierher zu Fuß gegangen. Sie sehen, ich bin sehr  schmutzig.»
«Wie  wunderschön. Aber ich werde ruhig sein. Aber Sie müssen mir alles erzählen von  dem Augenblick an, da Sie mich in Chartres verließen.»
«Ich  werde Ihnen über Chartres später erzählen», sagte Andrews rau. «Es war  prächtig, eine der schönsten Wochen in meinem Leben, so den ganzen Tag in der  Sonne gehen, den Weg wie ein weißes Band in der Sonne vor mir, über Berge und  an Flüssen entlang, wo gelbe Schwertlilien blühten und durch Wälder voller  Singvögel, und den Staub wie eine kleine weiße Wolke um meine Füße, und die  ganze Zeit auf dem Wege sein, hierher zu Ihnen, hierher zu Ihnen.»
«Und die  Königin von Saba? Was macht die?»
«Ich weiß  nicht. Es ist schon lange her, dass ich daran dachte... Sind Sie schon lange hier?»
«Fast  eine Woche. Aber was wollen Sie tun?»
«Ich habe  ein Zimmer am Flusse in einem Hause, das einer; fetten Frau mit einem sehr  roten Gesicht und einem Bart auf dem Kinn gehört.»
«Madame  Boncour.»
«Natürlich,  Sie kennen ja jeden hier.»
«Und Sie  wollen lange hier bleiben?»
«Ja,  lange. Arbeiten und mit Ihnen sprechen. Darf ich dann und wann Ihr Klavier  benutzen?» «Wie wunderschön!»
Geneviève  Rod sprang auf, dann stand sie, schaute ihn an, lehnte sieh in den Wein hinein,  so dass die breiten Blätter um ihr Gesicht herum flatterten. Eine weiße Wolke,  hell wie Silber, bedeckte die Sonne, zwei weiße Schmetterlinge flatterten einen  Augenblick durch den Wein.
«Sie  müssen sich immer so anziehen», sagte sie nach einer Weile.
Andrews  lachte.
«Ein  wenig sauberer, hoffe ich», sagte er. «Aber ich kann leider nicht viel  wechseln. Ich habe keine anderen Kleider und lächerlich wenig Geld.»
«Wer  kümmert sich um Geld!» rief Geneviève.
Andrews  glaubte eine gewisse Affektiertheit in ihrer Stimme zu entdecken, aber er  vertrieb diesen Gedanken sofort.
«Ob hier  wohl in der Nähe ein Gut ist, wo ich Arbeit bekommen kann?»
«Aber Sie  könnten doch gar nicht die Arbeit eines Landarbeiters tun!» rief Geneviève  lachend. «Passen Sie nur mal auf, Sie werden sich die Hände zum Klavierspielen  ganz verderben.»
«Das ist  mir ganz gleich. Aber das kommt alles erst später, viel später. Erst muss ich  noch etwas zu Ende bringen, an dem ich jetzt gerade arbeite. Ein Thema, das in  mir aufstieg, als ich zuerst ins Heer kam, als ich in unserem Übungslager die  Fenster abwusch.»
«Wie  komisch Sie sind, Jean. Es ist prächtig, Sie wieder da zu haben. Aber Sie sind  ja heute so furchtbar feierlich. Vielleicht, weil ich Sie veranlasste, mich zu  küssen?»
«Aber  Geneviève, man kann nicht an einem Tage den gebeugten Rücken des Sklaven  geradebiegen. Jetzt bin ich bei Ihnen auf diesem wundervollen Fleck Erde. Noch  nie habe ich einen solchen saftigen Reichtum der Vegetation gesehen... Und denken Sie, eine Woche Marsch  durch das Land..., wundervolle, kalte  Bäder in der Loire... Nein, nach  einiger Zeit erst wird der Rhythmus der Übungsfelder, auf denen die Beine von  Millionen Menschen alle gleich lang gemacht werden, diese verzweifelte,  eingekäfigte Stumpfheit, all das Peinigende und Quälende der Disziplin und des  Soldatseins versinken in der Pracht und dem Glanz dieser Ihrer Welt.»
Er stand  auf und zerdrückte ein Blatt unachtsam zwischen den Fingern.
«Sehen  Sie, die kleinen Trauben bilden sich bereits, schauen Sie da hinauf», sagte sie  und strich die Blätter beiseite, gerade über seinem Kopfe. «Diese Trauben hier  kommen am frühesten. Aber ich muss in unsere Domäne, Ihnen meine Cousinen, und  die Hühner, und alles zeigen.»
Sie nahm  seine Hand und zog ihn aus der Laube. Sie liefen wie Kinder Hand in Hand durch  den Garten. «Wenn ich nur», stammelte er und folgte ihr über den Rasen, «aus  diesem ganzen Elend Musik machen könnte, Musik, die die Massen in Empörung  treibt, dann würde ich mich von der Pein dieser Erinnerungen befreien und mein  eigenes Leben in der Schönheit dieses Sommers leben können.» Am Hause wandte  sie sich ihm zu: «So, jetzt müssen Sie sich einmal das Haus anschauen. Sehen Sie,  das ist der Turm. Das ist alles, was von dem alten Gebäude übrig blieb. Ich  wohne dort, und gerade da unter dem Dach ist ein verhextes Zimmer, vor dem ich  immer furchtbare Angst habe. Ich habe immer noch Angst. Sehen Sie, dieser  Henry IV.-Teil des Hauses ist gerade ein Viertel des projektierten Gebäudes.  Dieser Rasen hier hätte der Hof sein sollen. Es gibt alle möglichen Arten von  Überlieferungen, warum das Haus nie fertig gebaut wurde.»
«Sie  müssen mir davon erzählen.»
«Später.  Aber jetzt müssen Sie mitkommen und meine Tante und meine Cousinen treffen.»
«Bitte,  nicht jetzt, Geneviève... Ich möchte  mit niemand außer mit Ihnen sprechen. Ich habe so viel mit Ihnen zu reden.»
«Aber es  ist schon fast Lunchzeit, Jean; wir können ja nach dem Lunch zusammen reden.»
«Nein,  ich kann jetzt mit niemand anders sprechen. Ich muss gehen und mich auch ein  wenig reinigen.»
«Wie Sie  wollen... Aber Sie müssen heute Nachmittag  kommen und etwas vorspielen... zwei  oder drei Menschen werden zum Tee kommen...  Es würde sehr lieb von Ihnen sein, wenn Sie uns etwas vorspielen würden.»
«Aber  können Sie nicht verstehen, ich kann Sie jetzt nicht mit anderen Menschen  zusammen sehen.»
«Wie Sie  wollen», sagte Geneviève, die Hand auf der eisernen Klinke der Tür. Sie wurde  ganz rot.
«Kann ich  Sie morgen früh sehen? Dann werde ich mehr Mut haben, mit anderen Menschen  zusammenzukommen, nachdem ich eine lange Zeit mit Ihnen gesprochen habe. Sehen  Sie, ich...» Er schwieg einen  Augenblick still und senkte die Augen, dann brach er leise und leidenschaftlich  aus: «Oh, wenn ich doch all das aus meinem Bewusstsein auskehren könnte..., das Trampeln der Füße, die Befehle  schreienden Stimmen... »
Seine  Hand zitterte, als er sie Geneviève reichte. Sie schaute ihm ruhig und kühl in  die Augen mit ihren großen, braunen Augen.
«Wie  seltsam Sie heute sind, Jean! Trotzdem kommen Sie nur morgen früh.»
Sie ging  durch die Tür. Er lief um das Haus herum, durch die Toreinfahrt und ging mit  langen Schritten die Straße, die unter Lindenbäumen zum Dorfe führte, hinunter,  am Fluss entlang.
Gedanken  schwirrten, peinigend, durch seinen Kopf, wie Wespen um eine verfaulende  Frucht. So, endlich hatte er Geneviève gesehen und hatte sie in den Armen  gehalten und sie geküsst. Das war alles. Seine Pläne für die Zukunft waren nie  darüber hinausgegangen. Er hatte kaum gewusst, was er erwartete, aber während  all der sonnigen Tage, die er von Paris aus durch das Land geschritten war,  hatte er nichts anderes gedacht: Geneviève sehen und alles erzählen, sein  Leben entrollen, vor ihren Augen, wie eine Zeichnung. Und dann zusammen die  Zukunft fügen. Ein plötzlicher Schreck fasste ihn. Sie hatte ihn im Stich  gelassen. Er hatte zu viel erwartet. Er hatte erwartet, dass sie ihn  instinktiv, ohne Erklärungen, verstehen werde. Er hatte ihr nichts erzählt,  noch nicht einmal, dass er Deserteur sei.
Was hatte  ihn eigentlich davon abgehalten, ihr davon zu erzählen? Er riet herum, aber er  konnte es nicht formulieren. Nur irgendwo tief in ihm lag die Gewissheit eisig  und schwer: sie hatte ihn im Stich gelassen. Er war allein. Was für ein Narr er  doch gewesen war, sein ganzes Leben auf eine Zuneigung aufbauen zu wollen!  Nein, noch schlimmer war dieses krankhafte Spiel mit Phrasen. Er war wie eine  empfindliche alte Jungfer, die sich imaginäre Kränkungen ausdenkt. «Man muss  das Leben nehmen, wie es ist, und mehr ist es auch nicht wert», sagte er immer  wieder zu sich selbst. Sie liebten sich doch irgendwie... Es war ja gleich, und er war frei, er konnte arbeiten.  Genügte das nicht? Aber wie konnte er bis morgen warten, sie zu sehen, ihr  alles zu erzählen, all die verrückten kleinen Scheidewände zwischen ihnen  niederzubrechen, so dass sie einander direkt und frei in ihre so verschiedenen  Leben schauen konnten?
Der Weg  wandte sich ins Land, vom Fluss weg, zwischen Gartenmauern, zum Eingang des  Dorfes. Durch halboffene Türen erhaschte Andrews den Anblick von freundlich  gepflegten Küchengärten und Obstgärten, und silbrige Äste schwangen sich in den  Himmel. Vor der Kirche wandte sich Andrews, an einem kleinen Rasenplatz, zum Fluss  hinunter, um dann nach einem Augenblick an einem Platz, der von großen  Akazienbäumen überschattet war, anzulangen. An dem Eckhaus befand sich ein  Schild: «Rendezvous de la Marine». Das Zimmer, in das er eintrat, war so niedrig,  dass Andrews den Kopf senken musste. Die Treppen führten von einer Tür hinter  einem abgenutzten Billardtisch in der Ecke hinauf. Madame Boncour stand zwischen  Andrews und der Treppe. Sie war eine welke, ältliche Frau mit großen  tellerartigen Augen, einem runden, sehr roten Gesicht und einem seltsamen,  gezierten Lächeln um den Lippen.
«Monsieur paiera un petit peu d'avance. N'est-ce-pas, monsieur?»
«Gut»,  sagte Andrews und holte sein Portemonnaie heraus. «Soll ich für eine Woche im  voraus bezahlen?»
Die Frau  lächelte breit: «Si monsieur désire...  Sie wissen, das Leben ist so teuer jetzt. Arme Leute wie wir können kaum  durchkommen.»
«Ich weiß  das nur zu gut», antwortete Andrews.
«Monsieur  est étranger...» begann die Frau  wieder in
schmeichelndem  Tone, nachdem sie das Geld in Empfang genommen hatte.
«Ja, ich  bin erst vor kurzer Zeit demobilisiert worden.»
«Aha. Monsieur est démobilisé. Monsieur remplira la  petite feuille pour la police. N'est-ce-pas?»
Die Frau  zog hinter ihrem Rücken eine Hand hervor, die ein eng bedrucktes Stück Papier  hielt.
«Gut. Ich  werde das gleich ausfüllen», sagte Andrews mit klopfendem Herzen. Ohne zu  denken, was er tat, nahm er das Papier, legte es an der Ecke des Billardtisches  auf und schrieb: «John Brown, dreiundzwanzig Jahre alt, Chicago, Ill., Vereinigte  Staaten von Amerika, Musiker. Pass Nr. 228619.»
«Merci, monsieur, a bientôt, monsieur, au revoir,  monsieur.»
Die  singende Stimme der Frau verfolgte ihn die Treppe hinauf. Erst als er oben  hinter sich die Türe geschlossen hatte, erinnerte er sich, dass er als Nummer  seines Passes seine Armeenummer niedergeschrieben hatte. Warum schrieb ich  eigentlich John Brown als Namen? fragte er sich selbst.
John  Browns Leib, im Grabe liegt er und verfällt; 
  Doch  seine Seele, ewig schreitet sie vorwärts. 
  Gloria,  Gloria, Halleluja, 
  Doch  seine Seele, ewig schreitet sie vorwärts.
Er hörte  den Sang so lebendig, dass er einen Augenblick glaubte, irgendeiner müsse neben  ihm stehen und singen. Er ging ans Fenster und strich mit der Hand durch sein  Haar, Draußen rollte die Loire in großen Windungen vorbei in die blaue Weite.  Silbrige Stromschnelle auf silbrige Stromschnelle, aus der hier und dort der  breite Glanz einer Sandbank sich erhob. Gegenüber waren Pappeln und Felder,  grünend in den verschiedensten Farben, zu Hügeln sich erhebend, von dichten,  schattigen Hainen geschmückt. Auf der kahlen Höhe des größten Hügels schlug  eine Windmühle mit ihren fahlen Armen in den marmornen Himmel.
  Er zog  ein Stück Brot aus seiner Manteltasche, nahm einen großen Schluck Wasser aus  der Kanne auf seinem Waschtisch und setzte sich an den Tisch am Fenster vor  einen Haufen gerollten Notenpapiers. Er benagte das Brot und die Wurst nachdenklich,  lange, dann schrieb er: «Arbeit und Rhythmus», mit großen, sorgsamen Zügen auf  das Papier. Dann schaute er aus dem Fenster hinaus, ohne sich zu bewegen,  beobachtete die federigen Wolken, die wie große, ungeheure, langsame Schiffe  auf dem schieferblauen Himmel segelten. Plötzlich wischte er das, was er  geschrieben hatte, aus und schrieb darüber: «Der Leib und die Seele von John  Brown». Er stand auf und ging im Zimmer mit geballten Händen herum. «Wie  seltsam, dass ich diesen Namen geschrieben habe, wie seltsam, dass ich diesen  Namen geschrieben habe.»
  Er setzte  sich an den Tisch und vergaß alles in der Musik, die ihn überströmte.
Am  nächsten Morgen ging er früh hinaus, am Fluss entlang, versuchte sich zu  beschäftigen, bis die Zeit gekommen sein würde, Geneviève zu sehen. Die  Erinnerung an die ersten Tage in der Armee, an das Fensterwaschen im  Übungslager, wurde sehr lebendig in ihm. Er sah sich wieder nackt in der Mitte  eines weiten, kahlen Zimmers stehen, während der Rekrutierungssergeant sein  Maß nahm und ihn beklopfte. Und jetzt war er Deserteur. Gab es in alledem einen  Sinn? Hatte sein Leben eine eigene Richtung gehabt, seit er wie aufs Geratewohl  von der Tretmühle erfasst worden war, oder war alles nur Zufall? Ein Frosch,  der über den Weg hüpft vor eine große Dampfwalze?
  Er stand  still und sah um sich. Hinter einem kleinen Feld war der Fluss mit seinen  Sandbänken und seinen breiten, silbrigen Stromschnellen. Ein Junge watete weit  draußen im Flusse und fing Fische. Andrews beobachtete seine schnellen  Bewegungen, wie er das Netz durch das Wasser zog. Und auch dieser Junge würde  einmal Soldat sein! Man wird seinen geschmeidigen Körper in eine Uniform  zwängen, um ihm genau dieselbe Gestalt wie die von tausend anderen Körpern zu  geben, seine schnellen Bewegungen werden automatisiert, zum Waffendienst  geeignet gemacht werden, sein forschender, beweglicher Geist wird in Sklaverei  niedergedrückt werden. Die Einpfählung ist gebaut. Keines der Schafe wird  entkommen. Und diejenigen, die keine Schafe waren? Die waren Deserteure! Jedes  Gewehr barg Tod für sie. Die würden nicht lange leben. Und doch! Die Menschheit  hatte noch andere Gespenster abgeschüttelt. Jeder, der aufsteht, mutig zu  sterben, lockert den Griff des Gespenstes.
  Andrews  ging langsam den Weg hinunter und fegte den Staub mit den Füßen hoch wie ein  Schuljunge. An einer Wegbiegung warf er sich nieder ins Gras unter einen  Akazienbaum. Der schwere Duft der Blüten und das Summen der Bienen, die trunken  an den weißen Blüten hingen, machte ihn matt und schläfrig. Ein Wagen kam  vorbei, von schweren, weißen Pferden gezogen. Ein alter Mann mit gebeugtem  Rücken humpelte hinterher. Er gebrauchte seine Peitsche als Stock zum Gehen.  Andrews sah, wie der Alte ihn misstrauisch anschaute. Ein schwerer Schrecken  durchfuhr ihn. Wusste der vielleicht, dass er Deserteur war? Der Wagen und der  alte Mann waren schon an der Wegbiegung verschwunden. Andrews lag eine lange  Weile, horchte auf das Rattern des Geschirrs, das in der Ferne langsam erstarb  und ihn dann wieder ganz dem Summen der trunkenen Bienen in den Akazienblüten  überließ.
  Als er  sich aufsetzte, bemerkte er, dass man durch ein Loch in der Hecke das Turmdach  von Geneviève Rods Haus sehen konnte. Er erinnerte sich an den Tag, an dem er Geneviève  zuerst gesehen hatte, an die jungenhaft verlegene Geste, mit der sie Tee eingegossen  hatte. Würde er und Geneviève je einen Augenblick eine wirklich anständige  Beziehung zueinander haben?
  Plötzlich  durchkroch ihn ein bitterer Gedanke: oder will sie nur einen zahmen Pianisten  als Ornament für den Salon einer klugen jungen Dame haben?
  Er sprang  auf und begann wieder schnell zum Dorf hinüber zu gehen. Ich werde sie gleich  aufsuchen und all das endgültig regeln. Die Dorfuhr hatte begonnen zu schlagen.  Die klaren Töne vibrierten deutlich über den Feldern. Zehn.
  Bei  seiner Rückkehr ins Dorf begann er über sein Geld nachzudenken. Sein Zimmer  kostete zwanzig Franken die Woche. In der Tasche hatte er noch 124 Franken.  Nachdem er all seine Taschen nach Silbergeld durchsucht hatte, fand er noch  drei Franken 50. Wenn er mit 40 Franken die Woche auskommen könnte, würden noch drei  Wochen bleiben, um den «Leib und die Seele von John Brown» auszuarbeiten. Nur  drei Wochen. Und dann musste man Arbeit finden...  Jedenfalls muss man Henslowe schreiben, Geld zu schicken. Es war nicht die  richtige Zeit, um Feingefühl zu bekunden. Alles hing davon ab, Geld zu haben.  Er schwor es sich selbst zu, dass er drei Wochen arbeiten werde, dass er den  Gedanken, der in ihm war, formen und niederschreiben werde, was auch geschehen  möge. Er durchsuchte sein Gedächtnis nach irgend jemand in Amerika, dem er  wegen Geld schreiben könne. Gespenstisch ergriff ihn das Gefühl der  Einsamkeit. Und Geneviève — wird auch sie ihn im Stich lassen?
  Geneviève  kam gerade aus der Tür des Hauses, als er den Toreingang am Wege erreichte. Sie  lief ihm entgegen: «Guten Morgen. Ich komme gerade, Sie zu holen.» Er ergriff  ihre Hand und drückte sie stark. «Wie lieb von Ihnen.»
  «Aber,  Jean, Sie kommen ja gar nicht aus dem Dorf?» «Ich habe einen Spaziergang  gemacht.» «Wie früh Sie aufgestanden sind.»
  «Sehen  Sie, die Sonne geht gerade vor meinem Fenster auf und scheint auf mein Bett.  Deswegen stehe ich früh auf.»
  Sie schob  ihn durch die Tür hinein. Sie gingen durch die Halle in ein langes, hohes  Zimmer, in dem ein Flügel stand und viele alte Stühle mit hohen Lehnen und vor  den französischen Fenster, die nach dem Garten hinausgingen, ein runder Tisch  aus schwarzem Mahagoni, auf dem verstreut Bücher lagen. Zwei große Mädchen in  Musseline standen neben dem Piano.
  «Das sind  meine Cousinen. Hier ist er endlich.»
  «Monsieur  Andrews — ma cousine Berthe — ma cousine Jeanne. Jetzt müssen Sie uns was  vorspielen. Alles, was wir kennen, ist uns schon zu Tode langweilig.»
  «Gut... Aber ich muss noch sehr viel mit Ihnen  nachher sprechen», sagte Andrews leise.
  Geneviève  nickte verstehend.
  «Wollen  Sie uns nicht die Königin von Saba spielen, Jean?»
  «Oh, ja,  spielen Sie das!» zwitscherten die Cousinen.
  «Wenn Sie  nichts dagegen einzuwenden haben, werde ich lieber etwas von Bach spielen.»
  «Dort  drüben in der Ecke sind sehr viele Sachen von Bach», sagte Geneviève. «Es ist  fast lächerlich. Alles hier im Hause ist mit Musik voll gestopft.»
  Sie  beugten sich zusammen über die Truhe, so dass ihr Haar über Andrews Wangen  strich. Die Cousinen blieben am Piano stehen.
  «Ich muss  bald mit Ihnen allein sprechen», flüsterte Andrews. «Gut», sagte sie, und ihr  Gesicht wurde rot, und sie beugte sich tiefer über die Truhe.
  Auf den  Noten lag ein Revolver.
  «Sehen  Sie sich vor; er ist geladen», sagte sie, als er ihn aufhob. Er sah sie forschend  an.
  «Ich habe  noch einen in meinem Zimmer. Meine Mutter und ich sind hier oft allein, und  außerdem habe ich Schusswaffen gern. Sie nicht?»
  «Ich  hasse sie», murmelte Andrews.
  «Hier  sind Sachen von Bach.»
  «Gut... Hören Sie, Geneviève», sagte er  plötzlich. «Borgen Sie mir den Revolver auf einige Tage. Ich werde Ihnen später  sagen, was ich damit will.»
  «Gewiss,  aber seien Sie vorsichtig; er ist geladen», erwiderte sie und ging hinüber zu  dem Klavier mit zwei Bänden unter dem Arm.
  Andrews schloss  den Schrank und folgte ihr, plötzlich sehr heiter.
  Er  öffnete einen Band: «An einen Freund, um ihn davon abzubringen, eine Reise zu  unternehmen.»
  Er begann  zu spielen und legte all seine Kraft in die Töne. Bei einem Pianissimo hörte  er, wie eine Cousine zur anderen flüsterte: «Qu'il à l'air interessant!»
  «Farouche, n'est-ce-pas? Genre révolutionair»,  erwiderte die andre. Dann  bemerkte er, dass Madame Rod ihn anlächelte.
  «Mais ne  vous dérangez pas.»
  Ein Mann  mit weißen Flanellhosen und Tennisschuhen und ein anderer in Schwarz mit einem  spitzen grauen Bart und lustigen grauen Augen waren ins Zimmer getreten.  Hinter ihnen kam eine dicke Frau in Hut und Schleier, mit langen weißen  Zwirnhandschuhen. Es wurde vorgestellt. Andrews' gute Stimmung ebbte ab. All  diese Leute verstärkten die Mauer zwischen ihm und Geneviève. Wenn auch immer  er sie anschaute, immer trat irgendein gutgekleideter Mensch vor sie mit einer  höflichen Geste. Er fühlte sich in einen Ring gutangezogener Konventionen  gefangen, die ihn umtanzten mit grotesken Gesten der Höflichkeit. Während des  Lunches fühlte er den verrückten Wunsch, aufzuspringen und zu schreien:  «Schaut mich an, ich bin Deserteur! Ich bin unter den Rädern eures Systems!  Wenn es eurem System nicht gelingt, mich zu töten, dann wird es eben geschwächt  sein. Dann wird es weniger Kraft haben, andere zu töten.»
  Man  sprach über seine Demobilisation und seine Musik. Er fühlte sich zur Schau  gestellt. «Aber die wissen ja nicht, was sie zur Schau stellen», sagte er zu  sich selbst mit einer bitteren Freude.
  Nach dem  Lunch gingen sie hinaus in die Weinlaube, wo der Kaffee gereicht wurde. Andrews  saß schweigend, hörte nicht auf das Gespräch, das um Empiremöbel und die neuen  Steuern ging, starrte hinauf in die breiten, sonnig gefleckten Blätter des Weinlaubes,  erinnerte sich daran, wie die Sonne und der Schatten um Genevièves Haar getanzt  hatten, als er in der Laube am Tage vorher mit ihr allein gewesen war. Heute  saß sie im Schatten, und ihr Haar war rötlich und stumpf. Die Zeit zog sich wie  eine Ewigkeit hin. Endlich stand Geneviève auf.
  «Sie  haben mein Boot noch nicht gesehen», sagte sie zu Andrews. «Wir wollen ein  wenig rudern gehen. Ich werde rudern.»
  Andrews  sprang auf.
  «Seien  Sie vorsichtig, Monsieur Andrews; sie ist furchtbar unvorsichtig!» rief Madame  Rod.
  «Sie  waren zu Tode gelangweilt», meinte Geneviève, als sie draußen über die Straße  gingen.
  «Nein,  aber all die Menschen schienen neue Wälle zwischen Ihnen und mir aufzurichten.  Es sind schon genügend da.» Sie sah ihm einen Augenblick scharf in die Augen,  sagte aber nichts.
  Sie  gingen langsam weiter, bis sie an ein altes, flaches Boot, das grün angemalt  war, herankamen.
  «Wahrscheinlich  wird es untergehen. Können Sie schwimmen?» fragte sie lachend.
  Andrews  lächelte und sagte mit steifer Stimme: «Ich kann schwimmen. Durch Schwimmen  erreichte ich meine Entlassung aus der Armee.»
  «Was  bedeutet das?»
  «Als ich  desertierte.»
  «Als Sie  desertierten?»
  Geneviève  beugte sich hinüber, um das Boot ins Wasser zu ziehen.
  Ihre  Köpfe berührten sich fast. Sie zogen das Boot ins Wasser und schoben es halb in  den Fluss hinaus. «Und wenn man Sie erwischt?»
  «Dann  wird man mich erschießen. Vielleicht aber, da der
  Krieg  jetzt vorbei ist, bekomme ich nur lebenslängliches Gefängnis, oder vielleicht  auch nur zwanzig Jahre.»
  «Wie  können Sie so kühl darüber reden?»
  «Es ist  mir nichts Neues.»
  «Warum  taten Sie so etwas?»
  «Ich  konnte nicht länger in dieser Tretmühle bleiben.»
  «Kommen  Sie, rudern wir hinaus.»
  Geneviève  sprang ins Boot und ergriff die Ruder.
  «Jetzt  schieben Sie das Boot ganz hinaus und springen Sie hinein!» rief sie.
  Das Boot  glitt hinaus ins Wasser. Geneviève begann langsam und regelmäßig zu rudern.  Andrews sah sie an, ohne zu sprechen.
  «Wenn Sie  müde sind, werde ich rudern», sagte er nach einer Weile.
  Hinter ihnen  erhob sich das Dorf, weiß-fleckig und rötlich mit seinen Stuckwällen und seinen  steilen Ziegeldächern in einer unregelmäßigen Pyramide, deren Spitze die Kirche  bildete.
  Durch die  großen Spitzbogen des Kirchturmes konnten sie die Glocken sehen. Unten im  Flusse spiegelte sich das Dorf vollständig wieder, nur an den Stellen, wo der  Wind das Wasser kräuselte, war das Bild unterbrochen. Die Ruder knarrten rhythmisch.
  «Denken  Sie daran, ich werde rudern, wenn Sie müde sind», sagte Andrews nach einer  langen Pause.
  Geneviève  sprach durch zusammengebissene Zähne: «Natürlich. Sie haben keinen  Patriotismus.»
  «So wie  Sie es meinen, nicht.»
  Sie kamen  an die Ecke einer Sandbank, wo der Strom reißend lief.
  Andrews  legte seine Hände neben die ihren auf die Ruder und zog mit ihr an.
  «Bleiben  wir hier», sagte sie und zog die Ruder ein, die in der Sonne glitzerten.
  Sie legte  ihre Hände um die Knie und beugte sich zu ihm hinüber.
  «So,  darum wollen Sie also meinen Revolver...  Erzählen Sie mir alles, von Chartres an», sagte sie mit erstickter Stimme.
  «Sehen  Sie, ich wurde in Chartres verhaftet und in ein Arbeitsbataillon gesteckt. Das  ist dasselbe, wie ein Militärgefängnis bei Ihnen. Man ließ mich nicht mit  meinem kommandierenden Offizier von der Universitätsabteilung sprechen...»
  Er hielt  an. Ein Vogel sang in dem Weidenbaum. Die Sonne verbarg sich hinter einer  Wolke. Hinter den langen, blassgrünen Blättern, die leise und fast unmerklich  im Winde flatterten, war der Himmel voller silbriger und gelblicher Wolken.  Andrews begann still zu lachen.
  «Aber Geneviève,  wie verrückt doch diese Worte sind, diese pompösen, bedeutungsvollen Worte:  Abteilung, Bataillon, kommandierender Offizier. Es wäre doch alles so schön... Die Dinge hatten ihren Höhepunkt  erreicht. Das ist alles. Ich konnte mich nicht mehr länger der Disziplin fügen.  Oh, diese langen, römischen Worte; wie Mühlsteine hängen sie um unseren Hals... Es war vielleicht auch verrückt; ich  war ja fast willens, dabei zu helfen, die Deutschen abzuschlachten, mit denen  ich keinen Streit hatte, vielleicht aus Neugierde oder Feigheit... Sehen Sie, so lange habe ich gebraucht,  um zu erkennen, wie die Welt ist. Es gab keinen, der mir den Weg gezeigt  hätte.»
  Er machte  eine Pause, als ob er erwarte, dass sie sprechen werde. Der Vogel in dem  Weidenbaum sang immer noch.
  Plötzlich  schwankte ein Zweig ein wenig zur Seite, so dass Andrews ihn sehen konnte:  einen kleinen, grauen Vogel, der die Kehle ganz aufgeblasen hatte im Gesang.
  «Es  scheint mir», sagte er sehr sanft, «dass die menschliche Gesellschaft immer so  gewesen ist und dass sie vielleicht immer so bleiben wird: Organisationen, die  aufwachsen und die Menschen erdrücken, und Individuen, die hoffnungslos  dagegen revoltieren, um schließlich neue Gesellschaften zu bilden, die alten  niederzukämpfen, vielleicht, um dann selbst wieder Sklaven zu halten...»
  «Ich  dachte, Sie seien Sozialist?» warf Geneviève scharf ein mit einer Stimme, die  ihm fast körperlich weh tat, er wusste nicht, warum.
  «Einer im  Arbeitsbataillon erzählte mir», fuhr Andrews fort, «dass man einen Freund von  ihm einmal dadurch misshandelt habe, dass man ihn zwang, brennende Zigaretten  zu verschlucken. Jeder Befehl, den man mir ins Gesicht schrie, jede neue  Erniedrigung vor den Vorgesetzten war ein fast ebenso großer Schmerz für mich.  Können Sie das verstehen?»
  Seine  Stimme hatte plötzlich den Klang wie die Stimme eines
  Richters.  Sie nickte mit dem Kopfe, dann schwiegen sie. Die Weidenblätter zitterten im  Hauch des Windes. Der Vogel war fortgeflogen.
  «Aber  erzählen Sie mir doch von dem Schwimmen! Das klingt aufregend!»
  «Wir  waren dabei, Zement in Passy auszuladen, um das Stadion zu erbauen, welches  die Armee den Franzosen zum Geschenk darbringen wird, in Sklavenarbeit erbaut,  wie die Pyramiden.»
  «Ach,  Passy, wo Balzac gewohnt hat. Haben Sie sein Haus gesehen?»
  «Ein  Junge war da, der arbeitete mit mir. Ohne ihn hätte ich es vielleicht nie getan... Ich war vollkommen niedergedrückt und  schlaff... Der Junge ist  wahrscheinlich ertrunken... Wir  schwammen unter Wasser, so weit wir konnten, und als es fast dunkel war, gelang  es mir, auf einen Kahn zu kommen, wo eine seltsame Anarchistenfamilie sich  meiner annahm. Von dem Jungen habe ich seither nichts mehr gehört. Dann habe  ich diese Kleider, die Sie so amüsant finden, Geneviève, gekauft und bin nach  Paris zurückgegangen. Hauptsächlich um Ihretwillen.»
  «Ich  bedeute Ihnen also so viel?» flüsterte Geneviève.
  «Wenn Sie  nicht gewesen wären, würde ich gleich nach Bordeaux oder Marseille zur See  gegangen sein.»
  «Aber in  der Armee? Hatten Sie denn da nicht genug von dem schrecklichen Leben, immer  zwischen ungebildeten Leuten herumgeworfen zu werden, immer in schmutziger,  faulig riechender Umgebung? Sie, ein sensibler Mensch, ein Künstler? Kein  Wunder, dass Sie nach solchen Jahren fast verrückt geworden sind!»
  Geneviève  sprach mit Leidenschaft und sah ihn aus starren Augen fest an.
  «Oh, das  war es nicht», erwiderte Andrews voller Verzweiflung. «Ich liebe die Menschen,  die Sie gemeines Volk nennen. Die Unterschiede zwischen den Menschen sind so  gering...» Er sprach seinen Satz  nicht zu Ende. Er blieb unruhig auf seinem Sitze und hatte Angst, er werde  schreien. Er bemerkte die Umrisse des Revolvers in seiner Tasche.
  «Aber  können Sie nicht etwas tun? Sie haben doch Freunde!» brach Geneviève aus. «Man  hat Sie entsetzlich ungerecht behandelt! Man kann es doch wieder einrenken,  und Sie werden dann richtig demobilisiert! Man wird doch einsehen, dass Sie ein  Mensch von Intelligenz sind! Man kann Sie doch nicht behandeln wie irgendeinen  x-Beliebigen!»
  «Ich muss  schon, wie Sie selbst sagen, ein wenig verrückt sein, Geneviève», sagte  Andrews. «Aber jetzt, nachdem ich, obschon nur schwach, einen Schritt vorwärts,  der menschlichen Freiheit entgegen, getan habe, kann ich nicht mehr so handeln,  wie Sie mir vorschlagen...,  vielleicht bin ich ein Narr. Aber ich bin's einmal, Geneviève.»
  Er saß,  den Kopf auf die Brust gesenkt, die Hände fest um den Bordrand des Bootes  klammernd. Nach einer langen Weile sagte Geneviève mit trockener, kleiner  Stimme:
  «Wir  müssen jetzt nach Hause gehen, es ist Zeit zum Tee.»
  Andrews  schaute auf. Eine Libelle saß auf der Spitze eines Schilfrohrs mit silbrigem  Flügel und einem langen, schmalen Körper.
  «Sehen  Sie einmal dorthin, Geneviève.»
  «Oh, eine  Libelle! Es gab doch einmal ein Volk, das in ihr das Symbol des Lebens sah!  Waren es nicht die Ägypter? Oh, ich habe es ganz vergessen.»
  «Ich  werde rudern», sagte Andrews.
  Das Boot schoss  in der Strömung fort. In wenigen Minuten schon hatten sie es vor dem Hause der  Rods an den Strand gezogen.
  «Kommen  Sie, und trinken Sie Tee mit uns», sagte Geneviève.
  «Nein,  ich muss arbeiten.»
  «Sie  arbeiten etwas Neues?»
  Andrews  nickte.
  «Wie soll  es heißen?»
  «Die  Seele und der Leib von John Brown.»
  «Wer ist  John Brown?»
  «Ein  Verrückter, der das Volk befreien wollte. Es gibt ein Lied über ihn...» «Werden Sie morgen kommen?» «Wenn Sie  nicht zu beschäftigt sind...» «Oh,  die Boileaus kommen zum Lunch. Zum Tee wird niemand da sein. Wir können also  allein den Tee trinken.»
  Er  ergriff ihre Hand und hielt sie unbeholfen, wie ein Kind die Hand eines neuen  Spielkameraden hält.
  «Gut,  also so gegen vier. Falls niemand da ist, werden wir musizieren», sagte er.
  Sie  entzog ihm ihre Hand eilig, machte eine seltsame, konventionelle Bewegung des  Abschiednehmens und ging über die Straße durch das Tor, ohne sich umzuschauen.  Ein Gedanke kam ihm in den Sinn: Ins Zimmer laufen, die Tür hinter sich abschließen,  sich dann mit dem Gesicht auf das Bett werfen. Dieser Gedanke amüsierte ihn  irgendwie. Das hatte er immer getan, wenn ihm als Kind die Welt zu schwer  erschienen war. Dann war er die Treppen hinaufgelaufen, hatte die Tür hinter  sich abgeschlossen und sich mit dem Gesicht auf das Bett geworfen.
  «Ob ich  wohl weinen werde?» sagte er.
  Madame  Boncour kam die Treppe herunter, als er hinaufging. Er ging zurück und wartete.
  Als sie  hinuntergekommen war, sagte sie: «So, Sie sind ein Freund von Madame Rod,  Monsieur?»
  «Woher  wissen Sie?»
  Ein  Grübchen erschien auf ihren beiden Wangen.
  «Sie  wissen, auf dem Lande weiß man alles», sagte sie.
  «Au  revoir», sagte er und begann die Treppe hinaufzugehen.
  «Mais  monsieur. Sie hätten mir doch davon erzählen müssen. Wenn ich das gewusst  hätte, hätte ich Sie nicht gebeten, im voraus zu bezahlen. Sie müssen mir  verzeihen, Monsieur.»
  «Schon  gut.»
  «Monsieur  est américain? Sie sehen, ich weiß sehr viel.» Ihre schlaffen Wangen gingen auf  und nieder, als sie zu kichern anfing.
  «Und  Monsieur kennen Madame und Mademoiselle Rod schon eine lange Zeit. Ein alter  Freund. Monsieur ist Musiker?» «Ja. Bon soir.»
  Andrews  lief die Treppen hinauf. «Au revoir, Monsieur.»
  Ihre  singende Stimme verfolgte ihn die Treppen hinauf. Er schmiss die Tür zu und  warf sich auf das Bett.
Als Andrews am nächsten Morgen aufwachte, war sein  erster Gedanke, wie lange er an diesem Tage warten müsse, um Geneviève zu  sehen. Dann erinnerte er sich an ihr Gespräch am Tage zuvor. Lohnte es sich  überhaupt, sie zu besuchen? fragte er sich, und langsam ergriff ihn kalte  Verzweiflung. Einen Augenblick lang fühlte er, dass er das einzige Lebewesen  in einer Welt toter Maschinen sei. Der Frosch, der über den Weg hüpft vor einer  großen Dampfwalze.
  Plötzlich  dachte er an Jeanne. Er sah sie vor dem Café Rohan an irgendeinem  Mittwoch-Abend auf und ab gehen und auf ihn warten. Was würde sie an Genevièves  Stelle getan haben? Die Menschen waren immer einsam, in Wirklichkeit. Die, die  in den prächtigen, großen Wagen fuhren, konnten nie so fühlen, wie die anderen,  die hinterher gehen und den Staub einschlucken, die Frösche, die über den Weg  hüpfen. Er fühlte keinen Groll gegen Geneviève.
  Diese  Gedanken fielen von ihm ab, während er seinen Kaffee trank und das trockene  Brot aß, und nachher, als er am Flussufer bin und her ging, fühlte er, wie die  Steifheit seines Bewusstseins und Körpers sich auflöste und alles in ihm zu  zittern begann in dem Strom der Musik, wie eine Pappel, die im Winde rauschte.  Er spitzte einen Bleistift und ging wieder hinauf in sein Zimmer. Der Himmel  war wolkenlos an diesem Tage. Wie er sich an seinen Tisch setzte, erschienen im  Fenster das Blau des Himmels und die Hügel, von der Windmühle überragt, und das  silbrige Blau des Flusses. Manchmal schrieb er Noten schnell nieder, nichts  denkend, nichts fühlend, nichts sehend. Dann wieder saß er lange und starrte in  den Himmel, auf die Windmühle, irgendwie glücklich mit unerwarteten Gedanken  spielend, die kamen und wieder erloschen.
  Als die  Uhr zwölf schlug, bemerkte er, dass er hungrig war. Zwei Tage lang hatte er  nichts als Brot, Wurst und Käse gegessen. Drunten bat er Madame Boncour um ein  Mittagbrot. Sie brachte ihm Essen und eine Flasche Wein und blieb da, beobachtete  ihn beim Essen, die Arme gekreuzt und mit den Grübchen in ihren ungeheuren,  roten Wangen.
  «Monsieur  isst weniger, als irgendein anderer junger Mann», sagte sie.
  «Ich  arbeite sehr», sagte Andrews und wurde rot. «Aber wenn man arbeitet, muss man  sehr viel essen.» «Und wenn einem das Geld knapp ist?» fragte Andrews lächelnd.
  Irgend  etwas in dem forschenden Blick ihrer Augen erschreckte ihn für einen  Augenblick.
  «Sind  jetzt nicht viel Menschen hier, Monsieur...  Wollen Sie nicht etwas Nachtisch haben, Monsieur?» «Käse und Kaffee.»
  «Nichts  sonst? Es gibt doch jetzt Erdbeeren.» «Nichts mehr, danke schön.»
  Als  Madame Boncour mit dem Käse zurückkam, sagte sie: «Ich hatte hier schon einmal  Amerikaner, Monsieur. Habe eine ganz schöne Zeit mit ihnen verlebt. Es waren  Deserteure. Sie liefen fort, ohne zu bezahlen. Die Gendarmen hinter ihnen. Ich  hoffe, dass man sie gefasst hat und an die Front gesandt, diese nichtsnutzigen  Kerls.»
  «Es gibt  allerhand Amerikaner», sagte Andrews leise. Er war wütend über sich selbst,  weil sein Herz so heftig schlug. «Ich gehe jetzt ein wenig aus. Au revoir,  Madame.»
  «So,  Monsieur geht ein wenig aus. Amusez vous bon, Monsieur. Au revoir, Monsieur.»
  Madame  Boncours Sing-Sang verfolgte ihn bis draußen.
Ein wenig  vor vier Uhr klopfte Andrews vor dem Hause der Rods an. Er konnte Santo, den  kleinen, schwarzen Hund, drinnen bellen hören. Madame Rod öffnete ihm die Tür.
  «Oh, da  sind Sie ja», sagte sie. «Kommen Sie herein und trinken Sie etwas Tee mit uns.  Haben Sie heute viel Arbeit?»
  «Und Geneviève?»  stammelte Andrews.
  «Sie ist  mit einigen Freunden Auto fahren. Sie hat einen Zettel für Sie dagelassen. Er  liegt auf dem Teetisch.»
  Er fand  sich selbst dann sprechend, Fragen stellend und antwortend, Tee trinkend,  Kuchenstücke in den Mund führend; alles in einem weißen toten Nebel. Auf Genevièves  Zettel stand:
John!
  Ich denke  an Mittel und Wege. Sie müssen in irgendein neutrales Land. Warum haben Sie  nicht erst mit mir darüber gesprochen, ehe Sie sich so jede Möglichkeit abgeschnitten  haben? Ich komme morgen zur selben Zeit.
  Bien à  vous. G. R.
«Wird es  Sie stören, wenn ich einige Minuten Klavier spiele, Madame Rod?» fragte Andrews  plötzlich.
  «Nein,  spielen Sie nur, wir werden später kommen Ihnen zuhören.»
  Als er  das Zimmer verließ, bemerkte er, dass er außer zu Madame Rod noch zu den beiden  Cousinen gesprochen hatte.
  Am  Klavier vergaß er alles und wurde wieder froh und heiter. Er fand Papier und  einen Bleistift in seiner Tasche und spielte das Thema, das über ihn gekommen  war, als er damals die Fenster abwusch im Feldlager.
  Als er  mit der Arbeit aufhörte, war es fast dunkel. Geneviève Rod, mit einem Schal um  den Kopf, stand an dem französischen Fenster, das zu dem Garten führte.
  «Ich  hörte Ihnen zu», sagte sie, «fahren Sie fort.»
  «Ich bin  fertig. Wie war Ihre Autofahrt?»
  «Wunderschön.  Ich habe nicht oft Gelegenheit dazu.»
  «Und ich  auch nicht, mit Ihnen allein zu sprechen», sagte Andrews bitter.
  «Sie scheinen  zu glauben, dass Sie Besitzeranrechte auf mich haben? Ich weise das zurück.  Niemand hat Anrecht auf mich.»
  Sie  sprach, als ob es nicht das erste Mal sei, dass sie diese Phrase ausgesprochen  habe.
  Er ging  hinüber zum Fenster.
  «Hat es  Ihnen so viel ausgemacht, Geneviève, zu erfahren, dass ich Deserteur bin?»
  «Nein,  natürlich nicht», sagte sie hastig.
  «Ich  denke doch, Geneviève... Was soll ich  denn tun? Glauben Sie, ich soll mich selbst aufgeben? Ein Mann, den ich in  Paris kannte, hat sich selbst aufgegeben. Doch die Uniform, die hatte er nicht  ausgezogen. Das scheint ein großer Unterschied zu sein. Er war ein netter Kerl.  Er hieß Al. Aus San Francisco. Der hatte Mut. Er amputierte sich selbst den  kleinen Finger, als ihm die Hand von einem Güterwagen abgefahren wurde...»
  «O nein,  nein, nein, das ist ja entsetzlich...  Sie wären ein großer Komponist geworden. Ich bin dessen sicher.»
  «Wieso  geworden? Das, was ich jetzt schreibe, ist weitaus besser, als all die kleinen,  unwichtigen Dinge, die ich früher geschrieben habe. Ich weiß das.»
  «O ja,  aber Sie brauchen doch Studium, um bekannt zu werden.»
  «Wenn ich  sechs Monate durchhalten kann, bin ich sicher; dann wird die Armee nicht mehr  hier sein, und man wird ja Deserteure nicht ausliefern.»
  «Ja, aber  welche Schande! Immer die Gefahr, erwischt zu werden.»
  «Ich  schäme mich vieler Dinge in meinem Leben, Geneviève; ich bin stolz darauf, dass  ich desertiert bin.»
  «Aber  können Sie nicht verstehen, dass andere Leute Ihre Gedanken über individuelle  Freiheit nicht teilen?»
  «Ich muss  gehen, Geneviève.»
  «Kommen  Sie doch bald wieder.»
  «An einem  der nächsten Tage.»
  Er stand  draußen auf der Straße in der Dämmerung, seine Noten in der Hand  zusammengedrückt. Der Himmel war voller rötlicher Staubwolken. Zwischen ihnen  waren Flecken hellen, klaren Lichtes. Einige Tropfen Regen fielen in dem Wind,  der durch die breiten Blätter der Linden rauschte und die Weizenfelder bewegte  wie Wogen auf der See und den Fluss zwischen den hellen Sandbänken dunkel  färbte. Es begann zu regnen. Andrews eilte nach Hause, damit sein einziger  Anzug nicht nass werde. Im Zimmer angekommen, zündete er vier Kerzen an und  stellte sie auf die Ecken seines Tisches. Dann legte er sich auf das Bett und  starrte hinauf auf das flackernde Licht an der Decke und versuchte zu denken.
  «Du bist  jetzt allein, John Andrews», sagte er laut nach einer halben Stunde und sprang  auf die Füße. Er dehnte sich und gähnte. Draußen schlug der Regen laut und  ständig nieder.
  «Generalabrechnung»,  sagte er zu sich selbst.
  «Es wird  wenigstens einen Monat dauern, ehe ich von Henslowe höre, und jetzt habe ich  schon zwanzig Franken für Essen, ausgegeben. So geht es nicht weiter. Außer den  paar Franken bares Geld besitze ich nur einen Band Villon, ein grünes Buch über  Kontrapunkt, eine entzweigerissene Karte von Frankreich und einen immerhin noch  nicht ganz in Unordnung geratenen Verstand.»
  Er legte  die beiden Bücher mitten auf den Tisch vor sich, darüber das unordentliche  Bündel seiner Notenpapiere, dann fuhr er fort, seine Habseligkeiten vor sich  aufzuhäufen: drei Bleistifte, einen Füllfederhalter. Automatisch griff er nach  seiner Uhr, doch er erinnerte sich, dass er sie Al gegeben hatte, damit der  sie, wenn er sich entschließen sollte, sich nicht aufzugeben, verkaufen  könne... Eine Zahnbürste, Rasierzeug, ein Stück
  Seife,  eine Haarbürste und ein zerbrochener Kamm. Noch etwas? Er griff in den Sack,  der am Fußende seines Bettes hing. Eine Schachtel Streichhölzer, ein Messer,  von dem eine Klinge fehlte und eine zerdrückte Zigarette. Von Minute zu Minute  wuchs das Amüsement über den vor ihm ausgebreiteten Haufen. Dann, in der  Schublade, war doch, wie er sich erinnerte, ein reines Hemd und zwei Paar  getragene Strümpfe. Und das war alles, absolut alles. Nichts Verkäufliches  mehr. Außer Genevièves Revolver. Er zog ihn aus der Tasche. Das Kerzenlicht  flackerte auf dem hellen Nickel. Nein, er würde ihn vielleicht brauchen. Der  war zu wertvoll, um verkauft zu werden. Er richtete ihn auf sich selbst. Unter  dem Kinn sollte die beste Stelle sein. Er wunderte sich, ob er wohl den Hahn  abziehen werde, wenn der Lauf an seinem Kinn sein werde. Nein, wenn das Geld zu  Ende ist, wird man eben den Revolver verkaufen. Ein teurer Spaß für einen  Hungers sterbenden Menschen! Er saß auf dem Bettende und lachte.
  Dann  entdeckte er, dass er sehr hungrig sei. «Zwei Mahlzeiten an einem Tage.  Shocking!» sagte er zu sich selbst. Er pfiff froh, wie ein Schuljunge, ging die  Treppe hinunter und bat Madame Boncour um noch eine Mahlzeit. Seltsam  erschreckt bemerkte er, dass die Melodie, die er pfiff, ein Thema aus John  Brown war:
John  Browns Leib, im Grabe liegt er und verfällt,
  Doch seine Seele, ewig schreitet sie vorwärts... 
Die  Linden standen in Blüte. Von dem Baum neben dem Hause kam der Geruch der  Lindenblüten in schweren Wellen durch das offene Fenster herein. Andrews lag  über dem Tisch mit geschlossenen Augen und mit dem Gesicht auf einem Haufen  Notenpapier. Er war sehr müde. Der erste Teil von «Die Seele und der Leib von  John Brown» war niedergeschrieben. Die Turmuhr schlug zwei. Er stand auf und  sah einen Augenblick abwesend zum Fenster hinaus. Es war ein dumpf-schwüler  Nachmittag. Die Wolken hingen dick geschwollen und niedrig über dem Fluss. Die  Windmühle auf dem Hügel war regungslos. Es schien ihm, als ob er Genevièves  Stimme hörte, das letzte Mal, als er sie sah...  es war schon so lange her: Sie wären ein großer Komponist geworden... Er ging hinüber zum Tisch und wandte  einige Blätter um, ohne sie anzusehen. Wären geworden... Er zuckte die Achseln. Man kann also nicht zugleich ein  großer Komponist und Deserteur sein im Jahre 1919. Vielleicht  hatte sie recht. Doch er musste etwas essen.
  «Wie spät  Sie kommen!» schimpfte Madame Boncour, als er sie um Lunch bat.
  «Ich  weiß, es ist spät. Ich habe gerade ein Drittel meiner Arbeit beendet.»
  «Und  bekommen Sie viel dafür, wenn die Arbeit fertig ist?» fragte Madame Boncour.  Die Grübchen erschienen wieder auf ihren Wangen.
  «Vielleicht,  eines Tages.»
  «Sie  werden einsam sein jetzt, da die Rods fort sind.» «So, sie sind fort?»
  «Wussten  Sie es nicht? Haben sie Ihnen nicht adieu gesagt? Sie sind an die See... Ich werde Ihnen ein kleines Omelett bereiten.»
  «Danke  schön.»
  Als  Madame Boncour mit dem Omelett und gebratenen Kartoffeln zurückkam, sagte sie  ihm geheimnisvoll:
  «So, Sie  haben die Rods in diesen letzten Wochen nicht oft gesehen?»
  «Nein.»
  Madame  Boncour starrte ihn an, ihre roten Arme über den Brüsten gekreuzt und  schüttelte den Kopf. Als er die Treppen hinaufgehen wollte, rief sie ihn  plötzlich an:
  «Wann  wollen Sie mich bezahlen? Es ist schon zwei Wochen her, seitdem Sie nichts mehr  bezahlt haben.»
  «Aber  Madame Boncour, ich sagte Ihnen doch, dass ich kein Geld habe. Wenn Sie noch  einen oder zwei Tage warten wollen, bekomme ich bestimmt welches mit der Post.  Es kann nicht mehr als zwei Tage dauern.»
  «Ich habe  diese Geschichte schon einmal gehört.»
  «Ich habe  sogar versucht, auf verschiedenen Gütern hier in der Nähe Arbeit zu bekommen.»
  Madame  Boncour warf den Kopf zurück und lachte, zeigte dabei die schwarzen Zähne ihres  Unterkiefers.
  «Schauen  Sie», sagte sie endlich. «Noch eine Woche, und dann bin ich fertig mit Ihnen.  Entweder Sie zahlen dann, oder... Bedenken Sie, ich schlafe sehr leicht,  Monsieur...»
  Ihre  Stimme nahm plötzlich die gewöhnliche Färbung wieder an. Andrews lief die  Treppen hinauf in sein Zimmer.
  «Ich muss  diese Nacht weg», sagte er zu sich selbst. «Aber vielleicht werden am nächsten  Tage Briefe mit Geld kommen.»
  Er war  unentschlossen, den ganzen Nachmittag.
  Am Abend  unternahm er einen langen Spaziergang. Als er am Hause der Rods vorbeiging, sah  er, dass die Rouleaux heruntergelassen waren. Er fühlte sich irgendwie  befreit, zu wissen, dass Geneviève nicht mehr in seiner Nähe lebte. Seine Einsamkeit  war jetzt vollkommen.
  Und  warum, anstatt Musik zu schreiben, die vielleicht etwas taugen wird, wenn er  nicht Deserteur wäre — sagte er immer und immer wieder zu sich selbst — warum  hatte er nicht versucht zu handeln, eine wenn auch schwache Bewegung zu machen  für die Freiheit der anderen Menschen? Halb aus Zufall war es ihm gelungen,  sich aus der Tretmühle zu befreien. Hätte er nicht anderen helfen können! Wenn  er doch nur sein Leben noch einmal leben könnte!
Es war dunkel, als er ins Dorf zurückkam. Er hatte sich entschlossen, noch einen Tag zu warten. Am nächsten Morgen begann er am zweiten Teil zu arbeiten. Die Arbeit ging sehr schwer vorwärts, doch er wollte noch alles leisten, was ihm irgend möglich war.
Eines Nachts hatte er die Kerze ausgeblasen und stand am Fenster und beobachtete den Schein des Mondes auf dem Fluss. Er hörte einen schweren Schritt vor seiner Tür. Ein Brett knarrte, und der Schlüssel drehte sich im Schloss. Der Schritt erklang wieder auf der Treppe. John Andrews lachte laut. Das Fenster war nur zehn Fuß vom Boden. Er ging zufrieden zu Bett, um noch einmal gut zu schlafen, denn morgen Nacht würde er zum Fenster hinausspringen, um nach Bordeaux zu gehen,
Am  anderen Morgen. Ein frischer Wind hatte sich erhoben und fuhr durch Andrews  Papiere beim Arbeiten. Draußen lag der Fluss blau und silbern. Die Arme der  Windmühle schlugen schnell in die aufgehäuften Wolken. Der Geruch der Linden  wurde von einem scharfen Wind von Zeit zu Zeit hereingetrieben. Die Melodie  von John Browns Leib kroch durch alle seine
  Gedanken.  Andrews saß mit einem Bleistift an den Lippen, pfiff leise, während hinter ihm  ein ungeheurer Chor zu singen schien:
John  Browns Leib, im Grabe liegt er und verfällt,
  Doch seine Seele, ewig schreitet sie vorwärts; 
  Gloria,  Gloria, Halleluja, 
  Doch  seine Seele, ewig schreitet sie vorwärts.
Wenn man  doch nur frei sein könnte dadurch, dass man für die Freiheit marschiert!
  Plötzlich  erstarrte er. Seine Hände klammerten sich um das Tischende. Eine amerikanische  Stimme erklang unter seinem Fenster:
  «Das Weib  hat uns wohl genarrt, was, Charlie?»
  Verzweiflung  blendete Andrews. O Gott, konnten die Dinge sich so wiederholen? Konnte alles  sich wiederholen? Und es schien ihm, als flüsterten Stimmen in seine Ohren:  «Einer von euch Kerls soll mal dem Mann das Salutieren beibringen!»
  Er sprang  auf und öffnete die Schublade. Sie war leer. Die Frau hatte ihm den Revolver  weggenommen. «Es ist alles vorbereitet. Sie weiß alles», sagte er zu sich  selbst. Er wurde plötzlich ruhig. Ein Mann in einem Boot fuhr an dem Haus  vorbei. Das Boot war hellgrün angemalt. Der Mann trug ein seltsames braunes  Jackett und hielt eine Angel aus. Andrews saß wieder auf seinem Stuhl. Das Boot  war jetzt außer Sicht, aber die Windmühle drehte sich, drehte sich in den  gehäuften weißen Wolken. Schritte waren auf der Treppe, zwei zwitschernde  Schwalben kurvten am Fenster vorbei, sehr nahe, so dass Andrews die weißen  Flecken unter ihren Flügeln sehen konnte, und wie sie ihre Beine unter ihren  hellgrauen Körpern gefaltet hatten. Es klopfte. «Herein!» sagte Andrews fest.
  «Ich  bitte um Verzeihung», sagte ein Soldat mit dem Hut, um den ein rotes Band  geschlungen war, in der Hand. «Sind Sie der Amerikaner?»
  «Ja.»
  «Die Frau  dort unten sagte, dass Ihre Papiere nicht recht in Ordnung seien.»
  Der Mann  stammelte vor Verlegenheit. Ihre Augen trafen aufeinander.
  «Nein,  ich bin Deserteur.»
  Der  Militärpolizist ergriff seine Pfeife. Ein schriller Pfiff ertönte. Antwort  erklang draußen vor dem Fenster. «Pack dein Zeugs zusammen!» «Ich habe nichts.»
  «Geh  langsam vor mir die Treppe hinunter.»
  Draußen  die Windmühle drehte sich, drehte sich in den weißen, gehäuften Wolken am  Himmel.
  Andrews  wandte seine Augen zur Tür. Der Militärpolizist schloss die Tür hinter ihm und  folgte ihm die Treppe hinunter.
  Auf John  Andrews' Schreibtisch rauschte der frische Wind zwischen die breiten Blätter  Papier. Zuerst fiel ein Blatt, dann ein anderes vom Tisch, bis der ganze Boden  damit bedeckt war...