Roman aus dem Leben der nationalgesinnten Jugend
Dieser Roman ist ein wahrheitsgetreues Protokoll eigener Erlebnisse; keine Seite beruht auf freier Erfindung. Die Form des Romans wurde lediglich gewählt, weil hier nicht Schuld oder Verhängnis bestimmter Einzelpersonen dargestellt werden soll, sondern das Bild jener Nachkriegsjugend, die sich die nationale nennt. Die Gefühle, Meinungen und Taten dieser Jugend sind weder an eine bestimmte deutsche Stadt, noch an ein bestimmtes jener Jahre gebunden, die uns vom Ende des Weltkriegs trennen. Nicht Einmaliges und Zufälliges wird in diesem Buch geschildert: Es läuft ein roter Faden von den Novemberkämpfen über München, Kapp, Mitteldeutschland und Oberschlesien bis zu den Bombenattentaten der jüngsten Vergangenheit. Ich half diesen Faden spinnen. Dieses Buch soll ihn zerreißen helfen.
Wir gehen nicht mehr in die  Schule. Seit vierzehn Tagen schon arbeiten wir auf einem Rittergut  unmittelbar an der Stadtgrenze. Wir ernten Kohlrüben ein, die unbedingt noch  vor Eintritt der scharfen Fröste in den Keller gebracht werden müssen. „Im  Interesse der Volksernährung", hat unser Direktor, Professor Schmidt,  gesagt, als er seine Prima zu dieser Arbeit kommandierte.
  Und wenn Professor Schmidt  „Volksernährung" sagt, dann klingt das genau so, als ob er vom Vaterland  spricht, vom Endsieg oder von der Erstürmung Kownos. Er hat nämlich das E. K.  I., einen zerschossenen linken Arm, die Uniform eines Reservehauptmanns und ist  nach seinen eigenen Angaben der erste deutsche Soldat gewesen, der seinen Fuß  in jene feindliche Feste gesetzt hat.
  Der Direktor spricht seit Jahr  und Tag von Vaterland und Endsieg, und wir finden ihn furchtbar lächerlich,  wenn er seinen halbsteifen Arm demonstrativ und ekstatisch in die Höhe reckt  und mit krähender Fistelstimme von Deutschlands Zukunft redet, die angeblich  auf unseren Schultern liegt. Sein Gesicht wird dabei immer ganz rot, und seine  grauen Fischaugen, die ohnehin etwas hervorstehen, drohen aus dem Kopf herauszutreten.  Es ist wirklich lächerlich. Seit vier Jahren immer dieselbe Leier!
  Krieg, — du lieber Gott, das  ist etwas, was immer war und immer sein wird. Er steht vor uns wie ein  Unabänderliches, das hingenommen werden muss. Und nächstens werden wir auch  eingezogen. Die Kameraden vom Jahrgang 00 sind schon im Feldrekrutendepot oder  im Felde. Einer ist sogar schon gefallen.
  Wir haben uns an den Krieg  gewöhnt. Von Zeit zu Zeit kommt ein Klassenkamerad morgens mit einem  Trauerflor um den Arm zum Unterricht. Dann wissen wir: sein Bruder ist gefallen  oder sein Vater. Am Kemmel oder in Flandern. Wir kondolieren ihm korrekt und  finden dies alles im Grunde höchst natürlich. Der umflorte Mitschüler hält sich  ein paar Tage abseits von uns und zeigt „stolze Trauer", so, wie er und  seine Verwandten es im Generalanzeiger angezeigt haben. Dann beteiligt er sich  wieder an unseren Diskussionen und Schlägereien.
  Das ist der Krieg. Und das  Wichtigste ist für uns im Augenblick, dass wir uns um ein Regiment bemühen,  bei dem wir als Fahnenjunker eintreten können. Denn wenn man auch nicht gerade  „Berufsoffizier" werden will, hat man als Fahnenjunker doch mancherlei  Vorteile. Wir bemitleiden taktvoll und heimlich die armen Kerle unter unseren  Mitschülern, deren Väter Eisenbahnsekretäre oder kleine Kaufleute sind. Denn  die wagen natürlich gar nicht, sich nach einem Regiment umzusehen: sie würden  ja doch nicht angenommen werden und müssen den Krieg eben als Gemeine  mitmachen.
  Auch vier Jahre genügen schon,  um eine Tradition entstehen zu lassen...
  Die Tage sind kühl und  regnerisch, und morgens sind die Äcker bereift. Wir frieren viel bei der  Arbeit auf dem Felde; aber das macht nicht nur der feine, schneidende  Sprühregen, sondern das Unheimliche, das uns in den Knochen liegt, und das wir  in diesen Tagen überall um uns herum fühlen.
  „Revolution," sagt  jemand, und in unseren klassisch infizierten Gehirnen rollen sich altbekannte  Gedankenreihen ab, die in dem Begriff „Ochlokratie — Pöbelherrschaft"  ihren Endpunkt finden. Von „ochlos" — der Haufe.
  Wir haben Angst Vielleicht nur  vor der feindlichen Leere, die hinter dem Begriff Revolution droht. Dass wir  z. B. in einigen Tagen vielleicht keinen Kaiser mehr haben werden, — das ist  ein ganz merkwürdiger Gedanke. Es ist einem so, als bekäme man plötzlich keine  Luft mehr.
  Und dann sprechen wir auch von  der allgemeinen Gleichheit. Ein beliebtes Thema seit den Friedensverhandlungen  von Brest-Litowsk. Dort führten auf unserer Seite die Verhandlungen Generäle,  Unterstaatssekretäre und Ministerialdirektoren, Leute, die studiert hatten und  im Korps waren. Und drüben bei den Russen saß ein Herr Sowieso, dessen Namen  man niemals gehört hatte, der ein ganz einfacher Arbeiter gewesen sein soll;  und trotzdem wurde er von unseren Exzellenzen für voll genommen. Saß mit ihnen  an einem Tisch! Damals haben wir das sehr komisch gefunden. Heute ist uns die  Erinnerung daran unheimlich.
  Denn vielleicht ist das in  einigen Tagen bei uns genau so, und was soll dann aus uns werden? Was nützen  uns dann unser Abitur und alle unsere Verbindungen, wenn jeder einfache  Arbeiter genau dasselbe werden kann wie wir? Wir empfinden die Drohung der  allgemeinen Gleichheit als eine große Ungerechtigkeit.
  Unrecht und die Herrschaft der  verhassten ,Latjer", — so steht die Revolution vor uns.
  Latjer ist ein Lokalausdruck  und ein Gattungsbegriff mit sehr verschwommenen Grenzen. Er umschließt ebenso  den soliden Arbeiter mit Frau, Kind und Stube und Küche, der abends müde und  dreckig aus den Leuna-Werken kommt, wie die unheimlichen Gestalten, die nachts  im Marktviertel Betrunkene fleddern und die Straßenmädchen tyrannisieren.  Latjer, das ist alles, was eine Ballonmütze und keinen Kragen trägt, jenes  gestaltlose und vielgestaltige feindliche Etwas, das uns bösartig aus tausend  Augen anstiert, wenn wir lärmend und lachend, die weiße Mütze auf dem Ohr und  die Zigarette im Mund, bei Schichtwechsel durch die Straßen gehen.
  Gewiss, — wir stehen in  Opposition zu allem, was von Erwachsenen gemacht wird, und unsere boshafte Kritik  macht selbst vor so ernsten Dingen wie Endsieg und Vaterland nicht halt. Denn  es sind ja Eltern und Pauker, die uns die Hochachtung vor diesen Dingen  eintrichtern wollen. Aber deshalb Revolution?
  Die dumpfe Angst vor dem  Haufen, der siedende Schreck vor der Ungewissheit unserer Zukunft und die  selbstverständliche Sympathie für Bügelfalte und Oberhemd machen uns zu  klassenbewussten Bürgern.
  Freiheit? Wir denken nicht  „Freiheit, die ich meine" sondern „Weh' denen, die den ewig Blinden des  Lichtes Himmelsfackeln leihen." Wir sind die Feinde der Revolution, weil  sie von Latjern gemacht wird.
  Wir gehen durch den dunklen  Abend des neunten November zur Stadt zurück. Schweigend, fröstelnd.
  Plötzlich fängt jemand an zu  singen. Das tun wir sonst nie. Wir sind viel zu erwachsen dazu, und wir  genieren uns. Aber einer nach dem andern fällt ein, der Gesang wird lauter, wir  schreien uns unsere Beklemmung von der Seele: „O Deutschland hoch in  Ehren" und „Lieb' Vaterland magst ruhig sein".
  Wir haben Angst vor den  Latjern, und nun sagen wir Vaterland.
  Wir sorgen uns um unsere  Zukunft, und nun singen wir „Einigkeit und Recht und Freiheit".
  Wir fahren mit der Straßenbahn  durch die Stadt. Offiziere ohne Kokarden und Achselstücke drücken sich scheu  an den Häuserwänden vorbei. Ein Schwarm Arbeiter brüllt die Internationale,  die Augen des Straßenbahnschaffners leuchten irrsinnig, er nennt alle Menschen  „Du". Wir stehen abseits und fühlen stolz unsere Abseitigkeit.
  An diesem Abend tritt an die  Stelle von Endsieg und Vaterland eine dritte Größe: „Ruhe und Ordnung".
  Darauf eine Leere von acht  Tagen. Dann fängt die Schule wieder an. Die erste Stunde ist Religion. Dr.  Krüger kommt und ignoriert die Revolution: „Wir waren bei der Scholastik stehen  geblieben."
  Lange bekommt einen  Anschnauzer, weil er immer noch nicht den ontologischen und den kosmologischen  Gottesbeweis auseinander halten kann. Es ist alles wie sonst. Dr. Krüger ist  uns nicht sympathisch, er ist ein kluger, kalter und boshafter Mensch. Aber  heute sind wir ihm uneingestanden dankbar, denn er hat uns den Glauben an  unsere Zukunft wiedergegeben.
  Die Schule geht weiter, die  Revolution ist also nicht das Chaos, wie uns immer gesagt worden ist. Es wird  wohl alles nicht so schlimm werden.
  Und es ist ja dann auch nicht  so schlimm geworden.
In den nächsten Monaten ist  immer etwas Neues los: ein Demonstrationszug löst den andern ab, Streiks, Krach  in der Stadtverordnetenversammlung, Frauen schlagen sich vor den Bäckerläden  um Brot, republikanische Soldatenformationen werden gebildet und gleich darauf  wieder aufgelöst.
  Hin und wieder wird  geschossen. Die Gründe sind niemals so recht klar. Es fallen auch Opfer. Meist  unschuldige. Unsere Waschfrau, eine Frau von über sechzig Jahren, gerät auf dem  Bahnhofsplatz in die Garbe eines Maschinengewehrs, das dort die Gegend  bestreicht. Sie wird wie ein Sieb durchlöchert, und ich nehme zur Kenntnis: die  Revolution mordet alte Frauen.
  Im übrigen hat der Latjer  gesiegt; er beherrscht die Straße. Viel mehr aber auch nicht: Behörden und  Gerichte arbeiten wieder, nachdem wegen der Besetzung des Polizeipräsidiums  durch Truppen des Arbeiter- und Soldatenrats die Lebensmittelversorgung einige  Tage geruht hat. Man spricht viel von Sozialisierung und Enteignung, doch wir  Primaner lächeln überlegen dazu, denn die Revolution hat schon jetzt ihre  Schrecken für uns verloren. Aber es ist ein ewiges Hin und Her, und man kommt  nicht zur Ruhe.
  In der Stadt Halle an der  Saale haben sich schon von jeher alle sozialen und politischen Bewegungen  besonders scharf ausgeprägt. Kaum in einer zweiten deutschen Stadt stoßen die  gesellschaftlichen Extreme so unmittelbar auf einem engen Raum gegeneinander.  Schon äußerlich: es gibt keine abgeschlossenen vornehmen Viertel. Der Weg zu  den Villenstraßen führt durch ein Arbeiterviertel; der „Volkspark", das  Zentrum der meisten proletarischen Organisationen, liegt nur wenige Schritte  von einem Diakonissenhaus und den Häusern einiger vornehmer studentischer Korps  entfernt.
  Ein ungeheures  Industrieproletariat ist rings um die Stadt angesiedelt: im Süden nebelt das  Leuna-Werk mit seinen gelben Rauchschwaden. Die Schacht- und Fabrikanlagen des  Geiseltals ziehen sich endlos und ohne
  Unterbrechung durch eine verwüstete  Landschaft. Zahlreiche Kalischächte, die Kupfergruben der Mansfeld A.-G.,  Zuckerfabriken, Maschinenindustrie, Papierfabriken geben einigen  Hunderttausend Arbeitern Brot.
  Und Halle ist gleichzeitig der  Sitz vieler großer Konzernverwaltungen. Generaldirektoren und Bankiers haben  hier ihre luxuriösen Villen, von deren Fenstern aus man wieder auf öde, graue  Proletarierstraßen sieht. Behörden und Gerichte, Schulen und die Universität  sorgen für ein ganzes Heer von Beamten. Die Universität wird im Frühjahr des  Jahres 1919 von tausenden ehemaligen Offizieren besucht, die nun einen  bürgerlichen Beruf ergreifen wollen.
  Dies alles drängt sich auf  einem schmalen Raum zusammen, der von der Saale und dem riesigen  Bahnhofsgelände begrenzt wird, und der in seiner größten Ausdehnung nur etwa  drei Kilometer breit ist.
  In dies Gewirr von Hass,  Unruhe, Verbitterung und wahnsinniger Hoffnung wird an einem Märztage des  Jahres 1919 die Nachricht geschleudert, dass das Freiwillige Landesjägerkorps  unter Führung des Generals Maerker
  in einigen Stunden von  Braunschweig aus heranrücken wird, um die Stadt zu besetzen. Ich höre dieses  Gerücht an einem Nachmittag in der Stadt und fühle ein angenehm aufregendes  Gruseln, denn ich weiß, das bedeutet Kampf und Blut. Und ich bin siebzehn Jahre  alt und fühle nichts außer dieser nicht unangenehmen Erregung.
  Aber ich frage mich doch,  warum dieser Einmarsch notwendig ist. Wir haben einen Streik. Gut, aber den  haben wir fast alle Tage. Der Latjer beherrscht die Straße. Aber das ist ja  doch der Sinn der Revolution? Was heißt nun das: „Regierungstruppen"? Ich  denke, „Regierung" und „Latjer" ist dasselbe? Ich verstehe nicht,  was das Landesjägerkorps in Halle will, aber sein Führer ist ein General, der  weiß, ob der eventuelle Erfolg dieser Besetzung den Einsatz lohnt. Und ich  freue mich auf die Landesjäger.
  Die Stadt ist nicht wieder zu  kennen. Es regnet, aber die Straßen sind gedrängt voll. Jeder Torweg, jede  Seitenstraße speit neue Menschenmengen aus. Und das drängt und presst sich in  den Hauptstraßen zusammen, geht wie unter einem übermächtigen Zwang bald in  diese, dann in jene Richtung. Bleibt stehen, drängt sich weiter.
  Die Geschäftsleute schließen  ihre Läden, der Verkehr ruht am frühen Nachmittag, und man hört nichts als das  Schleifen und Stampfen der Schritte auf dem schwitzenden Pflaster. Und ein  undeutliches, entsetzlich aufregendes Gemurmel. Hin und wieder steigt aus  einer Ansammlung ein Fluch auf. Oder ein Schrei. Ich sehe drohend gereckte  Fäuste, und das Herz klopft mir im Halse...
  Durch diese unheimlich  bewegten Straßen geht ein Herr. Hohe schwarze Lacklederstiefel, an denen Sporen  klirren, ein feldgrauer Zivilrock, eine Reitpeitsche mit silbernem Griff in  der Hand, das Einglas im Auge, und betrachtet interessiert die Menge.
  „Um Gotteswillen!" Ich  schreie es unwillkürlich laut, als ich diesen Wahnsinnigen bemerke, dessen  Gesicht wie festgebügelt in den Falten verächtlicher Arroganz liegt.
  Einer sieht ihn an, ein  anderer, — und plötzlich stürzt sich eine Menschenmenge auf den Herrn mit der  Reitpeitsche. Der stutzt einen Augenblick, zieht eine Pistole, ein Schuss  knallt, und in langen Sätzen rast er die
  Straße hinunter auf die  Anlagen am Saaleufer zu.
  Ich sehe nicht, was aus ihm  wird. Mir wird schwindlig. Ich höre aus der Ferne verworrenes Geschrei und  gehe still und schnell nach Hause.
  Es ist ein Oberstleutnant, den  der General Maerker, offenbar in völliger Verkennung der Sachlage, in dieser  Maskerade in die Stadt geschickt hat, um die „Stimmung zu sondieren". Man  hat ihn auf der Saalebrücke eingeholt, wo er von zwei Kugeln getroffen niedergesunken  ist. Man hat ihn in den Fluss geworfen und weiter nach ihm geschossen, bis er  unterging.
  Einige Monate später werden  zwei Arbeiter wegen dieser Tat zum Tode verurteilt.
  Die Landesjäger rücken ein.  Man drängt sich um die Einziehenden. Johlen, gellendes Pfeifen, Steinwürfe und  Schüsse.
  Ein Proviantwagen hat sich  verfahren. Plötzlich steht er mitten auf dem Marktplatz in einer tobenden  Menge. Man stutzt einige Sekunden, — unter einem einzigen irrsinnigen  Aufschrei schnellt die Menschenwoge über dem Wagen zusammen. Man schlägt die Bemannung  tot wie räudige Hunde. Noch tagelang steht der zertrümmerte Wagen auf dem  Markt. Einige große, dunkle Flecken auf dem Pflaster bleichen bald im Regen.
  Blutgeruch umnebelt die  Gehirne. Singende, johlende, pfeifende Menschen ziehen durch die  Hauptgeschäftsstraße. Es sind Frauen darunter, denen sich der Zopf auf dem  Kopf gelöst hat, und die mit fast rhythmischen, ekstatischen Sprüngen die  Menge begleiten.
  Plötzlich klirrt ein Fenster.  Ein Delikatessengeschäft wird gestürmt. Schinken, Konserven, Wein- und  Sektflaschen werden herausgereicht, ein wüstes Gebalge um die Trophäen beginnt.  Mehl stäubt auf. Einige fallen, weil sie auf Speckseiten ausgeglitten sind, die  im Rinnstein liegen. Man trinkt.
  Der Laden ist leer.  Zerbrochene Tische und Regale liegen in den Schaufenstern. Nebenan ein  Hutladen. Es wird geplündert. Juwelengeschäfte, Restaurants,  Teppichhandlungen. Haus bei Haus, Laden bei Laden. Die Glasscherben liegen  zentimeterhoch auf dem Pflaster.
  Dann schlagen aus einem  Warenhaus Flammen hervor, Schüsse knallen irgendwo, und der Vernichtungsrausch  dauert die ganze Nacht.
  Die Landesjäger haben ihr Ziel  erreicht: jeder weiß jetzt, dass ihr Erscheinen dringend nötig war, um das  Chaos zu verhüten.
  Ich kann in der Nacht nicht  schlafen. Das scheppernde Gezänk der Maschinengewehre macht mich verrückt. Eine  ungeheure, sinnlose Erregung überkommt mich. Ich schleiche mich heimlich aus  dem Hause. Gehe an jungen Burschen vorbei, die das Gewehr an einem Bindfaden  über der Schulter hängen haben.
  Die Truppen haben sich in der  Hauptpost verschanzt. Von dort kommt das Feuer, das von allen  gegenüberliegenden Dächern erwidert wird. Ich unterscheide Pistolen- und Gewehrschüsse  und den dumpfen Krach krepierender Handgranaten. Dann ein Donnerschlag, der  die Straße zittern lässt: Aus der Hauptpost wird mit schweren Minen auf das  Stadttheater geschossen, wo sich die Arbeiter festgesetzt haben.
  Es sind viele Menschen auf den  Straßen. Bürger wie ich. Sie drängen sich im trüben Licht der Straßenlaternen  an den Ecken, halten die Ohren gierig in das Dunkel und lauschen auf den Lärm  des Gefechts. Bewaffnete Arbeiter kommen an uns vorbei. Wir sind so viele, dass  wir sie mit Leichtigkeit entwaffnen könnten, aber keine Hand rührt sich: der  Bürger ist noch nicht erwacht.
  In den frühen Morgenstunden  gehe ich nach Hause, klettere über die Gartentür und bin mit einem Schwung in  meinem Zimmer. Erschöpft, nicht von der Nachtwache sondern von dem Blutrausch  der Stadt, schlafe ich bis in den hellen Morgen.
  Es war wunderschön. Denn ich  bin ein gebildeter Mensch und habe einen ästhetischen Genuss an der  entfesselten Wildheit menschlicher Leidenschaften. Wie ich aufstehe, geht mir  der Sophokles-Vers im Kopf herum: „Vieles Gewaltige lebt, doch nichts ist  gewaltiger als der Mensch."
  Die Straßen zeigen die  lähmende Erschlaffung eines Neujahrsmorgens. Die wenigen Spaziergänger haben  rote Augen und sind unrasiert. Alles ist ruhig, es fällt kein Schuss mehr.  Abteilungen von Landesjägern ziehen demonstrierend durch die Straßen.
  Die geplünderten Läden werden  schon mit Brettern verschalt. Sie werden bald wieder aufgemacht werden.
  An einen solchen  Bretterverschlag kleben ein paar Soldaten ein buntes Plakat an: Ein idealisierter  Kleinbürger mit achtundvierziger Schlapphut und edlen Zügen schleudert eine  Handgranate gegen ein kriechendes rotes Untier, das sich über einen  einstürzenden Häuserblock wälzt. Darunter steht mit grellroter Schrift:  „Bürger erwache!" Und dann die Adresse eines neu gebildeten „Freikorps  Halle" und einer Einwohnerwehr.
Wie ich am nächsten Morgen zur  Schule gehen will, treffe ich Döring. Er ist ganz aufgeregt: „Ich will nur  noch zur Penne, um mich auf vier Wochen abzumelden. Ich gehe zum  Freikorps."
  Ich beneide ihn glühend:  „Wirst du denn auch angenommen?" frage ich zweifelnd.
  Döring lacht verächtlich: „Ein  Kompanieführer ist ein Bundesbruder von mir aus dem Wandervogel. Willst du  nicht auch mit?"
  Ich werde ganz rot vor  Erregung: „Meinst du, dass das geht?"
  „Selbstverständlich, ich werde  das schon machen."
  In der Schule geht dann alles  viel leichter, als wir es uns gedacht haben. Wir melden uns bei Professor Sorge.  Er ist ein feiner Kerl, ein schwerfälliger Mensch, der zudem noch stark  schwerhörig ist. Aber trotzdem machen wir in seinen Stunden keine Dummheiten,  wir haben ihn gern, und er imponiert uns. Viel-
  leicht deswegen, weil er im  Feld Bataillonskommandeur war und den Hohenzollern hat, vielleicht auch nur  deshalb, weil er jetzt schwer krank sein soll.
  Er versteht nicht recht, was  wir von ihm wollen. Dann starrt er eine Weile vor sich hin und sieht uns so  merkwürdig an, dass uns etwas unbehaglich wird. Er zuckt seufzend die Achseln  und wendet sich ab.
  „Sprechen Sie mit dem  Direktor!" brüllt er uns dann plötzlich an.
  Der empfängt uns liebevoll,  sieht uns mit seinem militärischsten Blick prüfend und ernst an, legt mir  schwer die Hand auf die Schulter und kräht schneidig: „Machen Sie meiner Anstalt  Ehre!"
  Wir verbeugen uns höflich und  gehen. Wir sind fünf Mann, die ins Freikorps eintreten wollen. Auch ein Jude  ist dabei. Er hat rote Haare und schwarze Fingernägel und heißt Waldmann.  Döring ist ganz erregt: „Das geht natürlich nicht. Juden können sie da nicht  gebrauchen." Aber wir wissen nicht, wie wir Waldmann loswerden sollen.
  Die Kompanie, bei der wir uns  melden wollen, liegt draußen in einer Brotfabrik in der Nähe der  Artilleriekaserne. Der Posten vorm Tor lässt uns passieren. Döring geht vor und  kommt nach einer Weile wieder. „Leutnant Roth heißt er!" flüstert er  wichtig. Und wir stehen bald darauf in einem kahlen Zimmer vor einem schlanken  jungen Mann. Ein schmales energisches Gesicht. Er trägt keine Achselstücke.
  Er wendet sich zuerst an  Waldmann: „Sie wollen bei uns eintreten?"
  Waldmann bejaht schüchtern.
  „Sind Sie ausgebildet?"
  Waldmann lächelt verlegen und  wendet sich zu uns, aber wir können ihm auch nicht helfen. Also sagt Waldmann  leise „Nein".
  „Dann können wir Sie hier  nicht brauchen," sagt Leutnant Roth kühl. „Da müssen Sie sich bei der  Einwohnerwehr melden."
  Waldmann dreht sich linkisch  um und verschwindet. Wir anderen werden angenommen.
  „Holen Sie sich Ihre  Zahnbürsten von zu Hause und kommen Sie am Nachmittag wieder her."
  Wir bekommen einen Ausweis, dass  wir Angehörige des Freikorps Halle sind. Draußen auf der Straße schlagen wir  uns gegenseitig auf die Schulter vor Freude und rennen den
  langen Weg nach Hause, denn  die Straßenbahnen fahren noch nicht wieder.
  Zu Hause nimmt man meine  Mitteilung mit gemischten Gefühlen auf. Mein Onkel, bei dem ich in Pension bin,  fühlt sich eigentlich meinen Eltern gegenüber verantwortlich, aber er kann mich  ja so gut verstehen. Er stellt mir sogar seine Reitstiefel zur Verfügung, die  er im Felde als Divisionspfarrer getragen hat. Schon früh am Nachmittag bin ich  wieder in der Fabrik.
  Ich bekomme einen Stahlhelm,  Uniform, Karabiner, Patronen, Handgranaten und ziehe mich langsam um. Ich weiß  mit dem Karabiner nicht Bescheid und fingere verlegen am Schloss herum. Ein  Kamerad beobachtet mich und zeigt mir gutmütig die nötigen Handgriffe. Zur  Probe lade und sichere ich. Es gelingt mir auch, das Schloss auseinander zu  nehmen, und ich fühle mich nun als kompletter Soldat. Von zehn bis zwölf soll  ich sogar schon Posten stehen vorm Fabriktor.
  Wir liegen auf Strohsäcken in  einem Speicher über den Kontorräumen der Fabrik. Es ist furchtbar heiß, denn  nebenan sind die Backöfen. Alles ist weiß von Mehlstaub, und überall stehen und  liegen Waffen herum. Mein Strohsack liegt dicht neben einer Kiste mit  Stielhandgranaten. Diese Nachbarschaft ist mir unheimlich, aber ich bezwinge  meine Furcht, da ich sehe, wie sachlich und unbekümmert hier jeder mit den  Waffen umgeht.
  Mir gegenüber spielt ein  junger Mensch in der Uniform eines Fähnrichs zur See mit einer riesigen  Artilleriepistole. Er beugt seinen Kopf tief über die Waffe, die er anscheinend  sehr interessant findet. Plötzlich geht der Schuss los. Die Kugel schlägt dicht  heben der Handgranatenkiste in einen Mehlsack. Einige schimpfen, die meisten  lachen. Ich bin blass vor Schreck geworden, schäme mich darüber und lache daher  um so lauter mit.
  Es ist ein ewiges Kommen und  Gehen. Viele von den Leuten kenne ich von früher her, bevor sie eingezogen  wurden oder als Fahnenjunker eingetreten sind. Es sind junge Kaufleute, Studenten,  Schüler, die in einem Kriegsteilnehmerkursus das Abiturium erreichen wollen.  Nur ganz vereinzelt ist ein älterer Mensch dazwischen. Meist ein ehemaliger  aktiver Unteroffizier, der sich noch nicht an das bürgerliche Leben gewöhnen  kann.
  Offiziere werden in unserer  Kompanie aus irgendwelchen Gründen nicht eingestellt. Die gehen alle zur  ersten. Dort ist es, wie man Hinsagt, furchtbar fein. Die Leute nennen sich  alle „Herr Kam'rad" und „Sie", und wer nicht mindestens das E. K. I  hat, wird nicht für voll angesehen. Bei uns ist es viel gemütlicher.
  Und schon aus den ersten  Gesprächen erfahre ich zu meinem nicht geringen Stolz, dass unsere — die zweite  — Kompanie sich als eine Herde entschlossener und verwegener Kämpen eines sehr  guten Rufes erfreut.
  Bei uns wird auch viel  getrunken: zum Abendbrot bekommen wir außer einem halben Pfund Butter, das bis  morgen reichen muss, und einem Pfund Wurstkonserven pro Mann einen viertel  Liter Schnaps, der wie Feuer die Kehle hinunterläuft. Ich kann ihn nicht  trinken und verschenke meinen Anteil.
  Brot liegt überall herum. Aber  wir essen nur ganz frisches, das wir uns immer direkt aus den Backstuben holen.  Es wird nämlich sehr schnell hart in der Hitze unseres Speichers, und dann  wirft man es fort. Auch Butter haben wir zuviel: mein Nebenmann schmiert  aufmerksam sein Gewehrschloss damit.
  Ich habe lange nicht so gut  gegessen, denn zu Hause ist es immer noch knapp, und der gelbe amerikanische  Speck ist ein seltener Leckerbissen.
  Mit Webach zusammen, jenem  jungen Menschen, der mir vorhin so liebenswürdig die Geheimnisse des  Gewehrschlosses erklärt hat, beziehe ich den Posten vor dem Tor. Es ist totenstill  auf der Straße. Nur dann und wann gellt in der Ferne ein Schuss. Weiße und  grüne Leuchtraketen steigen und fallen. Die Straßen sind von acht Uhr an für  Zivilpersonen gesperrt, und wir haben darauf zu achten, dass kein Unbefugter  dieses Verbot überschreitet.
  Es ist sehr langweilig, so  sinnlos vor dem Tor zu stehen. Auch das beseligende Gefühl, eine richtige  Uniform anzuhaben, kann darüber nicht weghelfen. Es sieht mich ja doch kein  Mensch. Webach gähnt und legt sich im Torweg schlafen. Ich soll ihn wecken,  wenn etwas passiert.
  Ich fühle süß die  Verantwortung für die Kameraden, die jetzt auf dem Speicher schlafen, und  meine Hände krampfen sich um den Schaft des Karabiners.
  Eine halbe Stunde vergeht,  Abteilungen, die
  zu irgendwelchen  Unternehmungen in die Stadt marschieren, kommen vorbei. Ich beneide sie  glühend. Sie dürfen etwas erleben, dürfen vielleicht sogar schießen! Aber ich  gehöre doch zu ihnen, ich rufe ihnen mit möglichst tiefer Stimme „Viel  Vergnügen" zu, wenn sie vorbeigehen, und mir wird freundlich geantwortet.
  Die Zeit vergeht sehr langsam.  Webach kann nicht schlafen, und wir unterhalten uns. Ich frage schüchtern nach  dem Kompanieführer.
  „Eine dolle Nummer," sagt  Webach anerkennend, „er heißt eigentlich gar nicht Roth, sondern irgendwie  anders. Studiert hier Jura. Aber er hat von Noske die Erlaubnis bekommen, sich  Roth nennen zu dürfen, weil er damals Ferchland verhaftet hat."
  Noske, — das ist für mich ein  ferner Begriff, ein mächtiger Mann, der den Soldaten machen lässt, was er will,  und wozu er gerade Lust hat. Noske ist ein feiner Kerl, wenn er auch nur  einfacher Arbeiter gewesen ist. „Ein tüchtiger Mann," sagt Webach. Dann  sprechen wir weiter über Roth.
  Ich weiß nicht so genau  Bescheid, aber ich hüte mich, etwas davon zu sagen. Ich weiß nur soviel, dass Ferchland  in Halle Vorsitzender des
  Arbeiter- und Soldatenrats  gewesen ist, und in Webachs Erzählungen sieht er wie ein wahrer Satan aus. Das  Tollste ist, dass er in der Uniform eines Felddivisionspfarrers nach Berlin gefahren  ist, als man ihn hier verhaften wollte. Aber Roth hat ihn doch erkannt, und  darum darf er sich jetzt Roth nennen. Mir ist das nicht recht klar, aber es muss  wohl stimmen.
  Während wir uns noch so  unterhalten, geht plötzlich ein Höllenlärm los. Ich habe solch entsetzliches  Krachen noch nie gehört. Ein Knattern und Prasseln, dass das Pflaster dröhnt.  Es kommt aus der Richtung der Artilleriekaserne. Webach stürzt in den Torweg  und schreit „Alarm!"
  Nach wenigen Sekunden steht  die Kompanie im Hof. Immer noch dieser wahnsinnige Lärm, der immer mehr  anschwillt. Aus allen Richtungen krachen jetzt Schüsse. Die Kompanie rast im  Laufschritt an uns vorbei. Wir hören die Nagelstiefel noch eine Weile klappern,  dann sind unsere Leute im Dunkel verschwunden.
  Plötzlich verstummt das Schießen  und Krachen, aber irgendwo kommt immer wieder ein hastiges Gewehrfeuer auf.  Webach und ich lauschen schweigend am Fabriktor. Es muss wohl ein Angriff auf  die Kaserne gewesen sein.
  Nach einer halben Stunde kommt  die Kompanie zurück, und wir erfahren, was geschehen ist: morgen sollen  zwanzig Unteroffiziere des Artillerieregiments, die seit der Revolution  tatenlos in der Kaserne herumsitzen, entlassen werden. Sie haben eine große  Abschiedsfeier veranstaltet, und als alle mehr oder weniger betrunken waren,  fingen sie an, Dutzende von Handgranaten unter Gejohl und Gelächter auf den  Kasernenhof zu werfen. Wir halten das für einen sehr guten Witz und freuen uns  schon darauf, dass morgen oder übermorgen im Generalanzeiger etwas von einem  wilden Handgranatenkampf in der Nähe der Artilleriekaserne zu lesen sein wird...
  Ich kann in dieser ersten  Nacht nicht schlafen. Fortwährend schnallen sich Leute die Koppel um, stoßen an  polternd umfallende Karabiner und gehen fort. Andere kommen wieder. Die  Zurückbleibenden lärmen und lachen. Einige sind auch betrunken. Es werden Zoten  von so ekelhafter Gemeinheit gerissen, dass ich mir am liebsten die Ohren  zuhalten möchte. Und ich bin doch Mann und Soldat und kann etwas vertragen!
  Die Betrunkenen fangen an zu  singen. Das
  Lied vom kleinen  Schornsteinfeger, dessen Refrain johlend mitgesungen wird. Dann den kleinen  Kesselflicker. Sie kommen mit den Strophen durcheinander, werden von schweinischen  Zurufen unterbrochen, schimpfen, fangen wieder von vorne an...
  Endlich sinke ich in einen unruhigen  Halbschlummer, aus dem mich schon nach kurzer Zeit das stampfende Dröhnen der  Knetmaschinen aufweckt, die nebenan in Gang gebracht werden.
  Wir trinken Kaffee, und dann  gibt es so eine Art Appell, zu dem viele verspätet oder überhaupt nicht antreten.  Der Unteroffizier, der die Kompaniegeschäfte besorgt, liest langweilige Sachen  vor, auf die niemand hört. Dann wird die Parole ausgegeben, die für den Tag und  die kommende Nacht gelten soll. Der Unteroffizier liest geschäftsmäßig:
  „Parole Noske — Antwort  Scheißkerl!"
  Die Kompanie wiehert vor  Entzücken, und ich geniere mich, weil ich bisher eine Paroleausgabe für eine  ernste und feierliche Sache gehalten habe.
Nach vierundzwanzig Stunden  sind wir Pennäler akklimatisiert. Wir sind Revolutionssoldaten, die sich in  nichts mehr von den anderen unterscheiden.
  Da ist Scheele. Er ist fast  ein Jahr älter als ich. Sein Vater ist Universitätsprofessor. Ich habe ihn  immer mit einer gewissen Scheu betrachtet, denn er ist der eleganteste Mensch  aus dem ganzen Gymnasium. Sein Benehmen ist stets von einer  selbstverständlichen Vornehmheit gewesen, einer Sicherheit und Ruhe, die mir  imponiert. Darum erschüttert es mich geradezu, zu sehen, wie Scheele, auf  seinem Strohsack sitzend, schlürfend und schmatzend den Griessbrei löffelt, den  es zu Mittag gibt. Zu allem Überfluss, rülpst er dröhnend, als er fertig ist,  und gießt den Rest seines Napfes ins Klosett.
  Ein anderer sitzt auf einem  Mehlsack und bohrt sich in der Nase, dann spuckt er kräftig auf den Fußboden.  Gestern hat er sich mir mit den Worten vorgestellt: „Von der Osten, — Kadett  jewesen."
  Ich habe mir nie etwas aus dem  Kartenspielen gemacht, aber als mich ein älterer Kamerad — Ritter heißt er  und ist Student — zum Skat auffordert, sitze ich den ganzen Nachmittag und  spiele Skat. Wären nicht die Stunden am Tage, wo ich mit entschlossenem  Gesicht und drei Handgranaten am Koppel vorm Tor Posten stehe, dann wäre mir  die Soldatenspielerei schon langweilig geworden. So aber fühle ich die  bewundernden und ängstlich-respektvollen Blicke der Vorübergehenden und genieße  den Triumph, etwas zu sein. Schade nur, dass die Fabrik soweit außerhalb der  Stadt liegt. In diese Vorstadtstraßen verirrt sich keiner meiner Bekannten,  denen ich mich gern in meiner neuen Würde gezeigt hätte.
  Dafür gibt es aber andere  Genüsse. Gegenüber der Fabrik liegt ein riesiger Häuserblock mit  Arbeiterwohnungen. Eins der grausigsten und lähmendsten Stadtbilder, die man  sich denken kann. Es kommen viele Latjer vorbei, und es ist ein unerhörter Genuss,  wenn man ihnen näselnd und ganz wie nebenbei zurufen kann: „Weitergehen! Nicht  stehen bleiben!"
  Sie sehen einen dann hasserfüllt  von der Seite an; man fühlt, sie möchten sich widersetzen, aber ein zögernder  Schritt auf sie zu, — und sie weichen zurück.
  Diese Augenblicke entschädigen  für manche Demütigungen, die man auf der Schule erfahren hat, und für die  trostlose Langeweile, die sich oben auf unserem Mehlspeicher ausbreitet,
  Noch schöner ist es, wenn man  in geschlossener Truppe durch die Straßen geht. Man fühlt seine Beine gar  nicht, man sieht starr durch die armen Menschen hindurch, die sich auf dem  Bürgersteig drängen und krampfhaft ein unschuldiges Gesicht machen, wenn sie  unsere Waffen sehen. Wir sind eben wer. Und wenn wir auch scheue und  schwächliche Gymnasiasten sind, junge Kaufleute, die von einem schmierigen  Chef angeschnauzt werden, arme Studenten, die oft hungern müssen, lächerliche  Kleinbürger, die Desperado spielen, — die Uniform deckt alle unsere Schwächen  zu, und der Nebenmann gibt einem das Gefühl von GröÂße und unüberwindlicher  Stärke.
  In solchen Momenten wachse ich  über mich hinaus, lege mein Gesicht in energische Falten und bin stolz und  wunschlos glücklich.
  Es ist nicht zu leugnen: es  gibt wenig oder nichts für uns zu tun. Die revolutionären Energien des  Proletariats haben sich mit jenen ersten Schüssen auf die Landesjäger, mit der  sinnlosen Nacht der Zerstörung erschöpft. Wir sprechen nicht darüber, aber vor  uns allen steht wie ein Gespenst die Aussicht, dass dies nun eines Tages vorbei  sein wird, dass wir wieder als Primaner ins Gymnasium gehen und uns über Dr.  Krügers Malicen ärgern müssen.
  Deshalb suchen wir krampfhaft  nach Gelegenheiten, bei denen wir uns selbst bestätigen können. Besonders am  Abend wächst unsere Unternehmungslust. Dann wird z. B. ein Maschinengewehr auf  dem Dach des Speichers eingeschossen. Der Lauf ist dorthin gerichtet, wo keine  Häuser stehen sollen. Genau weiß man zwar nicht, ob es dort nicht doch Häuser  gibt, aber das ist gleichgültig: auf alle Fälle hört es sich schauerlich an,  wenn die engen Straßen das Dröhnen des M.G.s verhundertfacht wiedergeben.
  Oder es werden Patrouillen  gegangen. Zehn oder sechzehn Leute machen sich marschfertig, dem Rangeltesten  wird das Kommando übertragen, und sie marschieren los. Irgendwohin
  in die Stadt. Aufträge gibt es  nicht zu erfüllen, und so lautet die Weisung meist nur dahin, sie sollten  sehen, wo etwas los ist.
  Wir marschieren durch öde  Straßen, treffen auf Patrouillen von Landesjägern, mit denen wir uns etwas  erzählen, gehen in eine Kneipe, deren Wirt wir aus dem Bett trommeln, und  zechen. Oft enden diese Patrouillen auch im Schlamm, wie die Bordellstraße Halles  heißt. Das ist zwar streng verboten, denn — so ist uns gesagt worden — dort  wurde neulich ein Oberjäger des Korps Maerker mit durchschnittener Kehle auf  der Straße gefunden. Aber gerade diese unheimliche Aussicht reizt zu einem  Besuch.
  Manchmal suchen wir auch  nachts nach Waffen. Da kommt ein Posten angstbleich und empört auf den  Speicher gestürmt und berichtet, auf ihn sei eben aus einem Fenster der Schmiedstraße  geschossen worden. Alarm. Im grellen Schein einer elektrischen Bogenlampe tritt  die Kompanie auf dem Fabrikhof an. Alles ist erregt und fiebert in der  Hoffnung auf ein Nachtgefecht. Gewehrschlösser schnappen bedrohlich auf und zu.  Dann geht es hinüber in den Häuserblock der Schmied- und Schlosserstraße.
  Es ist erst elf Uhr, aber da  die Straßen um acht Uhr gesperrt werden, ist nur noch in wenigen Fenstern  Licht. Wir schreien trotzdem: „Straße frei! Fenster zu! Vom Fenster weg!"  Und das Licht geht aus.
  Der Mann, der vor mir geht,  hebt plötzlich ohne ersichtlichen Grund sein Gewehr und schießt zu einem Haus  hinauf.
  Ein anderer schreit: „Da, da  ist geschossen worden!" Und deutet auf ein geschlossenes Fenster im  zweiten Stock. Er hat einen Feuerschein gesehen. Ich habe ihn auch bemerkt:  die Funken hat die Kugel verursacht, die unser Kamerad da hinauffeuerte. Ich  rufe es erregt den anderen zu, aber niemand hört auf mich. Das betreffende  Haus wird umstellt, der Hausmeister wachgetrommelt.
  „Aus Ihrem Haus ist eben  geschossen worden!"
  Der Alte, angstbleich, mit  hängenden Hosen und schlappenden Filzpantoffeln, leuchtet uns die zwei Treppen  hinauf. Wir gehen nicht leise, aber als wir oben angekommen sind, müssen wir  doch erst lange an die Türen klopfen, ehe uns aufgemacht wird.
  „Aufmachen!  Regierungstruppen!"
  In der einen Wohnung öffnet  eine alte Frau,
  die mit einem Schrei das Licht  fallen lässt, wie sie uns erblickt. Sie ist allein in der Wohnung, ihr Mann ist  tot. Wir glauben ihr, dass sie nicht geschossen hat. Ihr Kopf wackelt vor lauter  Erregung hin und her.
  Die andere Wohnungstür öffnet  ein alter Arbeiter, gebückt, müde und schwach. Er leuchtet uns vorauf. Wir  prallen vor einem entsetzlichen Stickgeruch zurück. In dem Zimmer nach der  Straße zu schlafen acht Menschen, Frauen, Mädchen, ein paar Kinder und ein junger  idiotischer Mann, dem der Speichel aus dem Mund läuft, und der höchst vergnügt  lacht, wie er uns bemerkt. Einige Kinder beginnen zu weinen, die Frauen  beruhigen sie und starren uns ängstlich an. Der Alte steht mit der Petroleumlampe  in der Hand demütig neben uns.
  „Hier schießt niemand,"  lächelt er müde.
  Die dritte Wohnung wird von  einem stämmigen jungen Mann geöffnet, der im Bewusstsein seiner Unschuld mit  jovialer Freundlichkeit uns in seine Stube sehen lässt. Er öffnet sogar  Schränke und Kommoden.
  „Sie müssen sich irren, meine Herren!"  sagt er weltmännisch.
  Aber wir sind trotz unserer Misserfolge  noch nicht überzeugt. Die anderen suchen weiter. Ich gehe die Treppen hinunter  und gelange statt auf die Straße auf den Hof. Wie ich durch den Torweg  hinausgehen will, stoße ich an eine Tür. Ein schwacher Schrei, und die Tür wird  aufgerissen.
  Ein phantastischer Anblick:  der Raum ist fast kahl. In der einen Ecke ein unbestimmbares Lager, ein Tisch  mit einer Karbidlampe, zwei Stühle, ein Herd.
  Und mitten im Zimmer eine  junge Frau. Ihre langen schwarzen Haare hängen offen über ihren Rücken herab.  Ihre Augen weiten sich vor Entsetzen, wie sie meinen Helm und meinen Karabiner  sieht. Sie hebt in einer fast irren Gebärde der Verzweiflung — so wie man sie  manchmal auf primitiven Holzschnitten sieht — ihre Arme und stöhnt, stöhnt so  entsetzlich, dass es mir heiß und kalt über den Rücken läuft. Dann springt sie  mich an:
  „Wo habt Ihr ihn? Wo habt Ihr  ihn? Ihr Mörder!"
  Ich pralle in einer  unwillkürlichen Bewegung der Abwehr zurück.
  Hinten im Zimmer fangen zwei  Kinder an zu weinen: „Vater! Vater!"
  Ich bin maßlos erschüttert.  „Das kann doch nicht wahr sein!" — dieser bittende Gedanke ist alles, was  mir zum Bewusstsein kommt. Aber es ist kein Traumbild; die Frau stürzt mit  einem Aufschrei an das Bett zu ihren Kindern und weint sinnlose Liebkosungen.
  Ich stehe mit leerem Kopf noch  den Bruchteil einer Sekunde, dann ziehe ich die Tür langsam hinter mir zu und  stürze auf die Straße.
  Morgen werden wir hier wieder  nach Waffen suchen. Aber ich gehe nicht mit. Während wir zur Kaserne  zurückmarschieren, will ich Webach von der Frau erzählen. Aber ich bringe kein  Wort über die Lippen. Ich merke, mein Bericht würde zu verworren und zu  unwirklich klingen.
  Und lange noch sehe ich die  junge Frau, die in starrer, betender Verzweiflung die Arme hebt, da sie einen  Mörder ihres Mannes zu erblicken glaubt...
Bald kommt etwas Abwechslung  in unser eintöniges Leben, denn wir beteiligen uns an der Suche nach Plünderungsgut,  das den Geschädigten wieder zugestellt werden soll.
  Die kleinbürgerliche Bosheit  feiert Orgien: fast jeder dritte Einwohner der Stadt wird von einem guten  Nachbarn durch eine anonyme Anzeige bei der Polizei denunziert, er habe sich  an den Plünderungen beteiligt. Die Polizisten, brave und etwas ängstliche Leute  trotz ihren Feldwebelschnurrbärten, finden nicht mehr durch. Vielleicht haben  sie auch Angst vor Unannehmlichkeiten und übertragen uns darum diese Arbeit.  Als nämlich die geplünderten Waren stapelweise auf den Straßen lagen, hat auch  manch unbescholtener Bürger die Hand nach fremdem Eigentum ausgestreckt. Und  man will doch schließlich einen sympathischen Mitbürger, vollberechtigtes  Mitglied ehrenwerter Stammtische, nicht gern auf Jahre ins Gefängnis bringen.  Darum wird also nun die Suche
  nach Plünderungsgut unsere Hauptaufgabe,  und wir freuen uns sehr darüber.
  Denn nun steht unsere  Daseinsberechtigung ganz außer Zweifel. Wir ziehen in Gruppen von sechs und  acht Mann durch die Stadt, hochachtungsvoll und wohlwollend von der Menge der  misera plebs bestaunt, und fühlen uns sehr wohl dabei.
  Auch die Haussuchungen selbst  empfinden wir als sehr angenehm: ernst und energisch wühlen wir in Kisten und  Kommoden herum und wärmen uns an dem ängstlichen Blick der Hausbewohner. Meist  finden wir allerdings nichts. Aber allmählich sammeln sich die beschlagnahmten  Sachen in unserem Quartier doch an.
  Das war natürlich so gedacht, dass  wir das Plünderungsgut in einem besonderen Magazin und die „Plünderer" im  Hauptpostgebäude abliefern, wo man große Keller hat freimachen müssen, um die  Menge der Eingelieferten unterbringen au können. Aber es ist ja eine Anzahl  von Delikatessenhandlungen ausgeraubt worden, eine Schokoladenfabrik und große  Weinkellereien. Und da ist es doch ganz natürlich, dass wir unsere Provision  für die wieder gefundenen Waren gleich einbehalten.
  So essen wir z. B. neuerdings  kein Brot mehr. Wir haben drei große Kisten mit Zwieback aufgestöbert, die wir  für eigenen Gebrauch behalten. Butter und Wurst auf Zwieback gestrichen ist  ein sehr gutes Essen. Auch Schnaps bekommen wir jetzt jeden Tag. Einige Zehnliterballons,  die aus einer Brennerei stammen, haben wir nämlich bisher noch nicht abliefern  können. Sekt bleibt für den Herrn Kompanieführer und besonders auserwählte  Leute reserviert. Uns gelingt es nur dann und wann, ein paar Flaschen aus dem  Geschäftszimmer zu stehlen. Schokolade, Zigaretten, — wir können es uns nicht  besser wünschen.
  Dazu kommt jeden Mittag ein  großer Kessel voll Essen, das uns allmählich langweilt: Erbsen mit Speck, Griess,  Klippfisch. Die Klosetts sind verstopft. Ein See von faulendem Essen steht  zentimeterhoch in den Räumen. Wir gießen das Essen jetzt schon in einen Gully,  dessen Deckel wir eigens zu diesem Zweck entfernt haben.
  In der Stadt soll es zur  selben Zeit wieder einen Krawall gegeben haben, weil ein Kaufmann Margarine,  die er erhalten hatte, nicht sofort verkaufen wollte. In der Stadtverordnetenversammlung  wird ein Antrag auf unentgeltliche Kinderspeisung aus Mangel an Mitteln und  Vorräten abgelehnt...
  Wir gehen auf Haussuchung.  Vier Mann unter der Führung eines Unteroffiziers. Ein stiller Mensch mit einer  Hornbrille, der im dritten Semester Theologie studiert, und der deshalb in der  Kompanie weidlich aufgezogen wird. Er spricht wenig, und man weiß niemals so  recht, was er eigentlich denkt. Korbmacher heißt er, und wir mögen ihn nicht.
  In der Wohnung einer alten  Frau, die hoch in den Siebzigern sein muss, kehren wir das Unterste zu oberst.  Es riecht unerträglich nach Mottenpulver und Armut. Ein riesiger Haufe  schmutziger Wäsche, der in einer Ecke des Zimmers liegt, wird mit dem  Seitengewehr durchstochert. Wir finden nichts. Korbmacher drängt zum Aufbruch,  aber da haben wir einen kleinen pfiffigen Kerl bei uns, der sich bei  Haussuchungen immer sehr hervortut. Vöge findet immer etwas. Wie er das macht,  ist uns ein Rätsel.
  Der kommt plötzlich, als wir  schon auf dem Korridor stehen, aus der Küche gelaufen und zeigt triumphierend  ein Samttablett mit Brillantringen. Das alte Lied: die Greisin jammert, das  Tablett habe auf der Straße gelegen, Menschen wären darüber hinweggetreten, und  da habe sie es nur aufgehoben, wir sollten ihr doch um Gottes willen nichts  tun, und ihr Mann wäre Oberjäger bei den Naumburger Jägern gewesen und habe den  Krieg siebzig mitgemacht.
  Korbmacher ist die Sache  peinlich. Der kleine Vöge unterbricht das Gewimmer: „Das hilft jetzt alles  nichts, kommen Sie man mit..."
  „Half die Fresse!" brüllt  ihn Korbmacher an. „Du hast hier überhaupt nichts zu sagen, verstehst du?"
  Vöge sieht aus, als ob er dem  Theologen an den Hals gehen will, aber etwas in dessen Miene muss ihn wohl  zurückhalten, er murmelt Unverständliches und verzieht sich in das  Treppenhaus.
  Korbmacher fingert nervös an  seinem Koppel, sieht mich zögernd an, geht noch einmal ins Zimmer zurück und  kommt dann gestrafft und entschlossen wieder auf den Korridor.
  „Machen Sie doch nicht solche  Dummheiten," sagt er leise und mit niedergeschlagenen Augen. „Das ist  doch Diebstahl."
  Dann dreht er sich um, und wir  gehen die Treppen hinunter. Die alte Frau schreit schluchzend Dankesworte  hinter uns her.
  Korbmacher imponiert mir. Das  Tablett mit den Ringen hat er in Packpapier eingeschlagen und trägt es unter  dem Arm. Unten stehen Vöge und Schmidt. Wir gehen weiter in eine Nachbarstraße,  um dort eine andere Haussuchung vorzunehmen. Vöge brummt mir unterwegs zu:  „Schlapper Hund, der Korbmacher. Blöder Pfaffe! Das ist doch kein Soldat."
  Ich schweige. Was soll ich  auch sagen? Ich bin allerdings der Ansicht, Korbmacher hat sich anständig  benommen. Aber man muss ja wohl Soldat sein. Das ist im Augenblick sicher wichtiger.  Ich weiß nicht, ob Vöge recht hat, und ich wage nicht, darüber nachzudenken,  weil ich Angst vor dem Resultat meiner Überlegungen habe.
  Außerdem habe ich auch keine  Zeit dazu, denn wir stehen vor dem Hause, in dem wir bei dem Schneider Wiemann  „haussuchen" sollen. Unten vor der Tür bleibt Korbmacher stehen. Er reicht  Vöge die Ringe hin und sagt: „Geh doch bitte zum Magazin und liefere da die  Ringe ab. Es ist schon spät, und ich möchte die Dinger gerne heute noch loswerden.  Nimm dir den Schmidt mit, damit dir unterwegs nichts passiert."
  Vöge nimmt das Tablett. Es ist  ein kleines Vermögen, das er in der Hand hält. Er hat einen unsicheren Blick.  Am liebsten möchte er vielleicht Korbmacher die Ringe zurückgeben, sie sind ihm  unheimlich. Schmidt sieht mit gespielter Gleichgültigkeit die Straße hinunter.
  „Also schön!" sagte Vöge  abschließend und geht mit Schmidt davon. Korbmacher und ich steigen die Treppe  hinauf.
  Die beiden anderen kommen erst  spät in der Nacht auf den Speicher zurück...
  Wir finden bei dem Schneider  Wiemann nach langem Suchen einen großen, schweren Teppich, über dessen Erwerb  er keine glaubwürdigen Angaben machen kann. Korbmacher führt das Verhör mit  kalter Überlegenheit.
  Der Schneider ist ein kleiner,  ärmlicher Mann, der uns ängstlich betrachtet. Er muss gewarnt worden sein, denn  er hat den Teppich unter die Matratze des einzigen Bettes versteckt, das in der  Stube ist. Seine Frau sitzt in der Küche am Tisch und weint. Wir verhaften den  Schnei
  der, und er gibt sein  Portemonnaie seiner Frau, die es achtlos auf den Tisch wirft. Dann legt er sich  den Teppich auf die Schulter, und wir gehen zum Magazin in der Moritzburg.
  Der Schneider stöhnt. Er ist  ein schwächlicher Mensch, der viel hustet, und der Weg ist weit. Wir machen  unterwegs öfter halt, denn der Teppich ist schwer.
  Endlich kommen wir am Magazin  an; es ist geschlossen. Wir müssen also den Schneider zur Hauptpost bringen.  Rechts und links von uns beiden flankiert, die wir mit unbewegter Miene  geradeaus sehen, wankt der Schneider hustend und schwitzend unter seiner Last  dahin. Ich streife ihn einmal mit einem Seitenblick und wende mich gleich  wieder erschreckt ab. Denn ich habe gesehen: über sein kümmerliches kleines  Gesicht laufen die hellen Tränen. Dieser Weg zur Hauptpost, der für den  Schneider vielleicht auf Jahre hinaus der letzte Gang durch die Stadt sein  wird, reißt an meinen Nerven.
  Aber ich bin doch Soldat, und  die Plünderung war eine unglaubliche Schweinerei, und man muss es den Latjern  zeigen, dass so etwas nicht sein darf, und der Schneider weint vielleicht nur,  um unser Mitleid zu erregen, und man darf nicht schlapp sein...
  Wir sind in der Hauptpost. Ein  Wachtmeister läuft aufgeregt in einem Zimmer auf und ab.
  „Herrgott, wo sollen wir denn  mit dem Mann hin? Bei uns liegen die Leute schon übereinander, heute allein  sind dreiundachtzig Plünderer eingeliefert worden. Bei uns ist Schluss, wir  haben keinen Platz mehr. Nehmt den Mann mit zu euch, dann könnt ihr ihn morgen  direkt im Gefängnis abliefern."
  Unsere Fabrik liegt sehr weit  draußen. Wir müssen wohl eine Stunde laufen. Korbmacher schweigt. Ich helfe dem  Schneider den Teppich wieder auf die Schulter nehmen, und wir machen uns auf  den Weg zu unserm Quartier.
  Der Schneider bleibt plötzlich  unter einem neuen Hustenanfall stehen. Er schwankt und flüstert: „Ich kann  nicht mehr."
  Wir stehen gerade an einem  kleinen Grünplatz. Kein Mensch ist mehr auf der Straße. Der Schneider weint  hilflos wie ein Kind vor sich hin. Ich kann auch nicht mehr.
  „Korbmacher," sage ich  leise und bittend.
  Der schweigt und sieht starr  vor sich hin.
  Dann schreit er plötzlich den  Häftling an: „Machen Sie, dass Sie wegkommen, Sie ScheißÂkerl!"
  Der Schneider versteht nicht.  „Und der Teppich?" fragt er schüchtern.
  „Das geht Sie einen Dreck an!  Machen Sie, dass Sie wegkommen, verstehen Sie mich?"
  Der Schneider verschwindet mit  einem hastigen Satz in der Dunkelheit. Der Teppich liegt zwischen Korbmacher  und mir auf der Erde. Wir schweigen. Ich wage nicht, meinen Kameraden  anzusehen. Die Situation wird peinlich. Endlich sagt Korbmacher verlegen:  „Kommen Sie, den Teppich kann von mir aus finden, wer Lust hat. Ich bin kein  Polizeihund, ich mache diesen Mist nicht mit."
  Sonst sagen wir in der  Kompanie „Du" zueinander, und ich kann mir nicht erklären, warum ich mich  über Korbmachers „Sie" freue. Ich werfe noch einen flüchtigen Blick auf  den Teppich, der halb über einer Raseneinfassung hängt; morgen wird ihn irgend  jemand finden. Aber der kleine Schneider mit der Schwindsucht braucht  wenigstens nicht ins Gefängnis. Ich habe die Empfindung, als hätte ich eine  gute Tat getan, aber ganz wohl ist mir doch nicht zumute. Korbmacher schweigt  immer noch.
  „Sie sind Pennäler?"  fragt er mich endlich freundlich.
  Ich bejahe und überhöre den  herabsetzenden Ausdruck.
  „Wie sind Sie denn eigentlich  auf den Gedanken gekommen, ins Freikorps einzutreten?" forscht Korbmacher  weiter.
  Ich schweige verwirrt. Kann  ich denn auf diese einfache Frage keine Antwort finden? Soll ich wirklich  sagen: „Ich weiß es nicht?" Soll ich vielleicht diesem ruhigen und reifen  Menschen etwas von Vaterland und Ruhe und Ordnung erzählen?
  Ich weiß ja noch nicht, dass  ich ein Bürger bin und nach dunklen Gesetzen handle, die ihren Ursprung nicht  in klaren Überlegungen, sondern in Bindungen und Verkettungen haben, in die  ich seit Generationen verstrickt bin. Und so bleibt mir nichts, als verlegen  mit den Achseln zu zucken.
  „Hab' ich mir gedacht,"  knurrt Korbmacher. „Aber ich mach' es ja schließlich auch nicht anders, wenn  ich als einigermaßen anständiger Mensch mich zwischen diesen Banditen bewege,
  die sich Soldaten nennen. Es  ist zum Kotzen!" flucht er grimmig.
  Dann schweigen wir wieder eine  Zeitlang. Es scheint, als wäre ich für den Theologen überhaupt nicht  vorhanden, als spräche er mit sich selbst: „Ich denke, man kommt unter  entschlossene Leute, die wissen, um was es geht, und die wissen, was sie  wollen. Und ich komme unter eine Horde von Strolchen, die nichts als saufen und  fressen und huren wollen, und die sich noch einen Spaß daraus machen, die armen  Teufel von der Straße zu quälen und zu schinden."
  Ich verstehe Korbmacher nicht,  aber ich wage nicht, seinen Gedankengang zu unterbrechen.
  „Sehen Sie, die Revolution ist  eine Schande und ein Unglück, aber um sie wirksam zu bekämpfen, muss man reine  Hände und — entschuldigen Sie schon den harten Ausdruck — reine Herzen haben.  Und ich sehe unter unseren so genannten Kameraden nur Dummheit und Gemeinheit.  Wenn das die Leute sind, von denen Deutschlands Wiedergeburt ausgehen soll,  dann will ich nie wieder einen Stahlhelm aufsetzen und nie wieder Soldat  sein."
  Und dann entrollt er vor mir  in leidenschaftlichem Ausbruch ein Bild von des kommenden Reiches Größe, von  einer Volksgemeinschaft todbereiter, reiner Männer, die aufgebaut ist auf  Gleichheit und Freiheit aller ihrer Glieder: ein Gottesstaat der germanischen  Rasse von großartiger Zeitferne.
  Ich höre schweigend zu. Mir  ist diese Rede peinlich. Ich weiß nicht, ob Korbmacher recht oder unrecht hat,  aber irgend etwas in seinen Worten klingt ungehörig. Ich wittere in ihm einen  Menschen, der sich nicht mit der Wiederherstellung der früheren Zustände  begnügen will, sondern der aus dem Chaos ein neues, fremdes und feindliches  Leben erwecken möchte. Manche seiner Forderungen klingen geradezu nach  Sozialismus. Ich ziehe mich vorsichtig zurück.
  Dass er den Schneider und die  alte Frau hat laufen lassen, das hat mir imponiert, aber dass er von unseren  Kameraden, diesen wilden, trunkfesten, großmäuligen und prächtigen Burschen so  schlecht spricht, das gefällt mir nicht. Und ich beschließe: Korbmacher ist  einfach komisch; er weiß nicht, was er will. Und bei diesem abschließenden  Urteil bleibt es, solange ich Korbmacher kenne.
  Wie wir in unsere Fabrik  zurückkommen, findet gerade der Abendappell statt. Vor der Front steht ein  junger Mensch in Zivil. Ich höre flüchtig, dass er Kampf heißt und unsern  Kompanieführer wegen irgendeiner vaterländischen Tat bei der Kriminalpolizei  angezeigt hat. Er soll Student sein, und einige Leute unserer Kompanie, die  von jener Anzeige wissen, haben ihn auf der Straße verhaftet. Man sagt mir, er  soll vernommen werden.
  Leutnant Roth blättert in  seinem Notizbuch und tut, als wolle er den Appell gerade beginnen. Da wird er  von draußen abgerufen. Ein Leutnant Keller möchte ihn sprechen. Roth verlässt  den Raum.
  In diesem Augenblick gehen ein  paar Mann aus der Front heraus, packen Kampf bei den Armen, werfen ihn über  einen Mehlsack und beginnen mit zwei Stöcken auf ihn einzuschlagen. Das alles  ist das Werk weniger Sekunden.
  Kampf schreit entsetzlich. Die  meisten von uns johlen und lachen. Dann singen sie, um das grässliche Gebrüll  des Geschlagenen zu übertönen.
  Mir wird schlecht. Mir ist,  als müsste ich mich übergeben. Ich sehe undeutlich, wie ein paar
  Leute Korbmacher zurückhalten,  der auf sie einschimpft und mit Händen und Füßen gegen sie angeht. Seine  erregten Worte gehen unter in dem johlenden Gesang:
  „Argonnerwald um Mitternacht,  ein Pionier stand auf der Wacht, ein Sternlein hoch am Himmel stand, bringt ihm  einen Gruß vom fernen Heimatland."
  Ich möchte Korbmacher  beistehen, der augenscheinlich dieser wüsten Szene ein Ende machen will. Aber ich  bleibe doch auf meinem Platz. Trägheit des Herzens...
  Endlich lässt man von Kampf  ab. Er bleibt regungslos auf seinem Mehlsack liegen. Dann kollert er seitlich  herab. Korbmacher kniet neben ihm und bettet ihn auf einen Strohsack. Die  Kompanie betrachtet ihn mit hasserfüllten Blicken.
  Leutnant Roth kommt zurück.  Ein kaltes Lächeln spielt um seine dünnen Lippen: „Antreten zum Appell!"
  Kampf liegt die ganze Nacht  wie ein sterbendes Tier auf dem Strohsack. Am nächsten Morgen ist er nicht  mehr da...
Das Leben in der Stadt geht  seinen alten Gang. In allen Betrieben wird wieder gearbeitet. Man hat sich an  die Anwesenheit der Landesjäger und an die Existenz des Freikorps gewöhnt.
  Nachts sind die Straßen aber  noch für das Publikum gesperrt, und fast in jeder Nacht fallen Schüsse. In den  bürgerlichen Blättern kann man lesen, dass die aufopferungsvolle Tätigkeit unserer  braven Truppen immer noch nicht den gewünschten Erfolg gehabt habe. Immer noch  gäbe es Nester eines versteckten Widerstandes, immer noch würde von dunklen  Elementen auf die tapferen Soldaten geschossen.
  Die „Nachrichten" stellen  fest, dass es „ordentliche Arbeiter" gibt, die mit diesen dunklen Elementen  nichts zu tun haben. Das sei Mob und Lumpenproletariat. Ein anständiger  Arbeiter rücke weit von diesen Radaubrüdern ab.
  Wir wissen, wie es um die  Existenz dieser Radaubrüder steht. Aber wir haben kein Interesse daran, die  Bürgerschaft aufzuklären, sonst wäre unser Nimbus schnell dahin. Wir wollen  nicht einmal vor uns selbst zugeben, dass unsere Aufgabe eigentlich erledigt  ist. Denn wir fürchten uns davor, wieder in die absolute Bedeutungslosigkeit  von Pennälern, Studenten und kaufmännischen Angestellten zurückzusinken.
  Siegmann ist sogar bloß  Friseur, — und heute geht er stolz in der Uniform eines Husarenunteroffiziers  herum.
  Die Suche nach Plünderungsgut  verläuft bald im Sande. Man liest jetzt öfters von einem Tumultschädengesetz,  das die Kommunen für die erlittenen Schäden haftbar macht. Wir hören, dass die  Geschädigten bei diesem Gesetz viel Geld verdienen können, und es hat  infolgedessen niemand mehr ein rechtes Interesse an der Herbeischaffung der  geraubten Waren.
  Jetzt bemühen wir uns gar  nicht mehr, unsere Unterschlagungen von Spirituosen und Lebensmitteln zu  verheimlichen. Wenn wir an einem Nachmittag etwa zu Hause einen Besuch machen  und von unserem Schlemmerleben erzählen, dann lachen unsere Verwandten darüber  und finden es vernünftig von uns, dass wir uns für unsere aufopferungsvolle  Tätigkeit schadlos halten.
  Zu derselben Zeit richtet das  Amtsgericht eine Sonderabteilung ein, die sich ausschließlich der Aburteilung  von Plünderern widmet. Die Zeitungen melden Gefängnisstrafen von einem bis zu  vier Jahren, und zwanzig solcher Urteile an einem einzigen Sitzungstag sind  keine Seltenheit.
  Da es nun mit den  Haussuchungen nichts mehr ist, haben wir ein anderes Betätigungsfeld gefunden:  wir suchen nach Waffen.
  Die bedauerlichen  Ausschreitungen, die den Einmarsch der Landesjäger begleiteten, haben nämlich  bewiesen, dass es in der Arbeiterschaft noch Unmengen von Waffen geben muss. Es  tauchen Gerüchte von riesigen Waffenlagern auf, die da und dort in der Umgebung  der Stadt liegen sollen.
  Tag und Nacht sind wir  unterwegs. Einmal heißt es, dass Hunderte von Gewehren und Maschinengewehren  auf den Schiessständen der ehemaligen Garnison vergraben sind. Wir suchen  einen ganzen Tag danach und finden nichts. Wir bleiben sogar die Nacht über  draußen, weil wir damit rechnen, die Latjer würden auf die
  Nachricht von unserer  Waffensuche in der Nacht kommen und die Lager umpacken wollen. Aber sie kommen  nicht, obwohl wir die ganze Nacht mit Schussfertigen Karabinern in die  Dunkelheit hineinlauschen.
  Dann gehen wir wieder unter  der Führung eines mysteriösen Marinefeldwebels in die DöÂlauer Heide. Der  Feldwebel weiß, wo die versteckten Waffen lagern. Wir laufen einen ganzen  Vormittag in den Kiefernschonungen herum und finden nicht das Geringste.
  Eines Abends aber wird es  ernst. Leutnant Roth macht beim Abendappell sein offiziellstes Gesicht und  teilt mit, dass es endlich gelungen sei, die Waffenlager der Spartakisten zu  entdecken. Die Waffen — es soll die Ausrüstung etwa eines kriegsstarken  Infanterieregiments sein — seien sämtlich im Dorf Dölau versteckt.
  „Ich habe — wie ich weiß: mit  Eurem Einverständnis — darum gebeten, dass die zweite Kompanie diese  Waffenlager ausheben darf. Die Sache ist natürlich nicht ganz ungefährlich,  und es wird dabei sicher noch einmal zu Kämpfen kommen. Auf alle Fälle gebe ich  den strikten Befehl: Jeder Mensch, der morgen mit der Waffe in der Hand  angetroffen wird, ist ohne Gnade sofort und unbedingt umzulegen!"
  Roth schnarrt vor  Schneidigkeit, und wir erschauern unter der Feierlichkeit dieses Augenblicks  und versprechen, unser Bestes zu tun.
  Am nächsten Morgen marschieren  wir zum Dorf Dölau und umstellen es. Dann durchwühlen wir Scheunen, Ställe und  Heuschober mit den Bajonetten, stochern in Kartoffelmieten herum, durchsuchen  Gärten, — aber nach vierstündiger Arbeit ist immer noch nichts weiter gefunden  worden als ein verrostetes franzöÂsisches Infanterieseitengewehr und eine ausgeblasene  Eierhandgranate, die sich ein Arbeiter als Andenken aus dem Krieg mitgebracht  hat.
  Es wird langweilig. Nur um  überhaupt etwas zu tun, klettert einer von uns auf das Dach des  Gemeindehauses, von dem eine rote Fahne flattert. Sie wird unter Gejohl in  lauter kleine Fetzen zerrissen. Wir raufen uns um die Stücke und protzen noch  lange mit der roten Fahne, die wir vom Dach des Dölauer Rathauses heruntergeholt  haben.
  Gegen Mittag treten wir dann  einen blamablen Rückzug an. Die Dölauer betrachten unsern Abmarsch schweigend.  Wir können nichts machen gegen diesen stummen Hohn und ärgern uns sehr darüber.
  Auf unserm Rückweg — nur noch  einige hundert Meter von unsrer Fabrik entfernt — stoßen wir plötzlich auf eine  Menschenansammlung. Wir glauben, in ihrer Mitte einen Stahlhelm zu sehen, und  eilen im Laufschritt auf die Menge zu, die sich bei unserem Herannahen teilt.
  Auf dem Pflaster liegt ein  Angehöriger unserer Kompanie. Vor ihm steht ein anderer, Schiebel mit Namen,  und fuchtelt aufgeregt mit einer Handgranate in der Luft herum. Er unterbricht  sein wütendes Schimpfen, wie er uns sieht, und torkelt johlend vor Freude auf  uns zu.
  Er ist, ebenso wie der Matrose  Sonnemann, der sich auf dem Pflaster wälzt, total betrunken. Wir stellen  Sonnemann auf die Beine und nehmen die beiden, die unausgesetzt singen und  lärmen, unter die Arme.
  Aus der Menge steigt Gelächter  auf, das aber im Keim erstickt, als Roth drohend die Faust hebt.
  Vor dem Tor steht kein Posten.  Oben auf dem Speicher herrscht ein wüstes Durcheinander: überall liegen  Gewehre und Karabiner herum, die Tür zum Geschäftszimmer ist zu Splittern  zerschlagen, Mehlsäcke sind umgeworfen, die Strohsäcke mit Mehl bestäubt, und  mitten in diesem Chaos liegen die zehn Mann, die als Wache zurückgelassen  worden sind, gröÂlend, manche wie tot schlafend, andere leise vor sich hin  stöhnend. Einige haben sich auf Tische und Strohsäcke erbrochen.
  Der Wachthabende ist nüchtern.  Er ist ein Fahnenjunkerunteroffizier, der fast weinend vor Erregung erzählt, dass  die Wache über eine Kiste Weinflaschen und über einen Ballon Schnaps geraten  sei, die noch von den Haussuchungen her bei uns stehen. Er hat die Leute  nicht zurückhalten können, sie haben geschossen, Fensterscheiben  eingeschlagen, ihn bedroht, und schließlich sind Schiebel und Sonnemann schwer  bewaffnet in die Stadt spazieren gegangen.
  Wir packen die Betrunkenen in  einer Ecke auf die Strohsäcke und machen notdürftig Ordnung. Schiebel will  immer noch nicht Ruhe geben. Er ist wie wahnsinnig und fängt mit jedermann  Streit an.
  Wir treten auf dem Speicher  noch einmal an, und Roth verkündet mit schneidiger Stimme: „Der Musketier  Schiebel ist aus der Kompanie ausgestoßen!"
  Schiebel torkelt dabei vor der  Front herum. Er ist Jurist wie Roth und kennt ihn schon von früher.
  „Ausgestoßen,  ausgestoßen!" äfft er dem Kompanieführer nach.
  „Pust' dich man nicht so auf,  du Arschloch!"
  Schiebel fällt schließlich  auch auf einen Strohsack. Am nächsten Morgen ist seine Ausstoßung vergessen.  Er tut, als wäre nichts gewesen.
  An diesem Abend fragt Roth wie  beiläufig: „Wer meldet sich freiwillig, um eine Verhaftung ohne Haftbefehl  vorzunehmen?"
  Ich habe nicht genau  verstanden, worum es sich handelt, aber ich trete trotzdem mit der Mehrzahl der  Kompanie vor. Roth sucht sich fünf Leute aus. Ich bin nicht darunter und vergesse  den Vorfall bald.
  Denn ich soll nachher mit  Ritter auf eine „Unternehmung" gehen. Das ist eine große Ehre für mich,  und ich freue mich sehr dar-
  über. Ritter ist ein schlanker  Mensch mit einem kühnen und schönen Gesicht, den ich aus der Ferne heimlich  bewundere und verehre. Er studiert Jura und zeichnet sich in der Kompanie  dadurch aus, dass ihm das Schießen Spaß macht. Ritter schießt bei den  unmöglichsten Gelegenheiten, und wenn seine Schüsse große Aufregung  hervorrufen, dann freut er sich wie ein Kind. Alle haben ihn gern.
  Wenn Ritter auf Patrouille  geht, dann passiert immer etwas, und wenn es auch nichts weiter ist, als dass  die Patrouille im Puff endet.
  An diesem Abend liegt eine  ganz eigenartige Stimmung über dem Appell. Roth geht frühzeitig fort. Ein  Unteroffizier verliest eine Mitteilung, dass der General Maerker morgen eine  Ansprache an das versammelte Freikorps halten will. Morgen soll auch endlich  die Straßensperre aufgehoben werden.
  Hier und da stehen zwei Leute  zusammen und unterhalten sich flüsternd. Trete ich hinzu, schweigen sie oder  reden von gleichgültigen Dingen. Es liegt etwas in der Luft. Eine Stimmung wie  vor einem schweren Gewitter.
  Um neun Uhr brechen wir auf.  Ritter, der
  „ausgestoßene" Schiebel,  der inzwischen wieder nüchtern geworden ist, Schmidt und ich. Auf der Straße  eine kurze Beratung, wohin wir eigentlich gehen wollen. Wir marschieren schließlich  zum Marktplatz. Als wir gerade auf den Platz einbiegen, fallen Schüsse.
  Wir sehen im Schein einer  Straßenlaterne einige Landesjäger, die eng an die Mauer eines Hauses gepresst  zu dem gegenüberliegenden Haus hinaufschießen. Wir laufen zu ihnen und fragen  nach der Ursache der Schüsse. Die Landesjäger wollen vom Dach dieses Hauses beschossen  worden sein. Getroffen ist keiner.
  Wir stürmen die Treppen des  Hauses hinauf. Die Hausbewohner kommen bei dem Lärm ängstlich aus ihren  Wohnungen heraus. Es sind alles feine Leute. Auch ein Professor meiner Schule  wohnt hier.
  Aus dem höchsten Flurfenster  spähen wir auf die Dächer hinaus. Es ist natürlich nichts zu sehen. Schmidt hat  ein Fernglas.
  „Da drüben bewegt sich  etwas!" ruft er plötzlich.
  Wir sehen zwar auch ohne Glas  ganz deutlich, dass sich dort drüben der Windschutz eines Schornsteins im Wind  dreht Aber Ritter macht
  nun einmal das Schießen Spaß.  Trotz des ängstlichen Protests der Hausbewohner, die einen ernsthaften Kampf  mit Dachschützen befürchten, legen wir auf Ritters Kommando an und schießen zu  dem Schornstein hinüber.
  Fensterscheiben klirren.  Einige von uns müssen wohl etwas zu tief gehalten haben...
  Da sich auf unsere Schüsse hin  drüben nichts regt, und nachdem wir mit den Landesjägern die Sache ausreichend  besprochen haben, steigen wir wieder die Treppen hinunter. Was nun?
  Die paar Schüsse haben unsere  Nerven erregt, und Ritter will jetzt in den Puff.
  Als wir gerade in die Straße  „Schlamm" einbiegen, wendet sich Ritter gutmütig lächelnd zu mir: „Na  Kleiner, du hast doch auch Lust, mitzugehen?" Ich lache laut und gequält  und lärme: „Aber selbstverständlich!" Denn ich darf doch nicht sagen, dass  ich noch nie bei einer Frau war!
  Die Straße „Schlamm"  liegt leer. Vor den meisten Häusern brennen nicht einmal die roten Lampen. Es  hat ja doch keinen Zweck. Die Mädchen haben jetzt schlechte Zeit, denn nach  acht Uhr kommen keine Besucher mehr.
  Höchstens einmal ein paar  Soldaten. Oder ein Polizist, aber der findet seinen Weg auch so.
  Unsere Nagelstiefel klappern  auf dein Pflaster, da öffnen sich ein paar Fenster:
  „Hallo, ihr kleinen Noske,  hierher!"
  Schmidt winkt ab: „Das ist die  dicke Frieda aus Eisleben, bloß da nicht hin!"
  Wir betreten dann ein anderes  Haus. Ein niedriger, kleiner Raum, verqualmt, verschmutzt und vom Geruch  billigen Parfüms durchweht. Auf einem Sessel in der Mitte des Zimmers sitzt ein  alter Mann und schläft. Sein Mund steht halboffen und lässt ein paar  schwarzgelbe Zahnstummel sehen. Er schläft noch, wie wir später das Haus wieder  verlassen.
  In einer Ecke flegelt sich auf  einem Stuhl ein junger bleicher Mensch, der bei unserm lärmenden Eintritt  mürrisch den Kopf hebt. Vier Flauen begrüßen uns mit lautem Hallo.
  Wir stellen unsere Karabiner  in die Ecken, setzen uns und bestellen Wein. Unter Zoten und Gelächter werden  meine drei Kameraden mit den Frauen handelseinig.
  Ritter weist ungeniert auf den  jungen Mann in der Ecke.
  „Ist das euer Louis?"  fragt er harmlos.
  „Das ist mein Freund,"  berichtigt eins der Mädchen hastig.
  Der junge Mensch erhebt sich  und geht einen Fluch murmelnd aus dem Zimmer. Ritter lacht herzlich. Er bindet  sein Koppel ab und hängt es an den Garderobenständer. Die Handgranaten klappern  baumelnd an das Eisen des Hakens.
  Als die drei mit ihren Frauen  gerade das Zimmer verlassen wollen, zieht Ritter mich in eine Ecke.
  „Hör' mal," flüstert er  leise, „willst du auch mit einer von den Säuen schlafen gehen?"
  Ich werde rot vor  Verlegenheit. Was muss ich jetzt tun, um mich vor Ritter nicht zu blamieren?
  „Nicht so gern," sage ich  verlegen und fürchte, nun sein spöttisches Gelächter hören zu müssen.
  Aber zu meiner großen  Erleichterung sagt er freundlich: „Das ist ja fein! Weißt du, ich traue dem  Louis nicht. Bleib du doch hier unten im Hausflur stehen, bis wir oben fertig  sind. Und bei dem geringsten verdächtigen Geräusch kommst du rauf und knallst  dazwischen, verstanden?"
  Dann stehe ich allein im Flur.  Ich glühe vor
  Begeisterung. Von oben her  tönt das Lachen und Kichern der Mädchen, Witzworte und Stöhnen.
  Ich wünsche, der Zuhälter  möchte jetzt kommen, damit ich eine Heldentat vollbringen kann. Ich will schießen,  will irgend etwas Unerhörtes tun, was dieser unglaublichen, dieser fabelhaften  Situation angemessen ist. Dem einen Mädchen, das noch im Zimmer ist, ins  Gesicht schlagen, aus dem Fenster schießen oder etwas Ähnliches.
  Diese Situation! Ich stehe in  dem dunklen Hausflur eines Puffs, und der Tod kann hinter jeder Türe lauern.  Huren sind um mich herum, ich habe Wein getrunken, und nun stehe ich hier mit  dem Karabiner im Arm und bewache meine Kameraden.
  Antikisches Heldentum glänzt  mir über dieser Szene, blühende Romantik des Landsknechtlebens, ferner Schimmer  wilder und heroischer Zeiten!
  Ich bin siebzehn Jahre vier  Monate alt und bewache den Beischlaf meiner Kameraden. „Zwischen Lipp und  Kelchesrand," — diese Stunde kann meinen Tod bedeuten. Vor ein Paar Tagen  hat man hier einem Landesjäger
  die Kehle durchgeschnitten.  Vielleicht ist es in diesem Hause geschehen. Vielleicht hat es der bleiche  Zuhälter getan.
  Ich bin ganz erfüllt von dem  beseligenden Gefühl der Kameradschaft. Volker hält Wacht! Nibelungentreue!  Blutsbrüder! Todgenossen!
  Nach einer Weile kommen die  drei die Treppe herunter. Müde und mürrisch. Sie zahlen. Die Mädchen sagen  artig adieu.
  „Danke schön!" nickt mir  Ritter zu.
  „O bitte," sage ich  höflich und abwehrend.
  Dann stehen wir auf der  Straße.
  „Saukalt!" schimpft  Schmidt und gähnt. Und nun wollen wir nach Hause gehen. Unsere Tätigkeit ist  für heute zu Ende.
Wenige hundert Schritte  abseits von unserem Rückweg zur Kaserne führt eine eiserne Brücke über einen  Nebenarm der Saale. Wir hören aus jener Richtung zwei kurz aufeinander folgende,  peitschende Schüsse. Aber wir sind müde und faul und achten nicht darauf...
  Dort führten soeben ein  Leutnant und drei Mann den Kommunisten Meseberg in die dunkle Nacht.
  Sie haben ihn bei Einbruch der  Dunkelheit verhaftet und auf dem Speicher einer Brotfabrik im Süden der Stadt  einige Stunden festgehalten. Ohne Angabe von Gründen. Waffen und Uniformen der  Leute und das Einglas des Führers waren Legitimation genug.
  Mitten in der Nacht hat man  ihn dann hinausgeführt. Am Fabriktor stehen zwei zuverlässige Leute als  Posten. Die wissen von nichts und haben niemanden gesehen.
  Gegen den ahnungslos vor den  Soldaten über die Brücke Gehenden hebt sich langsam ein
  Pistolenlauf. Zwei Schüsse  krachen, und der Kommunist sinkt um. Der leblose Körper wird über das Geländer  gehoben und klatscht schwer auf das schwarze Wasser.
  Zwei Tage später findet man  die Leiche des Kommunisten Meseberg an einem Schleusentor hängend. Zwei Schusslöcher  am Hinterkopf...
  Wir kommen am Hotel „Zur  goldenen Kugel" vorbei. Es ist eins der feinsten Häuser der Stadt und  dient den Landesjägern als Stabsquartier. Die Wache wird von unserer Kompanie  gestellt.
  Es ist noch Licht in den  Restaurationsräumen. Wir sind müde und haben noch eine halbe Stunde bis zur  Kaserne zu gehen. Darum begrüßen wir den Posten und treten ein.
  An zwei zusammengeschobenen  Tischen sitzt eine Gesellschaft von Offizieren und zecht. Man winkt uns heran,  und wir dürfen mittrinken.
  Der Mittelpunkt der Tafelrunde  ist ein großer schwerer Mann in der Uniform eines Kürassierrittmeisters. Er  ist völlig betrunken. Sein Gesicht ist aufgedunsen und rot, und seine kalten  grauen Augen irren blöde umher.
  Es ist der Rittmeister  Schlosser, persönlicher Adjutant des Generals Maerker. Er soll ein
  schwerreicher rheinischer  Industrieller sein. Jedenfalls beteiligt er sich an dem Feldzug des  Landesjägerkorps mit zwei eigenen Automobilen.
  Den Vorsitz führt ein dicker  junger Mann mit Schmissen im Gesicht. Man spielt Studentenkneipe. Der Rittmeister  kann sich als Rangeltester nicht daran gewöhnen, dass ein junger Leutnant mehr  zu sagen haben soll als er.
  „Herr Rittmeister hatten die  Güte, mir schon wieder dazwischen zu quatschen!" näselt der Präside. „In  die Kanne!"
  Der Rittmeister lächelt irre  und gießt ein großes Glas voll schwerem Burgunder hinunter. Sein Chauffeur  steht hinter ihm und füllt es wieder.
  Dann fängt er — diesmal mit  Genehmigung des Kneipwarts — an zu singen. Wirtinverse, die wir noch nicht  kennen. Dann nach der Melodie von „Befiehl Du Deine Wege" ein Lied von  abenteuerlicher Unanständigkeit, das grölend angehört wird.
  Ich trinke. Ich sitze mit  einem Rittmeister und mehreren Offizieren als gleichberechtigtes Glied an einem  Tisch. Man prostet mir zu. Ich springe auf, vorschriftsmäßig das Glas am zweiten  Waffenrockknopf, und ernte deswegen ein Lob des Rittmeisters.
  Ein Kellner bedient uns  respektvoll. Ich reiche ihm mein leeres Glas über die Schulter. Er füllt es mit  einer Verbeugung.
  Das bin ich! Siebzehn Jahre  und vier Monate alt! Ein fabelhafter Kerl, der mit Offizieren zecht und  schweinigelt. Zu dem man „Herr Kam'rad" sagt, dem man auf die Schulter  klopft! Mit dem Rittmeister Schlosser zwischen zwei Zoten Brüderschaft trinkt!  Mann! Soldat!
  Vor mir verschwimmt bald alles  in einem wirren Nebel von Begeisterung und Betrunkenheit. Ein unerhörtes  Hochgefühl meiner eigenen Bedeutung durchströmt mich. Der kleine Pennäler, der  ich früher einmal war, liegt irgendwo begraben. Ihn hat es nie gegeben.
  Die Offiziere stehen auf. Wir  singen „Deutschland, Deutschland über alles!" Alle drei Verse. Ich stehe  stramm. Ich fühle meine Augen feucht werden.
  Mein Nebenmann sinkt auf  seinen Stuhl nieder, schlägt mit dem Kopf auf den Tisch und erbricht sich auf  den Teppich. Der Rittmeister hat den Arm um die Schulter seines Chauffeurs  geschlungen und stützt sich auf ihn.
  Dabei grölt er mit Riesenstimme:  „Deutsche Frauen, deutsche Treue!" und schwenkt mit weit ausholender  Bewegung sein Glas durch die Luft.
  Dann stehe ich einen  Augenblick im Waschraum. Schlosser stützt sich mit beiden Händen gegen die  Wand. Sein Chauffeur kniet vor ihm, und knöpft ihm die Hosen auf, dann  erleichtert sich sein Herr...
  Irgendwann in der Nacht  bekommen wir Zuzug. Ich sehe undeutlich Leutnant Roth, der mir auf die  Schulter schlägt, und drei Kameraden aus der Kompanie.
  Einer von ihnen, namens  Fischer, setzt sich neben mich. Ein noch sehr junger Mensch in der Uniform  eines Jägerbataillons. Er ist totenblass. Seine schmalen Finger drehen wie  irrsinnig den Fuß seines Weinglases unausgesetzt hin und her, so dass mir  schwindlig wird.
  Die Uhr zeigt halb drei.
  „Wo kommt ihr denn jetzt noch  her?" frage ich ihn erstaunt.
  „Eine Verhaftung,"  verstehe ich undeutlich.
  „Was? So spät noch?"  frage ich wieder.
  „Lassen Sie gefälligst den  Fischer zufrieden, ja?" knallt da plötzlich die Stimme des Kompanieführers,  und ich wundere mich über diese ungewohnte und hier doch ganz unangebrachte  dienstliche Schärfe. Aber ich bin zu glücklich, um mir Gedanken darüber zu  machen.
  Rittmeister Schlosser  rezitiert jetzt das goldene Alphabet. Sein Chauffeur begleitet ihn  melodramatisch auf einer Laute, die plötzlich da ist.
  Irgend jemand hält eine Rede.  Ich verstehe nicht genau, was er sagt. Denn Fischer fängt sinnlos an zu weinen  und muss hinaufgeführt werden, wo man ihn in einem Hotelzimmer zu Bett bringt.  Er muss wohl sehr betrunken sein.
  Die Rede geht ihrem Ende zu.  Ich höre „echte deutsche Soldaten", „Männer, die das Vaterland  braucht." Und dann wird Hoch gerufen, und man stößt mit Leutnant Roth und  den beiden anderen Kameraden an, die außer Fischer mit ihm gekommen sind...
  Es ist heller Morgen, wie wir  zu unserer Fabrik zurückwanken.
  Leute, die zur Arbeit gehen,  sehen uns hassvoll und verächtlich nach. Wir schreien ihnen Drohungen zu, und  sie gehen schweigend weiter.
  Endlich sinke ich völlig  zerschlagen auf meinen Strohsack. Das Letzte, was ich — schon im
  Halbschlaf - höre, ist Ritters  Gesang. Ich weiß nicht genau, was er singt. Es hört sich so an, als ob es  Wirtinverse seien. Aber dann ist plötzlich immer wieder der Refrain da:  „...über alles auf der Welt".
  Mir ist schlecht, aber ich  schlafe mit glücklichem Lächeln ein: ich habe mit Rittmeister Schlosser  Brüderschaft getrunken!
Ich schlafe bis zum Mittag.  Wie ich aufwache bin ich sehr traurig. Der Tag ist trübe und unfreundlich. Ich  will nicht entscheiden, ob meine Traurigkeit vom Alkoholgenuss der Nacht  herrührt, davon, dass mir plötzlich diese ganze Soldatenspielerei sinnlos  vorkommt, oder weil morgen nun wieder der Alltag anfangen soll.
  Denn es ist ein  Artillerieleutnant bei uns aufgetaucht, der uns mitteilt, dass die Kompanie  heute Abend aufgelöst werden muss. Wir fragen uns, warum, und verstehen es  nicht.
  Leutnant Roth ist nicht da.  Man erzählt, er sei gestern Nacht nach Berlin zur Gardekavallerieschützendivision  abgereist. Mit ihm die drei Kameraden, die ich in der Nacht noch gesehen habe.  Sie haben sich von niemand verabschiedet.
  Der neue Führer ist ein junger  Mensch mit einem hübschen und nichts sagenden Gesicht. Er lächelt auf alle  unsere Fragen geheimnisvoll.
  Dunkle Gerüchte kommen auf:  Der bekannte Kommunist Meseberg soll ohne Haftbefehl von Leuten unserer  Kompanie verhaftet worden sein. Mit schmerzendem Kopf versuche ich, mir die  Zusammenhänge zwischen diesem Vorfall, der nächtlichen Zecherei in der  „Goldenen Kugel" und der plötzlichen Abreise der vier Leute klarzumachen.  Es gelingt mir nicht.
  Wir putzen unsere Waffen und  schmieren die Stiefel. Das tun wir heute zum ersten Mal seit vier Wochen. Wir  sehen demgemäß sehr schmutzig aus. Es hat manche Tage gegeben, an denen ich  mich nicht gewaschen habe. Für wen auch.
  Aber heute will der General  Maerker zu uns sprechen. Das ganze Freikorps wird versammelt sein, und da muss  die zweite Kompanie einen guten Eindruck machen.
  Nach dem Mittagessen  marschieren wir auf den Hof der Artilleriekaserne. In weitem Viereck stehen da  schon die beiden anderen Kompanien des Freikorps.
  Wir blamieren uns, denn der  Artillerieleutnant, der uns führt, kann keine Infanteriekommandos. Statt  „Abteilung Halt" hebt er den rechten Arm und kommandiert „Haaalt!" Die  anderen Kompanien johlen.
  Dann kommt der General. Ein  kleiner, beweglicher Mann mit eisgrauem Schnurrbart. Ein mächtiger Mann. Die  Arbeiterschaft vieler deutscher Städte kann etwas von seinem Schneid und  seiner Energie erzählen. Ein Mann, der das Chaos hasst. Der Erste, der aus  einer Horde verloderter Rückkehrer eine fest organisierte Truppe gemacht hat.  Der in Berlin, in Braunschweig, in Erfurt und in Halle mit eiserner Hand Ruhe  und Ordnung wiederherstellte.
  Wir betrachten ihn  ehrfurchtsvoll.
  Die Exzellenz beginnt zu  sprechen: vom Dank aller gutgesinnten Elemente, den wir uns durch unser  aufopferungsvolles Eintreten für Ruhe und Ordnung verdient haben. Dass wir unbekümmert  unsere berufliche Arbeit aufgegeben haben, um noch einmal zur Waffe zu greifen  und mit blitzendem Schwert die Schatten der Finsternis zu bekämpfen. Von  Deutschlands Zukunft, und dass es nicht untergehen kann, solange es noch  deutsche Männer wie uns gibt.
  Und wir glauben es ihm. Denn  er ist ein General.
  Dann redet er von der Technik  des Straßenkampfes. Seine Stimme, die bisher den Stahlklang militärischer  Kommandos gehabt hat, wird gewissermaßen gemütlich. Seine Rede wird von kleinen  Scherzen unterbrochen, die wir belachen dürfen. Er sagt zu uns „Meine  Herren!"
  Wir lauschen aufmerksam seinen  Worten.
  „Die größte Kunst ist die, den  Gegner eklatant ins Unrecht zu setzen, ohne deshalb schlapp zu sein,"  sagt er mit Nachdruck und erläutert uns ohne jede Beschönigung, dass es ja hier  in Halle auch so war. — Ich muss an den erschlagenen Oberstleutnant denken. —  Marschiere man aber in eine unruhige Stadt, dann müsse man von vornherein  energisch auftreten.
  „Meine Herren, ich halte gar  nichts von so genannten Schreckschüssen, die in die Luft abgegeben werden.  Wenn der Führer zum Kampf entschlossen ist, muss er auch die Verantwortung für  die Folgen auf sich nehmen. Wenn Sie sich beim Einmarsch in eine Stadt einer  feindlichen Menschenmenge gegenüber sehen, dann nur nicht rücksichtsvoll sein!  Schreckschüsse gehen in die Luft und erschrecken niemand außer den, der sie  abgibt. Ich will Ihnen ein anderes Mittel sagen, meine Herren."
  Der General schmunzelt und  streicht sich mit martialischer Bewegung den Bart.
  „Es ist ja eine altbekannte  Tatsache, dass bei solchen Aufläufen immer die Weiber vorneweg sind. Und wenn  ein Führer schießen lässt, und es gehen ein paar olle Weiber dabei drauf, dann  schreit gleich die ganze Welt über die blutgierige Soldateska, die unschuldige  Frauen und Kinder erschießt. Frauen sind überhaupt immer unschuldig."
  Wir lachen.
  „Meine Herren, in solchen  Fällen hilft nur eins: schießen sie den Weibern ein paar Leuchtraketen unter  die Röcke, und dann sollen Sie sehen, wie sie davonlaufen. Dabei kann nicht  viel passieren, das Magnesium der Raketen wird ihnen die Waden oder den Hintern  versengen, und die Stichflamme brennt vielleicht ein paar Röcke an. Das  harmloseste Mittel, was man sich denken kann! Also, meine Herren: keine  Schreckschüsse! Leuchtraketen zwischen die Beene sind das beste Mittel."
  Exzellenz spricht noch über  den Einsatz von Panzerwagen und ihre hervorragende moralische Wirkung, von der  zweckmäßigen Durchführung von Haussuchungen und dergleichen.
  Dann ein dreifaches Hoch auf  das Vaterland, und wir dürfen wieder gehen.
  Drüben in unserm Quartier  herrscht die Auflösung. Wir geben die Waffen ab und packen unsere Sachen  zusammen. Es hat angefangen zu regnen. Wir haben keine Zivilsachen hier und  gehen in Uniform nach Hause. In meiner Brieftasche bauscht sich der eben  empfangene Sold: fünfzehn Mark täglich inklusive Kampfzulage. Ich habe noch  nie soviel Geld besessen.
  Aber das ist auch der einzige  Lichtblick, sonst bin ich erfüllt von Niedergeschlagenheit und Trauer. Nun geht  die Schule wieder an, man muss sich von unsympathischen Lehrern anfahren lassen  und ist nichts als ein kleiner Pennäler. Noch dazu einer, der als unbequemer  Schüler verrufen ist, und auf den scharf aufgepasst wird. Der Soldat wird mit  der Uniform in den Schrank gehängt.
  Auch über die Zeit, die hinter  mir liegt, bin ich traurig. Ich kann es mir selbst nicht erklären, woher  plötzlich diese Stimmung kommt.
  Vielleicht, weil ich mir auf  dem Nachhauseweg überlege, was ich nun meinen Verwandten und Freunden von  meiner Soldatenzeit eigentlich erzählen soll. Ich merke erschreckt, dass ich  nichts erzählen kann. Von Kampf und Sieg weiß ich nichts. Ich habe nur zweimal  geschossen,
  und beide Schüsse galten einem  Windschutz, der sich auf einem Schornstein drehte. Ich wollte kämpfen und  Heldentaten verrichten, und ich habe gefaulenzt, Karten gespielt und getrunken.  Das war alles.
  Mir ist eine altgewohnte  Vorstellung abhanden gekommen. Ich weiß nun, dass die Soldaten, die für Ruhe  und Ordnung kämpfen, keineswegs die Helden sind, als die ich sie bis zu meinem  Eintritt ins Freikorps anzusehen gewohnt war. Und da ich meine Gedanken nicht  im Zaum halten kann, kommt mir plötzlich die Verlogenheit des Begriffs  Heldentum an sich leise zu Bewusstsein.
  Vielleicht hat der Krieg so  ähnlich ausgesehen? Vielleicht sind all die großen Worte von Aufopferung und  Todesmut nichts als Schall und Rauch? Ich wehre mich verzweifelt gegen diese  unziemlichen Überlegungen, von denen ich zu wissen glaube, dass sie falsch  sind.
  Ich habe vier Wochen lang den  Militarismus ohne Maske gesehen und bin ein Junge, dem der Anblick eines  überfahrenen Hundes oder auch nur eines verbrennenden Nachtfalters körperlich  schmerzendes Mitleid erregt.
  Ich habe vier Wochen lang Rohheiten  gehört und gesehen und fand bei niemand und nirgends auch nur den Schatten  einer Idee, die solche Rohheiten als Notwendigkeiten rechtfertigte.
  Ich schäme mich meiner selbst,  aber mir ist furchtbar unbehaglich zu Mut, denn ich weiß nicht, wozu dies alles  nötig gewesen ist.
  Mich selbst überraschend  steigt der Gedanke in mir auf, dass vielleicht der Latjer gar nicht so schlimm  ist, wie ich immer geglaubt habe. Mir hat doch nicht einer etwas getan.
  Und dann, — es sitzen jetzt  Dutzende und Hunderte von Menschen im Gefängnis, die wegen „Plünderung"  verurteilt worden sind. Sie haben Sachen an sich genommen, die herrenlos auf  der Straße lagen. Was haben wir denn getan, wenn wir die beschlagnahmten Waren  nicht abgeliefert, sondern für uns verbraucht haben?
  Die bürgerlichen Zeitungen  können sich immer noch nicht über die verbrecherische Gesinnung der Plünderer  beruhigen und reden von ekelhaften Verbrechern. Aber wir, — wir sind Helden,  die sich für Ruhe und Ordnung aufopferten.
  Ich werde damit nicht fertig.  Irgendwo muss hier doch ein Fehler stecken.
  Und dann fällt mir noch der  General ein, der kaltblütig davon sprach, man müsse den Gegner eklatant ins  Unrecht setzen. Warum? Wenn er doch nicht Unrecht hat?
  Aber das war ein General, und  ich bin Primaner, bin unmännlich und schlapp und darf um Gotteswillen niemand  etwas von meinen Bedenken verraten. Ich würde mich lächerlich machen.
  Zu Hause esse ich schweigend  Abendbrot und nehme endlich wieder ein Bad. Ich poliere mir sogar die Nägel und  wundere mich dabei über mich selbst.
  Und dann ist es sehr schön, in  einem frischbezogenen Bett zu liegen und die Stiefel zum Putzen vor die Tür zu  stellen...
  Am nächsten Morgen sind die  Zeitungen voll von dem Mord an Meseberg. Bevor ich zur Schule gehe, lese ich, dass  man die mutmaßÂlichen Täter in Berlin bereits verhaftet hat.
  Ich weiß nun alles und ziehe  hilflos die Schultern hoch. Da habe ich also vier Wochen lang mit Menschen  zusammengelebt, die imstande sind, mit kaltem Blut einen Menschen zu töÂten.  Mörder.
  Es sind junge Leute wie ich.  Fischer ist sogar ein freundlicher und stiller Mensch, den ich gern habe. Und  nun ist er ein Mörder. Ich kann das nicht verstehen.
  Ich weiß nichts von Meseberg,  ich weiß nicht, warum man ihn erschlagen hat. Er war Bolschewist. Gut, aber  deshalb darf man ihn doch nicht töten? Feige, aus dem Hinterhalt? Vier gegen  Einen?
  Die Offiziere in der „Goldenen  Kugel" haben gesagt, Deutschland könne nicht untergehen, solange es solche  Männer hat.
  Mir sitzt vor lauter  Hilflosigkeit und Erstaunen ein Weinen in der Kehle...
  In der Schule kommen mir  Döring und Scheele schon auf dem Korridor entgegen.
  „Hast Du schon gelesen?"
  Ich nicke müde.
  „Das muss einer verpfiffen  haben," sagt Scheele aufgeregt, und Döring will bestimmt wissen, dass es  Siegmann, der Friseur, gewesen ist.
  „Na ja, ein Friseur,"  sagt Scheele wegwerfend, als ob damit alles gesagt wäre.
  „Man müsste das Aas  totschlagen," knurrt Döring.
  Ich will sagen: „Mord ist  Mord", aber das kann wohl nicht stimmen. Döring und Scheele
  finden es doch durchaus in der  Ordnung, dass man Meseberg totgeschlagen hat. Also muss es wohl an mir liegen,  wenn ich es nicht verstehe.
  Sagen kann ich noch nichts,  aber ich nicke stumm mit dem Kopf und schäme mich schon wieder.
  Von den Mitschülern werden wir  vier Freikorpsleute mit heimlicher Bewunderung betrachtet. Sie waren meist  bei der Einwohnerwehr. Da trug man keine Uniformen. Da ist auch kein Mord  passiert.
  Wir vier begegnen ihnen mit  stolzem, entschlossenem Ernst.
Mai 1919.
  Manchmal vergesse ich  überhaupt schon, dass ich noch vor einem Monat Soldat gewesen bin. Die Schule  langweilt mich, aber das Wetter ist schön. Ich liege den ganzen Tag im  Ruderboot auf der Saale. Außerdem habe ich eine neue Freundin. Da habe ich  nicht viel Zeit für andere Gedanken.
  Aber ein Stachel bleibt: die  Einwohnerwehr hat nach endgültiger Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung  plötzlich Mut bekommen und einen sehr sorgfältigen Wachdienst organisiert.  Einige Mitschüler von mir, die Mitglieder der Einwohnerwehr sind, dürfen jedes  Mal zwei Stunden später zum Unterricht kommen, wenn sie am Abend vorher  Wachdienst getan haben.
  Sie sind nur bei der  Einwohnerwehr, aber sie sind etwas Besonderes. Und ich, der ich regulärer  Soldat gewesen bin, betrachte sie mit verächtlichem Neid. Ich muss jeden Morgen  um acht Uhr in der Schule sein. Das schmerzt.
  Manchmal fühlt man sich noch  etwas wichtig. So z. B., wie die drei verhafteten Kameraden die man des Mordes  an Meseberg verdächtigt, nach Halle überführt werden. Ich höre, dass Leutnant  Roth nicht gefasst worden ist.
  Die drei Anderen werden nach  einiger Zeit wieder aus der Untersuchungshaft entlassen: sie haben nur den  Befehl eines Vorgesetzten ausgeführt und konnten nicht wissen, dass dieser  Befehl zur Verhaftung ungesetzlich war. Meseberg hat auf der Brücke einen  Fluchtversuch gemacht und ist dabei erschossen worden. Der Gerechtigkeit ist  mit diesem Untersuchungsergebnis Genüge getan.
  Ich sehe die Drei dann und  wann. Fischer besucht mich sogar regelmäßig. Es geht ihm sehr schlecht. Er hat  oft Herzbeschwerden und leidet an Schlaflosigkeit. Er sieht aus wie der Tod.
  Eines Tages kommt er zu mir  und erzählt, dass er „dienstlich" nach Hamburg bestellt worden sei. Er  leiht sich von mir eine Pistole, da er sich auf der Reise unsicher fühlt. Er  leidet überhaupt häufig an Verfolgungsvorstellungen. So sagt er auch jetzt, er  wisse nicht, ob ihm auf dieser Reise nicht etwas passieren könne.
  Manchmal lacht er auch ganz  ohne Grund,
  raucht unausgesetzt  Zigaretten, und seine Finger spielen immer mit einem Streichholz oder einem  Stück Papier. Fischer ist sehr nervös.
  Von dieser Reise nach Hamburg  kommt er nicht wieder zurück. Nach einiger Zeit erkundige ich mich bei seinen  Eltern nach ihm, und da höre ich, dass er Selbstmord verübt hat.
  Man hat ihn in einer  norddeutschen Stadt tot aufgefunden. Die Einschussöffnung saß merkwürdigerweise  am Hinterkopf. Genau so, wie bei dem Kommunisten Meseberg. Aber die Polizei  meinte ja, es liege hier Selbstmord vor...
  Leutnant Roth soll Offizier im  finnischen Generalstab geworden sein. In Norddeutschland wurde er von Zeit zu  Zeit noch einmal gesehen...
  Aber diese unheimlichen und erregenden  Dinge liegen doch nur an der Peripherie meines Lebens. Ich bin und bleibe  Oberprimaner des Hallischen Gymnasiums und soll mich nun bald aufs Abitur  vorbereiten.
  Ich kann mich an die Schule  nicht gewöhnen. Irgendetwas in mir ist in den Märztagen dieses Jahres  zerbrochen. Ich weiß nicht was. Aber ich fühle, dass ich nicht mehr derselbe  bin, der ich war. Ich leide nun fast körperlich an meiner Bedeutungslosigkeit.
  Am zweiten September wurde  sonst immer der Sieg bei Sedan gefeiert. In diesem Jahr ist von der  Schulbehörde im Auftrage des Staatsministeriums jede offizielle Schulfeier  verboten. Wir sind darüber empört und sehen dieses Verbot als eine Verbeugung  vor den Franzosen an.
  Es wird beschlossen, eine  Feier zu improvisieren, und in der großen Pause besteige ich auf dem Schulhof  einen Müllkasten und halte eine zündende Ansprache, die nach der Versicherung,  dass ein neues Sedan einst kommen werde, mit dem Deutschlandlied endet
  In der nächsten Stunde haben  wir Geschichte bei einem Lehrer, der bei uns im Verdacht demokratischer  Gesinnung steht.
  Mit leichtem Lächeln fragt er,  ob wir etwas über die strategische und politische Bedeutung der Schlacht bei  Sedan wüssten. Betretenes Schweigen. Keiner von uns hat auch nur eine leise  Ahnung davon. Und wir schämen uns furchtbar, wie nun gerade dieser wilde Demokrat  uns eine Stunde lang von der Schlacht bei Sedan erzählt.
  Wenn wir nachher darüber  sprechen, klingt durch alle unsere Unterhaltungen die Überraschung darüber, dass  auch Demokraten anständige Menschen sein können, und ich bin ratloser als je  zuvor.
  Darüber hilft mir auch nicht  die Tatsache hinweg, dass ich Nietzsche lese und Schopenhauer. Nachts sitze  ich manchmal und schreibe Hymnen in Zarathustras Melodie. Aber am nächsten  Morgen bin ich müde und traurig. Dann pöbele ich in der Schule einen Lehrer an,  und mir wird besser.
  Eines Tages bekomme ich einen  Brief. Leutnant Walter, der Artillerieleutnant, der damals unsere Kompanie  aufgelöst hat, bestellt mich zu einer Besprechung in seine Wohnung. Ich frage  Döring, Scheele und Müller, ob sie auch hinkommen sollen. Aber sie wissen von  nichts. Meine offenbare Bevorzugung beunruhigt mich und macht mich gleichzeitig  stolz.
  Bei Walter finde ich zur  verabredeten Zeit etwa zehn ehemalige Angehörige meiner Kompanie. Bis auf  Webach nur solche Leute, mit denen ich wenig zusammengekommen bin. Es sind  alles ältere Menschen, Studenten, Kaufleute, Bankbeamte. Alle sind sie im  Felde gewesen. In der Kompanie bildeten sie eine eigene Clique, in die sie  niemand aufnahmen. Schon die Wahrnehmung, dass es die tonangebenden Leute der  Kompanie sind, mit denen ich hier zusammentreffe, macht mich stolz und zu allem  bereit, was Walter vielleicht von mir will.
  Es werden Zigaretten und  Schnaps angeboten, und wir tauschen Erinnerungen aus. Der Mord an Meseberg ist  das Hauptgesprächsthema. Tatsächlich ist es also der Friseur Siegmann gewesen,  der die Sache der Kriminalpolizei verraten hat. Alle sind empört über ihn, und  meine Begriffe geraten ins Schwanken.
  Ich verabscheue den Mord schon  aus dem Grunde, weil ich niemals die zu einer solchen Tat nötige Entschlusskraft  aufbringen würde. Aber ich habe viel zu wenig Gleichgewicht, um mich nicht  sofort zu fragen, ob das nicht gerade ein Manko von mir ist, und ob ich nicht  vielleicht nur meine innere Feigheit moralisch verbräme, um mich ihrer nicht  schämen zu müssen.
  Emstweilen schweige ich, denn  ich habe in dieser Gesellschaft nichts zu sagen. Ich bin gerade noch geduldet.  Alle sind sie mir überlegen. An Alter, an militärischer und menschlicher Erfahrung,  an Kraft, an Männlichkeit.
  Leutnant Walter duzt uns  plötzlich. Dann setzt er uns in einem langen Vortrag auseinander, dass für die  nächste Zeit mit kommunistischen Unruhen nicht zu rechnen sei. Dass wir also  kaum in den nächsten Monaten wieder mit der Waffe in der Hand kämpfen werden.  Aber natürlich würden solche Unruhen im Geheimen vorbereitet, und man müsse  davon rechtzeitig wissen, um Gegenmaßnahmen treffen zu können.
  Seine Rede endet damit, dass  er uns Mitteilung von der Gründung einer Nachrichtenabteilung macht, die  unter seiner Leitung stehen soll.
  „Ich habe mich dabei an Leute  gewandt, die mir aus der Kompanie als entschlossene und gewandte Kerle bekannt  sind. Ich frage euch also, ob ihr Lust habt, diese Nachrichtenarbeit  mitzumachen."
  Zunächst ein peinliches  Schweigen. Dann fragt Hiller ruhig: „Es handelt sich also, wenn ich dich recht  verstehe, um ein Angebot, als Spitzel zu arbeiten?"
  Walter macht eine verlegene  Handbewegung: „Was heißt Spitzel? Ihr seid doch alle vernünftige Leute und wisst,  dass man ohne Spione nicht auskommen kann. Ein Spitzel ist ein sehr ehrenwerter  und durchaus notwendiger Mann, und ich garantiere euch, dass ihr bei mir und  dem Garnisonkommando jede erdenkliche moralische Unterstützung finden  werdet."
  Wieder Schweigen. Dann macht  Webach die Bewegung des Geldzählens: „Wie ist's denn mit der Marie?"
  Es ergibt sich, dass wir genau  soviel Geld bekommen sollen wie in der Kompanie. Außerdem Verpflegungsgeld  und natürlich vollständigen Ersatz aller Spesen.
  Die anderen schmunzeln. Mir  ist noch einen Augenblick unbehaglich. Aber ich sehe, dass ich allein stehe,  und darum schlage auch ich ein, wie Walter mir die Hand hinstreckt.
  Dann gehe ich nach Hause. Ich  bin also ein Spitzel. Ich verband bisher mit diesem Begriff die Vorstellung  eines unsauberen Menschen, der für Geld seine Freunde verrät. Aber das kann ja  nicht stimmen. Die Latjer, die ich bespitzeln soll, sind ja nicht meine  Freunde. Und Webach, Hiller und auch Walter sind doch keine unsauberen  Menschen. Im Gegenteil: Walter und Hiller sind Offiziere, Webach ist Student  und verkehrt in sehr guten Familien der Stadt.
  Es ist ein sehr ehrenwertes,  aber sehr gefährliches Handwerk, und darum kann man zu
  Spitzeln nur tadellose Leute  gebrauchen. Und ich bin auch einer, sonst hätte man mich ja nicht aufgefordert  mitzumachen. Ich gelte also etwas. Und das genügt mir.
  Zunächst verpflichten wir uns  durch Handschlag, mit keiner dritten Person über Angelegenheiten der  Nachrichtenabteilung zu sprechen. Und wir halten diese Abmachung genau ein,  nicht einmal unsere Familien sind über unser Tun und Treiben orientiert. Das  ist Ehrensache. Bei mir führt das allerdings im Anfang manchmal zu  Schwierigkeiten, wenn ich einen nächtlichen Ausgang mit dem Zauberwort  „Dienst" begründe. Aber auf die Dauer können sich meine Verwandten dem  Gewicht dieses Begriffs nicht verschließen, und ich kann unbehelligt von Fragen  oder Vorwürfen gehen und kommen, wann ich will.
  Ich bin mit Leib und Seele  Spitzel. Mein Leben hat wieder einen Inhalt. Ich bin nur nach außen hin ein  kleiner Pennäler. In Wirklichkeit bin ich ein „entschlossener und gewandter  Kerl", der im Geheimen eine höchst wichtige Arbeit leistet. Den das  Garnisonkommando moralisch unterstützt, der viel Geld verdient, ungefähr  soviel, wie ein Akademiker mit Frau und Kind. Und dabei bin ich erst siebzehn  und ein halbes Jahr alt.
  Es ist eine fabelhafte Zeit,  in der ich lebe: aus halben Kindern werden über Nacht Männer, die ihren Platz  im Leben ausfüllen. Ich habe unbegrenzte Hochachtung vor mir, weil ich ein  Spitzel bin.
  Niemand sagt uns, wie die  Spitzelarbeit anzugreifen ist, und anfangs ist das Ganze mehr eine Spielerei.  Ich halte es vor Eifer nicht aus, und bereits am ersten Abend nach unserer Besprechung  bei Walter gehe ich, in einen alten Militärmantel gehüllt, der mich völlig  unkenntlich macht, in die verrufensten Viertel der Stadt.
  Ich weiß nicht recht, was ich  da will. Ich habe eine dunkle Vorstellung, als ob in irgendeiner obskuren  Kneipe einige Kommunisten beisammen säßen und die Umsturzpläne der nächsten  Zeit besprächen. Von meiner Umsicht und Gewandtheit wird es abhängen, ob ich  solche Gespräche belauschen kann.
  Ich gehe durch menschenleere  Straßen, trete in kleine Kneipen, wo ein paar Männer schläfrig oder  halbbetrunken Karten spielen, bohre mich in fremde Gespräche ein und höre, dass  es sich immer um Dinge handelt, die für mich keinerlei Interesse haben:  Weibergeschichten, Witze und hier und da Erinnerungen an den
  Weltkrieg.
  Ich weiß nicht, ob diese  Männer, die ich belausche, nun gerade Kommunisten sind. Aber ich kann mir  nichts anderes vorstellen, als dass die roten Verschwörer in den schlechten  Vierteln der Stadt zu finden seien. Wenn ich nicht gleich am ersten Abend in  den Puff gehe, so liegt es nur daran, dass ich kein Geld habe; im übrigen sind  die Begriffe Puff, Kneipe, Verbrecher, Kommunisten bei mir unlösbar und  unentwirrbar mit einander verknüpft.
  Bald aber kommt System in die  Arbeit: man findet einen Brief in seiner Wohnung, auf dem nichts weiter steht  als Ort und Zeit einer Versammlung. Man geht hin und liefert möglichst noch am  gleichen Abend einen Bericht bei Leutnant Walter ab.
  Mein Arbeitsgebiet sind die  öffentlichen Versammlungen der Kommunistischen und der Unabhängigen Partei.  Ich bin fast jeden zweiten Abend im Volkspark. Die Referate der Redner kann man  zwar am nächsten Tag in der Zeitung lesen, und darum brauche ich mich um sie  nicht sonderlich zu kümmern. In der Hauptsache soll ich mich unter den  Versammlungsteilnehmern herumtreiben, Gespräche belauschen und versuchen,  dabei „Wichtiges" zu erfahren. Die Entscheidung darüber, was wichtig ist  und was nicht, bleibt mir überlassen.
  Wie ich zum ersten Mal als  Spitzel eine Versammlung besuche, schlägt mir das Herz im Halse. Der große  Saal ist gedrängt voll, es mögen an die tausend Menschen sein, die da dem  Redner lauschen.
  Ich bleibe dicht neben der Tür  stehen. Erst nach einer Weile kann ich den Redner verstehen. Es handelt sich  um die Taten der Ordnungstruppen während der Kampftage. Der Redner berichtet  von haarsträubenden Gefangenenmisshandlungen, die in der Hauptpost dem  Quartier der Landjäger, vorgefallen sein sollen.
  Die Menge brüllt alle  Augenblicke wild auf: „Nieder mit den Bluthunden! Totschlagen muss man die  Bande!"
  Ich habe Angst: Hier mitten  unter diesen wütenden Menschen steht einer von diesen „Bluthunden". Wenn  mich jetzt jemand stellt? Die Folgen wären nicht auszudenken. Meine Hand  umkrampft in der Manteltasche den Griff der Pistole, der schon ganz schweißig  ist. Aber was hilft das? Was kann im Ernstfall ein einziger Revolver gegen  eine Menge von tausend aufgeregten Menschen ausrichten?
  Ich bin immer weiter vom  Eingang weggedrängt worden und stehe plötzlich mitten im Saal. Wieder  überfällt mich diese unheimliche Angst, deren ich mich schäme. Aber ich kann  nichts dagegen tun. Ich bin diesem lähmenden Entsetzen hilflos ausgeliefert und  versuche, mich unauffällig wieder dem Ausgang zu nähern, den ich endlich auch  erreiche.
  Dort bleibe ich stehen. Kein  Gedanke daran, irgendwelche Gespräche zu belauschen. Ich bin froh, dass ich  hier unbeobachtet in meiner Ecke stehen darf. Mein Ehrgeiz, einen fabelhaften  Bericht mit nach Hause zu bringen, ist plötzlich ganz und gar verflogen.
  Bei einem neuen Wutausbruch  der Menge will ich mich wieder durch einen Griff zur Pistole beruhigen, da  rutscht sie mir aus der Tasche. Den Bruchteil einer Sekunde stehe ich starr.  Der Saal kreist um mich. Ich fühle, wie ich bleich werde.
  Dann bücke ich mich hastig,  stecke die Pistole wieder ein und sehe mich unauffällig um. Neben mir steht ein  alter Arbeiter, gebückt, das faltige und ausgemergelte Gesicht von einem schütteren  Vollbart umrahmt. Ich fühle, wie sein Blick prüfend auf mir ruht, und wieder  stockt mir der Herzschlag.
  Der Alte schüttelt missbilligend  den Kopf und sagt im schauerlichsten höllischen Sächsisch: „Du, Gleener, mach  dadermit bloß geene Zikken!"
  Ich beruhige ihn errötend und  schäme mich furchtbar. Denn eben noch zuckte mir einen Augenblick der  wahnwitzige Gedanke durchs Gehirn, auf meinen „Entlarver" zu schießen und  darauf das Weite zu suchen.
  Bald gehe ich dann still und  mit zitternden Beinen nach Hause, und die Nachwehen des ausgestandenen  Schreckens und meiner BeschäÂmung verdichten sich zu dem Vorsatz: „Nie wieder  Spitzel!" Mein Bericht fällt an diesem Abend sehr kläglich aus.
  Aber am nächsten Tag ist alles  so ganz anders. Gestern Abend habe ich meine EmpöÂrung über die Gefangenenmisshandlungen,  von denen der Redner sprach, damit niederhalten können, dass ich mir sagte: es  werden wohl alles Lügen sein. Nun frage ich einen Kameraden:
  „Nicht wahr, das mit dem  Verprügeln von Gefangenen in der Hauptpost ist doch sicher Schwindel?"
  Aber mein Kamerad, es ist der  dicke Berger, sagt gemütlich und gelangweilt: „Nee, nee, in der Hauptpost  sollen schon dolle Dinger vorgekommen sein."
  „Aber das ist doch eine  Gemeinheit!" entrüste ich mich. „Wehrlose Gefangene zu schlagen!"
  Berger wird ordentlich wütend:  „Red' doch keenen Stuss, Mensch! Wie haben es denn die Anderen gemacht,  was?"
  Ich werde unsicher, davon weiß  ich nichts. Ich könnte wohl noch Vieles dazu sagen. So z. B., dass es mir schon  im Krieg immer nicht eingeleuchtet hat, warum bei uns „Repressalien"  ergriffen werden mussten, wenn in England oder Frankreich einmal deutsche  Gefangene misshandelt worden waren. Die Gefangenen bei uns konnten doch gar  nichts dafür?
  Aber wenn Berger sich so  aufregt, dann muss das wohl nicht ganz stimmen.
  Und auf einmal habe ich Angst  vor meinen Kameraden. Wenn ich nicht weiter mitmache, halten sie mich  vielleicht für feige und un-
  männlich. Das geht natürlich  nicht. Ein Grund mehr, um weiter Spitzel zu bleiben.
  Allmählich gewöhne ich mich an  den Versammlungsdienst. Ich fürchte mich nicht mehr so sehr, seit ich weiß, dass  mir nichts passiert, wenn ich mich still und bescheiden benehme. Ich kann  manchmal sogar ganz interessante Sachen melden, die ich in zufälligem Gespräch  erlauscht habe. Staatsgeheimnisse sind es gerade nicht. Aber es ist schon sehr  wichtig, zu erfahren, dass es neulich in der Bezirksleitung der K. P. einen  großen Krach gegeben hat, oder dass die Maßnahmen des Genossen X. in der Partei  scharf kritisiert werden.
  Die bespitzelten  Organisationen sind gewerkschaftliche Verbände, die Kommunistische und die  Unabhängige Partei. Auch Versammlungen der S. P. D. werden von Zeit zu Zeit  besucht.
  Dann ist da plötzlich ein Herr  Kurz, der die Geschäfte der Abteilung übernimmt und den Sold auszahlt. Man weiß  nichts von ihm, als dass er aus Mecklenburg stammt. Niemand hat ihn vorher  gekannt. Im Freikorps war er nicht. Er ist etwas beschränkt, Typ pommerscher  Gutsbeamter, aber er hat im Spitzelhandwerk einige Erfahrung und unterstützt  Walter in der
  Ausbildung unserer  detektivistischen Fähigkeiten.
  Nur ist mir oft nicht klar,  was meine Berichte für einen Wert haben sollen. Ich bin der Ansicht, dass es  meine Aufgabe ist, von Plänen zu berichten, die direkt die Vorbereitung eines  offenen Aufruhrs bezwecken. Aber ich muss zu den harmlosesten Versammlungen  gehen und Berichte schreiben über die nebensächlichsten Dinge.
  So fahre ich eines Tages zum  Kreistag der U. S. P. in Delitzsch. Zweiter Klasse natürlich. Erst esse ich  sehr gut zu Abend, die Spesen werden ja ersetzt. Dann spricht in einem Saal, in  dem kleinbürgerliches Publikum an langen Tischen sitzt und Bier trinkt, ein  weißbärtiger alter Herr über die Kommunalpolitik der U. S. P. Der Bau einer  Chaussee nach irgendwohin und die Tarifpolitik der Halle-Delitzscher Elektrischen  sind wichtige Punkte seines Referats.
  Spät abends bin ich wieder in  Halle und schreibe sorgfältig einen Bericht.
  Oder ich fahre mit der  Straßenbahn nach einer Papierfabrik, weit außerhalb der Stadt. In der Nähe  liegt ein Gartenlokal, in dem eine Betriebsversammlung stattfindet. Es muss  irgendetwas sehr Wichtiges vorgehen, denn ich höre schon von weitem erregtes  Geschrei. Die Gegend ringsum ist menschenleer. Es ist stockdunkel. Einen  Augenblick kommt mir der Gedanke: wenn mich hier jemand totschlägt, kräht nicht  Huhn, nicht Hahn danach. Ich schleiche mich vorsichtig in den Garten.
  Anscheinend hat man in der  Papierfabrik den Betriebsrat entlassen. Ich verstehe die Zusammenhänge nicht,  und es interessiert mich auch nicht: Lohnfragen, Materialbereitstellung, Akkorde,  Werkmeister Wittig...
  Ich habe einen Weg von zwei  Stunden gemacht, um mir diesen Unsinn anzuhören. Ich ärgere mich, also  schreibe ich in meinem Bericht, es hätte sich nur um nebensächliche wirtschaftliche  Fragen gehandelt.
  Das trägt mir am nächsten Tag  einen Rüffel ein. Denn gerade über diese Dinge wollte man etwas von mir hören.  Ich verstehe nicht, wie sich ein Mensch ernsthaft um die Lohnstreitigkeiten in  einer Papierfabrik kümmern kann.
  Aber bald bekomme ich  Aufklärung. Durch einen Zufall stellt sich heraus, dass wir nicht nur vom  Garnisonkommando bezahlt werden, sondern auch von einer geheimnisvollen  Berliner Organisation, die sich „Deutsche Wirtschaftshilfe" nennt. Einer  von uns hat zufällig Walters Bankbuch gesehen, in dem ständig recht erhebliche  Eingänge von dieser Vereinigung verbucht worden sind.
  Es gibt eine Palastrevolution,  erregte Auseinandersetzungen, die damit enden, dass wir für unsere Tätigkeit,  soweit sie lediglich der Information von Arbeitgeberverbänden dient, eine  besondere Zuwendung erhalten.
  Mir ist das alles trotzdem  noch schleierhaft. Ich habe mich bisher niemals um Streiks und Tarifkämpfe  bekümmert. Ich verstehe davon nichts und halte sie für durchaus nebensächlich.  Wirtschaft, — das ist etwas, was mit Politik überhaupt nichts zu tun hat. Und  Wirtschaftskämpfe interessieren mich nur deshalb, weil aus ihnen sich manchmal  innenpolitische Schwierigkeiten und Unruhen entwickeln können.
  Ein Kamerad, der  Volkswirtschaft studiert, hält mir einen langen Vortrag. An die Stelle der  dynastischen Interessen, auf die sich früher alle politischen Verwicklungen  bezogen, seien heute Wirtschaftsinteressen getreten. Aber er überzeugt mich  nicht ganz.
  Gewiss, ich weiß aus meinem  Elternhause, dass wirtschaftliche Sorgen unangenehm und drückend sein können.  Aber ich bin der Ansicht, ein tüchtiger Kerl findet immer genug Verdienstmöglichkeiten,  wenn er nur etwas leistet und „entschlossen und gewandt" ist.
  Ich bin doch noch ein ganz  junger Mensch. Und verdiene ich nicht sehr anständig? Lohnforderungen und  Tarif kämpfe sind sicher nichts als Äußerungen plebejischer Unzufriedenheit und  Habgier, für die kein anständiger Mensch Verständnis haben kann.
  Natürlich verstehe ich sehr  gut, dass man gern besser leben möchte. Ich ärgere mich selbst jeden Tag über die  eleganten Anzüge und die vornehme Wäsche meines Schulkameraden Lange. Aber  dagegen ist doch nichts zu machen, Langes Vater hat eben mehr Geld als meiner.  Da muss man selbst zusehen, dass man ordentlich verdient.
  Und außerdem ist das doch  nicht das Wichtigste. Die Hauptsache ist, dass man aus guter Familie stammt  und sich ordentlich benehmen kann. Wenn man dazu noch etwas gelernt hat, dann  wird es einem an nichts fehlen.
  Ich bin erst in den Vorhof der  unterirdischen Politik eingedrungen und glaube immer noch an politische Ziele  und Ideale, die gewissermaßen im luftleeren Raum der Idee schweben und nur an  Weltanschauung und Charakter gebunden sind.
  Wir sind eben für Ruhe und  Ordnung und weiter nichts. Wir haben die Aufgabe, Unruhen zu verhüten und  merken es zunächst nicht, dass wir die Unruhe brauchen, um überhaupt leben zu  können.
  Die Aufregung der Kampftage muss  sterilisiert, die Unruhe der Arbeiterschaft sorgfältig auf Eis gelegt werden,  damit Freikorps und Kampfverbände ihre Existenzberechtigung nicht verlieren.
  Niemand sagt uns das so klar,  aber es dauert doch nur einige Wochen, bis ich diese Klarheit über Ziel und  Zweck unserer Arbeit gewonnen habe.
Ich bin ein tüchtiger Spitzel.  Ich besuche eifrig die Versammlungen, und es gelingt mir manchmal, sogar in  Funktionärsitzungen der Kommunisten hineinzukommen. Ich liefere meine Berichte  pünktlich ab und befleißige mich in ihnen eines gepflegten Stils.
  Für die übrigen Aufgaben der  Abteilung sind andere Leute da. Ich werde aus dem Ganzen nicht recht klug, denn  es gehört zum guten Ton, über dienstliche Angelegenheiten nicht unnötig zu  sprechen. Allmählich lerne ich meine Kameraden und ihre Tätigkeit aber doch  kennen.
  Am undurchsichtigsten ist  Hiller. Tagsüber ist er ein kleiner kaufmännischer Angestellter, nach keiner  Richtung hin bemerkenswert. Aber er ist Sozialdemokrat, und diese Parteizugehörigkeit  ist eine mysteriöse Sache. Man hat uns gebeten, in unseren Äußerungen über die  S. P. D. etwas zurückhaltend zu sein, solange Hiller in der Nähe ist, und  daraus schließen wir, dass er wirklich Sozialist ist. Aber warum ist er dann in  der Nachrichtenabteilung? Das geht doch gar nicht.
  Von einem anderen Kameraden  höre ich, dass Hiller verschiedene kleine Parteipöstchen hat und in der S. P.  D. Halle ein angesehener Mann ist. Über die Frage, ob er nur Parteimitglied  ist, um desto ungestörter als Spitzel arbeiten zu können, oder ob er von Hause  aus Sozialdemokrat ist und an seiner Partei zum VerräÂter wurde, diskutiere  ich oft mit Webach. Ich mache mir noch lange Gedanken über diesen merkwürdigen  Menschen, bis ich schließlich einsehe, dass es im Spitzelhandwerk eine  aussichtslose Sache ist, zu entscheiden, ob jemand ein Schwein oder ein  „entschlossener und gewandter Kerl" und guter Spitzel ist.
  Die Arbeit der Abteilung  leidet unter organisatorischen Mängeln. Man stellt mir oft die Anfertigung  gefälschter Ausweispapiere in Aussicht, aber im letzten Augenblick kommt immer  wieder etwas dazwischen, und darum ist die Spitzelei nicht ganz ungefährlich.
  Ich kenne zwar allmählich  diesen oder jenen Genossen, und es fällt nicht auf, dass ich mich intensiv um  alle möglichen Parteiangelegenheiten kümmere. Aber in jedem Augenblick kann  ich doch nach meinem Mitgliedsbuch gefragt werden. Das wäre peinlich.
  Ich muss mir jedes Mal erst  einen gehörigen inneren Ruck geben, ehe ich es wage, in eine Versammlung zu  gehen, zu der nur Parteifunktionäre zugelassen sind. Aber ich habe Glück: hin  und wieder werde ich wohl einmal aus einem Zimmer des Volksparks  hinausgeworfen, aber in ernsthafte Schwierigkeiten komme ich nie, und oft  gelingt es mir sogar, von Anfang bis zu Ende an solchen Sitzungen als unbeteiligter  und unbeachteter Zuhörer teilzunehmen. Am nächsten Tag wird man dann für einen  guten Bericht belobt. Daher gewöhne ich mich allmählich daran, offiziell die  wildesten Geschichten in meinen Berichten zu erzählen, wie ich mir unter  unglaublicher Gefahr und mit den kühnsten Mitteln Zugang zu dieser oder jener  Versammlung verschafft habe.
  Einen wesentlich schwereren  Stand haben die Mitglieder der Abteilung, die offiziell Gewerkschafts- oder  Parteimitglieder sind und daher unter größerer Kontrolle stehen. Es ist sehr spaßig,  einen dieser Kameraden auf der Straße im Gespräch mit anderen „Genossen"  stehen zu sehen und fremd an ihm vorbeizugehen.
  So ein verkappter Kommunist,  Künzel, wird einmal entlarvt und entsetzlich zugerichtet. Nach einem längeren  Krankenhausaufenthalt tritt er aus der Abteilung aus und geht mitten im Semester  an eine andere Universität.
  Eines Abends entschuldige ich  mich bei Webach, der mich zum Billardspielen abholen will damit, dass ich  Dienst habe.
  „Ja, gehst du denn da immer  hin?" fragt Webach erstaunt.
  „Natürlich," sage ich  verständnislos.
  Webach lacht herzlich: „Für so  dumm hätte ich dich wirklich nicht gehalten."
  Und dann erfahre ich, dass man  sich die Sache viel bequemer machen kann. Die Berichte prüft nämlich kein Mensch  nach. Die Hauptsache ist, dass überhaupt welche da sind. Man kann auch einen  Bericht über Dinge schreiben, die niemals geschehen sind, und die tüchtigsten  Spitzel verlassen sich ganz und gar auf ihre Phantasie.
  Ich probiere es einige Male.  Ich gehe nicht zu Versammlungen und schreibe trotzdem einen Bericht, nachdem  ich mir die nötige Terminologie der Versammlungsredner aus dem „Klassenkampf'  angeeignet habe. Es geht sehr gut,
  und von nun ab wird der Dienst  bedeutend bequemer. Er nimmt fast gar keine Zeit mehr in Anspruch, und Sold  und Spesen gibt es trotzdem.
  Die Hauptsache ist, dass immer  etwas los ist, damit das Garnisonkommando nicht zur Ruhe kommt und von der  treuen und fleißigen Arbeit seiner Spitzel überzeugt ist.
  Da ist z. B. in unserer Abteilung  ein gewisser Werner. Er ist wahrscheinlich nicht ganz zurechnungsfähig. Ein  schwerer Psychopath. Ein langer, dürrer und schwächlicher Mensch mit einem  Kindergesicht, über den wir uns alle lustig machen, weil ihm bei der geringsten  Kleinigkeit die Tränen in die Augen kommen. Er ist so feige, dass er sich von  einigen unserer Leute schlagen und stoßen lässt, ohne auch nur den Versuch zu  machen, sich zu wehren.
  Aber Werner hat bei den  maßgebenden Stellen einen sehr guten Ruf. Er bringt fabelhafte Berichte, an  denen nach unserer Ansicht, die wir den Betrieb doch kennen, kein wahres Wort  sein kann. Werner leidet an Beziehungswahn. Seine gigantische Feigheit lässt  ihn in jeder Lächerlichkeit Gefahren wittern. Die belanglosesten Gespräche,  deren Zeuge er zufällig wird, verbinden sich bei ihm mit den Angstvorstellungen,  um die sein kümmerlichen Gedanken kreisen, und es entsteht eine fulminante  Meldung von irgendwelchen Umsturzplänen, die unmittelbar vor ihrer Ausführung  stehen.
  Werner weiß vermutlich gar nicht,  dass er lügt. Aber Walter weiß es und freut sich darüber, denn ihm ist die  Aufregung, die Werners Tatarennachrichten vielleicht hervorrufen, sehr  angenehm. Das Garnisonkommando hält es nämlich für gut, dass es über so  wichtige Dinge rechtzeitig informiert wird. Und wenn nachher gar nichts  passiert, dann liegt das natürlich daran, dass das Kommando rechtzeitig seine  Gegenmaßnahmen getroffen hat und die Latjer infolgedessen Angst bekommen haben.
  Werners Spezialität sind  Waffenlager. Er hat einmal in einem unbewachten Augenblick ein Bündel mit  Karabinern gestohlen, das, flüchtig in Packpapier eingeschlagen, bei der Gepäckaufbewahrungsstelle  des Hettstedter Bahnhofs abgegeben worden war. Seit dieser Zeit steht sein Ruf  als Waffenspezialist fest. Im übrigen ist er eifrig bemüht, sich auf einer  Presse die Berechtigung zum Einjährigen zu erwerben, dabei ist er schon  dreiundzwanzig Jahre alt.
  Da ist Hoffmann. Kein Mensch  weiß etwas von ihm. Er selbst sagt, er sei Leutnant bei den Karlsruher  Dragonern gewesen, aber niemand glaubt es ihm. Hoffmann überwacht gefährliche  Kommunisten. Er weiß immer ganz genau, wo sich der oder jener zu einer  bestimmten Tageszeit aufzuhalten pflegt. Auch das glaubt ihm kein Mensch, weil  er furchtbar faul und dauernd betrunken ist. Aber er lebt von seinen Nachrichten,  und er lebt sehr gut davon.
  Da ist Kurz, der auch  plötzlich von irgendwoher auftauchte, und der eine Weile die Geschäfte der  Abteilung und die Auszahlung der Besoldung besorgte. Eines Tages ist er mitsamt  der Kasse verschwunden. Er wird nicht verfolgt, weil die Polizei von der  Existenz einer Nachrichtenabteilung nichts wissen darf.
  Bevor er verschwindet,  versucht Kurz aber noch, den Verdacht von sich abzulenken und sich gleichzeitig  eines unbequemen Nebenbuhlers zu entledigen.
  Eines Tages komme ich in einer  nebensächlichen Angelegenheit in seine Wohnung, die der Abteilung als  Geschäftsstelle dient. Außer
  Kurz treffe ich da drei andere  ältere Kameraden, die mein Eintreten augenscheinlich als sehr störend  empfinden. Sie begrüßen mich kurz und unwillig, und da ich ihren Wunsch, mich  bald wieder loszuwerden, merke, will ich gleich wieder gehen.
  Plötzlich aber kommt noch  Werner, jener hysterische Schwächling und Waffenspezialist, der uns allen ein  Dorn im Auge ist. Nachdem wir ihn kurz begrüßt haben, tritt Kurz nahe an ihn  heran und sagt laut und ruhig: „Du Lump hast mich bestohlen."
  Werner hält diese  Beschuldigung für einen guten Witz und lacht unmäßig. Aber nach einem prüfenden  Blick auf die ernsten und abweisenden Gesichter der drei Kameraden wird er verwirrt  und fängt an, sich aufgeregt zu verteidigen.
  Kurz hält ihm alle  Verdachtsmomente vor, die dafür sprechen sollen, dass er eines Tages in einem  unbewachten Augenblick in das Geschäftszimmer gekommen, einen Schrank erbrochen  und die Kasse ausgeraubt habe.
  Werner weint fast vor  Erregung. Mir kommt die ganze Sache reichlich sinnlos vor; ich habe das  unheimliche Gefühl, dass hier etwas Schlimmes geschehen soll. Außerdem tut mir  Werner leid, denn sein ganzes Benehmen zeigt ganz unverkennbar, dass an der  Beschuldigung kein wahres Wort ist.
  Da sagt plötzlich einer der  Drei, die bisher schweigend dagesessen haben, zu Werner: „Du hör' mal, du  kannst dir doch das nicht so einfach gefallen lassen, dass dir Kurz einen Diebstahl  vorwirft. Wenn du ein anständiger Kerl bist, dann weißt du, was du jetzt zu tun  hast."
  „Was denn?" fragt Werner  unsicher und verwirrt.
  „Es bleibt dir nichts anderes  übrig, als Kurz zu fordern. Die Sache kann gleich abgemacht werden: wir gehen  in die Heide, du als Beleidigter hast den ersten Schuss, und für einen  Unparteiischen und für Sekundanten ist ja auch gesorgt", schließt er mit  einer Handbewegung auf uns.
  Ich merke, dass die Sache  ernst wird. Jeder von uns weiß, dass Kurz ein ungewöhnlich guter  Pistolenschütze ist, und dass Werner bei seiner Aufgeregtheit und seiner  kindischen Angst todsicher vorbeischießen wird. Dies fragwürdige Duell, dass  sich die vier Leute ausgedacht haben, würde ein glatter Mord werden.
  Werner schreit erregt: „Ich  denke gar nicht daran, mich mit Kurz zu schießen. Das ist ja alles  Unsinn!"
  Berger, ein Mediziner im  vierten Semester, sagt kühl: „Wenn du feige bist, dann können wir dich in der  Abteilung nicht gebrauchen. Wenn du Kurz jetzt nicht sofort auf Pistolen forderst,  dann werden wir dich schon aus der Abteilung herausbesorgen. Diese Kneiferei  ist ja geradezu ekelhaft!"
  Die anderen brummen  zustimmend. Werner weint nun wirklich und sieht sich hilfeflehend nach mir um.  Ich mische mich in die Unterhaltung, und da die Verdachtsmomente gegen ihn so  weit hergeholt sind, dass sie auch der oberflächlichsten Untersuchung nicht  standhalten können, gelingt es mir, Werners Unschuld soweit darzulegen, dass  man ihn — wenn auch widerwillig — gehen lässt.
  Ich schließe mich ihm an. Mein  Abschiedsgruß wird nicht erwidert, und Berger zischt mir leise zu: „Du hättest  wirklich was Gescheiteres tun können, als diesem Idioten beistehen."
  Ich zucke die Achseln. Auf der  Straße wartet Werner auf mich. Er ist immer noch ganz aufgeregt: „Die wollten  mich um die Ecke bringen!", stammelt er fassungslos.
  Mir kam es zwar auch so vor,  aber diese Verdächtigung scheint mir so ungeheuerlich, dass ich unwirsch  abwehre: „Ach, quatsch' doch nicht!"
  Die große Nummer der Abteilung  ist Kunze. Er ist Mitglied der K. P. und hat dort mit behördlicher Genehmigung  erzählt, dass er auch Mitglied der Nachrichtenabteilung des Garnisonkommandos  ist. Er liefert von der Parteileitung frisierte Berichte an das Kommando und  empfängt von dort frisierte Berichte für die K. P. Außerdem soll er die K. P.  auch noch regulär bespitzeln. Aber er ist viel zu dumm, als dass er sich durch  dieses Tohuwabohu durchfinden könnte. Er kassiert die Gelder von beiden  Seiten ein, tauscht die Berichte aus und lügt einiges dazu. Im übrigen ist er  Stammgast im Puff und liegt andauernd mit einem frischen Tripper zu Bett, der  bei ihm immer sehr bedrohliche Formen anzunehmen pflegt.
  Dann taucht eines Tages Herr  Hartung bei uns auf. Wir kennen seinen Namen, denn Hartung ist ein Spitzel von  ungewöhnlichem Format. Ein großer, stattlicher Mensch in den
  Dreißigern, nicht ohne Bildung  und Benehmen und von großer Körperkraft. Er trägt eine undefinierbare  Phantasieuniform. In Berlin und in München soll er die fabelhaftesten Sachen  geleistet haben. In Halle hat er einige Zeit gewirkt, bis ihm auch hier der  Boden zu heiß wurde.
  Jetzt besucht er uns und  erzählt uns kleineren Geistern seine Heldentaten. Ich gehe mit Hartung zum  Kaffeetrinken. Wir kommen am Gewerkschaftshaus vorbei. Einige Leute, die aus  einem Fenster sehen, erkennen Hartung und rufen Schimpfworte hinter ihm her.
  Hartung bleibt stehen, greift  in die Tasche, zieht eine Pistole und schießt lächelnd das Oberlicht des  Fensters entzwei, aus dem die Gewerkschaftsleute gesehen haben.
  Das ist Hartung. Zwei Monate  später ist er tot. Er ist in München von Spitzeln der eigenen Couleur  erschossen und in die Isar geworfen worden.
  Dann gibt es bei uns noch den  Beamten einer Gewerkschaft, der von Zeit zu Zeit in unseren Zusammenkünften  erscheint und uns Informationen für ein paar Groschen verkaufen will.
  Das sind unsere Kameraden. Wir  — d. h. Webach, Zarnke, Hennig und ich — betrachten
  sie mit Geringschätzung und Misstrauen.  Die Drei sind Studenten und von Hause aus anständige Menschen, deren Moralbegriffe  in dieser Gesellschaft aber auch schon zu leiden anfangen. Wir halten uns  etwas abseits, aber fingierte Berichte und erfundene Meldungen liefern auch wir  schon ganz bedenkenlos. Wir entschuldigen uns bei jedem neuen Auftrag mit  Arbeitsüberlastung und tun bald überhaupt nichts weiter, als dass wir uns von  Wolter unser Geld abholen und uns danach erkundigen, wann es endlich losginge.
  Denn es ist uns zur fixen Idee  geworden, dass sich über kurz oder lang irgendeine große Aktion ereignen müsse.  Von rechts kann sie nicht kommen, — wir wissen Bescheid, dass es da traurig  aussieht: Eifersüchteleien unter den Führern, Demoralisation unter der  Mannschaft, kein Geld, keine Disziplin. Aber der Bolschewismus will ja  Deutschland erobern, und darauf warten wir.
  Ich lebe wie in einem Rausch.  Es ist immer etwas los. Ich habe zwar ein dunkles Gefühl, als ob diese ganze  gespannte Erwartung vor der nächsten Zukunft Unsinn sei. Ich kenne nun genug  proletarische Organisationen, immer habe ich nur von dem endlichen Sieg der  Weltrevolution reden hören und habe nirgendwo Anzeichen gesehen, die  daraufhindeuten, dass man für die nächste Zeit eine gewaltsame Aktion  vorbereitet.
  Aber die sterile Aufgeregtheit  um uns herum umnebelt mir den klaren Blick. Und außerdem verdiene ich so viel  Geld, dass ich keine Zeit habe, mich um diese ganzen Fragen ernsthaft zu  bekümmern.
  Zu Hause schmeckt mir das  Essen nicht mehr. Ich esse hinterher immer noch einmal in einem anständigen  Restaurant. Dazu kommen Konditorei und Kinobesuche mit meinen Freunden aus der  Abteilung, die viel Zeit wegnehmen.
  Ich verheimliche meinen großen  Verdienst vor meinen Verwandten. Anschaffungen mache ich nicht, sie würden  auffallen. Und außerdem hätte es keinen Zweck: es muss ja doch bald losgehen.
Aber es geht nicht los.
  Das Jahr 1919 nähert sich  seinem Ende, und immer noch gehe ich morgens ins Gymnasium, nachmittags in den  Ruderklub oder mit Kameraden in Konzertcafes und führe weiter ein  phantastisches Doppelleben, von dem nur meine nächsten Freunde wissen.
  Abends mache ich dann manchmal  Dienst. Immer öfter wird mir mein Leben zum Ekel. Aber ich finde keine Kraft zu  einer wirklichen Änderung. Einmal versuche ich es. Ich gehe einfach nicht mehr  aufs Garnisonkommando und zur Geschäftsstelle der Abteilung. Mir ist alles  über.
  Aber dann wird mir das Geld  knapp. Ich muss billige Zigaretten rauchen und kann mit meiner Freundin nicht  ins Kino gehen. Ihre Eltern sind zwar schwerreiche Leute, aber sie wird sehr  knapp gehalten. Es bleibt mir also nichts weiter übrig, als wieder Berichte zu  schreiben. Und auch das geht nicht ohne Erschütterungen ab.
  So muss ich einmal zu einer  Versammlung einer kommunistischen Jugendgruppe gehen. Es wird wohl nicht viel  los sein, aber ich soll in Gesprächen die Stimmung unter den Jungens und Mädels  sondieren.
  Ich finde den Saal, in dem sie  tagen, nicht gleich. Nachdem ich durch alle Räume des „Volksparks"  gegangen bin, entdecke ich sie schließlich in einem Gartenzimmer. Es ist  schwer, sofort zu übersehen, worum es sich handelt. Überall ein heimliches  Gekicher und Gemurmel, das von der Stimme des Vortragenden nur schwer übertönt  wird. Man versteht ihn schlecht, es ist zu laut im Saal, und außerdem stößt er  noch mit der Zunge an.
  Ich rücke näher heran und  betrachte ihn. Es ist ein Mensch etwa in meinem Alter. Er hat ein paar Bücher  vor sich liegen und ein Blatt Papier, von dem er seinen Vortrag abliest. Er  spricht über Heinrich Heine. Nicht gut, denn was er sagt, klingt trocken und  hat kein Leben. Er erläutert Heines Bedeutung für die deutsche Literatur und  bleibt dabei im Unwesentlichen stecken.
  Ich will mich zuerst über ihn  amüsieren, denn es ist ein Bild von rührender Komik, wie sich dieser junge  Fanatiker die Kehle ausschreit, während kein Mensch ihm zuhört. In einer verschwiegenen  Ecke haben zwei junge Leute ein hübsches Mädchen mit frechem Gesicht auf ihren  Schoß gezogen und knuffen und patschen auf ihr herum, während sie sich mit  unterdrücktem Quieken wehrt.
  Dann tut mir aber der arme  Kerl leid. Seine Augen brennen, seine Lippen zittern vor Erregung, und  plötzlich bricht er seinen Vortrag ab.
  „Genossen!" schreit er  mit fistelnder Stimme. „Es ist traurig, dass Ihr nichts lernen wollt. Ihr habt  andauernd die Weltrevolution und die Diktatur des Proletariats in der Schnauze  und tut nichts dafür. Ihr seid dumm! Herrgott noch mal, begreift doch endlich:  Wissen ist Macht!" Dann packt er seine Bücher zusammen und geht an den  betreten Schweigenden vorbei aus dem Saal.
  Du armer Kerl! Wissen ist  Macht! Er schreit diese Lüge wie ein Evangelium heraus und glaubt daran als an  eine letzte Wahrheit. Ich möchte ihm nachrufen: Das ist Schwindel! Ich weiß so  viel, viel mehr als mir lieb ist, ich kann dir von mystischen Zahlen erzählen,  von der Entwicklung Englands zur Kolonialmacht oder von der Wirkung der  Romantik auf die katholische Weltanschauung, — ich weiß so viel, und bin doch  ein armer Hund, genau wie du.
  Ich möchte ihm so Vieles  sagen. Aber er ist ja ein Kommunist, und ich bin ein Spitzel...
  Ich gehe. Draußen an der  Haltestelle der Straßenbahn treffe ich ihn wieder. Er sieht mich unsicher an.  Dann scheint er mich zu erkennen. Er sagt höflich:
  „Entschuldigen Sie, waren Sie  nicht eben auch im Volkspark?"
  Ich zögere einen Moment.  Vielleicht weiß er, dass ich ein Spitzel bin? „Jawohl, ich habe Ihren Vortrag  über Heine mit angehört," sage ich dann entschlossen.
  Wir kommen ins Gespräch. Der  junge Kommunist sagt „Genosse" zu mir und redet sich seinen Jammer von  der Seele. Er spricht von der Weltrevolution, entwickelt die Theorien des  Marxismus, erzählt Einzelheiten aus dem Leben im neuen Russland. Und immer  wieder bricht die Enttäuschung darüber durch, dass die „Jugendgenossen"  nicht reif sind für die Diktatur des Proletariats, dass sie nichts lernen  wollen, dass sie nicht begreifen, in welch furchtbar ernster Zeit das  Proletariat lebt.
  Und dann redet er wieder von  der Freiheit des Willens, von der kommunistischen Idee im Urchristentum, und  ich muss plötzlich an den komischen Theologen Korbmacher denken. Der sagte schließlich  so ungefähr dasselbe. Der verlangte von seinen Kampfgenossen auch reine Herzen  und reine Hände.
  Aber der hatte ein Gewehr in  der Hand und wollte auf die Kommunisten schießen, weil die Revolution eine  Schande und ein Unglück sei. Und der junge Genosse neben mir hat ebenso wenig  zu essen und ist von seiner Sache ebenso überzeugt wie Korbmacher.
  Und beide sind sie anständige  und ehrliche Menschen, die sich für ihre Idee in Stücke hauen lassen und jedes  Opfer bringen werden. Und beide werden sie eines Tages aufeinander losgehen  und sich das Messer in den Bauch rennen.
  Wollen sie nicht schließlich  dasselbe? Haben sie nicht beide recht? Können sie denn nicht sehr gut friedlich  neben einander leben, ohne sich weh zu tun? frage ich mich.
  Hastig und verlegen  verabschiede ich mich von dem Kommunisten, gehe still nach Hause und komme mit  meinen Gedanken nicht zurecht...
  Einmal höre ich das Referat  eines kommunistischen Reichstagsabgeordneten über das Betriebsrätegesetz mit  an und erschrecke sehr, wie ich mich darauf ertappe, dass mich fast alle  Argumente des Redners überzeugen. Ich empfinde peinlich scharf das Ungehörige  meiner Regung und zwinge mich, nicht mehr hinzuhören.
  Manchmal, wenn die Versammlung  sich zum Schluss erhebt und die Internationale anstimmt fühle ich etwas von der  ungeheuren Suggestion des Solidaritätsgedankens. Ich schauere zusammen und  fürchte die Frage, ob diese fröstelnde Ergriffenheit Angst ist oder Ansteckung.
  Und immer muss ich mich  nachher mit Selbstvorwürfen quälen, denn es geht doch nicht an, dass mir die  Arbeiter manchmal sympathisch sind!
  Ein älterer Arbeiter, den ich  nur unter dem Namen Robert kenne, imponiert mir geradezu. Ich treffe ihn fast  auf jeder Versammlung und höre zu, wenn er — was häufig geschieht — mit jüngeren  Genossen über politische Tagesereignisse diskutiert. Ich höre, dass er ein  sehr tüchtiger Arbeiter ist, der in seiner Fabrik so-
  gar Meister werden sollte.  Robert hat aber diese Beförderung, die für ihn eine recht erhebliche  Verbesserung seiner Lebensführung bedeutet hätte, abgelehnt aus Furcht, er  könnte eines Tages als Werkmeister mit den Interessen seiner Genossen in  Konflikt geraten.
  Robert spricht manchmal auch  mich an. Beschämt lüge ich ihm vor, ich sei Schreiber bei einem Rechtsanwalt.  Er hat mich augenscheinlich gern, denn oft kommt er nach einem Vortrag zu mir  und fragt mich, ob ich auch alles verstanden habe. Hin und wieder frage ich ihn  dann wohl auch, und er gibt mir freundlich Bescheid.
  Oft spricht Robert von Karl  Marxens „Kapital". Ich habe schon viel von diesem Buch gehört als von  einem Schand- und Schmutzwerk, das an der ganzen Aufsässigkeit und Anmaßung der  Arbeiter schuld ist. Es selber zu lesen, kam mir noch nie in den Sinn. Die  Feststellung meiner Verwandtemund Lehrer, wonach die von Marx propagierte  Gemeinwirtschaft Verbrechen, Unfug, Utopie bedeute, genügte mir.
  Weil nun aber Robert immer  wieder auf das „Kapital" zurückkommt, und ich mich bei ihm wegen meiner  völligen Unkenntnis nicht verdächtig machen will, leihe ich mir das Buch von  einem Bekannten aus und bin maßlos enttäuscht. Zunächst einmal langweilen mich  die trockenen ökonomischen Auseinandersetzungen erheblich. Dann sage ich mir, dass  diese Behauptungen wissenschaftliche Thesen sind, die falsch sein mögen, die aber  doch immerhin diskutiert werden könnten. Nur weil vor siebzig Jahren einmal  ein gewisser Karl Marx ein Buch geschrieben hat, deshalb braucht man doch nicht  gleich zu prügeln und zu schießen?
  Und doch wird diese Lektüre für  mich zu einer schweren und nachhaltigen Erschütterung. Ich habe mir bis jetzt  immer eingebildet, sehr klug zu sein, während der Arbeiter ein absolut ungebildeter  Mensch sei, der zu keinerlei wissenschaftlicher Arbeit fähig ist. Aber ganze  Kapitel dieses Buches verstehe ich einfach nicht, über die Robert und seine  Freunde ohne Schwierigkeit diskutieren. Offenbar ist ein langwieriges  Spezialstudium dazu nötig, die Marxschen Thesen auf ihre Stichhaltigkeit hin  zu untersuchen. Man darf doch nicht einfach über eine Sache urteilen, von der  man nichts versteht? Haben denn wirklich alle meine älteren Bekannten, die auf  Marx und den Sozialismus schimpfen, dies Buch gelesen? Ich komme mir dumm und  unreif vor, dass ich eine so einfache Sache nicht begreifen kann, und lese das  „Kapital" immer wieder, mache mir Auszüge daraus und versuche, mit  Freunden darüber zu sprechen.
  Aber ich habe kein Glück  damit. Immer, wenn ich von Marx und seinem Werk zu reden anfange, sagt mir  jemand: „Lass doch den Unsinn!" Oder er hört gar nicht zu und spricht von  etwas anderem.
  Einmal trifft mich auch mein  Onkel über der Lektüre. Er sieht sich den Titel an und lächelt nachsichtig:  „Warum liest du solch Zeug?" fragt er mehr belustigt als neugierig.
  „Man muss sich doch ein Urteil  bilden," antworte ich verlegen. Und dann erzählt er mir, dass das gar  nicht nötig ist. Über Marx und seine blödsinnigen Theorien seien schon von „verständigen"  Leuten so viele Bücher geschrieben worden, dass ich mein Urteil ruhig von denen  übernehmen könne. Er will mir mal so ein Buch besorgen. Aber daraus wird nie  etwas. Er vergisst es, hält es anscheinend nicht für so wichtig...
  Ich lerne viel. Ich habe immer  geglaubt, die Latjer seien eine kompakte Masse, in der sich der Eine in nichts  vom Andern unterscheidet Und nun weiß ich, dass es Sozialdemokraten gibt und  Unabhängige und Kommunisten, und dass sie alle etwas verschiedenes wollen.  Einer hält den Andern für einen Verräter.
  Und dann höre ich immer und  immer wieder, wie sie von den Menschen meiner Klasse wie von ekelhaften und  bösartigen Tieren sprechen. Genau so, wie meine Verwandten und Bekannten von  den Spartakisten.
  Ganz allmählich, und ohne dass  ich mir darüber klar bin, fange ich an zu vergleichen, halte die Augen offen  und sehe vieles, was mir altgewohnt ist und mir plötzlich doch ganz neu  erscheint. Anderes, worüber ich mir niemals Gedanken gemacht habe, gewinnt auf  einmal fremde und überraschende Bedeutung.
  Ich habe zuviel gesehen und  weiß nicht mehr, wer recht und wer unrecht hat. Ich habe zuviel gesehen und  weiß nicht mehr, wo ich hingehöre.
  Lehrer und Verwandte reden von  einem Leben, in dem alles gut und schön ist. Ich habe den Glauben an dieses  Leben verloren. Sie sehen eine Bühne, auf der sich große und edle Gefühle zu  heroischen Taten ballen. Und ich
  stehe hinter den Kulissen und  sehe die nackte graue Rückseite, sehe mit erschreckender Deutlichkeit den  ganzen theatralischen Apparat, der dieses falsche Pathos erst ermöglicht.
  Ich weiß mehr als sie alle.
  Ich weiß von Lohntarifen und  von Akkordarbeit, von Spitzeln und Mördern, von Huren und Säufern, von  geldgierigen Offizieren, von fetten Bürgern, die den Hunger nicht kennen und  nichts als fressen wollen, von Pastoren, die Demut predigen, und die in  frömmelndem Hochmut ersticken, von Lehrern, denen das Gesicht im Genick sitzt,  die nur rückwärts sehen können und sich begeistern an Dingen, die nicht mehr da  sind, — und über diesem allem steht in fetten Lettern „Vaterland", und ich  soll es lieben und verehren und soll mich in dieses Gewirr und Geschiebe  einfügen und nicht nach rechts oder links sehen.
  Und soll glauben, dass  Kommunisten wilde Tiere sind, die stehlen und morden, die „panem et  circenses" schreien, die nicht an Gott glauben, die platte Dummköpfe und  widerwärtige Materialisten sind und meine Feinde — die mich wie einen tollen  Hund totschlügen, wenn ich ihnen in die Hände fiele —, verkommene
  Menschen, die aus dem Munde  riechen und vor Schweiß und Schmutz starren.
  Ich weiß plötzlich, dass das  Leben ganz anders ist, als man mir immer erzählt. Ich bin klüger als meine  Eltern und Lehrer, ich kenne das Leben besser als sie, die sich immer nur in  der eng vorgezeichneten Bahn von Klasse und Beruf bewegen.
  Ich bin ein Außenseiter und  weiß, dass die Reinheit des Wollens und der Segen Gottes nicht einzig gebunden  sind an jene Gedanken und Gefühle, die auf der bürgerlichen Ideologie beruhen.  Ich sage mir, dass es Märtyrer und Propheten auf beiden Seiten gibt, ebenso wie  kalte Rechner und brutale Idioten.
  Und ich bin noch nicht  achtzehn Jahre alt und finde durch meine Gedanken nicht hindurch; denn es ist  niemand da, der mir hilft, und der mir klar machen kann, warum diese ungeheure  Spannung von Wut und Abscheu, dieser riesenhafte Vorrat von Erregung und  Kampfgier sein muss.
  Ich bin noch nicht achtzehn  Jahre alt und weiß, dass meine Lehrer lügen, wenn sie mich ein Leben von  Opferwillen und Gottesfurcht lehren.
  Es ist überall dasselbe. Und  ich habe Angst vor mir selbst, wage keine Entscheidungen und laufe weiter den  gewohnten Weg. Müde und traurig.
  Dann sagen Erwachsene, ich sei  sentimental, ich leide an Weltschmerz, ich sei ein unbequemer Schüler, und  reden viele Worte, die mir lächerlich erscheinen...
  Manchmal denke ich noch an den  jungen Kommunisten, aber das Erlebnis kommt mir schon fern und unwirklich vor.  Ich weiß, dass ich ihn bald vergessen werde.
  Es ist ein Notwehrakt, wenn  ich mir den Gedanken an ihn aus dem Kopf schlage. Ich wäre verraten und  verkauft, wenn ich die Konsequenzen aus jenen Überlegungen zöge, die mich in  den letzten Wochen und besonders an jenem Abend überfallen haben. Ich habe übrigens  auch keine Zeit dazu:
  Webach besucht mich und bringt  mir mein Geld von der Abteilung mit. Er erinnert mich daran, dass wir uns am  Abend mit Freiherrn von Vogel verabredet haben. Das ist ein neuer Mann in  unserer Abteilung, der Nachrichten über Rechtsverbände herbeischafft.
  Die schießen jetzt nämlich wie  Pilze aus der
  Erde: Stahlhelm,  Deutschnationaler Jugendbund, die Kriegervereine rühren sich, die Einwohnerwehr  bildet übergeordnete Verbände, und alle wollen etwas anderes. Vogel ist der  richtige Mann dafür. Ein gewandter, sehr vornehmer Herr, der sich überall der  größten Beliebtheit erfreut.
  Nachmittags muss ich in den  Deutschnationalen Jugendbund. Ich habe versprochen, zur Weihnachtsfeier einen  gemischten Chor einzustudieren. Außerdem will ich da den Geschäftsführer der  Partei treffen, der mir ein paar Bücher versprochen hat.
  Dann ruft Walter mich noch an  und bestellt mich „in dringlichster Angelegenheit" zu sich.
  Ich vergesse den Kommunisten  schneller als ich gedacht habe. Bei Walter erinnere ich mich noch einmal  schmerzhaft an ihn. Ich habe nämlich neulich einen Bericht geliefert über eine  Rede, die der Kommunist Lemck gehalten hat. Walter fragt mich, ob dabei nicht  vielleicht der Ausdruck „Auf die Barrikaden!" gefallen sei.
  Ich weiß genau, dass das nicht  der Fall ist. Walter ist sehr ungehalten über meine Halsstarrigkeit. Lemck ist  nämlich ein „gefährlicher
  Mann". Man hält ihn aus  irgendwelchen Gründen für den militärischen Leiter der K. P. Halle.
  Walter lässt durchblicken, dass  man Lemck an diesem Ausspruch aufhängen kann. Wenn ich bezeugte, dass er „Auf  die Barrikaden!" gesagt hat, könnte man ihn verhaften und ihn unter  Anklage stellen. Dem Garnisonkommando wäre das sehr erwünscht.
  Walter gibt mir zwei Minuten  Zeit. Ich soll es mir noch einmal genau überlegen.
  Dann fragt er mit ernstem  Blick: „Kannst du nun auf deinen Eid nehmen, dass Lemck den Ausspruch getan  hat?"
  Ich grinse ihm höhnisch in die  Zähne: „Nee, mein Lieber!"
  Wir scheiden nicht eben  freundlich von einander.
  Am Abend spendiert von Vogel  Sekt, den wir mit Schwedenpunsch mischen. Der Freiherr ist strahlender Laune  und erzählt unausgesetzt die haarsträubendsten Geschichten von dem StraßÂburger  Kavallerieregiment, bei dem er aktiv war.
  Er ist bald vollständig  betrunken. Für die Nacht hat er noch einen Hauptspass vor: neulich hat ihn ein  — wie er sagt — jüdischer
  Zigarettenhändler aus seinem  Laden hinausgeworfen, weil er da monarchistische Brandreden gehalten hat.
  Auf dem Nachhauseweg, es ist  gegen drei Uhr nachts, schneidet er mit seinem Taschenmesser ein großes Viereck  aus den Plakaten einer Litfasssäule. Dann zieht er sich zurück und erleichtert  sich auf das Papier.
  Nach einer Weile kommt er  wieder, die Plakate sorgfältig zusammengefaltet. Er klatscht das besudelte  Papier an die Schaufensterscheibe des betreffenden Ladens und beschmiert das  ganze Fenster unter wieherndem Gelächter mit Kot.
  Sein Vater war im Kriege der  Führer einer Heeresgruppe im Osten...
  Den Kommunisten habe ich bald  wirklich vergessen.
  So vergeht das Jahr 1919. Im  Februar 1920 falle ich durchs Abitur. Es macht keinen sehr großen Eindruck auf  mich. Nur habe ich bisher die Absicht gehabt, Theologie und Philosophie zu  studieren, und dazu habe ich nun keine Lust mehr, wo ich noch ein halbes Jahr  auf der Schulbank sitzen soll.
  Aber es ist mir auch  gleichgültig, was ich werde. Geld verdiene ich jetzt so viel, wie als  Akademiker noch nicht in vier Jahren.
  Ich gleite langsam aus der mir  vorgezeichneten Bahn. Der Bazillus „Ruhe und Ordnung" hat mich infiziert.
  Meine Mitschüler diskutieren  Platon. Ich mache manchmal mit, aber im Grunde amüÂsiere ich mich darüber. Was  haben wir heute mit Platon zu tun?
  Ich bemitleide die Jungen, die  sich jetzt überlegen, wie sie am schnellsten zu ihrem Lebensziel kommen  können. Assessor oder Assistenzarzt. Wichtigkeit! Ich fühle mich lebenskräftig  und verwegen. Irgendwie werde ich schon durchkommen. Wenn sich mit der  Spitzelei so viel Geld verdienen lässt, dann bleibe ich eben dabei. Vielleicht  werde ich auch Reichswehroffizier, das sind heute die angesehensten Leute.
  Ich bin jetzt achtzehn Jahre  alt und fülle einen Platz im Leben aus, der allen Menschen Respekt einflößt.  Ich bin achtzehn Jahre alt und habe immer Geld in der Tasche. Ich rauche  anständige Zigaretten, und wenn ich will, kann ich mir Sekt mit Schwedenpunsch  leisten.
  Wie kann mir da mein Direktor  imponieren, wenn er mich „aus pädagogischen Gründen" durchs Abitur fallen lässt?  Ein armer Mensch, ein seltsames Gemisch von preußischem Hauptmann und  alexandrinischem Bücherwurm. Ein kalter Bürger, ein hellenistischer Irrer, der  sich als Grieche fühlt, wenn er sich die Hosen auszieht.
  Ich fühle mich turmhoch über  ihn erhaben und widme mich eifriger als in den letzten Wochen der  Spitzelarbeit. Das ist eben mein Beruf, in dem ich etwas Tüchtiges leiste. Ich  komme mir sehr heldenhaft vor, weil ich alle meine Skrupel unterdrücke und mich  in die Rolle eines wilden Landsknechts hineinsteigere, indes mir der Ekel und  ein kindhaftes Weinen im Halse würgt.
  Ich bin achtzehn Jahre alt und  weiß, die Macht und das Geld entscheiden. Es gibt keine anderen Götter.
  Also arbeite ich weiter für  Ruhe und Ordnung...
Meine Tage sind ausgehöhlt und  leer. Ich erlebe alles gedämpft und betrachte mein Leben und mein Tun wie das  eines fremden Menschen. Ich bin mir gleichgültig.
  Und dann ist der 13. März  1920.
  An diesem Sonnabend sitze ich  beim Friseur und höre aus verworrenem Gespräch von einem Staatsstreich, der in  der Nacht in Berlin geschehen sein soll. Was ist es? Man weiß nichts Genaues.  Nur, dass es sich um einen Putsch von rechts handelt, kann man mir sagen.
  Die Nachricht elektrisiert  mich. Endlich geht es los. Es wird etwas zu tun geben, man kann sich nützlich  machen, man braucht nicht mehr als durchgefallener Abiturient durch die Straßen  zu laufen. Man wird wieder Soldat sein, von jedermann freundlich und  respektvoll betrachtet, man wird wieder Achtung vor der eigenen Brauchbarkeit  und Stärke bekommen.
  Draußen verteilen  Zeitungsjungen der „Nachrichten" Extrablätter.  Ich lese von einer Besetzung des  Regierungsviertels, von der Flucht der verfassungsmäßigen Regierung. Dann eine  Proklamation „An Alle", unter der zwei Namen stehen: „Kapp-Lüttwitz".
  Den General kenne ich. Den  Namen Kapp habe ich nie gehört.
  Das Manifest enttäuscht mich,  ohne dass ich sagen kann, warum. Reichspräsidentenwahl, Fachminister. Dürre und  trockene Worte. Darlegungen, die den Stempel der Nüchternheit tragen. Kein  Schwung, keine hallenden Worte, kein Pathos, keine Ekstase, nicht einmal die  schneidende Sachlichkeit des Soldaten.
  Kein Wort vom Kampf gegen die  Republik, gegen die Herrschaft der Straße, für Deutschlands Zukunft.
  Auf dem Garnisonkommando wird  man NäÂheres wissen. Ich gehe sofort mit Webach zusammen hin. Aber auf der  Kommandantur herrscht große Aufregung. Der Garnisonälteste, ein alter Oberst,  rennt mit hochrotem Kopf im Korridor an uns vorbei. Überall stehen Offiziere  und Mannschaften in eifrige Diskussion vertieft. Die Stimmung ist trotz aller  Verwirrung heiter, fast ausgelassen. Es steht natürlich ganz außer Frage, dass  sich die Garnison den neuen Machthabern anschließen wird. Der Sieg ist heute  schon so gut wie sicher. Die Folgen dieses Staatsstreichs sind noch gar nicht  abzusehen, aber sie werden unsere kühnsten Erwartungen übertreffen.
  Endlich finden wir Walter. Er  tut zwar auch sehr vergnügt, aber wir merken ihm an, dass er schwere Sorgen  hat. Auf unsere vorsichtigen Fragen beginnt er zu erzählen.
  „Das ist ja alles ganz schön  und gut," sagt er zweifelnd, „aber es ist sehr schlimm, dass wir mit den  zuständigen Reichswehrstellen in Berlin keine Verbindung bekommen können. Wir  wissen noch gar nicht, ob die Reichswehr sich auf die Seite von Kapp stellen  wird. Außerdem ist hier in der Provinz nichts vorbereitet, kein Mensch weiß,  wie er sich zu verhalten hat. Und das ist sehr bedauerlich, denn man kann einen  Umsturz nicht damit siegreich durchführen, dass man in Berlin ein paar Häuser  besetzt. Man braucht das Hinterland dazu, und da geht einstweilen alles  drunter und drüber."
  Wir hören von Walter und von  anderen Herren des Kommandos noch Näheres: der Garnisonälteste kann sich nicht  entschließen, auf eigene Verantwortung zu handeln.  Er möchte an sich natürlich gern auf die  Seite der Rebellen treten, aber er weiß nicht, wie der General Seeckt darüber  denkt. Vom Reichswehrministerium ist überhaupt nicht die Rede. Der Minister  heißt Noske und ist nach Stuttgart geflohen.
  Der Kommandant ist für  Abwarten, bis sich die Verhältnisse etwas geklärt haben.
  Die maßgebenden Offiziere der  Garnison machen keinen Hehl daraus, dass sie diese Ansicht des Obersten für  Feigheit halten. Widerwillig stellen sie telefonische Verbindungen mit der  Garnison Leipzig her.
  Verantwortliche Herren sind  nicht an den Apparat zu bekommen. Als Einziges erfährt man, dass dort die  Garnison genau so wenig entschlossen ist wie bei uns.
  In Dresden ist es dasselbe.  Der Kommandeur des Reichswehrkreises IV, der General Maerker, ist  merkwürdigerweise gerade heute telefonisch nicht zu erreichen. Man muss also  auf eigene Faust Entschlüsse fassen.
  Kein Mensch kann uns sagen,  wie wir unsere Nachrichtenarbeit den veränderten Verhältnissen anpassen  sollen. Wir gehen in den Volkspark, ins Gewerkschaftshaus, — überall
  große Aufregung und Empörung  über den Berliner Putsch. Aber es ist heute fast unmöglich, Klarheit über die  Stimmung in der Arbeiterschaft zu gewinnen. Ein Gerücht widerspricht dem  andern, und am Abend des 13. März wissen wir überhaupt nicht mehr, woran wir  sind. Der Generalstreikparole der geflohenen Regierung Ebert-Noske legen wir  keinerlei Bedeutung bei. Es scheint, als ob niemand recht Lust hätte, sie zu  befolgen.
  Das einzige positive Ergebnis  dieses Tages ist meine Meldung, dass die Arbeiterschaft keinen Augenblick  daran zweifelt, dass die Garnison auf Seiten von Kapp-Lüttwitz steht.
  Am Sonntag bin ich schon früh  auf den Beinen.
  Im Garnisonkommando sollen  Nachrichten aus Berlin eingetroffen sein. Der Funker hat es erzählt.
  Jetzt will er aber von nichts  wissen. Also sollen jene Meldungen unterdrückt werden, und wir erfahren nicht,  was sie enthalten haben.
  Ich treffe meinen Bekannten,  den Kommunisten Robert. Er winkt mir zu und lacht über das ganze Gesicht: „Na,  was sagst du nun?" fragt er vergnügt.
  ,Ich finde das gar nicht zum  Lachen," sage ich verlegen.
  „Mensch, das ist doch ein  großartiger Witz, dass die Ebert-Noske ausgerechnet von ihren geliebten  Soldaten zum Teufel gejagt worden sind. Das haben die Schweine redlich  verdient. Jetzt sitzen sie in Stuttgart und heulen, wir sollen ihre Republik  retten. Pfeifen werden wir ihnen was!"
  Ich stelle vorsichtig Fragen  und erfahre, dass die Kommunisten den Staatsstreich tatsächlich mit mehr  Schadenfreude über Noskes Sturz als mit Empörung über die Errichtung der Militärdiktatur  betrachten. Für einen Kampf gegen die Regierung Kapp besteht keine Stimmung.  Robert meint, später wäre immer noch Zeit dazu, den Kapp-Putsch zu einer Aktion  für kommunistische Ziele auszunützen. Nach einiger Zeit, wenn nämlich die  Militärs ihre ersten Dummheiten gemacht hätten, würden auch die Arbeiter Lust  zum Kämpfen bekommen.
  „Also wenn das Garnisonkommando  keine Dummheiten macht, dann wird es hier in Halle demnach überhaupt nicht zu  Unruhen kommen?" fragte ich zur Sicherheit noch einmal zurück.
  Robert lacht aufrichtig  erheitert: „Du bist gut! Die und keine Dummheiten machen! Lieber Junge, spätestens  morgen fangen die Offiziere an, verrückt zu spielen, und ruhen nicht eher, als  bis sie sich die ganze Arbeiterschaft auf den Hals gehetzt haben. Das ist immer  so."
  Nach zwei Stunden ist mein  Bericht bei Walter. Er kennt Robert und weiß von der Gewichtigkeit seiner  Meinungen. Ich habe das Gefühl, jetzt vielleicht mein kleines Teil dazu beigetragen  zu haben, dass der Kapp-Putsch ohne besondere Erschütterungen in Halle abgehen  wird.
  Es steht sehr schlecht mit der  Aussicht, dass die nächsten Tage Kämpfe bringen werden. Wir können nun also  ohne große Gefahr für die neuen Herren in Berlin Stimmung machen.
  Allmählich aber beginnt die  Stadt zu fiebern.
  Die Straßen voll sonntäglich  geputzter Menschen hallen wider von erregtem Gemurmel. Ich habe keine anderen  Gedanken mehr, als auf dies unheimliche Brodeln zwischen den Häuserwänden zu  lauschen.
  In den Augen der Menge glimmt  und glüht jenes unsinnige und aufregende Flackern, das ich kenne, Gerüchte  schwirren hin und her, widersprechen sich, werden widerlegt, neue Gerüchte  kommen auf, und alles wird geglaubt.
  Ich sehe an einer Straßenecke  einen demokratischen Stadtverordneten, der zu einigen Passanten spricht. Es  sind Arbeiter darunter, auch Kommunisten. Der Stadtverordnete redet mit  glühendem Pathos von der jungen Republik, die gegen ihre Feinde geschützt  werden muss. Sein Schnurrbart sträubt sich, seine Stimme psalmodiert sakral.
  Und keiner seiner Zuhörer  lacht. Auch die Kommunisten nicht. Es scheint mit einem Schlage plötzlich  keine Gegensätze in der Arbeiterschaft mehr zu geben.
  Jeder scheint entschlossen,  die Republik gegen den Feind zu verteidigen.
  Es ist aber kein Feind da. Die  Soldaten sitzen unruhig und ein wenig ängstlich in den Kasernen und wagen sich  nicht auf die Straße. Außerdem sind es nur ein paar hundert Mann, die der  Republik im Ernstfall nichts tun können, wenn sie es auch wirklich wollten.
  Eine ungeheure Erregung ballt  sich sinnlos in der Luft zusammen und sucht nach Angriffspunkten. Dass morgen  der Generalstreik einsetzen wird, gilt heute schon als beschlossene Sache.
  Und der Feind? Man wird den  Feind nötigenfalls erfinden, wenn nur erst der Wille zum Kampf da ist.
  Ich unterdrücke ein Lächeln.  Ist das nicht geradezu komisch? Die Truppen warten ab. Die Kommunisten warten  ab. Sozialdemokraten und Unabhängige wollen streiken. Die Bürger aller  Schattierungen haben nichts als Angst und trauen der Berliner Bewegung nicht  viel zu. Und trotzdem redet man von Feinden und glüht vor Kampflust.
  Blödsinn! Ich komme mir sehr  überlegen vor. Die ganze Aktion wird ausgehen wie das Hornberger Schießen, wenn  die Garnison keine Dummheiten macht. Und das Kommando wird bestimmt keine  machen. Schon aus dem Grunde, weil viel zu wenig Soldaten in der Stadt sind.
  Am späten Nachmittag läuft  plötzlich ein Schrei durch die Straßen: Das Garnisonkommando hat das Freikorps  alarmiert! Die Zeitfreiwilligen sammeln sich bereits in den Kasernen. Die  Oberrealschule ist schon von ihnen besetzt. Die Einwohnerwehr ist einberufen  worden.
  Ich kann diesem Gerücht nicht  glauben. Zu dieser Alarmierung liegt doch gar kein Grund vor, denn in der Stadt  ist es bisher nirgendwo zu Ausschreitungen gekommen.
  Gegen wen sollen die  Zeitfreiwilligen also kämpfen? Diese Alarmnachricht kann doch nur bedeuten, dass  sich das Garnisonkommando entschlossen hat, offen auf die Seite der Rebellen  zu treten?
  Ich laufe zum  Garnisonkommando. Aus dem Kasernentor kommen mir Soldaten entgegen, die in die  gegenüberliegende Oberrealschule gehen, hochbepackt mit Decken, Strohsäcken und  Waffen. Ich erkenne verschiedene Bekannte. Es sind Zeitfreiwillige.
  Wer den Befehl zur Alarmierung  gegeben hat, kann ich nicht in Erfahrung bringen. Walter sagt, es kann gar  keine Rede davon sein, dass sie für Kapp kämpfen sollen. Es handelt sich nur um  eine vorbeugende Maßnahme für den Fall, dass in der Stadt Unruhen entstehen  sollen. Und dabei lächelt er ironisch.
  Ich gehe nach Hause und weiß  nun, dass die Unruhen nicht mehr lange auf sich warten lassen werden.
  Ich denke an Robert. Er hat  wirklich Recht
  gehabt: die erste Dummheit ist  geschehen. Weitere werden bald folgen...
  Am nächsten Morgen schließen  alle Betriebe. Versammlungen überall. Der Generalstreik beginnt.
  Sozialdemokraten und  Unabhängige wollen sich mit der ordnungsmäßigen Durchführung des Streiks  begnügen, die Kommunisten verlangen bereits Bewaffnung der Arbeiterschaft.
  Ich gebe telefonisch einen  Bericht über eine solche Versammlung an das Kommando. Am Apparat meldet sich  Hauptmann Ultz, ein korrekter und nicht übermäßig intelligenter Herr.
  Ich höre förmlich sein  ungläubiges Lächeln. Hoffnungslos!
  Kurz darauf treffe ich Webach  und Walter, der uns befiehlt, mit ihm zum Kommando zu kommen.
  Wir versuchen, im  Gewerkschaftshaus noch etwas über die Pläne für die nächste Zukunft zu hören.
  Walter geht mit uns. Walter  tut auf dem Garnisonkommando in Uniform Dienst. Er hat oft mit den Einberufern  politischer Versammlungen zu verhandeln, und viele Gewerkschaftler kennen  ihn. Es ist schon Unfug, dass Webach und ich uns mit ihm zusammen auf der  Straße sehen lassen. Wenn uns zufällig jemand mit Walter sieht, dann sind wir  als Spitzel erkannt. Abgesehen davon ist Walters Unternehmen, mit uns in das  Gewerkschaftshaus zu gehen, völliger Unsinn. Aber was sollen wir machen? Wenn  Walter uns zu dieser zwecklosen Tollkühnheit kommandiert, dürfen wir uns nicht  weigern, ihm zu folgen.
  In der Vorhalle des Hauses  dreht er sich dann auch plötzlich um: „Zurück!" flüstert er hastig.
  Wir gehen langsam die Straße  hinunter. Walter ist sehr bleich: „Habt ihr Eure Pistolen da?" fragt er  leise. Wir bejahen.
  Ich drehe mich um und sehe, dass  uns ein Menschenhaufe folgt. Flüche steigen auf, immer mehr Menschen schließen  sich an.
  Die Menge fängt an zu laufen.  Wir rasen im Galopp die Straße hinab, eine Tordurchfahrt eine neue Straße, und  immer noch hinter uns das Gelärme der uns verfolgenden Meute.
  Walter keucht und stöhnt. Er  kann nicht mehr.
  „Stehen bleiben!" ruft er  uns zu.
  Wir hätten noch lange so  weiter laufen können. Zögernd werfe ich einen scheuen Blick. zurück, dann aber  siegt die Überlegung, da wir Walter nicht im Stich lassen können. Wir bleiben  stehen, pressen uns an die Häuserwand der gegenüberliegenden Straßenseite und  entsichern die Pistolen in der Manteltasche.
  Mir wird schwindlig. Die  Verfolger stellen sich in einem großen Halbkreis um uns. Das letzte Bild, das  ich noch deutlich wahrnehme ist ein großer Mensch, der ganz vorn steht und sich  seine Fausthandschuhe von den Händen streift.
  Es ist also aus. Wir werden  zertrampelt werden. Keine Möglichkeit zu entkommen. Ein paar Schüsse, bis das  Magazin leer ist, und dann kommt das Ende. Ich empfinde nicht einmal Furcht. Es  ist wie im Traum.
  Da — noch ehe unsere Verfolger  sich zum Angriff entschließen — klingelt plötzlich eine Straßenbahn heran.
  Wir springen in langen Sätzen  auf die fahrende Bahn.
  Geschrei steigt hinter uns  auf. Der Fahrer will halten. Ich presse ihm zitternd in wilder Erregung die  Pistole ins Genick. Von der Hinterplattform, auf die Webach und Walter gesprungen  sind, knallen Schüsse, die sie auf ihre Verfolger abgeben.
  Die Bahn rast an mehreren  Haltestellen vorüber. Dann erst wagt der Führer zu halten. Wir sind nur wenige  Schritte von der Kommandantur entfernt. Das Kasernentor schlägt hinter uns zu.
  Aufatmend lassen wir uns auf  ein paar Stühle fallen: Gerettet. Aber die ersten Schüsse sind gefallen...
  Während Walter in das  Dienstzimmer des wachhabenden Offiziers hineingeht, spricht Webach und mich  ein Offizier in elegantem Pelz an, der im Wartezimmer auf und ab geht. Er trägt  die Friedensuniform eines Ulanenregiments. Vor der Tür steht sein über und über  mit Schmutz bedeckter Wagen. Er ist sehr aufgeregt und hat anscheinend große  Eile. In der Hand hält er ein Schreiben, mit dem er dann und wann nervös in der  Luft herumfuchtelt.
  „Herrgott, ich habe keine  Zeit!" schimpft er plötzlich vor sich hin. „Ich muss gleich weiter nach  Leipzig."
  Wir sehen ihn an und er stellt  sich vor: „Freiherr von Liechtenstein vom Divisionskommando IV."
  Dann erzählt er eine  phantastische Geschichte: er sei ein Kurier des Generals Maerker, der den  Garnisonen Halle und Leipzig Mitteilung davon machen soll, dass der General  sich mit allen ihm unterstellten Reichswehrtruppen der Regierung Kapp zur  Verfügung hält. Ein Schreiben, das tatsächlich die Unterschrift des Generals  Maerker trägt, soll seine Angaben bestätigen.
  Der Wirrwarr im Offizierkorps  nimmt unwahrscheinliche Formen an; die Mitteilung des mysteriösen  Ulanenoffiziers wird allgemein für Schwindel gehalten. Aber immerhin bietet  doch die Unterschrift Maerkers willkommenen Vorwand, das Eintreten für Kapp  als die Befolgung eines dienstlichen Befehls hinzustellen.
  Noch ehe man ihn nach seiner  Legitimation fragen kann, ist der Freiherr mitsamt dem Brief des Generals verschwunden.
  Das Ergebnis einer  stundenlangen Offiziersbesprechung ist zunächst eine lahme öffentliche  Erklärung, dass die Truppen der Garnison Halle ausschließlich für die  Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und die Sicherung von Leben und Eigentum  der Einwohner sorgen würden. Von einer Beteiligung an dem Putschunternehmen  könne keine Rede sein.
  Dann sickert langsam die  Nachricht durch, dass der Garnisonälteste plötzlich erkrankt sei und seine  Dienstgeschäfte vom ältesten Stabsoffizier des Garnisonkommandos übernommen  worden sind.
  Das ist der Major Nagel, der  spätere Generalsekretär des Reichslandbundes und Geschäftsführer des  Deutschnationalen Bismarckbundes.
  Wie ich von der Kommandantur  nach Hause komme, bemerke ich einige Leute, die scheinbar zwecklos vor der  Gartenpforte unseres Hauses herumstehen. Meine Wohnung wird bewacht, man hat  mich als Spitzel erkannt. Bei Webach ist es ebenso.
  Wir rufen noch einmal Walter  an. Der rät uns, schnell in die zweite Zeitfreiwilligenkompanie wieder  einzutreten. Da würden wir während der kommenden Unruhen am sichersten sein.
  Ich habe nicht die geringste  Lust, den öden Dienst in der Kompanie wieder mitzumachen. Es ist jetzt gerade  ein Jahr her, dass ich das Leben eines Revolutionssoldaten kennen gelernt habe.
  Aber was hilft alles  Räsonnieren? Walter hat recht: in meiner Wohnung würde ich bei der nächstbesten  Gelegenheit totgeschlagen werden. Also lassen wir uns auf der Kammer der  Reilkaserne Uniformen verpassen und sind schon am Spätnachmittag in der  Oberrealschule, von zahlreichen Bekannten freudig begrüßt.
  Einige unserer Freunde sind in  der M.G.-Abteilung; der Führer, ein ehemals aktiver Oberleutnant, ist ein  Kamerad aus meinem Ruderklub. Wir werden der M.G.-Gruppe zugeteilt. Webach war  im Feld Maschinengewehrscharfschütze.
  Ich verstehe nichts von einem  Maschinengewehr, aber Webach meint, das sei nicht so schhmm...
Ich bin also wieder Soldat. Es  ist nicht so stumpfsinnig wie im vorigen Jahr, denn in dem weitläufigen Gebäude  der Oberrealschule liegen etwa vierhundert Menschen: unsere Kompanie, eine  Wachkompanie der Einwohnerwehr und eine Abteilung von Schülern, die in aller  Eile für den Straßenkampf ausgebildet werden sollen. Sie wollen auch durchaus  für Kapp-Lüttwitz kämpfen, und man konnte ihnen ihren Wunsch nicht abschlagen.
  Wenn wir nicht in unserem  ausgeräumten Klassenzimmer auf den Strohsäcken hocken, unzählige Zigaretten  rauchen, Skat spielen oder an unseren Maschinengewehren herumbasteln, gehen wir  im Hause spazieren. Es gibt viel zu sehen.
  Da ist zunächst unsere  Kompanie. Sie besteht fast ausschließlich aus studentischen Korporationen:  vier Korps, eine Landsmannschaft, eme Turnerschaft und eine agronomische Verbindung  bilden ihr Hauptkontingent. Unter den Studenten sind viele ehemalige Offiziere,  und infolgedessen ist der Ton akademischkorrekt. Man nennt sich „Herr  Kam'rad" oder „Herr Kommilitone" und ist sehr höflich zu einander.  Die einzelnen feindlichen Verbände haben Bmgfrieden geschlossen.
  Allerdings haben die vier  Korps die Turnhalle, wo zugleich der Kompanieappell stattfindet, für sich  reserviert. Nur die Agronomen dürfen auch dort schlafen. Aber die haben immer  schon sehr freundschaftlich mit den Korps gestanden.
  Der Burgfrieden hat auch seine  Nachteile. Da ist z. B. eine farbentragende katholische Verbindung in der  Kompanie. Man kann den Leuten nichts nachsagen: sie haben sich gleich bei dem  ersten Aufruf zur Verfügung gestellt, und ihr militärischer Führer hat sogar  viele hohe Orden. Aber wir empfinden sie als einen Fremdkörper. Katholisch, —  das ist für uns so ungefähr gleichbedeutend mit unzuverlässig oder falsch oder  republikanisch. Die Koalition zwischen Zentrum und Sozialdemokraten macht uns  die braven Katholiken verdächtig, und wir passen scharf auf sie auf.
  Wir kämpfen ja für  Kapp-Lüttwitz, und die Katholiken sollen doch eigentlich Republikaner sein.  Über diesen Widerspruch kommen wir nicht hinweg, und schon am ersten Tag  ereignet sich ein peinlicher Zwischenfall: ein betrunkener Korpsstudent rempelt  einen Katholiken mit der Frage an, ob er nicht lieber auf der anderen Seite  kämpfen wolle. Die kleine Kontroverse wird damit beigelegt, dass der Korpsier  vom Kompanieführer gerüffelt wird.
  Aber was heißt kämpfen? Und  was heißt Kapp-Lüttwitz? Wir liegen in der Kaserne und warten auf die Dinge,  die da kommen sollen. Wir können gar nicht kämpfen, weil kein Feind da ist. Die  Zivilbehörden arbeiten ruhig weiter, kein Mensch greift uns an, und wir wissen  überhaupt nicht, woran wir sind.
  Einmal wird des Abends beim  Appell eine kurze Mitteilung verlesen, dass in Berlin schwere Kämpfe zwischen  den Truppen und der Arbeiterschaft im Gange seien, und wir beneiden die  Kameraden in Berlin glühend um ihre Tätigkeit. Die Chancen, dass es bei uns zum  Kampf kommen wird, sind gleich Null.
  Es passiert überhaupt nichts,  und wir werden langsam nervös, denn dazu sind wir ja schließlich nicht hierher  gekommen, um Karten zu spielen und uns faule Witze zu erzählen.
  Der Kompanieführer hat  gegenüber unseren ungeduldigen Fragen keinen leichten Stand. Es ist ein älterer  Herr, der im Zivilberuf Ordinarius für alte Sprachen an der Universität ist.  In grauer Vorzeit war er einmal Hauptmann der Reserve oder der Landwehr. Er  ist von einer militärischen Unbeholfenheit, die uns viel Spaß bereitet.
  Jeden Abend ist Appell. Da  steht dann Hauptmann Leuze vor der Front der Kompanie und kann sich kein Gehör  verschaffen. Nachdem er einigemale „Stillgestanden" kommandiert hat und  das allgemeine Gespräch trotzdem ruhig weiter geht, klatscht er schließlich  erregt in die Hände und ruft: „Nu seien Sie doch endlich mal ein bisschen  stille, meine Herren Kommilitonen!"
  Die Verlesung der Mitteilungen  des Garnisonkommandos wird übrigens mit akademischen Beifalls- und Missfallensäußerungen  entgegen genommen. Einige Zeit haben der Professor und der Hauptmann Leuze  wegen dieser Frage in schwerem Kampf mit einander gelegen, ob diese  Kundgebungen statthaft seien oder nicht. Der Professor hat endlich gesiegt: wir  dürfen in der Kompaniefront trampeln und scharren.
  Es bildet sich allmählich eine  Tradition heraus: jedes Mal, wenn die Regierung Ebert-Noske erwähnt wird,  scharrt man lang anhaltend. Der Name Kapp ist das Signal zu einem minutenlangen  Beifallsgetrampel, das vielfach auch durch Aufstoßen des Gewehrkolbens auf den  Boden wirksam unterstützt wird.
  Eigentlich wäre das  Soldatenspielen ganz amüsant, wenn nur nicht diese unerträgliche Ungewissheit  wäre! Wir wissen bald überhaupt nichts mehr von dem, was außerhalb der Stacheldrahtverhaue  vorgeht, die die Reilkaserne und die Oberrealschule zu einer kleinen Festung  machen.
  Wir erfahren, dass die  Moritzburg, der Bahnhof, die Frankeschen Stiftungen und die Artilleriekaserne  ebenfalls von Zeitfreiwilligen, Reichswehrtruppen und Einwohnerwehr besetzt  und stark befestigt worden sind. Das ist alles. Von Kämpfen, auf die wir  sehnlich warten, hören wir nichts.
  Die zahllosen Diskussionen auf  den Korridoren und in den Klassenzimmern bleiben gegenstandslos. Wir wissen  nicht, gegen wen wir
  kämpfen sollen. Die Regierung  Kapp sitzt in Berlin, und wenn wir sie unterstützen wollen, dann müssen wir  ihre Gegner aus dem Felde schlagen. Aber die rechtmäßige Regierung ist in  Stuttgart, und hier in Halle gibt es nur eine große Menge Unzufriedener, und  niemand, der gegen uns die Waffen erhebt.
  Endlich geschieht doch etwas.  In der Stadt ist zwar immer noch alles völlig ruhig, aber eines Abends werden  wir alarmiert.
  Das geht nicht ohne  Schwierigkeiten vor sich, denn die einzelnen studentischen Korporationen wollen  unbedingt auch in derselben militärischen Formation zusammenbleiben, und es  gibt ein großes Protestgeschrei, wenn ein Korpsstudent einem Zug oder einer  Gruppe zugeteilt wird, in der nur Landsmannschafter oder gar Katholiken sind.
  Große Aufregung verursacht der  Türke Ismael. Er kann kaum Deutsch sprechen, aber er ist Mitglied des  hochfeudalen Korps Guestphalia und hat sich mit seinen sechs Korpsbrüdern  bereitwillig der Regierung Kapp zur Verfügung gestellt.
  Der Alarm hat ihn völlig außer  sich gebracht. Er ist etwas angezecht, hat sich wie ein kurdischer Viehtreiber  das Koppel mit unzähligen Handgranaten von rechts nach links über die Schulter  gehängt und fuchtelt mit seinem Karabiner wie mit einem Kloben Holz in der  Luft herum. Er tobt auf dem halbdunklen Schulhof umher und stößt von Zeit zu  Zeit ein misstönendes Gebrüll aus, das er augenscheinlich für dieser Situation  angemessen hält. Seine Korpsbrüder bringen ihn schließlich zur Ruhe.
  „Türke, du Rindvieh! Du bist  hier nicht im Kaukasus!" schreit ihn der erste Chargierte seines Korps an.
  „Ich schießen! Immerzu schießen!"  versichert Ismael kampfwütig.
  Ismael aus Kleinasien kämpft  für Ruhe und Ordnung. Der Teufel mag wissen, was er sich darunter vorstellt...
  Aber wir wissen es ja schließlich  alle nicht viel besser. Erst auf dem Marsch erfahren wir, wohin es geht. Wir  sollen den Volkspark besetzen.
  Warum? Keiner weiß es. Wir  fragen auch nicht mehr. Uns ist alles recht. Wenn nur überhaupt etwas  geschieht.
  Wir umzingeln das Gebäude, lösen  einige Funktionärversammlungen auf, räumen das Restaurant und bringen unsere  M.G.s in Stellung. Die paar harmlosen Arbeiter, die wir aus ihrem Stammlokal  vertrieben haben, leisten keinerlei Widerstand. Es ist ein billiger Sieg.
  Ich liege im großen Versammlungssaal  unmittelbar unter einem umflorten Wandbild, das den im vorigen Jahr ermordeten  Meseberg darstellt. Ein gutmütiges Gesicht, dem auch ein martialisch  aufgedrehter Schnurrbart keinen anderen, kriegerischen Ausdruck geben kann, ein  rührend unmoderner Kragen, ein kleiner schwarzer Schlips. Das ist also der  Verbrecher, der für Ruhe und Ordnung umgebracht werden musste. Jetzt sieht er  leer und fremd lächelnd auf seine Mörder herab, und ich schäme mich, dass ich  überhaupt an den Toten denken muss.
  Posten kommen und gehen. Man  erwartet einen Angriff. Die Arbeiter können es sich doch nicht so ohne weiteres  gefallen lassen, dass man ihr Versammlungslokal besetzt? Ohne jeden Grund!
  „Schließlich werden sich die  Brüder mal zu irgendwas entschließen müssen," knarrt neben mir die Stimme  eines Kameraden. „Wenn sie den Volkspark stürmen wollen, dann können wir ihnen  endlich mal zeigen, was 'ne Harke ist."
  Aber sie lassen es sich  gefallen. Wir warten die ganze Nacht. Niemand wagt zu schlafen: sie müssen nun  doch bald kommen. Die Maschinengewehre starren drohend aus den Fenstern. Auf  den Treppen und im Flur stehen die Posten, schwerbewaffnet. Aber es wird immer  später, und sie kommen nicht.
  Die Stimmung verschlechtert  sich von Minute zu Minute.
  Ein Landsmannschafter hält  Vortrag über die politische Lage. Nur wenige hören ihm zu, denn was ist da viel  zu sagen? Einer weiß ebenso wenig wie der andere, und ob wir hier überhaupt  noch einmal etwas zu tun bekommen werden, wissen der Himmel und die Parteileitung  der K.P. Dass die Sozialdemokraten sich zu keiner Kampfhandlung aufraffen  werden, gilt bei uns als ausgemacht.
  In das gelangweilte Schweigen,  das sich im Laufe der Nacht in dem Saal ausbreitet, tröpfelt plötzlich eine  müde Stimme: „Das Beste wäre es, wir gingen alle nach Hause."
  Ein Augenblick höchster  Verblüffung.
  Dann knallt aus dem  Hintergrund eine schneidige Frage: „Wer spricht denn da überhaupt, wie?"
  Die gelangweilte Stimme  antwortet noch um eine Nuance gleichgültiger: „Regen Sie sich nicht auf, Herr  Kamerad."
  Der Angeredete springt auf,  ein sehr junger Korpsstudent: „Ich muss Sie dringend um Aufklärung bitten,  Herr Kommilitone. Was haben Sie vorhin mit Ihrer — äh — sagen wir — höchst  eigentümlichen Bemerkung sagen wollen?"
  Michael, ein Zugführer, der  das goldene Verwundetenabzeichen auf dem Waffenrock trägt, und der im  Zivilberuf Elementarlehrer ist, wendet sich seinem Angreifer zu.
  „Und ich möchte Sie, zwar  etwas höflicher aber ebenso dringend, um Aufklärung bitten, was Sie mit Ihrem  inquisitorischen Ton bezwecken. Wollen Sie sich vielleicht an mir reiben,  junger Herr?"
  Der Student Fischer verliert  die Nerven: „Der Teufel ist Ihr junger Herr, verstehen Sie mich! Ich wollte mit  meinem Ton Ihnen zum Bewusstsein bringen, dass ich es außerordentlich merkwürdig  finde, wenn einer fünf Minuten vorm Kampf plötzlich Lust zum Nachhausegehen  bekommt. Nichts weiter."
  Wir lauschen atemlos vor  Spannung. Michael ist ein älterer, sehr ruhiger Mensch, der eigentliche Führer  der Kompanie, der uneingestanden jedem von uns wegen seiner Gelassenheit und  seiner Orden imponiert. Wie wird er sich benehmen?
  Er steht nicht einmal auf.  „Sie wollen also gewissermaßen Ihre persönliche Meinung dahin zum Ausdruck  bringen, dass Sie mich für feige halten, nicht wahr?" fragt er beinahe gemütlich.
  Fischer stottert in sinnloser  Wut: „Das ist allerdings meine Meinung."
  „Glaub', was du lustig bist,  mein Junge!" sägt Michael ganz nebenbei und dreht sich auf die andere  Seite.
  Fischer kreischt, weint fast  vor Erregung: „Sie werden mir Satisfaktion geben, Sie — Sie..."
  Andere mischen sich ein und  bringen Fischer zur Ruhe. Michael hat bedeutend bei uns an Terrain verloren.
  Zu unserer aller Überraschung  steht er plötzlich auf und geht auf Fischer zu: „Entschuldigen Sie, Herr  Kamerad, wenn ich Sie beleidigt habe. Meine Bemerkung war vielleicht etwas missverständlich,  und ich hätte sie besser unterlassen. Aber es hat doch keinen Zweck, dass
  wir uns hier untereinander  noch in die Haare geraten."
  Er streckt Fischer die Hand  hin. Der zögert einen Augenblick, sieht sich wie hilfesuchend nach uns um und  schlägt schließlich halb unwillig ein.
  Dann spricht Michael langsam  in die Stille: „Wir sollten nach Hause gehen, sagte ich. Denn ganz offenbar  haben die Arbeiter doch keine Lust, mit uns anzubinden. Außerdem halte ich die  Besetzung des Volksparks für einen taktischen Fehler, weil wir damit der  Gegenseite einen Grund zum Kampf geben. Das war meine Ansicht."
  Wieder schweigen alle  betreten.
  „Aber das ist doch die  Hauptsache, dass wir die Leute endlich zum Kampf herauslocken," sagt schließlich  jemand zögernd. Ein zweiter fällt ein, ein dritter, und plötzlich ist eine erregte  Diskussion im Gange.
  „Natürlich, die Hauptsache  ist, dass es endlich zum Kampf kommt."
  „Nur so können wir die  Regierung Kapp-Lüttwitz unterstützen."
  „Lächerlich, wozu wären wir  denn sonst überhaupt hier?"
  Ich verfolge die  Auseinandersetzung mit höchster Spannung. Michael lächelt ganz merkwürdig.  Dann fragt er einen neben ihm sitzenden Studenten: „Wofür kämpfen Sie eigentlich?"
  Der sieht sich verlegen im  Kreise nach Unterstützung um und murmelt unsicher: „Für Kapp natürlich."
  „Und Sie?" wendet sich  Michael an einen anderen.
  „Für Ruhe und Ordnung,"  antwortet der prompt. „Und Sie?"
  Der Führer der katholischen  Verbindung gibt klar und bestimmt zurück: „Für die rechtmäÂßige Regierung  Ebert-Noske."
  Ein Irrtum ist nicht möglich:  Jeder hat die Antwort klar und deutlich verstanden, und jeder sieht sich  verlegen nach seinem Nebenmann um, was der wohl für ein Gesicht dazu macht.
  Aber nur im Hintergrund brummt  einer halblaut: „Schöne Sauerei!" Im Ernst wagt niemand etwas zu sagen.  Denn der Führer der Katholiken ist ein älterer Oberleutnant, der den  Hohenzollern hat. Und gegen einen solchen Mann kann man doch nichts  unternehmen!
  Außerdem stellt die  katholische Verbindung immerhin einen sehr beträchtlichen Teil der gesamten  Kompanie dar.
  Michael lächelt immer noch.  Die Situation wird unendlich peinlich: jeder von uns fühlt das Beschämende, dass  wir im Grunde nicht einmal wissen, wofür wir kämpfen wollen. Aber statt  irgendeines Entschlusses ist das Resultat unserer Gefühle eine dumpfe Wut auf  Michael, der uns in diese bedrückende und unangenehme Lage gebracht hat.
  Wir atmen alle erleichtert  auf, als draußen plötzlich in großer Nähe ein paar Schüsse fallen.
  Ein kurzes Kommando Michaels,  und wir stürzen zu den Plätzen, die uns vorher zugewiesen wurden.
  Wie ich mit Webach hinter  unserm M. G. hocke, kommt mir wohl noch einmal der Gedanke an die eben erlebte  Szene. Aber er wird schnell erstickt von der ungeheuren Gespanntheit, mit der  ich den Patronengurt in das Schloss des Gewehrs einziehe.
  Wir warten vergebens. Die  Schüsse wiederholen sich nicht. Müde, verärgert und übernächtig erwarten wir  den Morgen. Da kommt dann der Befehl, dass wir den Volkspark wieder räumen  sollen.
  Wir fragen uns, was denn die  Besetzung überhaupt für einen Zweck gehabt hat, wenn wir sie doch gleich wieder  aufgeben müssen. Ich wage nicht, mir eine Antwort darauf zu geben, und tue so,  als hätte ich es nicht gehört, wie jemand in meiner Nähe mit hämischen LäÂcheln  sagt:
  „Da haben sich die Herren vom  Garnisonkommando wieder einmal geschnitten. So dumm sind die Latjer denn doch  nicht, dass sie blindlings in ihr Verderben rennen. Wir werden doch wohl den  Angreifer spielen müssen."
  Im Quartier legen wir uns dann  schlafen.
  Nirgends in der Stadt ist es  bisher zu Kämpfen gekommen.
Immer noch quälendste Ungewissheit.  Aus Berlin hören wir überhaupt nichts mehr. Tatenlos liegen wir herum und  wissen im Grunde nicht, wozu wir auf der Welt sind. Wir kommen uns bald  lächerlich vor. Etwas muss doch nun endlich geschehen!
  Zeitungen gibt es nicht mehr.  Hin und wieder erscheint noch einmal ein kurzes Nachrichtenblatt, das einige  Streikbrecher im Betrieb einer bürgerlichen Zeitung gedruckt haben. Aber diese  spärlichen Extrablätter enthalten nur dürre Nachrichten, die uns wenig sagen.
  Einmal zirkuliert bei uns eine  solche Ersatz-Zeitung. „Mitteldeutschland brennt!" heißt eine fette  Schlagzeile. Und dann lesen wir von grauenhaften Szenen, die sich allenthalben  in der Provinz Sachsen und in Thüringen in diesen Tagen abgespielt haben.
  In Bitterfeld, Golpa, Wolfen  und Zschornewitz blutige Zusammenstöße zwischen Arbeitern und Mitgliedern der  Technischen Nothilfe, die die großen Werke, die Berlin mit elektrischem Licht  versorgen, wieder in Gang bringen wollten. Mehrere Tote und viele Verwundete.  Man hat Nothelfer gefunden, denen die Geschlechtsteile abgeschnitten und in den  Mund gesteckt worden sind! Wir glauben alles!
  In Naumburg und Weißenfels  sind die Garnisonen nach schweren Verlusten in ihren Kasernen eingeschlossen  worden; das Reichswehrbataillon Merseburg liegt seit Tagen in schwerstem Kampf  mit „Aufständischen". In Sangerhausen hat man sinnlos einen Pfarrer  ermordet. In Eisleben wollten einige Rote bei dem Generaldirektor der  Mansfeld A. G. ein Automobil beschlagnahmen. Als die Herausgabe verweigert  wurde, hat man den Direktor Vogelsang und seinen Chauffeur einfach totgeschlagen.  Die Schupo ist in einer Schule eingeschlossen, die Arbeiterschaft des  Mansfelder Seekreises hat sich bewaffnet...
  Alles, um die Militärdiktatur  zu bekämpfen.
  Und nicht die geringste  Nachricht aus Berlin!
  Diese hilflose, trostlose,  lähmende Abgeschlossenheit, in der wir uns seit Tagen befinden, ist auf die  Dauer unerträglich.
  Wir glauben alles, was uns  erzählt wird. Ein Besonnener weiß zwar zu bemerken, dass die Geschichte mit den  in den Mund gesteckten Geschlechtsteilen eine sehr beliebte Gräuelnachricht  ist, die aus dem ersten Balkankrieg stammt. Wir sind zu erregt und zu besorgt,  um auf seine Worte zu hören.
  Uns überfällt plötzlich die  fröstelnde Erkenntnis, dass es dieses Mal blutiger Ernst werden wird. Ganz  schüchtern denke ich auch daran, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wäre  ich still und bescheiden zu Hause geblieben und hätte den Kriegsruhm anderen  überlassen. Aber es ging ja leider nicht. Auch habe ich keine Zeit, mir dies  alles klar zu machen. Plötzlich werden wir alarmiert. Im fahlen Morgengrauen  ziehen wir durch die schlafende Stadt zum Hauptbahnhof. Niemand weiß, wohin es  geht.
  Abenteuerliche Gerüchte kommen  auf und werden geglaubt. Wir sollen nach Berlin, alle Truppen aus  Mitteldeutschland sollen Berlin einschließen, um den Widerstand der Roten gegen  die neue Regierung endgültig zu brechen. Wir sollen nach Leipzig fahren, um die  dortige Garnison aus einer verzweifelten Lage herauszuhauen. Im Süden Halles  sind schwere Kämpfe mit einer Roten Armee im Gange, bei denen man uns braucht...Wir  glauben alles.
  Der Hauptbahnhof ist von  Zeitfreiwilligen besetzt. Das stärkste Kontingent der Besatzung wird hier von  der theologischen Verbindung Warteburgia gestellt. Ein älterer Herr, der über  der Uniform eines Felddivisionspfarrers das bunte Band dieser Verbindung trägt,  beglückwünscht uns ironisch: wir sollen nach Eisleben. Ordnung schaffen.
  Leutnant Michael, der uns  führt — der Professor ist zu Hause geblieben —, sagt gleichmütig: „Na  schön!" Seine Ruhe steckt an. Ich fühle mich sicher, ich habe die Gewissheit,  dass mir nichts passieren kann, solange Michael uns führt. Ich weiß: das ist  sinnlos, aber ich glaube doch daran.
  Auf dem Bahnsteig hält ein  Panzerzug. Die Lokomotive ist bereits unter Dampf. Wir steigen ein.
  Die Waggons reichen nicht aus,  und das bisschen Platz, das für uns übrig ist, wird zudem noch von  Maschinengewehren und einer Unmenge von Handgranaten verengert, die überall  herumliegen.
  Webach und ich kommen mit  unserm Gewehr in einen Waggon, der früher einmal als Viehwagen gedient hat,  dann aber notdürftig mit Panzerplatten ausgeschlagen worden ist. Die  Sehschlitze sind viel zu klein.
  Die schweren Eisentüren  schlagen hinter uns zu, und ich fühle die beklemmende, die würgende Drohung des  Eingeschlossenseins wie einen körperlichen Schmerz und wie eine unmittelbare  Gefahr.
  Es ist fürchterlich heiß. Bei  der Abfahrt fühlen wir jeden Schienenstoß als dumpfe Erschütterung im Gehirn,  denn die Wagen haben keine Federung.
  Wir fahren sehr langsam.  Fortwährend werden wir aufgehalten, weil eine Weiche mit der Hand gestellt  werden muss, oder weil sich das Lokomotivpersonal über den richtigen Weg nicht  einig werden kann.
  Bald bekommen wir — Truppen,  die die Militärdiktatur aufrichten wollen — auch Feuer. Wir merken es daran, dass  aus dem Nachbarwagen plötzlich ein M. G. zu belfern beginnt.
  Dann höre ich das ominöse  Pfeifen einer Kugel, die durch einen Sehschlitz gedrungen ist. Kein Mensch  wagt, das Feuer zu erwidern, denn solange man sich nicht an den Schiessscharten  zeigt, ist man einigermaßen sicher.
  Die größten Schreier, die  vorher immer mit Wonne sich die kommenden Kämpfe ausgemalt haben, werden  langsam still. Es sind nur ganz wenige, die sich auf die alten Feldsoldaten ausspielen,  denen nichts mehr imponieren kann, und die jede neue Kugel mit einem  „Hoppla!" oder einem dummen Witz begrüßen.
  Auch sie verstummen bald. Sie  merken, dass sie kein Publikum haben. Es ist auch zu unheimlich, so zwischen  Stahlwänden eingeschlossen zu sein, keinen Feind zu sehen, und sich wie ein  Stück Vieh irgendwohin fahren zu lassen.
  Webach stößt mich ironisch  lächelnd an:
  „Mensch, ich komme mir vor wie  so'n Ochse, den se hier früher mal in dem Wagen in die Knochenmühle gefahren  haben."
  „Nur, dass der Ochse hier  hereingetrieben wurde, während wir freiwillig hineingegangen sind," sage  ich, ohne zu wissen, was ich sage.
  Webach schimpft: „Red' doch  keinen Stuss! Was sollen wir denn sonst machen, was?"
  Ja, was sollen wir sonst  machen? Ich weiß es auch nicht, und es ist höchst töricht von mir, dass ich  plötzlich an eine Ruderfahrt denken muss: faulendes Wasser, das in der Sonne  glitzert, grünende Büsche und Bäume mit herabhängenden Zweigen.
  Und an mein Elternhaus. An die  Blütensträucher und den Rasen, ein Hahn kräht, und unser Hund liegt schläfrig  auf der Veranda und blinzelt träge in die Sonne...
  Was soll das jetzt hier? Hier  wird etwas anderes gespielt:
  Jemand erzählt nüchtern, dass  man Panzerzüge am besten bekämpft, indem man eine geballte Ladung  Handgranaten auf die Schienen legt. Und ein anderer sekundiert ihm brummend
  „Hier im Bergwerksrevier gibt  es doch genug: hochbrisante Sprengstoffe..."
  Wer weiß, ob wir überhaupt  unser Ziel erreichen werden.
  Dann wieder ein Aufenthalt. In  der plötzlichen Stille hören wir heftiges Schießen. Ein Kommando:
  „Aussteigen!"
  Wir drängen uns vorsichtig  durch die Türen auf den Bahndamm hinaus. Ein freundliches Gelände: Täler,  sanfte Höhen, Wiesen, keimende Blätter an Büschen und Bäumen. Im Tal ein Dorf.
  Wir werden stark beschossen,  aber wir sehen niemanden.
  Ich ziehe immer noch den Kopf  ein, wenn ich eine Kugel pfeifen höre. Aber Michael steht mitten auf dem  Bahndamm und gibt in aller Ruhe seine Kommandos. Ich muss doch wohl sehr feige  sein. Ich beiße die Zähne zusammen und sage zu Reicke, der neben mir steht, mit  möglichst gleichgültiger Stimme:
  „Schießen nicht gut, die  Strolche, wie?"
  Reicke spuckt kräftig aus und  stimmt mir bei: „Alles zu hoch!"
  Ich bewundere ihn und beschließe,  keine Angst mehr zu haben.
  Wie wir dann unser M. G. Schussfertig  machen und zwei Gurte auf die gegenüberliegenden HöÂhen abfeuern, bin ich auch  wirklich ganz ruhig und freue mich sachlich darüber, wie gut mir die kleinen  Handgriffe an der Waffe gelingen.
  Die Schienen sind wenige Meter  vor unserem Zuge aufgerissen, wir haben noch vier Kilometer bis Eisleben zu  gehen. Nur noch vereinzelt beschossen, machen wir uns auf den Weg.
  Die Straße ist ziemlich dicht  bebaut Überall sehen uns Menschen nach, sie kommen uns entgegen, folgen uns in  einiger Entfernung, gehen
  vor uns her, weichen nur  langsam und widerwillig zurück. Es werden immer mehr. Sie betrachten uns mit  höhnischen Blicken, stoßen sich an, lachen, spucken aus.
  Endlich stehen wir auf dem  Marktplatz. Die Eingänge der Straßen, die auf den Platz münden, sind im Nu von  wimmelnden Menschenhaufen verstopft. Dann stehen wir und warten, denn Michael  ist mit einigen Leuten ins Rathaus gegangen.
  Es werden nicht einmal mehr  Witze gemacht. Wir haben seit dem frühen Morgen nichts gegessen, aber jetzt  hat niemand Lust dazu.
  Aus den Straßen dringt  drohendes, verworrenes Gemurmel. Hin und wieder gellt ein Pfiff, dem johlendes  Gelächter folgt.
  Endlich kommt Michael wieder  heraus. Sein Gesicht ist noch immer unbewegt, er gibt seine Anordnungen mit  schwerfälligen, gelassenen Handbewegungen: „Zurück!"
  Ein irrsinniges Hohngeschrei  schrillt hinter uns her, wie die letzte Gruppe den Platz verlässt. Die Menge  folgt uns, drängend und stoßend. Dann fliegen ein paar Steine.
  Wir halten und machen ein M.  G. Schussfertig. Die Menschen stehen und starren. Webach zieht so ruhig den  Patronengurt durch das Schloss, als wäre er auf dem Truppenübungsplatz. Dann  dreht er den Kopf zu Michael: „Soll ich?" fragt er lächelnd.
 ...Ich habe Angst vor meinem  Freund Webach: da vor uns, kaum zwanzig Meter entfernt' stehen Menschen...
  Michael nickt: „Auf das  Kirchdach halten."
  Wir schießen, eine Serie von  fünfzig Schuss knattert, die Menschen laufen entsetzt davon. Dann können wir  weitergehen.
  Als wir uns dem Halteplatz  unseres Zuges nähern, bekommen wir Feuer, plötzlich und überraschend. Aus den  Häusern vor uns, aus den Gebüschen an der Straße, aus Gärten, hinter Mauern  hervor.
  Im Laufschritt suchen wir  Schutz hinter den Häusern, die am Fuß des Bahndamms stehen. Eins unserer M.G.s  rattert blind in die Gegend. Wieder ist kein Mensch zu sehen.
  Einzelne Schreie steigen auf.  Flüche. Verwundete. Ein dicker Student — Blut sickert ihm aus dem Ärmel —  schüttelt seine Faust und brüllt mit wutverzerrtem Gesicht in den Höllenlärm:  „Ihr Lausejungens! Ihr Scheißkerle! Ihr..." Dann wird er ohnmächtig.
  Atemlos keuchend bringen wir  unser Gerät an einer Gartenmauer in Stellung. Neben uns steht ein junger  Mensch, den ich noch vom Gymnasium her kenne. Schenk, ein Jurist.
  Plötzlich knickt er in den  Knien zusammen und sinkt plump und schwer auf Webachs Körper, der ihn unwillig  abschüttelt: der Tote stört ihn beim Schießen. Ich friere, und gleichzeitig ist  mir unerträglich heiß.
  Das Schießen lässt nach. Wir  klettern die BöÂschung des Bahndamms hinauf und sitzen endlich im Zug. Zwei  Mann schieben den toten Schenk in unseren Wagen. Ein älterer Offizier drückt  ihm die Augen zu und faltet seine schon erstarrenden Hände über dem Leib zusammen.  „So, mein Junge," sagt er dabei wie tröstend.
  Dann fahren wir. Der Tote  liegt unmittelbar neben mir. Dann und wann sehe ich ihn scheu an. Einmal bei  einer Kurve rüttelt der Wagen stark, ich stütze mich mit einer Hand auf und  fasse dabei an Schenks Bein. Ich ziehe meine Hand zurück, als hätte ich in  Feuer gegriffen
  Zigaretten glimmen auf. Gesprächsfetzen  wirbeln durch den Wagen. Irgendwo klirrt bereits ein Lachen. Ein Verwundeter  stöhnt und wird von seinen Nachbarn herzhaft und ermutigend bedauert.
  Webach schläft neben mir. Wie  kann man nur jetzt schlafen!
  Ich höre und sehe alles wie im  Traum. Es ist, als hätte sich zwischen mich und meine Umgebung eine dicke  Glaswand geschoben. Die Dinge sind mir fremd und unwirklich, sie schmerzen  nicht, sind nur erstaunlich und unheimlich neu und sonderbar.
  „Wenn die Fettköppe ihre  Arbeiter besser behandeln würden, dann brauchten wir uns jetzt hier nicht  krumm schießen zu lassen. Kein Aas hätte den Direktor totgeschlagen, wenn er  nicht ein schlechter Hund gewesen wäre."
  Der so spricht, ist ein  verwundeter Korpsstudent. Ich wundere mich über ihn. Noch mehr darüber, dass  viele ihm recht geben.
  Manchmal kommt einer zu dem  toten Schenk herangekrochen, fragt mich nach seinem Namen, sagt „Armer  Kerl!" und geht wieder zurück
  Einige erzählen ihre  Heldentaten: „Kann dir sagen, Mensch, grade wie das Aas da über den Zaun sah,  pautz,—hatte er ein Ding in der Fresse. Bestimmt, quatsch' doch nicht, ich hab'  genau gesehen, dass ich getroffen habe."
  „Verfluchter Kram, das Ganze,  ich hab' einen saumäßigen Durst."
  „Da fällt mir übrigens ein, ich  glaube, es war am Kemmel..."
  „Mach' ich nie. Wenn man sich  richtig ausgekotzt hat, braucht man keinen sauren Hering. Ich mache das immer  ganz anders..."
  „Spiel doch das As aus, du  Idiot! Verschenkt der Dussel glattweg achtzehn Augen."
  Wie der Zug eine jähe Biegung  nimmt, kollert Schenks Kopf schwer von rechts nach links. Es hat keiner außer  mir darauf geachtet.
  Bei der Ankunft auf dem  Bahnhof in Halle erzählt jemand gerade von einem fabelhaften Mädchen, das er  neulich in der „Fledermaus" kennen gelernt hat.
  Wir helfen den Verwundeten aus  den Wagen, dann heben wir Schenk heraus.
  Die Theologen, die noch immer  den Bahnhof bewachen, fragen uns aus. Wir spielen die Gleichgültigen:
  „Schöne Scheiße, kann ich  Ihnen versichern, verehrter Herr!"
  Ein Offizier spricht mich  wegen Schenk an, und ich höre mich mit merkwürdig fremder Stimme antworten:
  „Kopfschuss! War gleich  tot."
  Dann fahren wir auf einigen  Lastwagen zur Kaserne zurück. Dort werden wir bestaunt und hoch aufgenommen.  Die Zurückgebliebenen beneiden uns um unsere Erlebnisse, und wir fragen uns  dabei, was wir eigentlich in Eisleben zu suchen hatten.
  Aber wir wissen es ja doch  nicht, und darum fragen wir bald nicht mehr danach.
Mit dem gemütlichen Leben ist  es nun vorbei: es hat in der Stadt die ersten Toten gegeben.
  Die Stuttgarter Regierung hat  einen Zivilkommissar ernannt. Wir hören davon beim Abendappell und nehmen die  Nachricht mit wütendem Gescharre auf. Es ist ein Rechtsanwalt, der bei uns sehr  unbeliebt ist. Ein gebildeter Mensch, der trotzdem mit den Arbeitern paktiert!  Auf verschiedenen Gesellschaften hat er unliebsames Aufsehen dadurch erregt, dass  er die Republik wortreich verteidigte! (Später wurde dieser Rechtsanwalt — Dr.  Schreiber — preußischer Handelsminister.)
  Wir wissen nicht, welche  Machtbefugnisse der Kommissar hat. Uns erscheint die Tatsache, dass in einer  schwerbewaffneten Stadt, in der keinerlei Sympathien für die rechtmäßige  Regierung vorhanden sind, eben diese Regierung einen Bevollmächtigten ernennt,  im höchsten Grade lächerlich. Und wie das Gerücht aufkommt, Schreiber sei vom  Garnisonkommando verhaftet worden und sitze im Untersuchungsgefängnis, da  freuen wir uns alle herzlichst.
  Während wir in Eisleben waren,  hat Schreiber eine Versammlung genehmigt, in der Sozialdemokraten und  Gewerkschaftler gegen die Kapp-Regierung protestieren wollen. Tausende von  Arbeitern ziehen aus der Stadt auf die Saalewiesen, Reden werden gehalten, in  denen zum Kampf gegen die Militärdiktatur aufgefordert wird, da die Waffe des  Generalstreiks offenbar nicht wirksam genug sei.
  Die Versammlungsteilnehmer  müssen auf ihrem Weg nach der Stadt zurück am Hettstedter Bahnhof vorbei, der  seit einigen Tagen von Zeitfreiwilligen besetzt ist. Es ist eine akademische  Sängerschaft, die hier den Wachtdienst versieht.
  Ein Doppelposten steht vor der  Bahnhofstür. Passanten geraten mit den beiden in ein Wortgefecht, das schließlich  in Handgreiflichkeiten übergeht. Immer mehr Arbeiter mischen sich ein. Ein  verwirrter Student, der seine Kameraden in Not sieht, gibt einen Schuss ab.
  Ein vieltausendstimmiger  Aufschrei. Eine schwarze Menschenwoge schlägt über dem Bahnhofsgebäude  zusammen. In wenigen Sekunden sind die Posten niedergeschlagen, die Besatzung  entwaffnet.
  Dreißig Studenten werden als  Gefangene nach Merseburg abtransportiert, wo die Arbeiterschaft schon seit  Tagen die tatsächliche Gewalt in Händen hat.
  Kurz vor der Brücke, die in  der Nähe des Bahnhofs über die Saale führt, versuchen zwei Studenten, die von  der bestialischen Ermordung von Soldaten durch Spartakisten gehört haben, zu  fliehen.
  Es ist dieselbe Brücke, auf  der vor nicht ganz einem Jahr der Kommunist Meseberg erschossen wurde.  Dutzende von gefangenen Arbeitern sind in den letzten anderthalb Jahren von  Regierungstruppen „auf der Flucht erschossen" worden. Die Erinnerung an  den toten Meseberg ist noch wach, und die verhängnisvolle Identität des  Schauplatzes tut ein Übriges:
  Den einen der Studenten schießt  man tot.
  „Rache für Meseberg!" Man  wirft den Leichnam in den Fluss.
  Der andere ist nur leicht  verwundet, er springt über das Geländer der Kaimauer in die Saale und versucht,  sich schwimmend in Sicherheit zu bringen. Man schießt hinter ihm her. Er geht  plötzlich unter und ertrinkt.
  Die Nachricht vom Tode der  beiden Studenten — Büsch und May heißen sie — schlägt bei uns ein wie der  Blitz ins Pulverfass.
  Es gibt jetzt keine  Diskussionen mehr über Ziel und Zweck unseres Kampfes. Was alle politischen  Argumente nicht erreicht haben, — die Ermordung unserer Kameraden schließt uns  zu einer einheitlichen Masse zusammen. Wir müssen Rache nehmen für einen  feigen Mord.
  Am Abend dieses Tages sitzen  wir auf unserer Stube und lauschen atemlos dem Schall der Schüsse, die jetzt  überall fallen. Die Arbeiter haben in den Außenbezirken die Wachen der  Einwohnerwehr entwaffnet. Es müssen ihnen dabei große Vorräte an Waffen und  Munition in die Hände gefallen sein.
  Während wir über alle diese  Dinge sprechen, macht sich Sparr langsam und umständlich zum Ausgehen fertig.  Das ist ein sehr riskantes Unternehmen, denn schon gestern soll man einen Zeitfreiwilligen,  der sich in Uniform auf der Straße gezeigt hat, in der Innenstadt buchstäblich  zertrampelt haben.
  Sparr gilt bei uns als  Außenseiter. Er passt eigentlich gar nicht in unsere Gruppe. Er ist bedeutend  älter als wir alle, sehr still und verschlossen und außerdem fast taub. Seine  Schwerhörigkeit gibt oft zu den peinlichsten Szenen Anlass. Zudem gehört er  der katholischen Verbindung an. Wir lassen ihn neben uns herlaufen und kümmern  uns nicht viel um ihn.
  Reicke schreit ihn an: „Wo  wollen Sie denn hin?"
  „Meine Eltern besuchen,"  antwortet Sparr verlegen.
  Alle schreien wir  durcheinander: „Lassen Sie doch den Unfug sein, Sie werden ja totgeschlagen."
  Aber Sparr lächelt still und  höflich, antwortet uns nicht und geht schließlich, nachdem er uns allen eine  korrekte Verbeugung gemacht hat.
  Wir besprechen den Fall.  Einige von uns halten Sparr für mutig, weil er sich in diese Gefahr begibt.  Andere sagen, er wäre ganz einfach dumm.
  „Das kommt nur von seiner  Schwerhörigkeit," sagt Guhre abfällig, „der kriegt immer bloß die Hälfte  mit und weiß gar nicht, was gespielt wird."
  Wie wir uns schlafen legen,  ist Sparr noch nicht wieder da.
  „Entweder ist er getürmt, oder  er ist tot," stellt Webach abschließend fest. Und dann schlafen wir.
  Wir schrecken aus dem ersten  Schlaf auf. Ein Karabiner fällt polternd um. Jemand schreit auf: „Mensch, sieh'  dich doch vor! Du trittst mir ja auf die Mauken!"
  Guhre schimpft über diese  Rücksichtslosigkeit. Wir sind alle sehr ungehalten. Berg, unser Führer, dreht  das elektrische Licht an.
  Mitten im Zimmer steht Sparr.  Er ist totenbleich und lächelt blöde.
  „Der ist ja besoffen,"  knurrt Webach.
  „Was ist denn los?" rufen  wir ihn an.
  Sparr fuchtelt erregt mit den  Händen. Er ist in sinnloser Verwirrung: „Meine Herren," schreit er, und  seine Stimme fistelt, „meine Herren, das ist eine Gemeinheit, das habe ich  nicht gewusst! Meine Herren, ich bitte Sie, Sie müssen mir Aufklärung geben!  Sie sehen, verzeihen Sie bitte, aber ich bin sehr erregt. Das habe ich wirklich  nicht gewusst. Ich bitte, also verstehen Sie mich bitte richtig."
  Er schweigt hilflos. Berg  steht auf und klopft
  ihm auf die Schulter:  „Beruhigen Sie sich doch, Mann, was ist denn los?"
  „Danke sehr, vielen Dank  auch," stottert Sparr. „Es ist nur, — also in der Stadt sagt man ganz  allgemein, wir stehen auf Seite von Kapp-Lüttwitz. Das ist doch nicht wahr!  Meine Herren, ich bitte Sie, sagen Sie mir ehrlich: kämpfen wir wirklich für  Kapp?"
  Ein kurzer  Augenblickbetretenen Schweigens. Dann bricht ein aufgeregter Stimmwirrwarr los.  Gelächter, Schimpfworte, Erklärungen und Beruhigungen.
  „Selbstverständlich kämpfen  wir für Kapp."
  „Kommen Sie ooch schon aus dem  Mustopf?"
  „Idiot!"
  „Dussliger Hund!"
  „Natürlich ein Kathole!"
  Sparr lächelt noch immer. Er  versteht uns nicht. Mir tut der arme Kerl leid, wie er — den Kopf angestrengt  lauschend geneigt, die Hände nervös krampfend und spreizend — da im Zimmer  steht. Eine armselige, lächerliche Erscheinung.
  Dann herrscht wieder  Schweigen. Jeder scheut sich offenbar, Sparr die Wahrheit zu sagen. Sparr  scheint langsam zu begreifen: „Meine
  Herren, das ist eine  Gemeinheit: man hat mich betrogen! Ich will nicht für Kapp sterben. Ich kämpfe  für Ruhe und Ordnung, ich will das Chaos verhüten. Ich kämpfe für die  Republik!"
  „Gehen Sie doch nach Hause,  Sie Rindvieh, wenn Sie Schiss haben!" brüllt ihm Reicke zu.
  Er muss es noch einmal sagen,  denn Sparr hat ihn nicht verstanden. Der wird rot und sagt leise: „Herr  Kommilitone, das ist nicht wahr Ich bin nicht feige. Aber wenn ich schon  sterben soll, dann will ich wenigstens wissen, wofür."
  Berg unterbricht ihn: „Sparr,  jetzt legen Sie sich schlafen! Was ist denn das für ein Unsinn! Wer redet denn  hier von Sterben müssen? Sie sind doch ein alter Soldat und ein geschmackvoller  Mensch, dann lassen Sie doch diese großen Worte. Im übrigen hat das alles  jetzt keinen Zweck mehr. Verlassen Sie sich darauf, in ein paar Tagen weiß  niemand mehr, wofür wir kämpfen. Dann werden wir uns nur noch wehren, und Sie  haben Gelegenheit genug, das Chaos zu verhüten. Und nun schlafen Sie sich  aus."
  Sparr gibt noch nicht Ruhe:  „Aber wenn das wahr ist, ich meine, wenn wir uns nur noch gegen die Roten  wehren müssen, dann haben wir doch eigentlich angefangen, nicht wahr? Oder irre  ich mich da? Ich meine, — dann haben doch die anderen recht, wenn wir wirklich  auf der Seite von Kapp stehen?"
  „Ick hab' den Kriech nich  jewollt!" witzelt Guhre weinerlich aus dem Hintergrund.
  Einige lachen. Berg wird jetzt  energisch: „Nun halten Sie bitte endlich den Mund, ja? Zu spitzfindigen  Erörterungen haben wir jetzt wirklich keine Zeit. Außerdem können Sie morgen  tun, was Sie wollen. Meinetwegen können Sie nach Hause gehen."
  Das Licht wird ausgedreht, und  wir legen uns wieder hin. Ich bin merkwürdig erregt. Sparr ist doch sicher ein  ganz dummer Kerl, warum erschüttert mich seine Hilflosigkeit so? Und warum  kann ich nicht einstimmen, wie Webach neben mir, schon halb im Schlaf brummt:  „Schiss hat der Kerl, und nichts weiter."?
  Das schwarze Fensterviereck  füllt sich manchmal mit dem grellerr Schein von Leuchtraketen. Hin und wieder  knallen Schüsse. Aber bald schlafe ich auch.
  Früh am nächsten Morgen wieder  Alarm.
  Wir werden auf zwei Lastautos  verladen und fahren zur Artilleriekaserne: die Merseburger
  Garnison muss Merseburg  verlassen. Der Arbeiterrat hat den Truppen freien Abzug zugesichert. Wir  sollen zu ihrem Schutz eine Aufnahmestellung für sie bilden.
  Wie wir auf dem Kasernenhof  ausgeladen werden, pfeifen Kugeln. Die Kaserne wird fortwährend aus größerer  Entfernung beschossen, aber die Kugeln gehen alle zu hoch.
  Ich ducke mich jetzt nicht  mehr, wenn ich das Pfeifen höre. Manchmal wundre ich mich selbst darüber. Ich muss  doch wohl ein ganz tüchtiger Soldat sein.
  Wie wir dann unsere Stellung  beziehen wollen, kommen uns ein paar Leute entgegen, die einen Toten tragen.  Ich kenne ihn. Es ist ein Turnerschafter, mit dem ich öfter zusammen gewesen  bin. Sein Gesicht ist ganz blau.
  Wir fragen die Träger, was mit  ihm geschehen ist. Verwundet ist er nicht. Als die Stellung eben schweres  Maschinengewehrfeuer bekam, hat sich der Student, der nicht im Felde war, so  aufgeregt, dass er anscheinend einen Herzschlag bekommen hat.
  Wir besetzen den Straßengraben  längs der Chaussee, auf der die Merseburger kommen müssen.
  Es ist ein wunderschöner,  klarer Frühlingsmorgen.
  Sparr geht neben mir. Er trägt  ein leichtes M. G. und sieht ruhig und gleichmütig aus. Ich sehe ihn verstohlen  von der Seite an. Der Spuk von heute Nacht ist verschwunden. Sparr ist ein  Soldat wie alle anderen. Aus irgendeinem Grunde freue ich mich darüber.
  Wir bringen unsere M.G.s in  Stellung und bestreichen einen Bahndamm, von dem aus wir manchmal beschossen  werden. Dann ist alles ruhig.
  Nach zwei Stunden sehen wir in  der Ferne die Merseburger ankommen. Leute von uns gehen auf die Chaussee und  winken ihnen zu.
  An der Spitze fahren einige  Wagen. Unter dem Zeltdach des ersten sehen wir ein Bein herausragen, eine  Hand: Tote.
  Dann folgt die Infanterie —  etwa ein Bataillon — im Laufschritt. Alle sehr erschöpft, mit unruhigen Augen,  in denen die Angst sitzt.
  Plötzlich knattert ein  irrsinniges Maschinengewehrfeuer los. Die Kugeln pfeifen dicht über unsere  Köpfe hin, wir werfen uns in den Graben und suchen vergebens, den Feind zu  entdecken.
  Sparr steht immer noch auf der  Chaussee. Er kann das Pfeifen der Kugeln nicht hören, und wir sind zu sehr mit  uns selbst beschäftigt, um ihn warnen zu können.
  In einer kurzen Feuerpause  hebe ich den Kopf. Sparr hüpft mit an den Leib gepressten Armen auf der  Chaussee hin und her. Unter seinen verkrampften Händen sickert Blut hervor.  Das Geräusch der Schüsse verstummt, einige Verwundete wimmern und stöhnen  leise.
  Sparr schreit entsetzlich.
  Zwei, drei springen auf und  zerren ihn in die Deckung des Grabens. Er hegt dicht neben mir.
  Ich kann dieses dumpfe,  klagende, fast tierische Gebrüll nicht ertragen. Ich presse mir die Hände vor  die Ohren. Ich kämpfe mit dem Erbrechen.
  Das Feuer beginnt von neuem.  Ich werfe mich neben Sparr, reiße wie die Anderen mein Verbandspäckchen  heraus.
  „Halt' ihm doch die Hände  fest!" schreit mich mein Nebenmann an, der sich vergebens bemüht, Sparrs  Wunde zu verbinden.
  Ich packe ihn bei den Armen.  Er schreit noch immer. Sinnlos vor Entsetzen und Mitleid rufe ich ihm zu:  „Sparr! Es wird ja gleich gut!"
  Sparrs Augen verdrehen sich.  Man sieht nur
  noch das Weiße. Ein Zittern  durchläuft seinen Körper. Endlich, endlich ist er besinnungslos.
  Der Kamerad, der ihn  verbindet, schüttelt den Kopf: „Wenn er heute morgen gut gefrühstückt hat, ist  er erledigt. Immer so bei Bauchschüssen."
  Das Verbinden hat keinen  Zweck. Unaufhaltsam dringt das Blut unter dem Verband hervor.
  Ich krieche vorsichtig zurück,  laufe zur Kaserne und schleppe eine Tragbahre herbei. Bei meiner Rückkehr höre  ich schon von weitem Sparrs Schreien. Er ist wieder zu Bewusstsein gekommen.
  Die Chaussee wird immer noch  beschossen. Mehrere Verwundete kriechen mühsam den Graben entlang zur Kaserne.
  Wir heben Sparr auf die Bahre.  Er ist plötzlich ganz ruhig geworden, schlägt die Augen auf und versucht ein  freundliches Lächeln.
  „Ich danke Ihnen,"  flüstert er kaum hörbar. Dann sagt er nichts mehr.
  Wir tragen ihn vorsichtig  zurück. Gegenüber der Kaserne liegt das Krankenhaus „Bergmannstrost". Wir  liefern ihn dort ab.
  Dann gehen wir schweigend  zurück.
  Webach sieht mich an: „Mensch,  du bist ja ganz blass. Daran wirst du dich wohl noch gewöhnen. Geht jedem  zuerst so, wenn er einen Menschen sterben sieht. Komm, wir wollen in der  Kantine erst einen Schnaps trinken, ehe wir wieder nach vorne gehen."
  Ich gieße mit zitternder Hand  ein paar Gläser Cognac hinunter. Halb betrunken gehen wir zu unserer Kompanie  zurück.
  Das Feuer ist verstummt. Dafür  fängt jetzt im Nebenabschnitt ein Feldgeschütz an zu schießen.
  Ich liege dumpf, halb ohne Bewusstsein  bis zum späten Nachmittag hinter unserm M. G. Manchmal schießen wir auch. Mir  ist alles gleichgültig.
  Bei Einbruch der Dunkelheit  werden wir abgelöst. Ich trage Sparrs M. G.
  Am Abend sind wir wieder in  unserem Quartier. Von einer später eintreffenden Abteilung hören wir, dass  Sparr kurz nach der Einlieferung im Krankenhaus gestorben ist.
  Ich stehe am Fenster und sehe  auf den dunklen Schulhof. Die Fensterscheiben sind schön kühl.
  Sparr ist tot.
  Sparr, der nicht für Kapp  sterben wollte...Beim Appell hören wir am gleichen Abend, dass die Regierung  Kapp zurückgetreten ist.
Was nun?
  In der Kaserne herrscht  tiefste Niedergeschlagenheit. Kapp ist zurückgetreten, der Putsch missglückt.  Also können wir jetzt nach Hause gehen? Also sind unsere Kameraden „umsonst  gefallen"?
  Wir sind blamiert bis auf die  Knochen. Alle hochfliegenden Pläne, die einige Enthusiasten unter uns in  leidenschaftlichen Diskussionen immer wieder auseinandergesetzt haben, sind  sinnlos gewesen.
  Die Republik hat gesiegt.
  Wir sind wie vor den Kopf  geschlagen. Was sollen wir jetzt noch unter Waffen? Einige Hitzköpfe propagieren  einen Putsch, den wir höchst selbständig unternehmen sollen. Aber kein Mensch  hat Lust dazu. Nicht etwa, weil wir die Aussichtslosigkeit eines solchen  Unternehmens einsehen, sondern einfach deshalb, weil wir zu verwirrt und zu  enttäuscht sind, um überhaupt etwas zu tun.
  Der Krieg ist zu Ende. Das ist  der Drehpunkt aller Gespräche an diesem Tage.
  Aber man schickt uns nicht  nach Hause. Es scheint, als ob mit dem Rücktritt der Rebellenregierung die  Kämpfe erst richtig beginnen sollten. Fortwährend wird geschossen, und wir wissen  nicht, warum.
  Plötzlich tauchen bei der  Kompanie der Einwohnerwehr einige Leute auf, die sich stolz als Demokraten und  sogar als Sozialdemokraten bezeichnen. Was wollen sie bei uns? Die allgemeine  Ratlosigkeit und Verwirrung wächst von Stunde zu Stunde.
  Über Nacht hat sich unsere  Stellung in so groteskem Maße gewandelt, dass wir immer noch nicht daran  glauben können: Wir, die wir gestern noch mehr oder weniger offen auf der  Seite der Republikgegner standen, sind heute plötzlich die berufenen Hüter und  Beschützer der rechtmäßigen Regierung, von der wir nichts wissen wollen. Und  die Anderen, die gestern noch mit dem Schein des Rechts die Truppen der  Militärdiktatur bekämpften, sind nun die Feinde der Republik, „Aufständische",  „Verbrecher", die den Frieden stören, die wir mit vollster Billigung  aller Gesetze und in Erfüllung
  einer hohen sittlichen Pflicht  totschlagen dürfen und müssen.
  Beim Kompanieappell wird uns  die Lage klargemacht: Jetzt handelt es sich eben nicht mehr um Kapp-Lüttwitz,  jetzt ist die deutsche Republik in schwerster Gefahr, und man muss sie gegen  die Angriffe der Bolschewisten verteidigen, die einen Rätestaat Deutschland errichten  wollen.
  Und plötzlich sind sie alle  wieder da: der Befehlshaber der Reichswehr, der General Seeckt, von dessen  Existenz wir seit vierzehn Tagen überhaupt nichts mehr gehört haben, erlässt  Aufrufe an seine Truppen, die Regierung in Stuttgart telegraphiert Dank und  Ermahnung...
  Der Teufel soll sich darin  zurecht finden! Wir bemühen uns nicht mehr darum. Wir sind Landsknechte  geworden. Wir werden von der Republik bezahlt, also beschützen wir sie. Die  Bürger der Stadt schicken uns Zigaretten und Schokolade in die Kaserne, also  passen wir auf, dass die Spartakisten ihr Eigentum nicht zerstören. Und im  Grunde haben wir mit alledem so gut wie nichts zu tun.
  Wir sind betrogene Betrüger.  Wir tragen unsere Haut zu Markte und wissen nicht, warum und wozu. Dann sagt  man uns, dass die heiligsten Güter der Nation — Privateigentum und Kultur —  gegen eine wilde Meute blutgieriger Strolche verteidigt werden müssen. Wir  verteidigen sie.
  Das Geknatter der Schüsse, der  dumpfe Krach explodierender Handgranaten, das dröhnende Stoßen schwerer Minen  und das Donnern der Geschütze erfüllt ohne Unterbrechung die nächsten Tage und  Nächte.
  Fortwährend werden wir an den  Stadtgrenzen eingesetzt, um den Ansturm der „Roten Armee" abzuschlagen.
  Wohin wir auch bei diesen  Unternehmungen kommen, überall — im Osten, Süden, Norden und Westen der Stadt —  sehen wir uns dem Feind gegenüber.
  Die Stadt ist eingeschlossen.
  Wo kommen diese Menschen alle  her? Es müssen Tausende sein, entschlossen, gut bewaffnet und noch besser  geführt.
  In den kleineren Städten der  Provinz sind die Schupoabteilungen und die Einwohnerwehren entwaffnet. Aus dem  Mansfelder Seekreis, aus Merseburg, aus dem Geiseltal, aus Leuna, —
  von allen Seiten strömen die  bewaffneten Arbeiter auf Halle zu.
  Wir werden unruhig. Wir  fühlen, dass sich uns eine eiserne Hand um die Gurgel legt. Von Tag zu Tag wird  ihr Griff würgender.
  Wir rechnen unsere Chancen  aus. Sie stehen nicht gut. In der ganzen Stadt liegen vielleicht zweieinhalb  Tausend bewaffneter Truppen. Gut die Hälfte davon ist für Kampfhandlungen unbrauchbar.  Schon mehren sich die Fälle, dass die älteren Herren der Einwohnerwehr — gutgestellte  Bürger, die aus irgendeiner romantischen Regung heraus, oder weil sie zu Hause  Angst hatten, sich in die Truppe einreihen ließen — sich weigern, „an die  Front" zu gehen.
  Wir sind andauernd auf den  Beinen. Tag und Nacht. Bald hier, bald da werden wir eingesetzt. Immer kommt es  zu heftigen Schiessereien. Immer gibt es Verwundete, fast nie geht es ohne  einen oder mehrere Tote ab.
  Zudem wird bei uns die  Stimmung schlecht. Wir haben die Empfindung, als ob die Zeitfreiwilligen-Formationen  über Gebühr in Anspruch genommen werden. Aktive Reichswehrtruppen sehen wir  kaum einmal im Gefecht. Immer nur
  Studenten und die eine  Hundertschaft Sipo, die seit einiger Zeit in der Stadt liegt.
  Eines Abends spät werden wir  wieder auf einigen Lastautos zur Artilleriekaserne gefahren, die sehr bedroht  ist. Sie liegt im Süden, nur wenige Kilometer von der Arbeiterstadt Ammendorf  entfernt, wo sich die Arbeiter der Leunawerke und des Geiseltals sammeln. Keinen  Augenblick haben die dort liegenden Truppen Ruhe. Fortwährend wird die Kaserne  beschossen. Es ist schon lebensgefährlich, nur einmal über den Kasernenhof zu  gehen.
  In der Dunkelheit kommen wir  an. Während wir die Wagen verlassen, bekommen wir schon Feuer. Dazu hören wir  von einem großen Angriff der Arbeiter, der in dieser Nacht vor sich gehen  soll.
  In der Reithalle werden wir  eingeteilt. Es ereignet sich dabei ein peinlicher Zwischenfall, der für unsere  Lage sehr bezeichnend ist:
  Da sind einige Studenten. Sie  gehören irgendeiner kleineren Korporation an, junge Leute mit riesigen  Schmissen auf der Backe. Bei den ersten M. G.-Garben, die über den Kasernenhof  fegen, verlieren sie die Nerven. Wie sie eingeteilt werden sollen, tritt ihr  Führer vor und weigert sich, mit seinen Leuten nach vorn zu gehen. Die  Korporation habe bereits während der letzten Tage zwei Tote und vier Verwundete  zu beklagen gehabt, es befänden sich unter ihnen mehrere unausgebildete Leute,  und er könne die Verantwortung dafür nicht übernehmen, seine Leute in den  sicheren Tod zu schicken.
  Wir schämen uns für den  Studenten. Seine Verbindungsbrüder stehen mit niedergeschlagenen Augen um ihn.
  Michael, der uns heute wieder  führt, bleibt ganz ruhig. Er winkt einen Reichswehrunteroffizier heran: „Lassen  Sie für die Herren ein Zimmer reservieren. Aber bitte eins, das nicht in der  Feuerlinie liegt."
  Der Unteroffizier salutiert,  und die Studenten gehen mit ihm.
  Webach und ich kommen mit  einem schweren M. G. zu einer Gruppe von etwa zwanzig Korpsstudenten, die  einen Sonderauftrag bekommen.
  Wir besteigen wieder ein  Lastauto und fahren nach Westen. Dort sollen wir eine Eisenbahnbrücke  bewachen, über die heute Nacht eine Abteilung Eislebener Arbeiter kommen wird.
  Auf schmalen Feldwegen fahren  wir, bis das Auto plötzlich hält.
  Der Chauffeur, ein  Reichswehrmann, markiert Panne. Er bastelt umständlich am Motor herum und sagt  dann, dass er den Wagen nicht wieder in Gang bringen könne.
  Wir steigen ab und gehen zu  Fuß weiter. Kaum sind wir einige Meter entfernt, da wendet das Auto plötzlich  und fährt in rasendem Tempo zur Kaserne zurück.
  Flüche fliegen hinter dem  Chauffeur her. Einer hebt langsam den Karabiner und versucht, dem Feigling die  Pneus zu zerschießen, aber es ist schon zu dunkel, er verfehlt sein Ziel.
  Es hat geregnet, die Wege sind  lehmig und aufgeweicht. Das schwere M. G., das ich mit Webach trage, wird zu  einer fast unerträglichen Belastung. Immer wieder rutschen wir aus. Dazu  knallen fortgesetzt Schüsse.
  Endlich liegt die Brücke vor  uns. Eine Bahnwärterbude steht davor. „Nr. 38" leuchtet es von einem  weißen Kalkviereck. Die Tür splittert unter einigen eingeklemmten Seitengewehren  auf. Der einzige Raum ist leer. Nur ein Telefon hängt an der Wand.
  Der Führer, der Student Kluge,  macht uns die
  Situation klar. Sie ist  verzweifelt: der Bahndamm, auf dem wir liegen, ist in etwa achthundert Meter  Entfernung nach links und nach rechts von den Arbeitern besetzt. Wir müssen uns  nach zwei Seiten wehren, wenn wir angegriffen werden.
  Posten werden ausgestellt. Wir  anderen hocken uns auf den Fußboden der Bude nieder. Es regnet in Strömen.  Draußen klappern die Schritte der Posten.
  Zigaretten glimmen auf, aber  ein ruhiges Gespräch will nicht in Gang kommen. Immer wieder geraten sich zwei  Leute in die Haare. Um Nichtigkeiten. Trotzdem nehmen wir alle leidenschaftlich  Stellung und freuen uns, etwas zu haben, was unsere Gedanken von unserer gefährlichen  Lage ablenkt.
  Zwei Feldflaschen mit Schnaps  kreisen. Dann erzählt jemand Wirtinverse. Niemand hört zu. Draußen verstärkt  sich der Lärm der Schüsse.
  Einige Male dröhnt die Erde  unter einem furchtbaren Krach. Ein Artillerist unter uns erläutert  sachverständig, dass das eine 21-cm-Feldhaubitze war. Wir nehmen es zur  Kenntnis und frösteln.
  Die Tür geht auf, und ein  Posten erscheint, triefend und sich schüttelnd.
  „Sie, Kluge," sagt er in  das Dunkel der Hütte, „man hört in diesem verfluchten Regen überhaupt nichts.  Wenn das so weiter geht, merken wir von den Eislebenern nicht eher etwas, als  bis sie uns mit 'nem Latschen übern Kopp hauen."
  Ein anderer stichelt: „Sie  haben wohl Angst vor dem Latschen, wie?"
  Der Posten schimpft zurück:  „Das waren Sie wohl, Kühn? Also ich sage Ihnen, wenn wir uns nach dieser  schönen Sommernacht noch mal irgendwo treffen sollten, dann poliere ich Ihnen  die Fresse, Sie eigentümlicher Mensch, Sie!"
  Kluge bringt die beiden  auseinander: „Seid ihr denn verrückt geworden? Es ist doch heller Wahnsinn,  wenn wir uns jetzt hier noch gegenseitig auffressen wollen. Augenblicklich  gebt ihr Ruhe! Sie, Fischer, gehen wieder an Ihren Posten, ja?"
  Der Posten entfernt sich  brummend.
  Kluge sitzt neben mir.
  „Es ist doch merkwürdig,"  sagt er leise. „Kameradschaftlichkeit ist eine schöne Sache. Aber solange nicht  eine unmittelbare gemeinsame
  Gefahr vorhanden ist, gehen  die angeblichen Kameraden aufeinander los und würden sich am liebsten den Hals  umdrehen."
  Ein anderer mischt sich ein:
  „Man müsste das mal  untersuchen," sagt er ironisch. „Thema zu meiner Doktorarbeit: Die  soziologischen Grundlagen des Zusammengehörigkeitsgefühls oder Zufall als  Motor gesellschaftsbildenden Wollens. Denke mir das sehr interessant."
  Das Gespräch wird allgemeiner.  Feldzugserinnerungen zu diesem Thema werden ausgetauscht, und es dauert nicht  lange, bis jemand unsicher sagt:
  „...vor zwei Jahren waren die  da drüben auch unsere Kameraden, und jetzt..."
  Schweigen.
  Dann sagt Kluge bedächtig:  „Ja, es ist im Grunde genommen zum Kotzen. Wir könnten uns doch schließlich  miteinander vertragen. Ich persönlich hätte gar nichts dagegen."
  „Lieber Freund, das würde dir  verdammt schlecht bekommen. Wenn man den Brüdern den kleinen Finger gibt,  nehmen sie die ganze Hand. Das ist eine Essensfrage: die anderen wollen  fressen, und du hinderst sie daran. Und ich will am Fressnapf bleiben und lasse  mich da nicht wegdrängen. Ich weiß also nicht, wie wir uns vertragen  können."
  „Und außerdem vergessen Sie  den Rätestaat, verehrter Herr," sagt ein Dritter.
  „Ich denke mir, auch in einem  Rätestaat braucht man Menschen, die etwas gelernt haben, und die eine Sache  verstehen. Theoretisch könnte ich mir vorstellen, dass ich auch in einem  Rätestaat arbeiten und zufrieden sein könnte," verteidigt sich Kluge.
  „Theoretisch ist gut,"  höhnt jemand. „Praktisch würden dich die Latjer jedenfalls bei der ersten  besten Gelegenheit totschlagen, mein Lieber."
  „Das ist es ja gerade, was so  zum Kotzen ist," gibt Kluge bedauernd zu.
  „Also sind wir uns wieder  einmal allesamt einig," stellt Kracht abschließend fest, und das Gespräch  wendet sich unverfänglicheren Themen zu: Mensuren, Bonifazius Kiesewetter,  Kneipe und Weibern.
  Da schrillt plötzlich das  Telefon. Kluge springt heran, nimmt den Hörer vorsichtig ab und lauscht. Wir  anderen halten den Atem an.
  Eine helle Stimme berichtet  etwas, eine dunklere spricht dagegen, dann klingen beide zusammen. Kluge  hängt ab.
  „So, meine Herren," sagt  er sachlich, „jetzt ist es soweit. Ich habe eben ein Gespräch zwischen den  Buden 39 und 37 mitgehört. In einer halben Stunde etwa werden von drüben einige  zweihundert Arbeiter über die Brücke kommen. Das heißt, sie werden es  versuchen. Dass es ihnen nicht gelingen wird, das wissen wir ja."
  Wir treten in den Regen  hinaus. Kluge gibt seine Befehle. Wenn er eine grüne Rakete abschießt, sollen  wir das Feuer auf die Brücke eröffnen. Nicht eine Sekunde eher.
  Wir legen uns eng  nebeneinander auf die Schienen. Es regnet immer noch. Ich hege mit Webach an  unserem M. G. und presse die Zähne zusammen. Ich fürchte, man könnte hören, dass  sie in irrsinnigem Rhythmus aufeinander schlagen.
  Ich habe nicht gewusst, dass  das Klopfen eines Herzens und das leise pfeifende Geräusch des Atems stärker  und wilder sein kann als das Rauschen des Regens, das Surren des Windes und der  Lärm fallender Schüsse.
  Wir starren in das Dunkel  jenseits der Brücke. Nur wenige Minuten noch, dann werden drüben
  Menschen auftauchen und  blindlings in die Feuergarbe unseres Maschinengewehrs hineinlaufen. Niemand  wird sich retten können.
  Wir fiebern dem Augenblick  entgegen, wo uns die grüne Rakete den Befehl zum Feuern geben wird.
  Warum? Es ist nicht Blutgier,  ist nicht einmal das Gefühl, für eine gerechte Sache zu kämpfen, was uns so  zum Morden drängt. Es ist nichts als die zitternde, verzweifelnde, fast betende  Sehnsucht nach Erlösung aus dieser unerträglichen Spannung, die in unseren  Herzen und Hirnen reißt und wühlt.
  Die Minuten dehnen sich zu  Stunden, zu Ewigkeiten.
  Fern zuckt hin und wieder ein  greller Schein auf und lässt das schwarze Wasser, das sich gurgelnd an den  Brückenpfeilern bricht, aufglänzen. Dann sieht man auch seinen Nebenmann:  eine graue Gestalt, kaum zu unterscheiden von dem Schotter der Geleise und dem  Gemäuer des Brückenkopfes.
  Niemand wagt, auch nur zu  flüstern.
  Plötzlich drängt uns der Wind  seltsame Geräusche zu. Fetzen eines Liedes. Ich habe es oft singen hören, wenn  junge Arbeiter durch
  die Straßen zogen. Ein kurzer,  hackender Takt, eine fast triviale Melodie. Aber jetzt erschüttert sie mich.  Ich bin diesen schwachen, fernen Klängen rettungslos preisgegeben, ich sauge  sie gierig und unwillig zugleich in mich auf:
  „...mit uns zieht die neue  Zeit,
  mit uns zieht die neue  Zeit..."
  „Sie kommen!"
  Einer flüstert es dem andern  zu und zischt sofort seinen Nebenmann zur Ruhe, denn das scharfe Flüstern  dröhnt in unseren Ohren wie Donner.
  Noch fünf Minuten, vier...
  Das Knattern eines Motors  zerreißt die Stille. Nagelstiefel klappern auf dem Schotter. Keuchen, Rufen.
  Schmutzig und durchnässt  taucht ein Motorradfahrer hinter uns auf. Er fragt nach dem Führer.
  „Zurück, so schnell wie  möglich!"
  Wir atmen erleichtert auf. Im  Nu sind unsere Waffen zusammengepackt,und wir kriechen vorsichtig neben dem  Meldegänger den Bahndamm hinunter.
  Wie wir gerade die erste  schützende Bretterwand des Schrebergartengeländes erreichen, das zwischen uns  und der Kaserne liegt, hören wir auf der Brücke das taktmäßige Stampfen vieler  Schritte.
  Erst nach Minuten wagen wir zu  sprechen.
  Jetzt sagen alle: „Schade, dass  man uns nicht da gelassen hat. Kein Mensch wäre über die Brücke gekommen."
  Ich stimme in das allgemeine  Bedauern mit ein, aber innerlich bin ich wie erlöst. Wie eine Vision sah ich  eben vor mir taumelnde, zuckende, fallende Körper und hörte wahnwitziges  Geschrei. So, wie Sparr damals schrie...
  Die Führung des  Gefechtsabschnitts Süd hatte nachträglich Bedenken bekommen. Von uns wäre kaum  einer übrig geblieben, wenn es zum Kampf gekommen wäre. Eine vielfache Überzahl  wäre gegen uns vorgegangen. Deshalb rief man uns zurück.
  Kurz bevor wir wieder in unser  Quartier abtransportiert werden, entsteht eine kleinere Schiesserei. Dabei  stellt sich heraus, dass unser schweres Maschinengewehr, mit dem wir vorhin  den Anmarsch der Arbeiter aufhalten sollten, völlig unbrauchbar ist. Nach  jedem Schuss gibt es eine umständliche Ladehemmung.
Die Umklammerung wird immer  enger. An mehreren Stellen sind die Arbeiter bereits weit in die Stadt  eingedrungen. Der Marktplatz ist in ihrem Besitz. Die Verbindung zwischen den  Truppen in den Frankeschen Stiftungen und der Artilleriekaserne ist durch  Barrikaden unterbrochen.
  Im Norden ist die Umzingelung  so weit vorgeschritten, dass wir die ersten Linien der Arbeiter schon von  unserem Quartier aus erreichen können: auf dem Dach der Oberrealschule ist  jetzt ein M. G. aufgestellt, das fast ständig in Tätigkeit ist.
  Mitten auf der Straße steht  vor der Kaserne ein Minenwerfer, und in Abständen von etwa zehn Minuten schießt  man eine Mine über den nächsten Häuserblock hinweg auf das dahinterliegende  unbebaute Feld ab.
  Es fließt kein Wasser mehr in  der Leitung. Wir müssen daher das Wasser eimerweise vom
  Hof der Kaserne holen, wo ein  Brunnen ist Man braucht nur über die Straße zu gehen. Aber auch da pfeifen  schon die Kugeln.
  Ich hole Wasser. Auf dem  Kasernenhof ist eben ein Transport Gefangener eingebracht worden. Eine  Abteilung Schupo hat sie auf einem Vorstoß nach scharfem Handgranatenkampf  gefangen genommen. Es sind etwa acht Mann.
  Keiner nimmt eigentlich viel  Notiz von ihnen Man sieht sie sich flüchtig an: es sind Arbeiter, an denen  nichts Bemerkenswertes ist.
  Da kommt aus der Kaserne  plötzlich ein Feldwebel. Ein dicker, aufgesoffener Kerl mit aufgezwirbeltem  Schnurrbart und hervorstehenden Augen. In der Hand hält er einen Karabiner.
  Er begrüßt die Gefangenen mit  Schimpfreden. Die paar Schupos unternehmen nichts dagegen.
  Er lässt die Arbeiter  stillstehen, dann kommandiert er:
  „An die Hausmauer! Marsch!  Marsch! Zurück, marsch, marsch!"
  Die Gefangenen laufen. Ich  sehe mehrere Kameraden, die sich angewidert abwenden.
  Am andern Ende des Hofes liegen  die Latrinen. Der Feldwebel zeigt dorthin und kommandiert:
  „An die Latrine, marsch,  marsch!" Die Gefangenen sind etwa zwanzig Meter gelaufen, da kracht ein Schuss.
  Ich wende mich um. Der  Feldwebel hat das Gewehr an der Backe. Einer der Gefangenen schreit laut auf  und sinkt vornüber zusammen.
  Im selben Augenblick sehe ich  Leutnant Michael und einige Andere auf den Feldwebel zustürzen. Michael hat die  Pistole in der Faust und schmettert dem Feldwebel den Kolben zwischen die  Augen, dass der taumelt.  Der Karabiner  entfällt ihm, ein Schuss geht los.
  Michael ist unheimlich ruhig.  Der Feldwebel blutet.  Michael steht mit  der Pistole in der Hand vor ihm und winkt einigen Schupoleuten: „Verhaften, das  Schwein!" Er reißt ihm das Koppel ab. Der Feldwebel! sieht sich mit  blutenden Augen nach Hilfe um. J Er begegnet überall eisiger Ablehnung. Man  führt ihn ab. Michael geht langsam hinterher.
  Andere haben sich um den  Getroffenen bemüht. Er ist tot. Die Kugel hat ihm die Niere zerfetzt und ist  vorn wieder ausgetreten. Man trägt den Toten fort. In der allgemeinen!
  Verwirrung kümmert sich  niemand um die Gefangenen. Sie stehen eng aneinander gepresst und warten. Schließlich  werden sie in den Exerzierschuppen gebracht...
  Ein Angehöriger der  Einwohnerwehr, ein fetter alter Mann mit einem schütteren Vollbart und mit  dünnen Beinen, kritisiert Michaels Verhalten. Es kostet ihn einige Mühe, sich  der drohend erhobenen Fäuste mehrerer Studenten zu erwehren.
  Benommen und entsetzt gehe ich  zu meiner Gruppe zurück und erzähle den Fall. Man findet, dass sich Michael  richtig benommen hat, und ich atme erleichtert auf. Mir selbst unbewusst, habe  ich eigentlich etwas Anderes befürchtet.
  Es bleibt mir nicht viel Zeit,  über diese grauenhafte Szene nachzudenken, denn gleich darauf werden wir schon  wieder eingesetzt. Fast unmittelbar hinter der Kaserne, nur durch ein  Villenviertel getrennt, dehnt sich unbebautes Feld bis zum Flugplatz hin. Die  Straßen, die von dort zur Kaserne führen, hegen jetzt fast immer unter Feuer.  Darum hat man dort ein Stacheldrahtverhau errichtet, das diese Zufahrtsstraßen  absperrt
  Die Wache liegt im Erdgeschoß  eines Hauses.
  Es ist dort ganz gemütlich.  Wir spielen Klavier, erzählen uns etwas und sind vor den Schüssen sicher, wenn  wir nicht gerade auf Posten sind.
  Am Nachmittag ist alles ruhig.  Zarnke, Webach und ich hocken draußen auf dem Kiesboden des kleinen Platzes,  den wir bewachen, und spielen Skat. Fünf Straßen laufen hier zusammen. Man  kann das ganze Gelände gut übersehen.
  Plötzlich bekommen wir Feuer.  Die Kugeln pfeifen so dicht an uns vorbei, dass wir nicht einmal mehr Zeit  haben, zu unserm M. G. zu stürzen, das etwa zehn Meter von uns auf dem Platz  eingegraben ist.
  Es ist Maschinengewehrfeuer,  und ganz offensichtlich gilt es nur uns. Beim ersten Schuss lasse ich mich  nach hinten fallen und liege platt auf dem Rücken.
  Instinktiv habe ich den Kopf  aus der Feuerrichtung genommen und kann nun deutlich beobachten, wie die  Kugeln wenige Schritte neben mir in den Boden fahren. Ganz sachlich überlege  ich mir, dass über kurz oder lang eine mich treffen muss.
  Es ist ein ganz merkwürdiges  Gefühl: Ich habe keine Angst, obwohl ich ganz genau weiß, dass ich jeden  Augenblick getroffen werden kann.
  Ich weiß genau: dies ist das  Ende. Aber diese Gewissheit hat nichts Schreckliches für mich.
  Ich wundere mich selbst  darüber und versuche, alle meine Gedanken in den Begriff „tot" versinken  zu lassen. Es gelingt mir nicht.
  Ich werde also in einigen  Sekunden oder Minuten sterben. Ich kann aber doch nicht einfach hier liegen und  mich totschießen lassen!
  Aufstehen und weglaufen kann  ich nicht. Ich wäre sofort von vielen Kugeln durchbohrt. Aber ich muss doch  sterben, ich werde tot sein!
  Plötzlich fällt mir ein, dass  man da wohl beten müsse. Ich bin mir nicht recht darüber klar, ob ich an Gott  glaube oder nicht. Ich kann doch eigentlich gar nicht beten, wenn ich nicht  weiß, ob Gott überhaupt existiert.
  Ich überlege mir das alles  ganz kalt Genau so, als ob ich mit einem Freunde über Gott diskutierte. Aber  hier ist es doch etwas anderes. Ich rufe mir das immer wieder ins Gedächtnis.  Ich hege hier auf freiem Platz ohne die geringste Deckung in einem wilden  Maschinengewehrfeuer. Es ist überhaupt ein Zufall, dass ich noch nicht  getroffen bin!
  „Irgendetwas muss doch wohl  daran sein," sage ich mir ruhig und versuche zu beten.
  „Vater unser..." fällt  mir ein, aber ich komme mit den einzelnen Bitten nicht zurecht, und außerdem  hat es ja gar keinen Zweck.
  Ich muss sogar über mich  lächeln. Im selben Augenblick durchfährt mich aber ein entsetzlicher Schreck:  Wenn Gott nun doch ist?
  Plötzlich verstummt das Feuer.  Ich bin mit meinen Gedanken zu weit fort. Ich bemerke es zunächst gar nicht.  Dann denke ich: die da drüÂben werden jetzt einen neuen Gurt einziehen, habe  ich noch soviel Zeit, mich in Sicherheit zu bringen?
  Plötzlich ruft mich jemand an:  „Mensch, biste dot?"'
  „Nee," sage ich  verwundert und springe auf. Da geht das Feuer wieder los, ich muss also wieder  zweihundertfünfzig Schuss lang still hegen.
  Wie ich mich niederwerfe,  spüre ich einen kleinen Schmerz an meinem rechten Knie. Ich bin also verwundet.  Es tut gar nicht so weh. Ich habe mir das immer viel schlimmer gedacht
  Ich kann mich nicht  aufrichten, um nachzusehen. Ob es wohl schlimm werden wird? Vielleicht das  Kniegelenk?
  Dann höre ich einen schwachen  Schrei. Es muss Zarnke sein, der Stimme nach.
  Endlich verstummt das Feuer;  ich reiße mich zusammen und laufe in das Haus, wo unsere Kameraden sind. Die  kommen uns schon an der Haustür entgegen, und wenige Sekunden später feuert  unser Gewehr. Zarnke steht plötzlich neben mir. Er blutet an der Schulter.
  Jetzt erst sehe ich, dass aus  meiner Hose Blut läuft. Vorsichtig streife ich sie hoch. Am Knie eine kleine  Fleischwunde. Es tut sehr weh, wenn ich das Bein bewege, aber es ist nur ein Streifschuss.  Beinahe tut es mir leid, dass es weiter nichts ist.
  Ich lege einen Notverband auf  und helfe Zarnke, der sehr bleich ist und leise stöhnt Dann gehen wir beide  humpelnd die wenigen hundert Meter zu unserem Quartier zurück.
  Ein Sanitäter verbindet uns.  Er ist ein alter Herr mit weißem Vollbart in der Uniform der freiwilligen  Sanitätskolonne, der seine Sache sehr ernst nimmt. Mir legt er einen Verband  an, dass ich kaum gehen kann. Zarnke wird mit einem Auto ins Krankenhaus gebracht.
  Ich verabschiede mich von ihm  und will ihn bedauern. Zarnke aber lächelt: „Bin froh, dass
  ich aus dem Dreck raus  komme," sagt er leise...
  Am Abend bekomme ich Besuch.  Mein Direktor, der unten bei der Einwohnerwehr ist, hat von meiner Verwundung  gehört. Das nächste halbe Jahr werde ich ihn als Klassenlehrer haben; aber wie  fern ist das jetzt alles!
  Kaum, dass ich mich von meinem  Strohsack erhebe, kommt er ins Zimmer. Ein Soldat wie hundert andere. Ich bin  still und kühl. Der Direktor geht auch bald wieder...
  In der Nacht verstärkt sich  der Lärm der Schüsse noch. Jetzt knallen sie überall. Wir können kaum schlafen.  Nicht wegen der vielfältigen Geräusche, sondern wegen der Unruhe in uns, gegen  die wir uns immer wieder wehren müssen.
  Wie lange soll das noch weiter  gehen? Wie lange können wir uns noch halten? Was wird, wenn wir uns vielleicht  doch entwaffnen lassen müssen?
  Es ist noch, kein Ende  abzusehen. Die Stimmung ist gedrückt und ernst.
  Am Morgen hören wir, dass es  in der Nacht wieder einen Toten bei unserer Kompanie gegeben hat. Wir zählen  nicht mehr unsere Verluste, wie wir es in den ersten Tagen getan haben.
  Ich darf im Quartier bleiben,  weil mich mein Verband am Gehen hindert, die anderen werden wieder an  derselben Stelle eingesetzt, wo wir gestern standen.
  Nach einer Weile halte ich es  nicht mehr aus, Es ist beängstigend still, trotz des Kampflärms, und ich bin  allein mit meinen Gedanken. Sie kreisen mit schmerzender und wütender Hartnäckigkeit  immer und immer um dieselbe Frage: „Warum muss das alles sein?"
  Im Trubel der letzten Zeit  hatte ich nicht mehr an die Nöte denken können, die mich oft während meiner  Spitzeltätigkeit überfielen. Nun sind alle die alten Fragen wieder da und  drücken und quälen doppelt schwer. Ich kämpfe gegen die Arbeiter. Aber was  gehen mich die Arbeiter an? Ich habe doch in den letzten Monaten genug gesehen  und erfahren, was mir ihren Kampf gegen die bestehende Gesellschaftsordnung  gerechtfertigt erscheinen lassen könnte.
  Und was geht mich die  bestehende Gesellschaftsordnung an? Bin ich denn so sehr mit ihr verbunden, dass  ich sie mit meinem Blut
  Bei ihnen werde ich hoch  aufgenommen Irgendeiner sagt mir sogar, es sei sehr anständig von mir, dass  ich freiwillig mit nach vorne komme, obwohl ich es doch gar nicht nötig hätte.
  Ich schäme mich. Ich gelte  hier nun für einen tapferen Menschen. Ich sehe es an den kleinen  Liebenswürdigkeiten, die man mir erweist, spüre es an dem leise respektvollen  Ton, in dem man mit mir spricht...
  Und ich bin doch nur mutig,  weil ich feige bin, weil ich das Alleinsein fürchte, weil ich mich meiner  Gedanken nicht erwehren kann, weil ich ganz einfach Angst habe: Angst vor dem  wirren, unverständlichen und sinnlosen Leben, in das ich mich hineingestellt  sehe.
  Aber ich bin ein tapferer  Soldat, wenn ich auch nur nach vorne geflohen bin.
  Heute ist Sonntag. Wenige  Schritte von unserer Wache entfernt liegt eine Kirche. Die Glocken läuten.  Überall feiert man Einsegnung.
  Männer mit Zylindern, Frauen  in feierlichem Schwarz, Mädchen mit gebrannten Haaren, mit Blumensträußen und  goldgeränderten Gesangbüchern in den Händen, Jungens, den Hals verteidigen muss?  Ist es nicht eigentlich eine Gemeinheit von mir, wenn ich mich für eine Sache  einsetze, an deren Gerechtigkeit ich immer wieder Zweifel habe?
  Und meine Kameraden. Was  zwingt sie dazu, ihr Leben an ein Unternehmen zu setzen, das ihnen im besten  Fall nichts weiter zu bieten hat als das sinnlose Bewusstsein, revolutionäre Arbeiter  besiegt zu haben? Und dafür Kampf und Blut? Wissen sie überhaupt, was sie tun?
  Sie wissen ja nicht, was und  wer sie von den Arbeitern trennt.   Sie  sind junge Leute, die der Macht der Phrase erliegen. Und darum stehen sie hier  unter Waffen, und merken nicht, dass sie die Waffen letzten Endes gegen sich  selbst erheben...Ich halte es nicht aus, dieses Nachdenken! Ich gehe zum  Verbandsraum hinunter und lasse mir von dem Sanitäter einen bequemeren Verband  anlegen, der mich beim Gehen überhaupt nicht mehr stört. Dann mache ich mich  auf den Weg zu meinen Kameraden. Sie liegen nur ein paar hundert Meter von der  Kaserne entfernt, und das ganze Gelände ist von Stacheldrahtzäunen umgeben, so  dass der Weg nicht gefährlich ist.
  in den ersten steifen Kragen  eingezwängt und mit lächerlich ängstlichen und feierlichen Gesichtern.
  Sie gehen zur Kirche. Manchmal  fegen Kugeln die Straßen entlang. Dann presst sich die sonntäglich geputzte  Familie in Hausflure und an Mauerwände. In langen Sätzen stürzen sie auf die  rettende Kirchtür zu...
  Ein groteskes Bild.
  Nach einer Stunde wird der  Platz vor der Kirche immer noch beschossen. Man kann nicht erkennen, von wo die  Kugeln kommen. Vielleicht schießen die Arbeiter von den hinter der Kirche  liegenden Feldern, vielleicht kommen die Schüsse auch aus der Kaserne.
  Wir schleichen uns vorsichtig  zur Kirche hin. Wir hoffen, von dort den Feind sehen zu können.
  Vor einem neuen Kugelregen  drücken wir uns in den Vorraum. Vorne am Altar steht der Geistliche. Vor ihm  knien die jungen Menschen.
  „Vater unser..." sagt der  Pfarrer gerade. Einige Fensterscheiben splittern. Schreie steigen auf und  werden noch im Entstehen unterdrückt.
  Wir binden Taschentücher an  unsere Karabiner und führen die Kirchgänger über den Platz, wobei wir fortwährend  die weißen Fahnen schwenken...
  Am Nachmittag wird es endlich  etwas ruhiger. Wir werden abgelöst.
  Ich gehe mit Webach noch  einmal auf den Kasernenhof. Dort bringt man gerade einige Tote in einen  Schuppen. Wir schließen uns an.
  Etwa zehn Leichen liegen da  auf flüchtigen Strohschütten. Ganz vorn ein Schupomann. Man hat ein weißes Tuch  über sein Gesicht gedeckt und ihm die Hände gefaltet. Er hat keine Stiefel an.  Augenscheinlich ist die Leiche beraubt worden, ehe man sie bergen konnte.
  Neben mir steht ein  Reichswehrmann. Seine Augen funkeln vor Hass und Abscheu.
  „Nicht einmal Leichen sind vor  der Bande sicher!" stößt er zwischen den Zähnen hervor und sieht uns an,  als sollten wir ihm beistimmen.
  Ich wende mich ab. Neben dem  Schupomann liegt der gefangene Arbeiter, den gestern der Feldwebel auf dem  Kasernenhof erschossen hat. Niemand hat ihm die Hände zusammengelegt, kein Tuch  bedeckt sein Gesicht. Sein Kopf ist hintenübergesunken. Seine Augen stehen offen,  die starren Hände sind gespreizt und verkrampft. Das Hemd hängt ihm aus der  Hose, ein Gazebausch ist unordentlich in die Schussöffnung gestopft. Auf  seiner Weste hat man mit einer Stecknadel einen Fetzen Papier befestigt:  „Beschlagnahmt! Der Staatsanwalt". Darunter Stempel und Unterschrift.
  Der Reichswehrmann schimpft  immer noch über die vertierte Rohheit der Roten.
  Ich kann mich nicht  zurückhalten. Ich zeige auf den Arbeiter:
  „Sehen Sie sich mal das  an!"
  Der Soldat versteht mich  nicht.
  „Den hat gestern ein Kamerad  von Ihnen auf dem Kasernenhof erschossen," sage ich. „Einen wehrlosen  Gefangenen. Ohne Grund, bloß so, zum Spaß."
  Webach zupft mich am Ärmel: „Lass  doch!" sagt er hastig.
  Der Reichswehrsoldat sieht uns  verwundert nach. Er hält mich sicher für verrückt.
Am nächsten Tage werden wir  plötzlich mit der Nachricht überrascht, dass der Generalstreik abgebrochen ist.  Wir wundern uns sehr darüber, denn bei uns ist die Lage der Arbeiter denkbar  günstig. Noch einige Tage, und die Truppen wären durch die ewigen Aufregungen  so demoralisiert worden, dass sie einer Entwaffnung zugestimmt hätten.
  Die Arbeiterschaft stand fünf  Minuten vor dem Sieg, und nun wird der Streik als beendet erklärt. Alles wird  wieder gut.
  Einige unter uns, die mit den  Verhältnissen näher Bescheid wissen, reden scherzhaft davon, wir müssten uns  bei dem Gewerkschaftsvorsitzenden Legien bedanken. Denn er hat uns mit der  Zurücknahme der Streikparole einen großen Liebesdienst erwiesen.
  Heute ist auch endlich ein  Reichswehrbattaillon aus Halberstadt angekommen, das uns unterstützen soll.
  Aufatmen und Freude überall:  endlich können wir zum „entscheidenden Schlage" ausholen.
  Aber unser Stoß geht ins  Leere.
  Vor der Artilleriekaserne, an  der wir eingesetzt werden, steht eine Feldhaubitze und feuert nach Ammendorf  hinein. Dieses schwere Feuer ist völlig sinnlos, denn die feindlichen Linien  liegen so nahe, dass das Steilfeuer der Haubitze über sie hinweggeht.
  Dafür wird zwei Kilometer  weiter rückwärts die Fassade eines Mietshauses in Ammendorf von einer 21er  Granate glattweg abrasiert. Menschen kommen dabei merkwürdigerweise nicht zu  Schaden.
  Wie wir zum Sturm ansetzen,  sind die Stellungen der Arbeiter verlassen. Erst später erfahren wir, dass  sie der Abbruch des Generalstreiks entmutigt hat. Jetzt wundern wir uns  höchlichst über den billigen Sieg, der uns in den Schoß gefallen ist, und  verstehen die Zusammenhänge nicht.
  Unsere Lage war doch noch bis  gestern fast verzweifelt, und heute sind wir auf einmal die Sieger.
  Wir gehen zur Kaserne zurück  und hocken untätig noch einige Tage herum.
  Die Stadt erwacht wieder zum  Leben. Die bürgerlichen Zeitungen geben Extranummern heraus. Fette  Überschriften: „Wie die revolutionären Arbeiter geschlagen wurden."
  Wir haben davon nichts  gemerkt. Der einzige unzweifelhafte Sieg der Ordnungstruppen war die Eroberung  des Flugplatzes durch eine Hundertschaft Sipo. Die Arbeiter, die dort  verschanzt lagen, hatten vom Abbruch des Streiks und der Einstellung der  Feindseligkeiten noch nichts erfahren.
  Mit behaglicher Breite wird in  der Zeitung geschildert, wie die braven Schutzleute zuerst durch trefflich  gezielte Handgranatenwürfe die Baracke, in der die Arbeiter lagen, in Brand  gesteckt haben. Als sich dann die Besatzung aus der einzigen Tür ins Freie  retten wollte, hat man einen nach dem andern abgeknallt.
  Man spricht von 45 Toten.
  Die Truppen sind also auf der  ganzen Linie siegreich geblieben. Auf dem Papier haben sie sich fabelhaft  geschlagen, und die Arbeiter sind, wo immer geschlossene Verbände eingesetzt  wurden, Hals über Kopf davongelaufen.
  Auch Verlustlisten werden  veröffentlicht, nach denen die Truppen nur vier Tote zu beklagen haben. Dabei  waren es allein in unserer Kompanie mehr.
  Wir ärgern uns nicht einmal  über diese Lügen. Wir sind noch nicht recht zur Besinnung gekommen. Der Sieg  für die Republik, den uns die bürgerlichen Zeitungen in die Schuhe schieben,  ist uns peinlich.
  Wir wundern uns nur darüber, dass  vom Kapp-Putsch überhaupt keine Rede mehr ist. Eigentlich sind wir ja doch die  Besiegten, eigentlich wollten wir ja doch die Republik stürzen, und daran  haben uns die „revolutionären Arbeiter" gehindert.
  Jetzt sollen wir plötzlich  umlernen, der Kapp-Putsch sei eine ganz harmlose Angelegenheit gewesen, und die  ganzen Unruhen seien von Verbrechern, die in Moskaus Blutsold standen,  angezettelt worden. Nun ist der Bolschewismus dank unserm Mut niedergeschlagen  worden.
  Peinlicher Sieg...
  Die Polizeimannschaften haben  jetzt ständig Festtage. Sipoleute fahren mit Lastautos in den Dörfern herum und  verhaften Alles, was ihnen in die Hände läuft. Jeder Arbeiter ist vogelfrei.
  Ob er die Truppen der  Militärdiktatur niederwerfen oder den Bolschewismus verwirklichen wollte, — es  ist jetzt alles ganz gleichgültig: wer in diesen Tagen angeblich eine Waffe in  der Hand gehabt hat, wird verhaftet. Wer einen verwundeten Arbeiter verbunden,  wer einen Toten aus der Feuerlinie getragen, wer kämpfenden Arbeitern Brot und  Wasser gereicht, wer einen Ortsfremden bei sich beherbergt hat, —der wird  verhaftet.
  Die Gefängnisse füllen sich.  Schon wird der Platz knapp; im Untersuchungsgefängnis am Kirchtor liegen die  Leute übereinander, und auf je drei Gefangene kommt eine Pritsche.
  Die Fechtsäle der Universität  in der Moritzburg werden zu Gefangenenlagern umgewandelt. Dort liegen  Dutzende und Hunderte von „Aufständischen". Wochen und Monate.
  Hin und wieder wird auch mal  ein Verhafteter freigesprochen. Dann zetert man über die unverantwortliche  Schwäche der Justiz, obwohl wirklich alles getan wird, um auch den Harmlosesten  zu einem blutgierigen Landfriedensbrecher zu stempeln...
  Einen Kapp-Putsch, meuternde  Truppen hat es nie gegeben.
  Nur einmal merken wir doch  noch etwas davon: Irgendjemand erinnert sich daran, dass die
  jetzt aufgelöste  Nachrichtenabteilung ja für Kapp Stimmung gemacht hat.
  Eines Tages erscheint also  Walter verlegen und sehr unsicher bei Webach und mir und erzählt eine lange  Geschichte von der strafrechtlichen Verfolgung der Kapp-Verbrecher. Wir erfahren  zu unserem nicht geringen Erstaunen, dass wir beide dazu gehören. Wir haben  „Stimmung gemacht". Dem Garnisonkommando sei die Sache höchst peinlich. Wir  täten jedermann einen großen Gefallen, wenn wir uns die nächste Zeit nicht in  Halle sehen ließen.
  Wir bekommen ein paar Hundert  Mark in die Hand gedrückt und fahren seelenvergnügt nach Berlin.
  Nach vier Wochen kommen wir  wieder, kein Mensch kümmert sich mehr um uns...
  Peinlicher Sieg: Wir haben die  Republik nicht besiegt und die Arbeiter nicht geschlagen. Alles ist wie früher.
  Wir wissen noch nicht, dass  wir doch gesiegt haben, dass es sich von nun an auch in der Republik leben lässt,  und dass man jetzt auch in der Republik Geld verdienen kann.
Es ist schwer zu ertragen: das  Leben geht seinen geregelten Gang, und ich bin wieder Pennäler. Noch dazu  einer, der durchs Abitur gefallen ist. Nichts Geheimnisvolles und Erregendes  gibt es, womit ich mich selbst über meine Bedeutungslosigkeit hinwegtäuschen  könnte.
  Fast jeden Tag treffe ich auf  der Straße ehemalige Schulkameraden. Sie tragen stolz die bunte Mütze  irgendeiner studentischen Verbindung, und immer glaube ich, aus ihren freundschaftlichen  Gesprächen den Ton beleidigender Herablassung und versteckten Mitleids herauszuhören.
  Mein Freund Webach trat im  Sommer in eine Burschenschaft ein. Wir sehen uns jetzt seltener, denn er hat  viel zu tun. Manchmal bringt er mich mit seinen Bundesbrüdern zusammen. Das  sind fast alles ehemalige Offiziere, und sie imponieren mir sehr. Sie haben  eine selbstverständliche Ruhe und Sicherheit und sprechen mit sonorer,  männlicher Stimme.
  Nachdem ich ohne besondere  Schwierigkeiten das Abitur bestanden habe, werde ich von Webach zu einer  Kneipe eingeladen. Ich betrete das Verbindungshaus der Burschenschaft mit der  Gewissheit, dass ich es mit Band und Mütze verlassen werde.
  In dem Kneipzimmer, dessen  Wände mit den Bildern sämtlicher ehemaligen Aktiven geschmückt sind, sitzen  nur ein paar Studenten. Die meisten „Bundesbrüder" sind in Ferien.
  Wir trinken Bier und Schnaps.  Die jungen Leute sind herzlich und höflich zu mir. Bald werde ich betrunken.
  Mein Nebenmann, ein älterer Mediziner  mit Namen Banse, spricht in einem fort. Ich höre ihm aufmerksam zu: er erzählt  von Mensuren, von Kneipereien, die erst am Mittag des nächsten Tages endigten,  von tollem Unsinn, den man getrieben hat, von Mädchen und romantischen  nächtlichen Kahnfahrten auf der Saale.
  Der Qualm unzähliger  Zigaretten legt sich um die Lampe. Banse zeigt auf die Bilder an den Wänden und  spricht in feierlichem Ton davon, wie sich jeder Bundesbruder einfüge in die  fast ein Jahrhundert alte Tradition der Burschenschaft, wie jeder einzelne  durchdrungen sei von den Idealen jener Männer, die einst Leben und Freiheit  aufs Spiel setzten für die stolze Devise „Freiheit, Ehre, Vaterland!"
  Das Kneipzimmer beginnt sich  um mich zu drehen. Ein Lied wird angestimmt. Man drückt mir ein Kommersbuch in  die Hand, und ich singe begeistert mit, während der Tabaksqualm immer dicker  wird, und Brechreiz meinen Magen quält:
  „Student sein, wenn die  Veilchen blühen, ihr lockend Lied die Lerche singt, der Morgensonne junges  Glühen triebweckend in die Erde dringt! Student sein, wenn die weißen Schleier  am blauen Himmel grüßend wehn, das ist des Lebens schönste Feier, Herr, lass  sie nie zu Ende gehn!"
  Dann muss ich hinaus. Webach  zeigt mir den Weg zur Toilette und erläutert mir den Zweck des Speibeckens, das  in die Wand eingelassen ist: man legt die Stirn auf ein kleines Polster und  hält sich an den Griffen fest.
  Mit tränenden Augen und  keuchender Lunge komme ich gerade noch zurecht, um den letzten Vers des Liedes  mitzusingen. Dann höre ich
  mich korrekt zu Banse sagen:  „Ich möchte bei Ihnen aktiv werden."
  Plötzlich habe ich eine Mütze  auf, Banse schlingt mir liebevoll das Band um die Brust, alle kommen und  gratulieren mir und nennen mich du. Banse hält eine kurze Rede. Er endet mit  den Worten „Freiheit, Ehre, Vaterland", und ich fröstele vor  Ergriffenheit.
  In den frühen Morgenstunden  wanke ich, von Webach und Banse gestützt, nach Hause, falle in einen tiefen  Schlaf — und lächle beim Erwachen glückselig, da mein Blick auf Band und Mütze  fällt, die am Bettpfosten hängen.
  Ich bin aktiv! Ich bin wieder  wer!
  Und von nun an ist das Leben  wunderschön! Welch ein Gefühl, mit seinen neuen Bundesbrüdern über die Straße  zu gehen! Es ist fast so schön wie das Soldatsein. Von allen Vorübergehenden  wird man respektvoll betrachtet, und man ist es seiner Couleur schuldig, durch  alle diese armen Menschen hindurchzusehen, als wären sie Luft.
  Meiner Bedeutung werde ich mir  so ganz bewusst, wenn ich mir meinen Bundesbruder Lauritz ansehe. Der Mann  ist fast dreißig Jahre alt und Rittmeister a. D. Er hat im Kriege ein Bein  verloren und fängt jetzt gerade an, Medizin zu studieren. Und Lauritz — ein  Rittmeister! — ist jetzt Fuchs wie ich und stolz darauf, das bunte Band tragen  zu dürfen und von Freiheit, Ehre und Vaterland zu reden.
  Dass mein Wert fast über Nacht  so gestiegen sein soll, dass ich auf einer Stufe mit Lauritz stehe, ist etwas,  was ich manchmal noch nicht begreifen kann. Besonders auf der Kneipe fällt es  mir immer wieder auf.
  Wir haben einen Bundesbruder,  der namenlos unter dem Unglück leidet, Rosenberger zu heißen. Jeder  verdächtigt ihn jüdischer Abstammung. Rosenberger ist sehr klein und sieht  außerdem furchtbar jung aus. Er trägt darum ständig das schwarz-weiße Band des  Eisernen Kreuzes im Knopfloch. Sonst glaubt ihm niemand, dass er im Felde  gewesen ist.
  Lauritz hat auf der Kneipe  einen Witz gemacht, durch den sich Rosenberger aus unerfindlichen Gründen  beleidigt fühlt. Jedenfalls wird er krebsrot im Gesicht und brüllt Lauritz an:  „Rest weg!"
  Nachdem Lauritz dem Befehl  gehorcht hat, kommandiert Rosenberger noch ein zweites und drittes Mal: „Rest  weg!"
  Und Lauritz, der  dreißigjährige einbeinige Rittmeister, erhebt sich jedes Mal sofort, nimmt  seine Mütze ab und gießt gehorsam sein Seidel hinunter...
  Mein Weltbild verschiebt sich.  Alle bisherigen Begriffe von Lebenszweck und Menschenwert geraten ins  Schwanken. Krone und Ziel aller menschlichen Entwicklung ist der Bursche, der  drei Mensuren gefochten hat, auf der Kneipe seinen Mann steht und jederzeit  bereit ist, für den Wahlspruch und die Farben seiner Verbindung Blut zu vergießen  und zu verlieren.
  Aber so ausschließlich ich  wünsche, selbst bald so ein Bursch zu werden, und so sehr ich mein Benehmen  nach den zahllosen Regeln und Gesetzen meiner Korporation einzurichten bemüht  bin, — so schwer wird mir dieses Vorhaben gemacht.
  Der Vater meines Bundesbruders  Horn ist hoher Beamter in Halle. Ich verkehre oft in seinem Hause. Ich mag  meinen Freund Horn gern, aber in der Hauptsache gehe ich so oft zu ihm, weil  bei Horns eine Stütze tätig ist, in die ich verliebt bin.
  „Fräulein Martha" ist ein  blutjunges Ding mit einem hellblonden Wuschelkopf, sanften grauen Augen und  einer biegsamen, schmalen Gestalt. Wenn sie durchs Zimmer geht, klopft mir jedes  Mal das Herz stärker, und immer muss ich ihr nachsehen. Ihr enges Kleid spannt  sich um ihre Hüften, und ihre Beine sind schlank und schön.
  Horn hat nichts dagegen, dass  ich mich um die Stütze bemühe. Für ihn kommt sie nicht in Frage, denn er hält  auf Prinzipien. Und es ist ein Prinzip von ihm, seine amoureusen Angelegenheiten  außerhalb seines Elternhauses zu erledigen. Das drückt er häufig durch die goldene  Lebensregel aus: „Der kluge Hund scheißt nie zuhaus."
  Es dauert lange, ehe sich  Martha dazu entschließt, an ihrem freien Tag mit mir auszugehen. Endlich  erlaubt sie es mir. Nun gehen wir oft in der Peißnitz spazieren oder rudern auf  der Saale. Dabei erzählt Martha von zu Hause, und manchmal kommen ihr die  Tränen in die Augen. Ihr Vater ist kleiner Beamter in Schlesien, und sie soll  bei Horns „au pair" die feine Wirtschaft lernen.
  Ich liebe sie. Oft stehe ich  stundenlang vor Horns Haus und warte darauf, dass Martha einkaufen geht. Dann  drücken wir uns scheu an
  die Mauer eines Gartens,  schweigen oder reden nebensächliche Dinge. Ich halte ihre Hand in der meinen  und atme den Duft ihres Körpers, bis sie hastig und traurig sagt: „Nun muss ich  wieder gehen." Wenn es keiner sieht, küssen wir uns dann, und ich bin  stolz und glücklich.
  Manchmal besuche ich auch  meinen Freund Horn zu einer Zeit, wo ich Martha allein zu Hause weiß...
  Es ist fast unwirklich schön.  Weil Martha es nicht nett von mir findet, dass ich immerzu nur trinke und  fechte, gehe ich sogar regelmäßig zur Universität.
  Einmal, wie wir an einem  kalten Wintertag wieder auf den Saalewiesen spazieren gehen, treffen wir meinen  Bundesbruder Spiegel. Er grüßt korrekt und mit ernstem Gesicht.
  Am nächsten Convent der  Burschenschaft, der jede Woche stattfindet, erhebt sich Spiegel plötzlich und  stellt Strafantrag gegen mich.
  „Ich habe ihn am vorigen  Donnerstag Arm in Arm mit dem Dienstmädchen unseres Bundesbruders Horn in der  Peißnitz spazieren gehen sehen."
  „In Couleur?" fragt unser  Sprecher, der den Convent leitet, zurück.
  Spiegel schreit es fast:  „Jawohl, in Couleur! Am hellen lichten Nachmittag!"
  Ich erhole mich langsam von  meinem Erstaunen und begreife, dass man mich eines schweren Delikts  beschuldigt, das bei uns „Couleur senken" heißt. In Couleur dürfen wir  nämlich nur mit „Damen der Gesellschaft" verkehren, andere weibliche  Wesen existieren für uns nur am Freitagabend, wo wir couleurfrei haben. Nach  einer durch jahrzehntelanges Herkommen geheiligten Regel ist der Freitagabend  für einen Besuch im Puff reserviert oder für eine Unternehmung mit einer der drei  oder vier „Bundeshuren", die unter uns reihum gehen.
  Spiegel sagt also, Martha sei  keine Dame, und ich hätte meinen Verkehr mit ihr dem Convent bekanntgeben  müssen, wozu ich auf Ehrenwort verpflichtet sei.
  Mein erster Gedanke ist,  Spiegel für seine Unverschämtheit ins Gesicht zu schlagen! Die kleine Martha  auf eine Stufe mit den Mädchen zu stellen, mit denen wir uns Freitags zu amüÂsieren  pflegen!
  Zur Rede gestellt, verweigere  ich über dieses Vorkommnis jede Aussage: Martha sei nicht
  das Dienstmädchen, sondern die  Stütze der Familie Horn, also fraglos eine Dame. Und über meine Erlebnisse mit  Damen dürfe ich bekanntlich nicht sprechen.
  Horn soll Auskunft geben, ob  Martha eine Dame ist. Ich sehe ihm an, dass ihm die ganze Sache furchtbar  unangenehm ist, und dass er eine Wut auf mich hat: „Ob die Stütze meiner Eltern  eine Dame ist, weiß ich nicht. Jedenfalls benimmt sie sich tadellos."
  Spiegel genügt das noch nicht:  „Hat sie auch bei euch Familienanschluss?"
  Horn bejaht.
  „Isst sie mit an eurem  Tisch?" fragt der Sprecher. Auch das bejaht Horn. Aber: er würde mit ihr  nicht in Couleur in der Peißnitz spazieren gehen.
  Ich werde abwechselnd rot und  blass vor Verlegenheit und Zorn. Nachdem ich hinausgeschickt worden bin, weil  die Burschen sich geheim über meine Straffälligkeit beraten wollen, setzte ich  mich zu unserm Couleurdiener und trinke einen Cognac nach dem andern, um einen  unangenehmen Geschmack im Munde loszuwerden.
  Nach zweistündiger Beratung  werde ich wieder in das Conventszimmer gerufen.
  Der Sprecher steht steif und  feierlich: „Ich habe dir aus dem Convent mitzuteilen, dass Bundesbruder  Sponholz beauftragt worden ist, sich davon zu überzeugen, ob das junge Mädchen  eine Dame ist. Bis dahin gibt dir der Convent auf, jeden näheren Verkehr mit  der betreffenden weiblichen Person zu unterlassen."
  Ich beschließe, dem Befehl des  Convents nicht zu folgen. Aber ich warte die nächsten Tage vergebens auf  Martha. Endlich treffe ich sie, wie sie einkaufen geht. Sie weint. Horns Vater  hat ihr befohlen, nicht mehr mit mir auszugehen, sonst werde er ihrem Vater  darüber schreiben, und überhaupt schicke es sich nicht für ein junges Mädchen,  sich von einem Studenten auf der Peißnitz küssen zu lassen.
  Sie sieht scheu zu mir auf.  Mich erfüllt eine ungeheure Wut auf meine Bundesbrüder. Am liebsten möchte ich  ihnen jetzt Band und Mütze vor die Füße werfen.
  „Das kannst du doch  nicht," weint Martha, „dann gehe ich aus Halle weg. Du sollst dir  meinetwegen nicht solche Scherereien machen. Tu mir den Gefallen, ja?"
  Martha wird ganz eifrig und  stellt mir vor, wie viel für mich von meiner Zugehörigkeit zur
  die Alten Herren des Bundes  später viel leichter eine anständige Stellung bekommen. Und sie müsse bei Horns  bleiben und wolle ihren Eltern keinen Kummer machen. Dann küsst sie mich zum  Abschied.
  Ich stehe mit leerem Kopf. Ich  kann nicht mehr sehen, wie ihre schmale Gestalt am Ende der Straße  verschwindet, denn mein Blick verschwimmt...
  Einige Tage darauf wird mir —  wieder nach zweistündiger Beratung — vom Sprecher mitgeteilt: „Der Convent  bestraft dich wegen deines Verkehrs mit der Stütze des Bundesbruders Horn mit  einem einfachen Verweis. Bundesbruder Sponholz ist zwar persönlich der Ansicht,  dass die betreffende Dame keine Dame ist, aber er gibt zu, dass sie äußerlich  durchaus den Eindruck einer solchen macht. Maßgebend für die Meinung des  Convents war die Tatsache, dass sie in der Familie Horn nur einen beschränkten  Familienanschluss genießt und nicht im vollen Maß als Dame gilt. Der Convent  gibt dir auf, dich an nicht couleurfreien Tagen jeden Verkehrs mit dem jungen  Mädchen zu enthalten."
  Am nächsten Freitag, wo ich  couleurfrei habe, gehe ich zum ersten Mal zum Tanz nach Büschdorf und komme  die Nacht nicht nach Hause...
  So oft ich in der nächsten  Zeit an Martha denke, schäme ich mich. Allmählich aber komme ich mir doch sehr  heldenhaft vor und rede mir ein, sie für die Devise meines Bundes geopfert zu  haben.
  Mit meinem Bundesbruder  Spiegel rede ich noch lange Zeit kein Wort. Ich finde es gemein von ihm, dass  er mich beim Convent angezeigt hat.
  Während einer Kneipe treffen  wir uns ein paar Wochen später auf der Toilette. Spiegel hat am Morgen dieses  Tages gerade sein Physikum bestanden und ist sehr betrunken. Ich will ihm  höflich Platz machen, aber er kommt auf mich zu, drückt mir die Hand und sagt  warm und energisch: „Du bist mir böse, nicht wahr? Aber sieh mal, ich konnte  doch gar nicht anders handeln. Wenn ich der Ansicht war, dass du mit diesem  Mädel Couleur gesenkt hast, dann musste ich dich doch anzeigen. Und außerdem,  — sei froh, dass du die Ziege los bist. Das sind gerade die schlimmsten, bei  denen man nicht weiß, ob sie 'ne Hure oder 'ne Dame
  sind. Nee, nee, das hat schon  alles seine Gründe, dass wir so auf unsere Füchse aufpassen. Ich habe schon  manchen gesehen, der durch solche Weibergeschichten vor die Hunde gegangen ist,  davor hätte ich dich gern bewahrt. Komm, wollen uns wieder vertragen!"
  Ich bin auch schon nicht mehr  ganz nüchtern und schlage ein. Vielleicht ist Spiegel sogar im Recht.  Vielleicht will er wirklich mein Bestes.
  Am Schluss der Kneipe ist  Spiegel so betrunken, dass er nicht mehr allein nach Hause gehen kann. Um  unsere wiederhergestellte Freundschaft zu bekräftigen, bringe ich ihn gemeinsam  mit Horn in seine Wohnung. Spiegel lohnt es uns nicht: er schimpft in einem  fort und schlägt und stößt nach uns.
  Wie wir oben in seiner Bude  angekommen sind und Horn das Licht andreht, sehe ich, dass in Spiegels Bett ein  Mädchen schläft. Horn scheint nicht weiter überrascht. Er packt das Mädel an  der Schulter und schreit: „Mach' dass du raus kommst, Trude!"
  Die Kleine springt auf und  redet wütend auf Spiegel ein, der in der Sofaecke schon fast eingeschlafen  ist: „Bist du schon wieder besoffen, du altes Schwein!"
  Horn lacht aus vollem Halse.  Spiegel versucht, das Mädchen auf seinen Schoß zu ziehen, und wimmert  weinerlich: „Trudchen! Trudchen!'"
  „Komm! Trude kann ihn ins Bett  bringen," sagt Horn zu mir, und wir gehen die Treppen hinunter.
  „Wer war denn das  Mädchen?" frage ich auf der Straße.
  „Wusstest du denn nicht, dass  Spiegel ein Verhältnis mit seiner filia hospitalis hat?" fragt Horn ganz  erstaunt.
  „Nein, das wusste ich  allerdings noch nicht," antworte ich bitter und verabschiede mich schnell.
  Ich habe keine Zeit, mich über  Spiegel und seine doppelte Moral zu ärgern, denn morgen ist Totensonntag, da muss  ich wieder früh auf den Beinen sein.
  In Halle liegt ein  Bundesbruder begraben, der schon vor vierzig Jahren gestorben ist. Alljährlich  am Totensonntag besucht die ganze Burschenschaft sein Grab und legt einen Kranz  nieder. Unsere Ehrung des Toten ist zugleich als Ehrung aller im Krieg  gefallenen Bundesbrüder gedacht
  Keiner hat recht  ausgeschlafen, wie wir uns am nächsten Morgen „auf dem Hause" versammeln.  Man begrüßt sich missmutig. Aber ich finde die pietätvolle Anhänglichkeit  meiner Bundesbrüder so schön, dass ich gerne einen Sonntagmorgenschlaf daran  gebe.
  Mit dem Couleurdiener, der den  Kranz trägt, an der Spitze, gehen wir zwei und zwei zum Friedhof. Unterwegs  schleppt sich das Gespräch mühsam hin. Fast jeder hat von der gestrigen  schweren Kneipe einen Kater. Außerdem ist es kalt.
  Wir finden das Grab unseres  Bundesbruders nicht gleich, denn der Couleurdiener August ist trotz dem frühen  Morgen schon wieder nicht ganz nüchtern.
  Endlich können wir den Kranz  niederlegen. Dann stehen wir eine Zeit lang stumm am Grabe und sehen uns  verlegen an. Schließlich nimmt einer die Mütze ab, und wir markieren „stilles  Gebet".
  Schließlich rückt August den  Kranz noch einmal zurecht und stellt fest: „So, da liejt er sehre  scheen."
  Und dann gehen wir zum  Frühschoppen, der diesmal in einem uralten Lokal am Fuß der
  Burg Gibichenstein  stattfindet. Erst trinken wir Bier, dann die Spezialität der Kneipe, „Regenschirme".  Das sind große offene Kelche, die mit acht verschiedenen Sorten Schnaps gefüllt  werden.
  Wir vergessen das Mittagessen.  Nachmittags um vier singen wir stundenlang hintereinander immer den einen  einzigen Vers des „Fürst von Thorn":
  „Ich bin der Fürst von Thoren,  Zum Saufen auserkoren. Wir alle sind erschienen, Eur Gnaden zu bedienen."
  Um sechs gehen wir zu  Wiedemann auf die Bude, der von seinem Vater einen Ballon Obstwein geschickt  bekommen hat. Bald darauf schlafen die meisten auf Stühlen oder wälzen sich  stöhnend auf dem Bett und auf dem Teppich. Wiedemann spielt Klavier, und  Schön, unser erster Chargierter, schluchzt wie ein Kind vor sich hin.
  Er sitzt neben mir. Er muss  sehr betrunken sein; ausgerechnet mir, dem jüngsten Fuchs, klagt er sein Leid.
  „Ich habe meinen Eltern  versprochen, ich wollte mich in diesem Semester etwas mehr vom Bund  zurückziehen und fürs Physikum arbeiten. Und nun habe ich mich sogar noch zum  Sprecher wählen lassen."
  „Ich bin ein Schwein! Ein  Schwein bin ich, dass ich meinen Eltern mein Versprechen gebrochen habe!"  brüllt er plötzlich.
  Dann erläutert Schön mir die  Seelenkämpfe, die er auszufechten hat: „Mein Lieber, das ist ein tragischer  Konflikt. Griechische Tragödie und so. Konflikt der Pflichten in der Brust des  Helden. Verstehst du? Hier meine Pflicht gegen die armen Eltern..."
  Wiedemann brüllt vom Klavier  aus dazwischen: „Die sitzen, ärmlich aber reinlich gekleidet, aufrecht im  Bett und trinken gramzerfetzt kleine Helle."
  „...und da die Burschenschaft.  Tragischer Konflikt, mein Junge. Aber gibt es eine Wahl? Es gibt keine Wahl,  sage ich dir. Hier: die Bitte meines Vaters, da: Freiheit, Ehre und Vaterland.  Freiheit! Ehre! Vaterland!" johlt Schön und wirft sein Glas mit Erdbeerwein  pathetisch an die Wand.
  Ich bewundere die Seelengröße  meines Bundesbruders Schön, und während Ringstedt sich aus dem Fenster  erbricht, fallen alle, die überhaupt noch singen können, in das Lied ein, das  Wiedemann am Klavier anstimmt: „Wo Mut und Kraft in deutscher Seele flammen..."
  Und johlend vor Begeisterung  und Betrunkenheit singe ich, während Wiedemanns Wirtsleute entsetzt an die  Türe poltern, den Refrain mit: „Freiheit, Ehre, Vaterland!"
Im Schreibzimmer unseres Verbindungshauses  hängen außer den „Burschenschaftlichen Blättern" die „Hallischen  Nachrichten" und die „Deutsche Tageszeitung". Aus ihnen übernehmen  wir unsere Urteile über die allgemeine Weltlage und die Not des Vaterlandes.
  Die Zeitungen werden auch  häufig gelesen, aber nicht so oft wie ein schmales, hektographiertes Heft, das  unser ständiger Verkehrsgast, der Redakteur Dr. Hütten, der Burschenschaft  dediziert hat, und das den Titel führt: „Des deutschen Knaben  Zotenbüchlein". In diesem Buch hat der Verfasser mit fast wissenschaftlich  zu nennender Akribie alle Zoten zusammengetragen, die jemals auf deutschen  Hochschulen kolportiert worden sind. Bonifazius Kiesewetter und Frau Wirtin  sind mit unzähligen Versen vertreten. Außerdem das „Goldene Alphabet" in  vier verschiedenen Fassungen und die beliebtesten Schnapsgebete.
  Dass dieses Buch bei uns  begehrter und wichtiger ist als die Zeitungen, hat seinen guten Grund darin, dass  wir uns um Politik überhaupt nicht kümmern. Viele meiner Bundesbrüder halten  die Beschäftigung mit Politik sogar für ausgesprochen unfein. Um die politische  Reife der deutschen Studentenschaft zu dokumentieren, dafür ist ja der  „Hochschulring deutscher Art" da, dem alle farbentragenden Verbindungen  angeschlossen sind.
  Diese Organisation dient in  der Hauptsache der Befriedigung des politischen Ehrgeizes einiger weniger  Studenten, die man tun und treiben lässt, was sie wollen. Hin und wieder rufen  sie die gesamte Studentenschaft zu einer machtvollen Kundgebung für oder gegen  etwas zusammen. Dann trifft man sich auf dem Vorplatz der Universität, ein  Vorstandsmitglied des Hochschulrings hält eine Rede, man singt das  Deutschlandlied und geht dann wieder nach Hause, ohne recht zu überlegen, um  was es sich eigentlich gehandelt hat.
  Eine solcher politischen  Kundgebungen hatte den Besuch des sozialdemokratischen Kultusministers Konrad  Haenisch zum Anlass.
  Der Rektor der Universität hat  zu einer Versammlung in die Aula eingeladen, wo der Minister zu der  Studentenschaft von der Kulturpolitik des preußischen Staates reden will. Der  Hochschulring gibt die Weisung aus, dass wir uns alle daran beteiligen sollen.  Aber um dem Minister unsere Verachtung zu zeigen, gehen wir nicht in Couleur  hin.
  Von zahlreichen humoristischen  Zurufen unterbrochen, erzählt der Minister, dass die sozialdemokratische  Regierung eminent studentenfreundlich sei. Nach einer halben Stunde ist er bei  der Feststellung angelangt, dass die Reichsregierung für die Reichswehr leider  immer noch mehr Geld ausgäbe als für kulturelle Zwecke, — da muss die  Versammlung geschlossen werden, denn der Minister kann vor dem Protestgeschrei  der Studenten nicht weitersprechen.
  Er zieht sich dadurch aus der  Affäre, dass er mit weitoffenem Munde in das Deutschlandlied einfällt, das  plötzlich aus der Versammlung heraus angestimmt wird.
  Unser Vertreter im  Hochschulring ist der kleine Rosenberger. Er entwickelt viel Eifer und wird von  uns wegen seiner politischen Tätigkeit oft gehänselt.
  Im Januar des Jahres 1921  entdeckt er, dass vor fünfzig Jahren das Deutsche Reich gegründet worden ist.  Da muss etwas geschehen. Er regt beim Hochschulring einen großen Kommers in der  Saalschlossbrauerei an.
  Wir treffen uns vorher auf dem  Hause und gehen in geschlossenem Zuge zum Kommerslokal. Zahlreiche Tische sind  in einem riesigen Saal aufgebaut. Ungefähr tausend Studenten aller  farbentragenden Verbände wollen die fünfzigste Wiederkehr des  Reichsgründungstages durch einen festlichen Trunk feiern.
  Es ist furchtbar langweilig.  Wir ärgern uns über den verfehlten Abend und trinken stumpfsinnig unser Bier.  Dann liest ein Geschichtsprofessor eine lange Rede ab über „Bismarcks  Weltanschauung". Wir singen vaterländische Lieder und kommen beim fünften  Glas allmählich auch in vaterländische Stimmung. Die Trinksprüche werden immer  kriegerischer und feuriger.
  So trinken wir nach dem Liede  „Sind wir vereint zur guten Stunde" darauf, dass der alte Gott bald wieder  „unserer Feinde Trotz zerblitzen möge."
  Bald aber vergessen wir den  feierlichen Anlass, der uns heute zum Trinken vereint, und wir tausend  Studenten singen zur Feier der Reichsgründung „Im Arm ein frisches ros'ges  Kind" und „In jedem vollen Glase Wein".
  Die Stimmung ist schon sehr  weit vorgeschritten. Das Präsidium wird an den Vertreter einer theologischen  Verbindung abgegeben, der immer noch vor vaterländischer Begeisterung glüht.  Wir singen unter seinem Kommando das „Lied vom Rodenstein":
  „Der Schmied von Kainsbach  steht am Herd Rum, plum, plum.
  Mein Schmied, putz blank mein  scharfes  Schwert!
  Rum, plum, plum."
  Dann hebt der Theologe sein  Glas und lässt uns darauf trinken, „dass der Schmied von Kainsbach bald wieder  unsere Schwerter schärfen möge!"
  Er ist immer noch bei der  vaterländischen Begeisterung, die wir andern schon längst hinter uns haben.  Darum donnert ihm ironisches Beifallsgeschrei entgegen.
  Einige Minuten später bekommt  mein Bundesbruder Körnig eine Kontrahage mit einem Korpsstudenten, der ihm in  der Tür zur Toilette nicht ausgewichen ist...
  Mit der Beteiligung an solchen  politischen Kundgebungen ist unser Interesse an Dingen des öffentlichen Lebens  restlos erschöpft. Alles andere versteht sich ja so sehr von selbst, dass wir  kein Wort darüber zu verlieren brauchen.
  Darum legen wir auch kein  Gewicht auf Rosenbergers Mitteilung, dass sich der Hochschulring korporativ  einer geheimnisvollen Organisation angeschlossen habe, die ein bayerischer  Forstrat gründete, um Deutschland vor dem Bolschewismus zu bewahren. Wir wissen  von der „Organisation Escherich", der nun jeder einzelne von uns angehört,  nur soviel, dass es sich da um eine ordentliche nationale Sache handelt, an der  man sich als anständiger Mensch beteiligen muss.
  Während dieser Zeit besucht  uns einmal auf unserem Verbindungshaus ein fast völlig idiotischer  Straßenmusikant „Zither-Reinhold", mit dem wir von Zeit zu Zeit unseren Spaß  treiben, und der uns dafür heiß liebt.
  Ein Pfarrer hat ihm seine  verbogene und verbeulte Zither weggenommen und ihm dafür einen Leierkasten  gekauft, den er uns heute — wir sitzen gerade beim Mittagessen — zeigen will.  Reinhold hat es gewissermaßen kontraktlich, dass er alle vierzehn Tage einmal  uns zum Mittagessen Musik vormacht, dafür Essen bekommt und soviel Geld, wie  er es oft in einer Woche nicht zusammen betteln kann.
  Zither-Reinhold singt uns  schöne alte Lieder vor, mit einer unsäglich albernen und zittrigen  Kinderstimme, die zu seinem Vollbart in sonderbarem Kontrast steht: „Heinrich  schläft bei seiner Neuvermählten" oder „Bei ihrem schwererkrankten  Kinde, da sitzt die Mutter still und weint".
  Heute ist er ganz aufgeregt:  „Bei mir zu Hause, da sagen sie alle: die Studenten wollen wieder schießen. Ich  hab' gleich jesagt: das jloob' ich nich. Meine Studenten machen da nich mit,  die sin ja soo jut."
  Meine Bundesbrüder schweigen  plötzlich merkwürdig. Keiner wagt, einen der üblichen Scherze zu machen, mit  denen Zither-Reinholds Aussprüche quittiert zu werden pflegen. Wie soll man es  auch diesem armen Irrsinnigen klar machen, dass man einem Leierkastenmann Geld  und Essen schenken und doch zu gegebener Zeit auf Arbeiter und  Leierkastenmänner schießen kann?
  Keiner antwortet. Keiner ist  roh genug, einem
  Kind seinen Glauben an die  Güte der Menschen zu nehmen. Aber Zither-Reinhold gibt nicht Ruhe: „Nich wahr,  das machen Sie ja nich. Sie sin ja soo jut, nich wahr?"
  Das Schweigen wird peinlich.  Reinhold sieht uns ängstlich an und wartet auf Antwort. Endlich brüllt ihn  einer an: „Halt' die Schnauze, Reinhold! Sag' uns lieber noch ein Gedicht  auf!"
  Reinhold faltet gehorsam die  Hände und leiert mit starrem Gesicht: „Wenn du noch eine Mutter hast..."
  Dann packt er hastig seinen  Leierkasten auf und stolpert aus dem Kneipzimmer. Sein Gehl müssen wir ihm  förmlich aufdrängen. Er schüttelt fortwährend den Kopf und stammelt unverständliche  Worte vor sich hin: „...nee, nee, die sin doch viel zu jut."
  Es ist zuviel für sein kleines  Hirn: wir sind so gut, wir schenken den Armen Geld, wir lachen wie die Kinder  über die blödesten Witze, wir weinen manchmal vor allgemeiner Rührung, wenn wir  betrunken sind, wir küssen unsere Mütter beim Gute-Nacht sagen, der eine oder  der andere macht sogar lyrische Gedichte, und die drei Theologen unter uns  beten des Abends, wenn sie schlafen gehen.
  Und doch. Reinhold, und doch  werden sie alle schießen, wenn es soweit ist.
  Du kannst dich trösten,  Zither-Reinhold, das sind Dinge, die nicht nur für einen infantilen Idioten zu  schwer sind. Das sind Dinge, die wir alle nicht verstehen, weil wir nicht  wissen, dass es auf unsere kleinen Gefühle nicht ankommt, und dass wir nach  Gesetzen handeln, die außerhalb unserer Seele liegen. Nach Gesetzen, die uns  unsere Zugehörigkeit zu einer Klasse von Bürgern und Herren vorschreibt, und  die so stark sind, dass wir ihrem Zwang erliegen, ohne es auch nur zu wissen.
  Du hast recht,  Zither-Reinhold. Und darum muss ich mich nun betrinken und verschlafe am  nächsten Morgen Paukboden und Kolleg und muss Strafe zahlen, und meine  Bundesbrüder halten mich für einen liederlichen Strolch, weil ich ihnen doch  nicht erzählen kann, dass Zither-Reinholds fassungsloses Erstaunen und sein  angstvoller Blick schuld waren an dieser wüsten Nacht...
  Kurz vor den  Universitätsferien, im März 1921, wird uns von der „Orgesch" ein merkwürdiges  Angebot gemacht. Man befürchtet, dass während der Ferien kommunistische Unruhen  ausbrechen könnten. Und die versprächen, sehr gefährlich zu werden, falls sich  die Studenten nicht als Zeitfreiwillige an der Niederwerfung des Aufstands  beteiligen könnten. Darum macht man uns den Vorschlag, in Halle zu bleiben. Die  Organisation will uns dafür ein Tagegeld von zwanzig Mark zahlen.
  Fast alle meine Bundesbrüder  lassen sich das Tagegeld der Orgesch auszahlen und fahren in den Ferien nicht  nach Hause. Ein wüstes Leben beginnt: wir haben nichts zu tun und Geld genug,  um den ganzen Tag in den Kneipen herumzuliegen. Manche von uns werden die  nächsten Wochen eigentlich nie ganz nüchtern.
  In der ersten Zeit geschieht  nicht das Geringste. Wenigstens nicht von Seiten der Kommunisten. In der  Orgesch dagegen ereignet sich eine Skandalaffäre, die uns ungeheuer peinlich  ist: der Vorsitzende des Hochschulrings unterschlägt von den Tagegeldern der  Orgesch eine große Summe. Leider ist er Burschenschafter, und darum bemühen  wir uns, die Sache so still und unauffällig wie möglich zu erledigen.
  Endlich hören wir, dass in  Mitteldeutschland ein Aufstand ausgebrochen ist und bereits sehr gefährliche  Formen annimmt. Der berüchtigte
  „Mordbrenner" Max Hoelz  soll wieder im Lande sein und die „rote Armee" organisieren.
  Die Leitung der Orgesch wird  nervös. Die Unruhen spielen sich zwar zunächst nur im Mansfelder Seekreis ab,  und unmittelbare Gefahr für Ruhe und Ordnung in der Stadt Halle besteht nicht.  Aber man befürchtet täglich ein Übergreifen der Bewegung.
  Wir müssen Tag und Nacht auf  unserem Verbindungshaus zum Abruf bereit sein. Dieses Warten ist entsetzlich  langweilig und aufregend zugleich. Genaue Nachrichten über Art und Umfang der  Unruhen bekommen wir nicht, aber dafür schwirren fortwährend die tollsten Gerüchte  umher. So soll eine technische Hundertschaft der Schutzpolizei Halle von der  Hoelzschen Bande unter unsagbaren Grausamkeiten zu Tode gemartert worden sein.
  Ich bin zwar fest überzeugt, dass  an diesen Gräuelnachrichten kein wahres Wort ist, aber in der trostlosen  Unausgefülltheit dieser Tage begrüßen wir selbst eine Tatarennachricht freudig:  man hat endlich wieder einen Diskussionsstoff.
  Wir spielen Tag und Nacht  Karten und trinken.
  In einer solchen Nacht, in der  uns ein strikter Befehl der Orgesch-Leitung daran hindert, in unseren Wohnungen  ins Bett zu gehen, feiern Webach und ich ein wehmütiges Wiedersehen mit  Leutnant Walter von der Nachrichtenabteilung.
  Wir haben ihn monatelang nicht  mehr gesehen, darum begrüßen wir sein plötzliches Auftauchen jetzt mit großem  Hallo. Sein Apparatist aufgelöst worden, und seitdem hat Walter ein Pöstchen  in der Orgesch.
  Aber er lehnt unsere Zurufe  mit ernstem Gesicht ab und ruft in den Lärm des Kneipzimmers, in dem wir auf  Tischen und Bänken liegen und sitzen: „Ruhe!"
  „Ich wollte Ihnen nur  ausrichten, dass vor einer halben Stunde das Haus des Corps Borussia von einer  Mine in die Luft gesprengt worden ist. Hoelz hat Sprengkommandos organisiert,  die sämtliche Verbindungshäuser Halles niederlegen sollen. Ich würde Ihnen  daher raten, Wachen auszustellen."
  Webach lacht herzlich und  rücksichtslos: „Du bist komplett verrückt! Ich denke gar nicht daran, wegen  deiner Latrinenparolen vielleicht noch draußen Posten zu stehen."
  Walter ist immer noch der  Alte. Er kann gar nicht anders leben als in dem ewigen Hin und Her falscher  Meldungen. Ich bin überzeugt, er ist jetzt sehr glücklich. Denn er kann sich  überall wichtig machen und ist wieder der große Mann mit den dicken  Informationen.
  Aber trotz Webachs Protest  werden Wachen ausgestellt. Ein paar Bundesbrüder wollen nun sogar die  Detonation der Mine gehört haben. Sie sind erst von der Unwahrheit dieser Mitteilung  überzeugt, wie sie am Morgen das Haus des Corps Borussia völlig unbeschädigt  auf seiner alten Stelle stehen sehen.
  Am nächsten Tag werden wir  dann überraschend von der Orgesch angefordert. In der Rossplatzkaserne begrüßt  uns ein Schupooffizier sehr höflich und fragt uns, ob wir bereit seien, für  einige Zeit die Schutzpolizei zu unterstützen. Er gibt auch genau an, was wir  dabei verdienen.
  Selbstverständlich sind wir  alle bereit. Aber der Offizier hat seine Bedenken: ein paar von uns, deren  Gesichter allzu auffallend von Schmissen entstellt sind, werden wieder nach  Hause geschickt. Wir anderen, die wir die Zeichen unserer akademischen Würde  nur auf dem Schädel tragen, werden der Obhut eines Wachtmeisters übergeben und  verwandeln uns auf der Kleiderkammer in Polizeibeamte.
  Es gibt ein großes Hallo, wie  man uns die Uniformen verpasst. Damit wir nicht alle gleich aussehen, bekommt  einer die Uniform eines Hilfswachtmeisters, der andere darf als Oberwachtmeister  herumgehen, und ein ganz besonders Bevorzugter erhält sogar die silberdurchwirkten  Raupen eines Hauptwachtmeisters.
  Aus irgend einem Grunde  bestimmt der dicke Wachtmeister mich zum Vorgesetzten der zwanzig Mann, mit  denen ich zusammen eingekleidet worden bin, und schickt mich zum Adjutanten  des Schupokommandos, Polizeileutnant Rabe.
  Dort melde ich  vorschriftsmäßig: „Zwanzig Freiwillige der sechsten Kompanie Organisation  Escherich Halle."
  Rabe grüßt höflich und freundlich  und dankt uns in kurzer Rede für unser aufopferungsvolles Eintreten für Ruhe  und Ordnung. Er sagt mit todernstem Gesicht: „Ich weiß, wie hoch ich Ihnen die  Bereitwilligkeit anzurechnen habe, mit der Sie Ihr Studium auf einige Wochen  unterbrechen."
  Wir lachen laut los, da sagt  er gemütlich: „Na schön, dann will ich sagen: hoffentlich amüÂsieren Sie sich  gut bei uns!"
  Dann erläutert er uns die  Kampflage. Die Abteilung Hoelz sei südwestlich von Halle aufgerieben worden,  ein Trupp unbestimmter Stärke sei nach Osten ausgewichen. Wir sollten  versuchen, den Verbleib dieser „Banditen" festzustellen.
  Eine Radfahrpatrouille wird  zusammengestellt. Rabe überträgt mir das Kommando, obgleich ich darauf  hinweise, dass viele von den neu eingetretenen „Beamten" weit ältere Soldaten  sind.
  Es hilft nichts: ich bin der  Führer einer Radfahrpatrouille von zehn Mann. Die Leute, mit denen ich fahren  soll, kenne ich kaum, es ist keiner meiner Bundesbrüder darunter. Wie wir uns  in einer Garage die Räder abholen, nähert sich mir unauffällig ein älterer  Mensch: „Gestatten: Meyer. Verzeihen Sie, Herr Kommilitone, wissen Sie, wie  eine Radfahrpatrouille fahren muss?"
  „Keine Ahnung!" gebe ich  hastig und leise zurück.
  Meyer klärt mich auf: „Die  eine Hälfte der
  Patrouille fährt auf der  linken, die andere auf der rechten Straßenseite, der Führer in der
  Mitte."
  Ich danke ihm herzlich und  lasse vor unsrer Abfahrt meine Kameraden noch einmal antreten. Mit möglichst  selbstverständlicher Stimme sage ich zu ihnen: „Meine Herren, ich nehme an, Sie  wissen über eine Radfahrpatrouille Bescheid? Scheint nicht so. Also: die eine  Hälfte der Abteilung fährt auf der rechten, die andere auf der linken  Straßenseite. Verstanden?"
  Dann fahren wir in die Nacht  hinein. Es ist ein wunderschönes Gefühl, wie wir an der letzten  Straßenpatrouille der Schupo vorüberfahren und die beiden Leute vor mir stramm  salutieren.
  Von Hoelz sehen wir nichts.  Wir fahren etwa zehn Kilometer nach Norden. Mir ist sehr unbehaglich zumute,  und ich habe furchtbare Angst, mich zu blamieren.
  Nachdem wir etwa eine Stunde  auf der Chaussee gefahren sind, hören wir in einiger Entfernung Schüsse. Ich  lasse halten. Die anderen „Beamten" zeigen nicht gerade übertriebene  Lust, dem Schall der Schüsse nachzufahren. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
  Damit nur überhaupt etwas  geschieht, lasse ich Meyer mit drei anderen Leuten in einen Seitenweg abbiegen,  nachdem wir einen bestimmten Treffpunkt verabredet haben.
  Dann besetzen wir den Bahnhof  Teicha. Es macht mir großen Spaß, dem Stationsvorsteher meinen Ausweis zu  zeigen und das Bahntelefon für unsere Zwecke zu beschlagnahmen. Der arme Kerl  saß gerade bei seiner Monatsabrechnung, als wir ans Fenster klopften, und  atmete erleichtert auf, als er statt Hoelz eine Schupopatrouille erblickte.
  Ich telefoniere an Leutnant  Rabe, dass wir Schießen hören, und bekomme den Befehl, weiterzufahren.
  Wieder auf der dunklen  Chaussee, überlege ich mir unsere Lage. Höchstens fünf Kilometer vor uns müssen  sich Leute der Hoelzschen Truppe befinden. Ich weiß nicht, wie viele es sind.  Kann ich meine sechs Kameraden in die Gefahr bringen, aufs Geratewohl eine überlegene  Abteilung anzugreifen?
  Wenn sie nur nicht dem Schall  der Schüsse nachfahren und die Abteilung angreifen wollen! Ich darf mich doch  nicht so blamieren!
  Ich weiß nicht, was ich tun  soll.
  Da tritt ein Kommilitone  namens Bauer an mich heran: „Sie, sagen Sie mal, sollen wir uns da wirklich in  unangenehme Sachen einlassen? Ich habe offen gestanden nicht die geringste  Lust, mir hier ein Ding vorn Brägen zu holen. Sie vielleicht? Für die paar  Pfennige, die die Schupo uns zahlt?"
  „Nee," sage ich ehrlich  und erleichtert.
  Es ergibt sich, dass die  anderen meinen Entschluss, Hoelz Hoelz sein zu lassen und an dem verabredeten  Treffpunkt auf Meyer und seine Leute zu warten, durchaus begrüßen. Wir fahren  also zu der Chausseekreuzung zurück und warten.
  Wir warten eine Stunde, zwei  Stunden.
  Ich mache mir entsetzliche  Vorwürfe. Wie konnte ich die vier Mann auch einfach ins Ungewisse schicken? Gewiss,  — Meyer ist ein alter Soldat. Aber wenn ihnen nun etwas passiert? Ich könnte  mein Leben lang nicht wieder froh werden.
  War es nicht überhaupt eine  Gemeinheit von mir, aus purer Eitelkeit die Führung dieser Patrouille zu  übernehmen?
  Vom Bahnhof Teicha aus telefoniere  ich mit Leutnant Rabe und erzähle ihm von dem Unglück. Er befiehlt mir, sofort  zurückzukommen, und wir machen uns auf den traurigen Heimweg.
  Hinter mir höre ich Bauer  sagen: „Ich hatte gleich so ein dummes Gefühl, als ob wir heute Nacht noch Pech  haben würden."
  Vollkommen zerschlagen mache  ich meine Meldung. Rabe tröstet mich: so etwas könne jedem mal passieren, und  ich sollte mir keine Gedanken machen...
  Aber was hilft das alles?
  Wie ich mich schlafen lege,  höre ich gerade die Lastautos abfahren, die die Hoelzsche Truppe abfangen  wollen.
  Nach zwei Stunden werde ich  geweckt: Meyer und seine drei Leute hocken stumpfsinnig um einen Tisch. Sie  sehen bleich und verstört aus.
  „Um Gotteswillen, was ist  geschehen?" rufe ich sie an.
  Bauer lacht: „Besoffen sind  sie, weiter nichts."
  Die vier haben sich in einem  Dorf, das auf ihrer Route lag, bei Grog und Schnaps festgetrunken und sind  eben erst angekommen.
  Ich sage Rabe sofort Bescheid.  Aber trotzdem lese ich in der Abendzeitung, dass auf das Konto der Hoelzschen  Bande wahrscheinlich auch noch vier Schupobeamte kommen, die von einer  Patrouille nicht zurückgekehrt sind...
  Der mitteldeutsche Aufstand  des Jahres 1921 wird mit Hilfe von Reichswehrtruppen und Schutzpolizei  niedergeworfen. Eine große Anzahl Arbeiter wird im Leuna-Werk gefangen  genommen, nachdem man die Fabrik ausgiebig mit schwerer Artillerie beschossen  hat.
  Uns berührt das wenig: wir  machen Straßendienst, freuen uns, wenn ein Bekannter uns in unsrer  Schupouniform erkennt, bewachen Eisenbahnbrücken und Fabriken und langweilen  uns schändlich.
  Vierzehn Tage später werden  wir entlassen. Ein Schupooffizier erscheint bei uns und dankt uns mit  wohlgesetzten Worten für unsern Opfermut. Wir hören ihn gelangweilt an und  streichen unsern Sold ein. Bald denkt keiner von uns ehemaligen Schupobeamten  mehr an diese Zeit.
  Aber in der Orgesch denkt man  daran. Ich bekomme plötzlich die Aufforderung, einen Bericht über die  Radfahrpatrouille zu schreiben, den ich persönlich dem Vorstand der Ortsgruppe  Halle überreichen soll.
  Ich verabrede mich mit meinen  Kameraden und dichte einen hochdramatischen Bericht, der zugleich dem Mut der  Mannschaft wie der Umsicht des Führers ein hervorragendes Zeugnis ausstellt.  Ich bekomme wegen dieses Berichts, an dem kaum ein wahres Wort ist, ein großes  Lob des Orgesch-Vorsitzenden.
  Das ist ein Oberstleutnant,  der eben erst aus dem Dienst der Reichswehr ausgeschieden ist...
  In den Ferien, die diesem  Intermezzo bei der Schutzpolizei folgen, verreise ich. Halle kaum im Rücken,  befällt es mich wie eine Krankheit: ich beginne über mich und mein Tun nachzudenken,  über alles, was ich in den letzten drei Jahren erlebte. Dunkel und schmerzlich  erkenne ich, dass ich die Brücken hinter mir zerstören muss, dass ich verloren  bin für den Weg, der einem „jungen Mann aus gutem Hause" vorgezeichnet  ist.
  Warum kann ich diesen Weg  nicht wie alle meine Freunde und Verwandten ruhig gehen? Warum muss ich überall  nach Sinn und Ziel fragen? Warum fühle ich mich trostlos, fremd und verlassen  unter diesen Menschen, die doch „meinesgleichen" sind? Zu denen ich doch  gehöre?
  Gehöre ich wirklich noch zu  ihnen? Habe ich noch etwas mit ihnen gemein? Wecken die tönenden Worte, die  mich mit ihnen verbinden, nicht schon seit Jahr und Tag ein stummes Echo des  Zweifels in mir?
  Ich habe zu früh und zu lange  für Ruhe und Ordnung gekämpft, nun kann ich in dieser Ordnung — zwischen  Saufgelagen, Weibern und Mensuren — nicht mehr leben...
Im nächsten Semester gehe ich  nicht wieder nach Halle zurück. Ich bitte von Jena aus meine Burschenschaft um  meine Entlassung. Sie wird mir in Form des nicht eben ehrenvollen „Rats zum  Austritt" gewährt.
  Aber trotz meinem Ausscheiden  aus der Korporation komme ich von meiner Vergangenheit nicht so schnell los.  In jeder neuen Universitätsstadt, in die ich übersiedle, treffe ich alte  Bekannte, die es mir einfach nicht glauben wollen, dass ich ein Andrer  geworden bin...
  In einem einfachen, billigen  Restaurant in Jena werde ich beim Mittagessen auf einen Streit aufmerksam, der  sich an einem Nebentisch erhebt. Der Kellner schimpft auf einen Herrn, der  sein Essen nicht bezahlen kann. Der Gast kommt mir bekannt vor. Es ist  Schiebel.
  Ich helfe ihm aus der  Verlegenheit, und er erzählt mir von seinem Schicksal. Er ist zum zweiten Mal  durchs Referendarexamen gefallen; sein Vater hat ihm jede Unterstützung  entzogen.
  „Wovon lebst du denn?"  frage ich ihn.
  Schiebel lächelt: „Das wirst  du gleich sehen," sagt er und geht in eine Buchhandlung. Nach einigen  Minuten kommt er mit einem dicken wissenschaftlichen Werk unter dem Arm wieder  heraus. Er hat es auf Kredit gekauft und verkauft es sofort beim nächsten  Antiquar, an dem wir auf unserm Wege vorbeikommen.
  „Lange kann ich das allerdings  nicht mehr machen," sagt er besorgt. „Ich bin jetzt bald bei allen  Buchhändlern in Jena bekannt."
  Er sieht schlecht aus. Sein  Anzug ist abgetragen und sein Gesicht mager und ungesund. Ich frage ihn  vorsichtig:
  „Das kann doch mit dir nicht  so weiter gehen?"
  „Gott sei Dank ist jetzt in  Oberschlesien gerade wieder was los," sagt Schiebel erleichtert. „Ich  habe mich schon als Freiwilliger gemeldet. Soll heute Bescheid bekommen. Willst  du nicht mit?"
  Ich schüttle den Kopf, aber  Schiebel lässt nicht locker. Ich soll wenigstens mitkommen und mir anhören, was  der Werbeoffizier sagt. Schiebel tut sehr geheimnisvoll. Es darf nämlich  keiner wissen, dass überhaupt Freiwillige für Oberschlesien angeworben werden.  Die
  Regierung versichert bei jeder  Gelegenheit, die Freiwilligen, die in Oberschlesien kämpfen, seien da  beheimatet.
  Wir halten vor dem Hause einer  Verbindung. Der Portier öffnet uns und fragt nach unseren Wünschen. Schiebel  legt die Hand an den Mund und flüstert: „O. S."
  Wir werden eingelassen und  gehen eine Treppe hinunter. In einem Kellerzimmer, das als Trinkstube  ausgestattet ist, sitzen an langen Tischen etwa zwanzig Studenten. Bei unserm  Eintritt erhebt sich ein Herr und stellt sich als „Oberleutnant Scholz" vor.
  Wir nehmen Platz. Der  Werbeoffizier erzählt weiter, und ich habe Muße genug, ihn mir zu betrachten.  Ein noch sehr junger Mann mit frischem Gesicht, hoher Stirn und stechenden,  kleinen Augen. Die Studenten — meist ungediente Leute — hängen wie gebannt an  seinen Lippen.
  „Es ist eine Freude, zu sehen,  wie jeder einzelne von unseren Freiwilligen sich für die gute Sache einsetzt.  Meine Herren, ich bin vier Jahre im Felde gewesen, aber solche Heldentaten wie  in Oberschlesien habe ich selten zu Gesicht bekommen. Das liegt natürlich  daran, dass wir uns unsere Leute ganz genau aussuchen. Wir können da  selbstverständlich nur erstklassige Kerle gebrauchen, entschlossene und  gewandte Leute, die wissen, was sie Deutschlands Ehre schuldig sind."
  Und dann erzählt der Freikorpsoffizier  von wütenden Kämpfen mit den Polacken; von Strolchen, die man einfach ohne  Gnade an Chausseebäumen aufknüpft, oder denen man eine Kugel vor den Kopf schießt;  von einem Vorgesetzten, der auf seinem Schimmel wie der Teufel durch  wahnsinniges Feuer reitet, und den niemals eine Kugel trifft; von Polenmädchen,  denen man den Hintern vollhaut und das Nötige besorgt.
  „Also, meine Herren, wenn Sie  uns helfen wollen, in Oberschlesien Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, dann  sind Sie uns willkommen. Wir können jeden echten deutschen Mann  gebrauchen."
  Viele von den Studenten  schlagen sofort in die Hand ein, die ihnen der Werber entgegenstreckt. Heute  Abend schon soll ein Transport nach Oberschlesien abgehen. Schiebel will auch  mit.
  Wir bleiben bis zur Abfahrt  des Zuges zusammen. Der Werber hat Schiebel ein paar Mark gegeben, die er  jetzt vertrinkt. Er glüht vor Begeisterung:
  „Mensch! Endlich mal wieder  ein anständiges Leben! Ich verstehe gar nicht, warum du nicht auch mitkommst.  Kannst du dir denn was Schöneres vorstellen, als so'n kleinen Krieg mit  Zubehör? Denk' doch mal an unsere Zeit im Freikorps, war das nicht  großartig?"
  Schiebel redet sich in immer  größere Begeisterung hinein und wird immer betrunkener. Ich fürchte, nach ein  paar Minuten wird er anfangen, zu weinen und sein elendes Leben zu bejammern.  Ich schleppe ihn in ein Kino, bis die Zeit zur Abfahrt gekommen ist.
  Schiebel ist jetzt ganz still  geworden: „Was soll ich denn sonst tun, was? Sag' mir einen Ausweg, und ich  bleibe hier. Was soll ich denn sonst tun, wie?"
  Ich weiß es nicht. Mir ist  elend vor Mitleid. Schiebels Gepäck besteht aus einer Zahnbürste und einem Paar  wollner Strümpfe, die er in der Manteltasche trägt.
  Am Bahnhof trinken wir noch  einige Gläser Bier. Endlich ist es soweit. Die fünfzehn Mann besteigen den Zug.  Außer mir sind noch andere Studenten da, die ihre Freunde begleitet haben.
  Der Zug setzt sich in  Bewegung. Ein junger Kerl stimmt das Deutschlandlied an. Das letzte, was ich  von den Freiwilligen sehe, ist dieses kinderjunge Gesicht, das sich in  unheimlicher Begeisterung förmlich verzerrt:
  „...von der Etsch bis an den  Belt..."
  Wenige Wochen später finde ich  in den Hallischen Nachrichten, die ich aus alter Anhänglichkeit immer noch  lese, eine Todesanzeige: „Unser hoffnungsvoller Sohn". „Im Kampf um  Deutschlands Ehre". Darüber ein Eisernes Kreuz und der Bibelspruch:  „Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine  Freunde."
  Schiebel ist bei der  Erstürmung des Annabergs in der Nähe von Kandrzin gefallen.
  Jahre später, zur Zeit der  Ruhrbesetzung, treffe ich in München auf der Straße den Freiherrn von Vogel.  Er erzählt mir, dass er in der Zwischenzeit in Oberschlesien gewesen ist und  schwer verwundet wurde.
  „Was machst du hier in  München?" frage ich.
  Vogel sieht scheu an mir  vorbei: „Ich habe die unbedingte Gewissheit, dass von München noch einmal die  Erneuerung Deutschlands aus-
  gehen wird," sagt er.  „Wir werden endlich mal in dem roten Berlin Ordnung schaffen. Es kann nicht  mehr lange dauern. Hitler und Ludendorff werden es schon schaffen."
  Ich äußere meinen Zweifel  daran, dass sie es schaffen werden. Vogel sieht so maßlos erstaunt aus, dass  ich fast lachen muss.
  „Vollkommen irrsinnig!"  stellt er fest. „Komm mal mit, sieh dir mal die Leute an, die für unsere  gerechte Sache kämpfen wollen, und dann urteile!"
  Wir gehen nach Schwabing. In  einer obskuren Kneipe tagt da ein Stammtisch von etwa zwanzig Studenten, die  sämtlich der Brigade Ehrhardt und den nationalsozialistischen Sturmabteilungen  angehören. Fast alles Norddeutsche. Sie haben schon oft in Berlin, in München,  Hamburg, Leipzig und in Oberschlesien für Ruhe und Ordnung gekämpft.
  Da sitzen dreißigjährige  Mediziner, die das Physikum noch nicht gemacht haben, ebenso alte Techniker,  die sich auf das Vorexamen vorbereiten wollen, arme Kerle, die wegen einer Maß  Bier, die sie nicht bezahlen können, sich mit der Kellnerin streiten...
  Und alle reden sie mit  funkelnden Augen von dem bevorstehenden Marsch nach Berlin, wo sie Ordnung  schaffen wollen.
  Später sprechen sie von  militärischen Dingen. Ein, aufgesoffener Mecklenburger ist der Kommandant von  Ehrhardts schwerer Artillerie. Er raucht eine halblange Pfeife und gibt sachverständige  Auskünfte über die Schusswirkung seiner Mörser, die einstweilen von der Reichswehr  in Ordnung gehalten werden.
  Ein andrer junger Herr ist  schon sehr betrunken. Er heißt von Brose und beschwert sich darüber, dass er  immer noch nicht weiß, ob seine Minenwerfer Pferdebespannung bekommen, oder ob  sie auf Autos gesetzt werden sollen.
  Einen dritten redet man nur  mit Spitznamen an. Er ist an dem Salzsäureattentat auf Scheidemann beteiligt  gewesen, hält sich unter falschem Namen in München auf und ist im Büro der  Reichswehrinfanterieschule angestellt.
  Augenblicklich schimpft er auf  den Senatspräsidenten Schmidt vom Reichsgericht. Der soll zu einem völkischen  Angeklagten, der sich aus einer Sache herausschwindeln wollte, gesagt haben:  „Lügen Sie nicht! Das mag völkisch sein, — deutsch ist es nicht." Der  Scheidemann-Attentäter knurrt zwischen
  Dann schlägt der Student  Saiten mit seinem Spazierstock eine Gaslaterne ein...
  Vogel besucht mich häufig und  macht mich mit anderen seiner Kameraden bekannt. Jeden neuen Freund, den er mir  vorstellt, kenne ich, obgleich ich ihn nie gesehen habe. Sie studieren, waren  früher Offiziere, haben jetzt in irgendeiner nationalen Organisation eine meist  kümmerlich bezahlte Stellung und warten auf das Wunderbare, das sie diesem  kleinen Alltagsleben entreißen soll.
  Ich kenne sie alle, denn sie  sind sich alle gleich, und ich war selbst einst wie sie.
  Einer dieser Bekannten Vogels,  Schuster, kommt eines Tages in meine Wohnung gestürzt. Er hat einen  funkelnagelneuen Sportanzug an. In der Hand schwenkt er triumphierend einen  Fünfzigtausendmarkschein. Soviel Geld hat er eigentlich im ganzen Monat nicht  zu verzehren.
  „Wollen Sie mit?" fragt  er drängend.
  „Wohin?"
  „Ins Ruhrgebiet, Brücken  sprengen." Und dann erzählt mir Schuster freudestrahlend, er sei zu einem  Kommando ausersehen worden, das im besetzten Gebiet Sabotageakte ausführen  soll. Er ist ganz außer sich:
  den Zähnen hervor: „Das  Schwein ist der Nächste, der dran kommt!"
  Redakteure vom „Völkischen  Beobachter" erscheinen, schimpfen und trinken in einem fort. In Abständen  von zehn Minuten sagt der eine von ihnen: „Der gehört geschächtet!" Das  gilt jedes Mal einem Politiker, den man sich gerade durch die Zähne zieht.
  Zwei Stunden später sind alle  sinnlos betrunken. Ein sehr junger Student legt plötzlich seinen Kopf an meine  Schulter und schluchzt: „Ahes, was mein lieber, lieber Führer von Brose  befiehlt, das tue ich!"
  Von Brose ist sehr aufgeregt:  er soll kein Bier mehr bekommen, weil die Polizeistunde schon vorbei ist.
  „Meine braven Minenwerfer  werden schon noch eine Maß besorgen," brüllt er, un sofort springen zwei  junge Leute auf und reden beschwörend auf die Kellnerin ein.
  Freiherr von Vogel schläft,  den Kopf auf di Tischplatte gelegt. Er wartet auf die Befreiung Deutschlands,  die von München ausgehen wird.
  Ich gehe. Noch auf der Straße  höre ich durch die geschlossenen Fenster Broses Kreischen: „...endlich mal  Ordnung schaffen..."
  „Mensch, fein! Endlich mal  wieder ein anständiges Leben! Endlich kann man sich mal wieder nützlich  machen! Ich bekomme ein Motorrad und zwanzigtausend Mark täglich. Heute Abend  fahre ich schon ab nach Karlsruhe, wo ich eingeteilt werden soll."
  Gestern Abend hat draußen in  Prinz-Lüdwigshöhe eine Besprechung stattgefunden. In der Villa eines berühmten  Generals, der die Sache organisiert.
  Ich frage Schuster nicht nach  dem Namen. Ich weiß ja, dass es Ludendorff ist.
  „Wie ist es, wollen Sie nicht  mit?"
  Ich schüttle schweigend den  Kopf.
  Schuster sieht mich ganz  verständnislos an, aber er ist viel zu glücklich, um sich irgendwelche Gedanken  über den Grund meiner Weigerung zu machen. Ich versuche auch gar nicht, ihn zum  Bleiben zu bewegen. Ich weiß ja doch: ich würde Phrasen zu hören bekommen,  gegen die es keine Argumente gibt, und würde ihm niemals die Überzeugung, dass  durch solche Sabotageakte das Ruhrgebiet von den Franzosen befreit werden  könne, ausreden.
  Er braucht ja diesen Glauben.  Sonst müsste er beschämt und entsetzt erkennen, dass hinter seinen Gefühlen,  die er in jene Phrasen kleidet, ein Rest steht, den kein tönendes Pathos auflösen  kann.
  Und dieser Rest heißt: „Ein  Motorrad und zwanzigtausend Mark täglich."
Jahre sind vergangen.
  Ruhe und Ordnung sind zu  historischen Begriffen geworden. Oberschlesien ist gerettet. Hitler und  Ludendorff blieben Episoden. Das Ruhrgebiet ist lange schon von den Franzosen  geräumt. Eine neue Generation wächst heran, die von jenen unruhigen Zeiten kaum  noch etwas weiß...
  An einem friedlichen Herbstsonntag,  auf einem Ausflug, stoße ich am Rand eines Waldes auf etwa dreißig junge Leute  mit Windjacken und Feldmützen. Ich bleibe stehen: sie haben eine Art  Schützengraben aufgeworfen und starren gespannt nach vorne, wo über eine Wiese  eine dünne Schwarmlinie näher kommt. Ich höre Kommandorufe:
  „Sprung auf — Marsch,  marsch!"
  Dann bricht ein  ohrenbetäubender Lärm im Graben los. Mit Trommelschlägen wird Maschinengewehrfeuer  markiert.
  Die Schwarmlinie geht zum  Sturm vor. Die gleichen Uniformen, das gleiche Geschrei: „Hurra! Hurra!"
  Dicht vor mir springt ein  kleiner Kerl auf. Er reißt mit beiden Händen Grasbüschel aus dem Boden und  wirft sie gegen die Stürmenden. Dazu schreit er mit heller, lustiger Kinderstimme:
  „Handgranaten!  Handgranaten!"
  Die Trommeln rasseln immer  noch.
  Der Junge ruft seinen  „Feinden" mit höhnendem Triumph zu:
  „Ho! Ihr seid ja alle tot!  Lauft direkt ins Maschinengewehr hinein!"
  Neue Kommandos. Das Gefecht  wird abgeblasen. Der Führer, ein großer Mann mit Schmissen im Gesicht, lässt  die jungen Leute antreten und hält Kritik.
  Ich trete näher. Ist das nicht...
  Den breiten Durchzieher hat  ihm doch Mirbach damals auf der schweren Säbelmensur geschlagen?
  Es ist Webach, mein Freund,  der dort den Jungens die Gefechtslage klar macht.
  Jetzt lässt er die jungen  Leute wegtreten und im Grase lagern. Ich gehe auf ihn zu.
  Webach sieht mich unsicher an.  Er erkennt mich, aber er weiß nicht recht, wie er sich verhalten soll. Denn  ich bin damals nicht eben im Guten von der Burschenschaft geschieden. Nach  kurzem Zögern streckt er mir lächelnd die Hand hin:
  „Lange nicht gesehen."
  „Allerhand Jahre," sage  ich nachdenklich.
  Webach erzählt mir, dass er  jetzt hier Gerichtsassessor sei.
  „Und das da?" frage ich  mit einer Handbewegung auf die jungen Leute in Uniform.
  „Na ja," sagt er  lächelnd, „irgendwie muss man sich doch noch ein bisschen betätigen. Soviel  wie früher gibt es ja jetzt für uns nicht mehr zu tun. Waren doch schöne Zeiten  damals im Freikorps und in der Nachrichtenabteilung, was?"
  Er wartet meine Zustimmung gar  nicht erst ab. „Na ja, und darum muss man doch wenigstens die jungen Leute  erziehen, damit alles klappt, wenn's mal so weit ist."
  Dieser Herr in der grauen  Windjacke war einst mein Freund Webach, mit dem ich drei Jahre lang Tag für Tag  zusammen gewesen bin...
  Mein Schweigen fällt Webach  auf: „Sagst ja gar nichts?"
  Was soll ich auch sagen?
  „Ich denke darüber schon lange  ganz anders als du," antwortete ich schließlich lächelnd. „Wozu willst du  denn die jungen Leute erziehen?"
  „Dazu, dass sie ihre Pflicht  tun und ihren Mann stehen, wenn es einmal so weit ist. Genau so wie wir damals  unsern Mann gestanden haben."
  „Und wofür haben wir  eigentlich ,unsern Mann gestanden'?"
  „Das weißt du nicht?"  fragt Webach sehr erstaunt. „Für unser deutsches Vaterland und unsre Ehre!  Dafür haben wir unser Leben aufs Spiel gesetzt und unser Blut vergossen."
  „Ach Webach, wir haben  getrunken, Karten gespielt und viel Geld verdient. Und manchmal haben wir auch  auf die Arbeiter geschossen. Aber wozu, — heute weiß ich es, aber damals habe  ich es nicht gewusst."
  „Wir haben doch Ruhe und  Ordnung erkämpft und Deutschland vor dem Chaos gerettet!"
  „Wir haben die bestehende  Gesellschaftsordnung vor dem Untergang geschützt und fühlten uns wohl in der  Unruhe, die wir im Kampf für Ruhe und Ordnung hervorriefen."
  „Bestehende  Gesellschaftsordnung, — du redest ja wie die Latjer! Wir schützten unser  Vaterland, das Deutschtum, Kultur..."
  „...und das Privateigentum. Missbrauchen  ließen wir uns. Wir haben für Ideale gehalten, was nichts als gefährliche  Phrasen waren, die uns das wirkliche Leben versperrten und unsere Seelen  vergifteten."
  „Alles Unsinn! Man hat uns  gelehrt, unsre Pflicht zu tun. Man hat uns zu Vaterlandsliebe, Tatkraft und  Aufopferung erzogen, denn wir waren junge Leute und hatten keine Ahnung, worauf  es im Leben ankommt."
  „Ja: wir waren junge Leute und  fragten nicht viel, was wir taten."
  Webach unterdrückt seine  Antwort, denn einer der jungen Menschen ist zu uns herangeschlendert und will  unserm Gespräch zuhören. Webach wendet sich hastig an ihn: „Geht mal da drüben  zu der Chausseekreuzung und schätzt Entfernungen! Wie weit es zum Beispiel von  der Kreuzung bis zum Kirchturm ist oder bis zu dem gegenüberliegenden  Seeufer."
  Der Junge geht. Ich lächle:  „Er darf wohl nicht hören, was wir hier sprechen?"
  „Nein," sagt Webach sehr  ruhig. „Das würde ihn nur auf unnütze Gedanken bringen."
  „Unnütz? Für wen? Für die  Jugend, oder für die Herren, in deren Hand ihr nichts als Schachfiguren seid,  — du samt deinen Jungen? Wenn’s nach denen ginge, dürfte die Jugend überhaupt  nicht denken."
  „Wozu auch? Erst sollen die  Kerlchen gehorchen lernen und sich sagen lassen, was ihre Pflicht ist. Man  sieht es ja an dir, wohin man mit diesem selbständigen Denken kommt!"
  „Und wohin seid ihr  gekommen?"
  „Wir? Zur Erkenntnis unserer  Aufgabe: Widerstandsgeist und Wehrwillen zu wecken und so die Befreiung  Deutschlands vorzubereiten." Webach lächelt bitter: „Es ist traurig, zu  sehen, dass ein Mann wie du seiner Vergangenheit untreu geworden ist. Und  jetzt hältst du mich vielleicht sogar für einen schlechten Kerl, weil ich nach  wie vor zu unsrer Sache stehe?"
  „Ach, wenn es so einfach wäre!  Wenn es hier nur um gute oder schlechte Menschen ginge! Aber du willst nicht  sehen, was du tust. Du bist verstrickt in Vorurteile, die dir Abstammung und  Erziehung aufgezwungen haben."
  „Hör' auf! Das kenne ich  schon: an allem soll das System schuld sein. Dieser jüdische Schwindel zieht  bei mir nicht! Du bist zum Verräter geworden, und nichts weiter."
  „Wenn du es so nennst: ja. Ich  bin zum Verräter geworden an einer Klasse von Menschen, deren Zeit bald vorbei  ist. Und ich freue mich noch, dass ich den Mut dazu gefunden habe."
  Webach will gehen. Er zögert,  mir die Hand zu geben. „Ich darf wohl nicht sagen ,Auf Wiedersehen'?"  Seine Stimme stockt. „Wenn wir uns wieder sehen, dann stehen wir alten  Kameraden vielleicht auf verschiedenen Seiten und kämpfen gegeneinander?"
  Ich zucke die Achseln.
  Webach sieht mich ernst an.  „Dann leb' wohl!" sagt er und wendet sich ab.
  Er lässt seine Abteilung  antreten. Ich höre seine Kommandos.
  Aber noch einmal kommt er auf  mich zu. Ich sehe ihm an: es fällt ihm schwer, so von mir zu gehen.
  „Mensch!" flüstert er  heiser und zeigt auf die Truppe. „Lacht dir denn nicht das Herz im Leibe, wenn  du so etwas siehst? Willst du dich denn von dieser Jugend beschämen  lassen?"
  „Ich will!"
  Webach salutiert militärisch.  Seine Hacken knallen zusammen. Im Weggehen ruft er mir noch zu, — und es ist  Drohung und Triumph zugleich: „Unsre Sache marschiert!"
  Ich sehe ihm nach, wie er zu  der Abteilung zurückspringt.
  Gut sieht er aus in der  enganliegenden Uniform mit dem blanken gelben Lederzeug, den Sturmriemen  unterm Kinn. Die Jungen werden für ihn durchs Feuer gehen, denke ich mir.
  „Still gestanden!" gellt  sein Kommando.
  Die Körper der jungen Leute  straffen sich. Ihre Augen hängen wie gebannt an den Lippen des Führers. Ihre  Gesichter sehen plötzlich alle gleich aus. Herzklopfende und atemraubende  Gespanntheit liegt über der Kindertruppe...
  Webach schnarrt: „Abteilung —  marsch!!"