Otto Nagel – Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck (ab 1928)
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Es geht einer vor die Hunde

Etwa zwei Millionen arbeitsloser, aber arbeitswilliger Menschen sind in der Statistik der deutschen Arbeitsämter nicht enthalten. Es sind meist Ausgesteuerte, die ohne Anspruch auf Unterstützung als unsichtbare Erwerbslose dahinvegetieren.

 

I.

Bevor Muttchen Inhaberin des »Nassen Dreieck« wurde, hatte dieser schmutzige Saftladen einem Wirt gehört - einem rabiaten Kerl, der einen geladenen Revolver ständig unter dem Ladentisch liegen hatte. Bei einem Streit mit einem betrunkenen Bettler hatte der Wirt nach dieser Waffe gegriffen und den wehrlosen Mann brutal niedergeschossen. Daraufhin musste der Wüterich schleunigst das Geschäft verkaufen und aus der Gegend verduften. Einen besoffenen »Kunden« einfach über den Haufen zu knallen - das ging denn doch sogar den Stammgästen des »Nassen Dreieck« über die Hutschnur!
Anfangs, als Muttchen das »Nasse Dreieck« kaum übernommen hatte, fand sich unter den Stammgästen ein ebenso kräftiger wie grober Kerl, der sich aus eigener Machtvollkommenheit als »Rausschmeißer« etabliert hatte. Bei der geringsten Unruhe der Gäste schlug er dazwischen, nahm sie beim Kragen und warf sie aufs Straßenpflaster. Muttchen, die damals noch unerfahren war, ließ ihn ruhig gewähren, weil sie glaubte, das müsste nun mal so sein. Die Gäste hassten den brutalen Mann, ließen sich jedoch alles gefallen, weil sie sich vor ihm fürchteten.
Eines Tages tauchten im »Nassen Dreieck« ein paar pampige Burschen auf. Es mag dahingestellt bleiben, ob man sie hinbestellt hatte oder sie so zufällig in diese Kneipe hineingeraten waren. Jeden-
falls waren sie da - und ihre selbstbewusste Anwesenheit verschaffte den Gästen des »Nassen Dreieck« an diesem Abend noch ein besonderes Vergnügen. Als es zum gewohnten Streit und Krach kam, der Rausschmeißer als Schlichter dazwischenfahren wollte, packten die beiden »Schwerathleten« zu und warfen ihn zur Tür hinaus. Auf der Straße schlugen sie auf ihn ein, dass die Knochen knackten. Dann schleppten sie ihn auf die andere Straßenseite, wo die Panke fließt, und warfen den »Rausschmeißer« über das Geländer ins Wasser hinab.
Als dieser so betrüblich angelaufene »Rausschmeißer« drei Monate später das Krankenhaus verlassen konnte, ließ er sich nur noch selten im »Nassen Dreieck« sehen und benahm sich dann wie ein gewöhnlicher Gast. Seine frühere Funktion als »Rausschmeißer« versah jetzt Muttchen selbst. Von außen sah das »Nasse Dreieck« nicht anders aus als irgendeine der vielen Kneipen, die in dieser proletarischen Gegend in fast jeder Mietskaserne zu finden waren. Geriet zufällig mal ein fremder Mensch hinein, so bekam er einen tiefen Schreck und machte so schnell wie möglich, dass er wieder herauskam.
Die umwohnenden Proleten nannten das »Nasse Dreieck« kurzweg nur »Pennerkneipe«. Arbeiter gingen da nicht hinein, sondern tranken ihre »Molle« woanders. Die Bewohner des Eckhauses, in dem sich das »Nasse Dreieck« befand, verloren in der Nachbarschaft merklich an Ansehen, weil sie (wie man sich ausdrückte) mit Pennern unter
ein und demselben Dach wohnten. Die Vorderhausbewohner schickten eine gemeinsame Protesterklärung an den Hauswirt. Dieser reagierte darauf überhaupt nicht; war er doch froh, einen so gut und pünktlich zahlenden Mieter, wie Muttchen es war, zu haben.
Muttchen hatte nämlich außer ihrer Schnapsbude noch sämtliche Parterre-Räume der toten Frontseite des Eckhauses gegenüber der Panke gemietet, die bisher dauernd leer gestanden hatten, ihr aber als Logierräume für ihre Gäste durchaus passend erschienen.
Budikerfrauen sind gewöhnlich sehr wohlgenährt, oft sogar fast kugelrund. Muttchen wich von diesem Typus ab. Sie glich mehr der Frau eines kleinen Beamten, der man es ansah, dass sie nicht immer satt zu essen hatte. Etwa vierzig Jahre alt, war ihre Gestalt knochig und hager, im übrigen aber noch ganz ansehnlich. Ihre Gesichtszüge ließen auf eine Mischung von Härte und Freundlichkeit schließen. Wenn man den Gästen glauben durfte, - musste sie einen Haufen Geld ihr eigen nennen. Man erzählte sich sogar, dass sie in Tegel ein großes Gartenlokal besäße. Wirklich Genaues darüber wusste allerdings niemand.
Sicher ist, dass das »Nasse Dreieck« einen schönen Batzen Geld abwarf. Es war immer Hochbetrieb in ihrem Lokal, und die Pfennige und Groschen, die tagsüber von einigen hundert Bettlern in Berlin zusammengefochten wurden, wanderten fast restlos in Muttchens Kasse. Was nicht vorn an der Theke hängen blieb, nahm hinten das Logier-
haus ein. Dieses bestand aus zwei Ladenräumen, zwei Stuben und den dazu gehörigen Küchen. In jedem Ladenraum standen zehn, in jeder Stube acht und in den beiden Küchen je zwei Betten. Die Gäste zahlten monatlich zwanzig Mark für ihr Bett. Bei täglicher Bezahlung kostete das Nachtquartier etwas mehr, nämlich durchweg siebzig Pfennige. Anspruchslos wie die »Kunden« nun einmal sind, nahmen sie mit dem Gebotenen vorlieb und meinten sogar: »Man schläft hier wie im feinsten Hotel.« Die 40 Betten waren fast immer voll belegt.
»Streng« hielt Muttchen auf Sauberkeit und Ordnung. Jeden Monat gab's frische Bettwäsche! In der Zeit zwischen 9 Uhr vormittags und 9 Uhr abends durften die Schlafräume nicht betreten werden. Die Logiergäste konnten sich dann in den Schankräumen aufhalten. Muttchen war gar nicht »so«.
Sie sah nie darauf, ob ein Gast etwas verzehrte oder nicht. Ihretwegen konnte so ein armer Teufel einen Monat lang jeden Tag kommen, ohne einen Sechser bei ihr auszugeben.
Ihre paar Habseligkeiten (wenn sie überhaupt welche besaßen) schnürten die Penner zu Paketen zusammen und gaben sie bei Muttchen zum Aufbewahren ab. Laut angeschlagenem Plakat kostete die Aufbewahrung pro Tag 5 Pfennige. Den Kunden blieb nichts anderes übrig, als diese 5 Pfennige zu opfern. Wer den Sechser sparen wollte, war gezwungen, seine »Klamotten« mit sich herumzuschleppen.

Das eigentliche »Nasse Dreieck« bestand aus der Schankstube und einem großen Hinterzimmer. Der Ladentisch war (wahrscheinlich aus Zweckmäßigkeitsgründen, d. h., um Schmutzspuren nicht sichtbar werden zu lassen) pechschwarz gestrichen. Hinter einem Eisengitter lagen Fressalien aufgestapelt: Schweine-Kopffleisch, Bouletten, Heringe.
Die Wände des Vorderraums prunkten in primitiver vorstädtischer Dekorationsmaler-Schönheit. Auf grellem Orangegrund tanzten schwarze Rokoko-Weibchen zwischen Perlenstäbchen einen Reigen. Dazwischen machte ein Plakat Reklame für Muttchens Logierhaus.
Im hinteren Raume waren die Wände mit einst vielleicht weißer, jetzt jedenfalls schmutziggrau gewordener Leimfarbe gestrichen. Die Hinterwand bestand aus schlecht behobelten Brettern, deren Fugen breit auseinanderklafften. Eiserne Gartenstühle und -tische standen auf dem ungestrichenen schmutzigen Fußboden. Oben an der Wand klebte ein schwarzweißes Plakat mit der Aufschrift: »Jedem sein Auto!« Daneben ein anderes (handgeschrieben): »Jeder Gast darf nur einen Stuhl benutzen. Getränke dürfen von draußen nicht mitgebracht werden! Die Wirtin.«
Des Nachmittags war im »Nassen Dreieck« meistens nicht viel los. Die Mehrzahl der »Kunden« war noch unterwegs.
Die jetzt in der Kneipe herumsaßen, waren entweder ganz arme Teufel, die auf Klopper warteten, von denen sie etwas zu erben gedachten, oder aber
Ladenstoßer und Stucker, die erst gegen Abend auf Fahrt gingen.
Diese »Brüder« saßen stumm und stumpf an ihren Tischen, nur von Zeit zu Zeit sich ein Wort oder eine Bemerkung zurufend. Ein Alter war eingenickt und lag vornübergebeugt mit der Nase auf dem Tisch. Wenn irgendein lautes Wort gesprochen wurde, schrak er auf, schaute misstrauisch umher, um gleich wieder einzunicken und mit der Nase auf der bierklebrigen Tischplatte herumzurutschen. Ein ekler Geruch von regennassen Kleidern und anderen Ausdünstungen schwängerte den Raum. Im Nebenzimmer ließ sich einer für'n Sechser rasieren. Nahebei saßen vier Frauengestalten an einem Tisch und schauten in Ermangelung von anderer Unterhaltung zu, wie das Messer des Verschönerungsrates hörbar über die Haut des »Kunden« schabte. Eine Einäugige wünschte sich aus Langeweile, dass das Messer die Haut ritzen möge.
Eben kamen die ersten Klopper von der »Fahrt« zurück; sie gingen ins Hinterzimmer, setzten sich an einen Tisch und holten aus allen möglichen Taschen Stullen hervor, die sie nach der Art des Belages gewissenhaft sortierten. Die Frauen standen auf und gingen zu den Speckjägern hinüber. Zu dem Pfennigfranz setzte sich die Einäugige an den Tisch. Faul schaute sie zu, wie er seine unergründlichen Taschen auskramte. Jedes Paar Stullen klappte er auseinander, roch daran und legte es dann beiseite. Unbelegte von belegten, belegte von gutbelegten genau getrennt. Dann kramte er aus
einer Tasche einen kleinen Haufen Geld hervor: Pfennige, Sechser und auch ein paar Groschen. Während er zählte, verschwand die Einäugige unauffällig. Als Pfennigfranz mit seiner Bestandsaufnahme fertig war, wollte er alles wieder zusammenpacken. Da stellte er fest, dass ein Paar Butterbrote fehlte. Er sah nochmals alles durch, schaute unter den Tisch, aber die Stullen waren verschwunden. Nun fing er an zu schimpfen: »Sie hat mir die Stullen geklaut, so ein Aas... «
Der Zahme Willi (der von der Theke aus den Vorgang beobachtet hatte) mischte sich jetzt ein und brüllte den Alten an: »Du bist wohl meschugge geworden, oller Dusselkopp, - wie kannste so wat behaupten?« - »Na kiek doch, se kaut ja«, erwiderte Pfennigfranz mit einem Blick auf die Einäugige, die ihn frech angrinste. Der Zahme Willi lächelte überlegen und sagte: »Die Stulle, die det Mädel essen tut, is von mir, vastehste!« Jetzt wurde Pfennigfranz wütend und schrie:
»Du bist een elender verlogener Lausepenner, det biste!«
Der Zahme Willi ging, die Hände in den Hosentaschen, langsam auf ihn zu:
»Wat erlaubste dir zu sagen?... He? Du alter Kacker?... He?... «
Schon hatte er dem Pfennigfranz in seinen grauen Vollbart gespuckt. Vor allen Gästen in den Bart gespuckt! Die Weiber quietschten, die Männer brüllten vor Vergnügen, das ganze »Nasse Dreieck« war voller Lustigkeit.
»Hat man schon so wat jesehn?«
»Er hat ihm seinen scheenen Vollbart ramponiert, - einfach rinjespuckt, - so'ne Blamage!!!... «
Pfennigfranz war aufgestanden, sprachlos starrte er den Zahmen Willi an, um den Mund, wo der Bart grünlich schimmerte, zitterte es, die abstehenden Ohren erglühten knallrot. Er griff nach dem nächsten Bierglas, goss dessen Inhalt dem vorsichtig lächelnden Zahmen Willi ins Gesicht. Die klebrige Bierneige verschmierte (dem) die Augen, hängte sich als goldiger Troppen an die Spitze seiner Nase und lief in kleinen Bächen den Hals hinunter.
Eine angstvoll abwartende Stille lag jetzt über dem Raum, die Gäste saßen mit vorgestreckten Hälsen da.
»Kinder, det is een Spaß!«
Irgendwer schob den trennenden Tisch beiseite, damit sie schneller zusammenkommen könnten. Wortlos packten die beiden einander und versuchten, sich gegenseitig umzuwerfen. Zwei müde, ausgemergelte Gestalten schwankten hin und her, hielten sich aneinander fest, um nicht umzufallen. Die Zusehenden wollten den Kampf lebhafter haben und machten anfeuernde Bemerkungen.
»Kinder, ihr küsst euch ja!« -
»Reiß ihm doch den Bart aus!«
»Beiß ihm doch de Neese ab!«
Da! Ganz plötzlich war Muttchen da, sauste ihr Gummiknüppel dazwischen. Jeden Schlag begleitete sie mit einem Ausruf: »Wollt ihr auseinander, ihr Sautölen, ihr Schweinehunde, da haste...«
Ganz still wurde es jetzt im »Nassen Dreieck«. Die beiden geprügelten Kämpfer ließen einander los, setzten sich hin und schauten scheu auf Muttchen, die, mit dem Gummiknüppel schlenkernd, im Raum stand und ihren Blick vorwurfsvoll umherschweifen ließ. Der Zahme Willi stand auf und setzte sich an einen anderen Tisch, mit dem Rücken zum Pfennigfranz gewendet.
Muttchen begab sich hinter den Ladentisch zurück, hängte den Gummiknüppel wieder an seinen Platz unter das Plakat mit der Aufschrift: »Ordnung muss sein!«
Vor Muttchen hatte man »lausigen« Respekt im »Nassen Dreieck«. Der stärkste Mann ließ sich von ihr widerspruchslos verprügeln. Die »Kunden« waren ja im allgemeinen friedlich, selten mal gab es großen Krach. Wenn es aber geschah, fuhr die Frau dazwischen. Vielleicht waren die Gäste des »Nassen Dreieck« gerade wegen des Gummiknüppels so stolz auf ihr Muttchen. Wer gewagt hätte, sich ihr gegenüber zu wehren, würde sicherlich von allen zusammen eine Tracht Prügel bezogen haben.
In den Abendstunden hatte sich das »Nasse Dreieck« mehr und mehr gefüllt. Wohl an die hundert Menschen saßen, standen oder liefen herum. Einige »verkündigten« (verkauften) ein Paar »Trittchen« (alte Schuhe) oder eine »Staude« (Hand) oder ein Paar »Bolzen« (Butterbrote) zum Tarifpreis. Für gutbelegte gab's fünfzehn, für belegte zehn und für »kahle Geigen« (unbelegte) fünf Pfennige. In diesem Quartier des nackten Elends gab es Menschen, die noch ärmer waren als ein Bettler, die von dem ihr Leben fristeten, was der »powerste Klinkenputzer« übrig hatte.
Die Einäugige saß jetzt mit dem Zahmen Willi im Hinterzimmer an einem Tisch. Der Zahme war in Wirklichkeit gar nicht so alt, wie es den Anschein hatte. Zuchthaus, Vagabondage, Hunger hatten früh einen alten Mann aus ihm gemacht. Seine Kleidung war zwar abgerissen, aber im Vergleich zu den Lumpen der anderen doch noch recht gut. Tiefe Falten liefen über seine bläulichrote Stirn. Von der Nase abwärts zum Mundwinkel zog sich eine wulstige Falte, die dem hageren Gesicht ein aufgeschwemmtes Aussehen verlieh. Rötliches Haar bedeckte spärlich seinen Kopf. Die Handgelenke waren fleischlos und schwach, - unentwickelt wie bei einem Kinde. Im ganzen war er ein gutmütiger Kerl, d. h., wenn er gerade nicht besoffen war. Im Suff hatte er seiner Käthe das eine Auge ausgeschlagen. Man hatte ihr damals geraten:
»Zeige den brutalen Hund doch bei der Polizei an; dann kriegt er wat uffgebrummt, det Schwein... « - Verwundert hatte sie erwidert: »Ick soll den Willi denunzieren? Ick liebe ihn doch!«
Vor Monaten hatten die beiden in der Wiesenstraße einen guten, warmen Treppenboden ausfindig gemacht, wo sie seitdem wie in Muttchens Logierhaus, aber unentgeltlich »koksen« (schlafen) konnten. Die Proleten vom vierten Stock, die Verständnis für menschliche Not, für jegliche Art von Elend zeigten, hatten sogar eine alte Matratze für die beiden auf dem Boden zurechtgelegt und ihnen gesagt:
»Solange ihr euch anständig bedragen dut, hat keen Mensch wat dajejen, det ihr hier pennt.«
Dergleichen Mitgefühl und Duldsamkeit fand man selten. Meistens wurden sie von den Vorderhausbewohnern, wenn man sie auf dem Boden entdeckte, wie räudige Hunde hinuntergejagt. Manchmal wartete ein heimtückischer Portier, hinter der Bodentür versteckt, mit einem Ochsenziemer auf sie. Aber das alles ist nicht so schlimm, wenn man sich erst daran gewöhnt hat. Schlimmer ist das Darangewöhnen selbst.
Den ganzen Abend saßen die beiden am Tisch, ohne sich gegenseitig irgendwie zu unterhalten. Höchstens mal ein Wort wurde gewechselt: »Zigarette?«... Oder: »Haste Durscht?«...
Eine Mundharmonika machte Radau; die Menschen in der Kneipe aber gaben sich Mühe, noch lauter zu sein. Sie sprangen und drehten sich herum, wobei sie wie tolpatschige Tanzbären stampften und brüllten.
Punkt ein Uhr machte Muttchen den Laden dicht. Die Einäugige verschwand mit dem Zahmen Willi um die nächste Straßenecke.

 

II.

Scheu und schnell schob sich Wilhelm Thiele in den dunklen Hausflur hinein; vorsichtig durch die Finsternis tastend, stieß er mit dem Fuß gegen die Schwelle zu einer Tür. Angstvoll fühlte er sich weiter, er fürchtete sich und wusste nicht wovor. Weit weg blaffte ein Köter. Thiele glaubte, sein Herz schlagen zu hören; es schien ihm im Halse zu sitzen. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt. Wenn jetzt jemand von oben herabkäme? Eine Stufe knarrte entsetzlich beim Treppe-Hinaufschleichen. Durch das Flurfenster fiel ein schwacher Lichtschein. Er setzte sich auf eine Stufe und zog mühselig seine Stiefel aus. Die Strümpfe waren nass und voll Löcher; die Füße, ach, so müde, überall schmerzten sie und brannten wie Feuer. Vorsichtig auf den Zehen balancierend, schlich er weiter die Treppen hinauf. Hinter einer Tür schnarchte einer. Wie beneidete er ihn! Eine wahnsinnige Angst, auf der Treppe überrascht zu werden, wühlte ihm im Magen herum. Endlich hatte er den obersten Treppenabsatz erreicht. Die Luft war hier so staubig-trocken, es roch nach gebrühter Wäsche. Mit dem einen Fuß stieß er gegen etwas Festes, er bückte sich und fühlte eine Matratze. Zu ermüdet, um sich über diesen seltsamen Fund zu verwundern, ließ er seinen Körper darauf niedersinken. So elend und zerschlagen vor Hunger, vor Müdigkeit war sein Körper.
Wenn in früheren Zeiten jemand gewagt hätte,
zu prophezeien, dass er, Wilhelm Thiele, als obdachloser Vagabund zur Nachtzeit in Mietshäuser schleichen würde, um dort auf dem Boden für ein paar Stunden die müden Knochen auszuruhen, wie würde er mit dem abgefahren sein! Und nun? Er, der damals von dem Bewusstsein seiner Kräfte und Fähigkeiten nur so strotzte, er lief jetzt wie der verkommenste Penner herum, ohne das armseligste Fressen im Bauch, ohne das schäbigste Dach über dem Kopf zu haben. Himmel, was ist das für ein Leben!
Von Gedanken gequält, konnte Thiele trotz der Müdigkeit nicht einschlafen. Ein Uhr schlug es eben in einer der Wohnungen. Kam da nicht jemand nach oben? Wirklich kamen Schritte die Treppe herauf, machten dann halt. Ein Schlüsselbund klirrte, eine Tür wurde geöffnet, zugeschlagen... alles war wieder still. Vor Angst war er ganz nass geschwitzt.

Bis vor zweieinhalb Jahren hatte Wilhelm Thiele seine ständige Arbeit gehabt. Zwölf Jahre lang war er in einer großen Metallfabrik beschäftigt gewesen als Wiegemeister, - gewissermaßen als Prolet in gehobener Stellung. Morgens, wenn er die Fabrik betrat, wurde er von den Pförtnern als ihresgleichen begrüßt. Er war verheiratet; seine Ehe kinderlos. Irgendwie politisch interessiert war er nie gewesen. »Politik verdirbt den Charakter«, hatte er mal irgendwo gelesen, und seitdem war dies sein Schlagwort. Politik war seiner Meinung nach etwas für die Herdenmenschen, die zu schlaff
sind, um es aus eigener Kraft weiterzubringen. Er brauchte die Masse, brauchte ihre Mittel nicht, um voranzukommen. Denn er war ja gesund, kräftig, zu allen Arbeiten geschickt, und solange er seine beiden Hände hatte, solange... Gewiss, mit dem Geld, das er nach Hause brachte, konnte man keine großen Sprünge machen. Freitags, wenn er mit geschlossener Lohntüte zu seiner Frau nach Hause kam, wurde gerechnet und aufgeteilt. Viel blieb da niemals übrig. Da war die Miete zu bezahlen, da war die nächste Rate für die Möbel fällig, mussten Stiefel besohlt, Kleider beschafft werden. Sein kleines Vergnügen wollte man auch mal haben, z. B. ins Kino gehen. Es wäre trotzdem alles ganz gut gegangen. An Fettlebe durfte man sowieso nicht denken... Wenn oben im vierten Stock der arbeitslose Tischler mit seiner Frau und den vier Kindern Skandal machte, dass man es bis unten auf die Straße hörte und in den Wohnungen der anderen Proleten die Kinder sich ängstlich an die Mutter drängten, - dann zuckte Thiele jedes Mal zusammen, riss das Fenster auf und schrie:
»Ruhe da!«
Zu seiner Frau aber sagte er: »So ein Kerl, ruiniert seine arme Familie... «
Ja, so lebte er jahrelang dahin. Bis eines Tages Gerüchte durch den Fabrikbetrieb schwirrten: »Es soll abgebaut werden!«
Wilhelm Thiele hörte kaum hin. Wenn schon, was ging das ihn an? Er war doch unentbehrlich! Kam für den Abbau gar nicht in Frage.
Damals - 1928 - ging der Rummel los. Die Anschläge am Schwarzen Brett verkündeten die 50 %ige Betriebsstillegung. Die ersten Namen der zur Entlassung Kommenden wurden bereits in den einzelnen Abteilungen angeschlagen. Die Arbeiter drängten sich vor den Listen und suchten angstvoll, ob auch ihr Name darunter sei, fanden ihn und schoben mit hängendem Kopf davon. Mancher, der seinen Namen nicht entdeckte, zitterte trotzdem und glaubte im stillen immer noch an einen Irrtum.
Thiele ging am Schwarzen Brett vorüber, ohne es zu beachten. Was hatte er denn damit zu tun -er, Thiele, war doch unentbehrlich (so dachte er sich immer wieder)-, ihn konnte man doch nicht abbauen!
Und dann erhielt er dennoch die Kündigung! Seine Frau war außer sich und heulte fassungslos.
»Na siehste, jetzt haste et, - jetzt liegste ooch uff n Damm!... « Er versuchte, ihr über das Unglück hinwegzuhelfen:
»Schau mal, meine Muskeln, ich werde doch wieder Stellung finden, habe ja Lust zur Arbeit und suche mir diese nicht aus. Leute wie mich kann man überall gebrauchen. Vielleicht werde ich sogar noch besser bezahlt als bis jetzt...«
Im üblichen Trott ging es dann weiter. Zunächst Arbeitsnachweis! Wie er das erste Mal in diesem Klamottenbau in der Schulstraße »stempelte«! Diese schwere, dicke Luft, durch die man sich förmlich mit den Augen bohren musste, um etwas zu erkennen. Eine staubgraue müde Masse, die den großen Raum bis zum Bersten füllte. Ganz benommen sah er zahllose Menschen, die genau wie er Arbeit suchten und zum Teil genau wie er jung, gesund und kräftig waren. Seine Kleidung war bald abgerissen. Mit der Frau gab es je länger je öfter Zank und Streit. Er glaubte, in ihrem Gesicht offene Verachtung zu lesen. Er selbst hatte ihr ja so oft hochnäsig gesagt, dass Menschen, die arbeitslos sind, eben keine Lust zur Arbeit haben.
Die nur teilweise abbezahlten Möbel wurden reklamiert. Alles Versetzbare lag bereits auf der Pfandleihe.
Immer unerträglicher wurde sein Verhältnis zu seiner Frau. Eines Tages war sie verschwunden, höchstwahrscheinlich zu ihren Eltern nach Elbing zurückgekehrt. Eigenartigerweise bekümmerte ihn das recht wenig; jetzt war ihm schon alles völlig Wurst.
Für ihn allein war die Wohnung nun zu groß. Vor allem konnte er die sechsundzwanzig Mark monatliche Miete nicht mehr aufbringen. Also zog er aus und nahm sich für acht Mark den Monat eine Kochstube. Am Tage hielt er sich meistens in einem der Parks auf, wo die Arbeitslosen sich zu Hunderten zusammenfanden, um beim Kartenspiel um Pfennige ihr trostlos-dreckiges Dasein zu vergessen.
Da stand er mit den anderen um die auf den Bänken sitzenden Spieler herum und stierte stundenlang auf die klatschend niederprasselnden bunten Karten. So schlug man die Zeit tot, die man für wertvolle, nutzbringende Arbeit hätte verwenden können. Es ist doch etwas unsagbar Tragisches, Trauriges, wie alle diese Menschen, jung, tatkräftig, schaffensfreudig, ohne rechten Wirkungskreis, ihre Tage, ja ihre besten Lebensjahre müßig verbringen müssen. Gleichsam überflüssig und wertlos vegetieren sie dahin, sacken sie mehr und mehr ab.
Da die kärgliche »KRÜ« kaum ausreichte, sein Leben zu fristen, sah sich Thiele nach irgendwelchem Nebenverdienst um. Der Zigarrenhändler drüben in der Straße, der ihn von früher her kannte, wünschte eine Fußbank gemacht zu haben. Thiele war gerade mit dieser Hausarbeit beschäftigt, als es an seine Wohnungstür klopfte. »Ein Bettler«, dachte er und arbeitete weiter. Das Klopfen wurde wiederholt, aber diesmal stärker. Flüchtig, die halbfertige Arbeit beiseite schiebend, ging er, um die Tür zu öffnen. Draußen stand ein Mann mit einer Aktentasche unter dem Arm.
»Herr Thiele? Ich bin der Prüfer vom Arbeitsamt, darf ich eintreten?«
Wilhelm Thiele fühlte, wie ihm alles Blut nach dem Kopfe schoss - wie sollte das enden? Der Mann durfte unter keinen Umständen die Küche betreten; lag doch da das Handwerkszeug und die noch nicht ganz fertige Fußbank. Es ging jetzt ums Leben; denn wenn der Prüfer die Arbeit sah, wurde ihm die Unterstützung entzogen; dann konnte er sich getrost aufhängen! Aus impulsivem Selbsterhaltungstrieb heraus stotterte Thiele ohne weitere Überlegung: »Tja - aber... das geht doch nicht, - mein Bruder..., der ist augenblicklich nicht hier!«
Da saß er fest! Wie er auf diese plumpe Notlüge verfallen konnte, war ihm selbst unbegreiflich und würde es wohl immer bleiben. Der Prüfer sah ihn so merkwürdig an und entgegnete bedeutungsvoll:
»Nun ja, dann sagen Sie Ihrem Bruder, dass ich morgen Vormittag wiederkomme.«
Die Tür war zu und Thiele wieder allein. Die sich überstürzenden Gedanken rumorten ihm im Schädel herum; die ganze Küche schien sich zu drehen. Was hatte er sich da bloß eingebrockt? Was sollte jetzt werden? Kalter Angstschweiß bedeckte seine Stirn; im Magen wurde es ihm übel vor nervöser Unruhe, vor betäubender Angst. Am liebsten wäre er ins Bett gekrochen, hätte die Decke über den Kopf gezogen, um nichts mehr zu sehen, nichts mehr denken zu müssen. Hin und her lief er in dem engen Raum; die halbfertige Fußbank, die ihm gar nicht im Wege stand, bekam einen Tritt, dass sie krachend gegen die Wand flog. Er grübelte und grübelte, zermarterte sich das Hirn nach einem Ausweg. Zum Verrücktwerden war es; er musste raus aus der Bude, hinunter auf die Straße, um Luft zu schöpfen. Verzweifelt riss er seine Mütze vom Eimerspind und verließ fluchtartig seine Behausung.
Draußen schien die Sonne freundlich und hell; ihm aber kam alles so düster und trostlos vor, so völlig ohne jeden Sinn und Zweck. Nie zuvor war ihm sein Leben so wertlos erschienen; er hätte es wegwerfen mögen wie einen Fetzen schmutzigen Papiers. Ziellos lief er durch die Straßen, ohne darauf zu achten, wo er sich gerade befand. Plötzlich
stand er am Ufer des Nordhafens. Ein durchdringender Geruch von Rauch und Teer drang ihm in die Nase. Er sah sich um. Drüben an der Ecke, in der Großdestille war Hochbetrieb wie immer. Ein unwiderstehlicher Juckreiz in seiner vor innerer Erregung ausgetrockneten Kehle bewog ihn, in die Kneipe zu gehen. Er ließ sich ein kleines Glas Bier einschenken. An einem der Stehtische war noch Platz; um nicht mit seinen qualvollen Gedanken allein zu sein, nahm Thiele sein Glas Bier und stellte sich heran. Zwei Arbeiter, jeder eine halbgeleerte Molle Bier vor sich, unterbrachen ihr Gespräch und sahen den Hinzugetretenen aufmerksam an. Mitfühlend erkundigte sich der eine von ihnen:
»Mensch, is dir schlecht? Siehst mächtig krank aus; hast wohl Fieber, - solltest dir zu Hause in't Bett lejen. Mit so wat is nich zu spaßen.«
Da konnte Thiele nicht länger an sich halten; er musste sich aussprechen. Ja, das musste heraus, wenn er nicht daran ersticken wollte.
Erstaunt hörten die beiden ihm zu; auch andere waren näher gekommen. Als Thiele seinen Bericht beendet hatte, schwiegen alle, - sahen sich gegenseitig fragend an. Plötzlich fing einer an, laut loszuprusten:
»Mensch, du bist eener mit Ärmel! Komm, ick koofe dir 'ne Molle! Ne, Mensch, so wat!«
Auch die anderen lächelten jetzt; schnell aber wurden sie wieder ernst. Die verschiedensten Ratschläge wurden ihm erteilt.
Als Thiele später etwas angetrunken die Destille verließ, hatte er seinen Plan fertig. Er lief zum nächsten Friseur, ließ sich die Haare schneiden und den Bart stutzen. Man hatte ihm gesagt, so müsse er sich zurechtmachen, damit der Prüfer, wenn er am nächsten Vormittag wiederkäme, ihn nicht erkenne.
Einmal angefangen, musste er jetzt versuchen, die fatale Angelegenheit zum glücklichen Ende zu bringen.
Die ganze lange Nacht wälzte sich Thiele schlaflos im Bett herum. Am anderen Tag wartete er schon in aller Frühe auf den Prüfer. So rosig der Plan ihm gestern erschien - heute, beim Lichte ruhig überlegender Vernunft betrachtet, sah die Sache doch verdammt brenzlich aus!
Erst spät gegen Mittag klopfte es. Thiele öffnete angstbeklommen. Und dann brach das im stillen befürchtete Verhängnis über ihn herein! Er wurde wieder erkannt - seine Unterstützung ihm rücksichtslos entzogen! Das nackte Elend stand vor ihm! Da hatte man nun jahrzehntelang geschuftet, und wofür? Um jetzt nicht einmal das Allernotwendigste, das Unentbehrlichste zum bloßen Lebensunterhalt zu haben! Ein verfluchtes, verfluchtes Leben! Jetzt hätte er ruhig einen Strick nehmen und allem bevorstehenden Jammer ein Ende machen können; aber dazu war er schon viel zu gleichgültig. Alles war ihm drecksegal.
Womit er in den folgenden Wochen sein armseliges Leben gefristet hatte, wusste er selbst nicht recht. Die Miete hatte er monatelang schon nicht mehr bezahlt; der Wirt reichte die Räumungsklage ein. Die Exmission stand vor der Tür.
Bei einem planlosen Herumstreifen durch die Stadt kam Thiele eines Tages an einem Warenhaus vorbei. Willenlos ließ er sich vom Strom der Passanten mit hineintreiben. Er lief ohne besonderen Zweck, ohne ein Ziel durch die verschiedenen Abteilungen. In der Lebensmittelabteilung verweilte er, ohne sich dessen recht bewusst zu sein. Auf einem der Tische, etwas abseits von der beschäftigten Bedienung, waren Konserven aufgestapelt. Ohne jegliche Vorsicht nahm er eine Büchse an sich, verbarg sie unter der Jacke und ging schnurstracks davon. Auf der Treppe wurde er eingeholt. Man brachte ihn zum Überwachungsbüro, durchsuchte seine Kleidung und nahm ihm die gestohlene Büchse mit Konserven wieder ab. Nach Unterzeichnung eines der für solche Fälle vorgesehenen Formulars konnte er gehen. Jetzt würde soweit alles in Ordnung gewesen sein, wenn jener verwünschte Spruch da nicht an der Wand gebammelt hätte. In einem schönen Goldrahmen unter Glas hing er da und höhnte herausfordernd auf Wilhelm Thiele herab:

»Arbeit und Fleiß, - das sind die Flügel.
Sie führen über Berg und Hügel!«

Als er das las, zuckte es ihm in den Händen. Wie es dazu kam, wusste er heute noch nicht: in unsinniger Wut schlug er mit der Faust diesen goldgerahmten Hohn auf sein Elend zusammen. Oh, diese entsetzten Gesichter der Angestellten und der Käufer! Sie erleichterten ihn förmlich. Widerstandslos ließ er sich dem Polizisten übergeben und abtransportieren. Wieder und wieder hallten in seinen Ohren die Worte nach, die er aufgefangen hatte, als er von dem Beamten zum Auto gebracht wurde: »Der scheint ja ein ganz schwerer Junge zu sein!« - Eine Arbeiterfrau hatte dies zu ihrem Manne gesagt.
Der Schnellrichter diktierte ihm 3 Tage Gefängnis zu wegen Sachbeschädigung. Ja, ja, Wilhelm Thiele, so springt das Leben mit einem um!
Nun lief er schon wieder seit Wochen abgerissen, ungewaschen und mit meist leerem Magen planlos umher. In irgendwelchen Parkanlagen ruhte er aus, lief dann wieder weiter, blieb manchmal auf einer Brücke stehen und sah zu, wie die Kähne und Dampfschlepper unter ihm dahinzogen, wie einzelne Menschen die Krümel von ihrem Frühstücksbrot (nach denen er am liebsten selbst gierig geschnappt hätte) den immer fressbereiten lustigen weißen Möwen zuwarfen. Wie waren sie doch zu beneiden. Er selbst bekam oft tagelang nicht einen einzigen Bissen zu essen!

»Nanu, wat is denn hier los?... He! Du! Wat machste hier?« Durch diese Worte aufgeweckt, schreckte Wilhelm Thiele aus seinem bleiernen Schlaf auf. Er hörte die Stimme eines Mannes aus dem Dunkel leise an sein Ohr dringen.
»Det könnte dir woll so passen, mein Lieber, -hier in't jemachte Bett legen - - - ne, bei mir nich, gibs nicht----nu los, steh schon uff!«
Mühsam krabbelte sich Wilhelm Thiele hoch.
Alle Glieder schmerzten ihm. Eine Frauenstimme flüsterte in der Dunkelheit ihrem Begleiter etwas zu. Dieser zündete ein Streichholz an und hielt es Thiele vors Gesicht.
»Nee, den kenn ich nich!« erwiderte der Mann. Zwei abgehärmte Gesichter sah Thiele einen Augenblick lang von dem Schein des Streichholzes beleuchtet, Gesichter von Menschen, die müde und elend waren wie er selbst.
»Ich habe nicht gewusst, dass dies hier Ihre Schlafstelle ist«, sagte er entschuldigend und wollte gehen.
»Also: Gute Nacht!«
Die Stimme des Mannes hielt ihn zurück: »Nee, so is det nich gemeent, bleib man hier. Morjen suchste dir 'ne andre Bleibe. Fier heite ha'm hier ooch dreie Platz.«
Wilhelm Thiele legte sich ohne eine Erwiderung still in eine Ecke und schlief bald wieder ein. Schwer wie Blei war sein Schlaf.

 

III.

Schon früh beim ersten Dämmerschein begann das »Nasse Dreieck« sich mit Gästen zu füllen. Aus allen nur denkbaren Winkeln und Unterschlüpfen der Umgebung dieses Treff- und Sammelpunktes der Obdachlosen, aus Kellerlöchern, von Treppenböden der Mietskasernen, aus Parkanlagen und
sonstwoher krochen zerlumpte, verschmutzte menschliche Gestalten hervor. Den Kragen hochgeschlagen, den gekrümmten Oberkörper weit vorgeschoben - so kamen sie trübselig dahergeschlichen und gaben sich bei Muttchen ein Stelldichein.
Die herbstlich kühle Witterung durchzitterte die ausgemergelten Knochen; da musste man sich schon irgend etwas Heißes in den Wanst gießen, sonst konnte man sich auf leichteste Art den Tod holen. Im vorigen Herbst hatten einige von Muttchens Stammgästen im zusammengeharkten Parklaub gepennt. Ganz schön mollig war es darin gewesen. Ein paar aber hatten sich eine Lungenentzündung dabei geholt und wenige Tage später -da waren sie krepiert, einsam und hilflos, wie ein Stück wildes Vieh.
Echter Mokka war es nun gerade nicht, was Muttchen für einen Sechser die Tasse bot. Das machte den »Kunden« aber nichts aus; die Hauptsache war, man bekam etwas Warmes in den Leib. Gab es doch so manchen, der nicht über einen Sechser für den Morgenkaffee verfügen konnte. Diese suchten sich für die Nacht irgendwo einen Unterschlupf und kamen des Morgens nur zum »Nassen Dreieck«, um sich unter der Wasserleitung auf dem Klosett den gröbsten Schmutz von Gesicht und Händen abzuspülen. Danach verschwanden sie wieder, ohne dass Muttchen etwas dagegen sagte.
Die Logiergäste des »Nassen Dreieck« kamen erst später nach vorn in die Schankräume; sie durften länger schlafen als ihre weniger glücklichen Leidensgefährten, denn sie brauchten ja nicht zu befürchten, in ihrem Unterschlupf entdeckt und aus dem Schlaf geprügelt zu werden. Dann saßen Männer und Frauen an den Tischen herum und schlürften begierig die braune Zichorienlorke, die Muttchen in großen Kesseln immer wieder neu aufbrühte. Einige verschwanden bereits, denn sie hatten einen weiten Weg in entlegene Stadtteile vor sich.
Immer neue »Kunden« kamen zur Tür herein, nahmen eine Tasse vom Geschirrtisch und ließen sich vom Hausdiener an der Theke die heiße braune Flüssigkeit einfüllen.
Vor der Theke stand auf wackligen Beinen der Dicke Stern und trank seinen obligaten Korn. Jeden Morgen musste er erst einen auf nüchternen Magen nehmen; er behauptete: »Wenn ich keenen intus habe, zittern mir den janzen Dag de Knochen!«
Er sah wie ein guter Fünfziger aus, hatte aber bereits über sechzig auf dem Buckel. Das rote runde Gesicht mit der derben Kartoffelnase und den kleinen blauen Augen gab seinem Aussehen etwas Gemütliches, gewissermaßen Vertrauenerweckendes. Der kurze dicke Körper verstärkte diesen Eindruck noch. Ohne ersichtlichen Grund grinste er fortwährend über das ganze Gesicht, wobei er den Mund mit den dicken feuchtroten Lippen immer halboffen hielt.
Der Zahme Willi kam mit der Einäugigen, von Wilhelm Thiele gefolgt, oben zur Tür herein. Das
Grinsen im Gesicht des Dicken Stern verstärkte sich, als er den Zahmen Willi bemerkte und mit seiner breiten, quakenden Stimme begrüßte:
»'n Morjen, Williken, schon so früh uffn Damm?«
Der Zahme grüßte zurück, indem er mit dem Zeigefinger der linken Hand flüchtig seinen Mützenschirm berührte, und ging mit seinen beiden Begleitern nach hinten, wo er sich nach einem freien Platz umsah.
»Kommt, da is noch frei; setzt euch schon immer hin, - ick komme jleich.«
Er verschwand wieder nach vorn. Dort wandte er sich an Albert Stern, der ihm freundschaftlich die Backen tätschelte.
»Albertken, ollet Haus, du musst mir bis Nachmittag unbedingt fuffzig Pfennige pumpen; sechzig kriegste wieder.«
»Gemacht, Williken, kannste ha'm«, erwiderte bereitwillig der Dicke Stern.
Inzwischen hatte Thiele mit seiner Schlafgenossin an einem freien Tisch Platz genommen. Verstohlen beobachtete er sie. Die Einäugige tat, als ob sie es nicht bemerkte. Leicht strich sie ihr struppiges Haar zurück und drückte die schwarze Augenklappe, die ihr zerstörtes Auge verdeckte, fest auf ihren Platz. Wie dicker grauer Staub lag es über dem Gesicht dieses jungen Weibes. Zahllose dünne Fältchen durchzogen es; man hätte glauben können, dass diese kaum Dreißigjährige bereits zwei Leben gelebt hatte. Nachdenklich sah Thiele zu, wie sie die von den Kaffeetassen auf der Tischplatte hinterlassenen braunen Wasserringe mit dem Zeigefinger auseinanderzog, kleine Seen und Flüsse entstehen ließ. Die Kleidung dieser Frau war überaus armselig: eine alte, unmoderne Bluse, ein schäbiger Rock; dazu übergroße Schuhe mit schiefen Absätzen.
Heute morgen hatte Thiele davonschleichen wollen; der Zahme aber hatte ihn festgehalten mit den teilnehmenden Worten:
»Siehst verdammt mies aus, mein Junge!«
Dann hatte er sich bei ihm eingehakt und ihn nach hier mitgeschleppt.
Mit drei Tassen heißem Getränk und drei Hakkepeter-Schrippen kam der Zahme zurückbalanciert.
»Is ja nich ville, aber besser wie jar nicht«, sagte er, zu Thiele gewendet, und schob ihm eine Tasse und eine Schrippe hin. Gierig biss Thiele in das knusprige Gebäck, schlürfte er das heiße braune Getränk. Seine klammen Finger schlossen sich um die wärmende Tasse. Die Einäugige kaute an ihrer Schrippe und schaute ihm nachdenklich zu, stand dann auf und ging nach vorn. Zurückgekommen, schob sie ihrem Gast eine zweite Schrippe zu.
»Aber, det kann ick ja doch jar nich annehmen«, wandte Thiele ein. Der Zahme Willi lächelte gönnerhaft:
»Na, eß schon; hast sicher schon lange nich mehr wat Richtijet in'n Magen.« Selbstzufrieden rauchte er sich eine Zigarette an.
Draußen war es hell geworden; es schien ein trüber Tag zu werden und sah nach Regen aus. Der
Hausdiener drehte das Licht ab. Die ersten Logierpenner kamen nach vorn und tranken ihre Lorke. Viele »Kunden« waren schon fortgegangen. Albert Stern kam mit einer Tasse Kaffee vorsichtig herangewackelt und setzte sich zum Zahmen Willi an den Tisch. Fragend schaute er auf Thiele: »Wat bist du denn for eener?«
»Is 'n armet Aas, der heute nacht mit uns zusammen Bodenfahrt geschoben hat«, erklärte die Einäugige mit einem fast mütterlichen Blick auf den still dasitzenden Thiele.
Draußen fing es schon zu regnen an. An der Tür stauten sich die »Kunden«, die warteten, dass es etwas nachlassen würde. Alle schauten nach der Scheibe über der verblichenen gelben Zuggardine und beobachteten, wie die Tropfen gegen das Glas klatschten.
»Tja, tja...«, philosophierte der Dicke Stern: »Det Leben is... nich etwa, wat ihr Banausen denkt! Sojar mit den Rejen is det nemlich so 'ne Sache. Jott läßt'n ieber arme un ieber reiche Leite rieberjehn... Ha'k recht, Williken?« Der nickte zustimmend.
»Ja, bloß, det de reichen Leite sich eenen Rejenschirm koofen können... «, endete Stern und grinste Thiele an. Die Einäugige lachte; der Zahme sabberte vor Vergnügen fast in seine Tasse. »Albertken, det is schon 'ne Marke«, meinte er zu Thiele gewandt; »der hat immer so komische Ideen.«
Der dicke Albert Stern und der Zahme Willi sprachen jetzt über geschäftliche Dinge. Thiele verstand nicht viel von dem Kauderwelsch, in dem gesprochen wurde, und sah sich gelangweilt um. Dann stand er auf und ging zu der Tür, über der ein Schild mit der Aufschrift »Zur Toilette« hing. In dem kleinen schmutzigen Raum war eine Wasserleitung mit verrostetem Ausgussbecken und grünspanigem Hahn, unter dem sich ein jüngerer Kerl gerade wusch. Thiele wartete, bis dieser fertig war; dann ließ er das kalte Wasser über seine Hände laufen und wusch sich, so gut es ohne Seife eben gehen wollte, das Gesicht. An seinem Jackettfutter trocknete er sich ab.
Als er wieder zum Tisch zurückkehrte, war der kleine Dicke aufgestanden, und auch der Zahme Willi erhob sich gerade, nachdem er der Einäugigen seine Zigarette zum Weiterrauchen gereicht hatte. Fragend schaute er auf Thiele: »Na, wie is't; jehste mit?«
Der Gefragte wusste nicht, um was es sich handelte, wohin er mitgehen sollte, und schaute hilflos auf die Einäugige, die ihn ermunterte:
»Jeh ruhig, kannst dir doch 'n bißken wat zu fressen und ooch wat Jeld machen!«
Also verließen die drei Kumpane das »Nasse Dreieck« und traten auf die Straße, wo der Regen jetzt aufgehört hatte. Es war nasskalt. Wortlos schritt Thiele neben den beiden dahin. Er hatte nicht mehr das beschämende Gefühl des Ausgestoßenseins in den Knochen sitzen, das bis gestern ihn nicht losgelassen hatte, wenn er durch die Straßen lief. Die Gleichgültigkeit seiner Kameraden der Umwelt gegenüber machte ihn sicherer; ihm
war es jetzt völlig schnuppe, ob sich jemand nach ihm umsah oder nicht; er war jetzt nicht mehr so allein in seinem Elend.
Auf ihrer Wanderung nach Moabit erfuhr er einiges über das, was sie vorhatten. Er selbst war in den Wochen seiner elendsten Zeit überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, sich etwas zu erbetteln. In seinem jetzigen Zustand aber erschien es ihm gar nicht mehr so fürchterlich, um ein Almosen zu bitten. Besser, sich fortgesetzt demütigen zu lassen, als vor Hunger zu verrecken. Der erfahrene Zahme Willi hatte ihm gesagt: »Wenn man't eenmal jemacht hat, is't jar nicht mehr so schlimm; speter wird't janz selbstverständlich.«
In Moabit angekommen, begannen sie in einer kurzen Querstraße. Zuerst wurde das Terrain planmäßig aufgeteilt. Jeder erhielt ein bestimmtes Revier. Albert Stern nahm die Ladengeschäfte der linken, der Zahme Willi die der rechten Straßenseite. Thiele sollte inzwischen in einigen der Häuser »stoßen« gehen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr er zum ersten Mal, dass ein Bettler nicht (wie er es sich immer vorgestellt hatte) einfach ein Bettler ist. Auch der Leser wird kaum ahnen, dass es unter den Bettlern, wie in jedem anderen Beruf, Spezialisten, Pfuscher und Könner, sozusagen Grob- und Qualitätsarbeiter, gibt.
Das Gros der Bettler sind ganz gewöhnliche Klopper. Es sind diejenigen, welche treppauf, treppab klettern, an die Wohnungstüren klopfen und ihr Sprüchlein aufsagen. Es ist die armseligste Schicht unter diesen armen Menschen, die in gewissem Sinne viel Mühe hat und dabei wenig einheimst. Ganz anders steht ein gewiegter Klinkenputzer oder Ladenstoßer da. Natürlich muss ein solcher mit allen Hunden gehetzt, mit allen Ölen gesalbt sein, wenn er seinen Beruf gründlich und erfolgreich ausüben will. Er geht gleichmütig von Laden zu Laden, nicht ohne besondere Kniffe dabei anzuwenden, wie sie die Gelegenheit gerade erfordert. Völlige Neulinge gibt es unter den Ladenstoßern so gut wie keine; dazu gehört viel zuviel Berufserfahrung und natürlich auch ein nicht unbeträchtliches Quantum von Abgebrühtheit. Niemals würde so ein armer Teufel von Gelegenheitsbettler es fertig bringen, in einen mit Käufern gefüllten Laden zu gehen. Der Ladenstoßer aber macht gerade in solchen Situationen das beste Geschäft. Der Frau Schlächter- oder Bäckermeister ist es angesichts ihrer Kundschaft natürlich sehr unbequem, diesen »Kunden« abzuweisen, so gern sie es sonst wohl täte. Im Gegenteil; um sich bei ihrer Kundschaft in das Licht einer besonders mildtätigen Seele zu setzen, gibt sie unter diesen Umständen meistens eine reichlich bemessene Gabe. Der Aristokrat unter den Bettlern aber ist der Stucker. Der klettert nicht treppauf - treppab, klappert auch nicht die Ladengeschäfte ab. Er hat seinen festen Platz an irgendeinem belebten Verkehrsknotenpunkt, vor einem Warenhaus, an der Untergrundbahn, auf einem Rummelplatz usw. Durch stillschweigende Übereinkunft wird ihm dieser Platz von keinem Zunftgenossen streitig gemacht. Gerissen, wie er auch für dieses Spezialgebiet ist und sein muss, arbeitet er mit allen nur erdenklichen Tricks, mit blauer Brille, Krücke oder sonstigen Requisiten, die geeignet sind, schwere körperliche Gebrechlichkeit vorzutäuschen und somit die Mildtätigkeit der Vorübergehenden anzuregen. Schwächeanfälle spielen eine gewisse Rolle dabei.
Thiele sah, wie der Zahme Willi gerade in einem Bäckerladen verschwand. Dadurch ermutigt, begab er sich jetzt selbst in ein Haus. Mächtig klopfte sein Herz, als er die Treppe hinanstieg. Auf jedem Treppenabsatz blieb er ängstlich eine Weile stehen. Immer wieder regte sich in ihm ein letzter Rest von Schamgefühl, der ihn beinahe zwang, auf halbem Wege wieder umzukehren. Dann aber dachte er daran, was er in den letzten Wochen durchgemacht hatte. Es stieg in ihm hoch und trieb ihn weiter voran. Und der Gedanke an den Erfolg seiner Kumpane besiegte schließlich den letzten inneren Widerstand. Was sie konnten, musste er auch können - oder zugrunde gehen. Man hatte ihm gesagt, dass er im obersten Stock anfangen und dann tiefer gehen müsste. Er gab sich einen Ruck und stieg weiter. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis er ganz oben war. Jetzt kam das Schwerste. Bloß nicht nachdenken! Allen Mut zusammengenommen und - herzhaft geklopft! Es schien überhört worden zu sein. Nun zog er an der Türklingel. Schrill schlug die Glocke in der Wohnung an. Abwartend stand er da; das Blut stieg ihm in den Kopf. Er hätte vor Scham vergehen mögen. Seine eigene Frau hätte ihn hier so sehen müssen, ihn, Wilhelm Thiele, den früher so selbstbewussten, dünkelhaften Verächter allen Schnorrertums!
Jetzt hörte er jemand schlürfenden Schrittes zur Türe kommen, eine Sicherheitskette klirrte, die Tür öffnete sich einen Spalt breit, er wollte irgend
etwas sagen-------da knallte die Tür ihm vor der
Nase zu.
So-o-o schlimm hatte er sich die Sache denn doch nicht gedacht! Das ging über sein Vermögen; dazu war er nicht der geeignete Mann. Nein, lieber verrecken, als solche Demütigung noch einmal ertragen. Langsam ging er die Treppe hinab, trat auf die Straße und sah sich um. Einige Häuser entfernt kam der Zahme Willi gerade befriedigt aus einem Laden heraus. Als er Thiele bemerkte, kam er sofort zu ihm und ließ sich berichten. Lachend erwiderte er:
»Ja, mein Lieber, da muss man schon een bißken mehr Jeduld ha'm; so eenfach rücken die Leite ihr Jeld nich raus. Zehne jeben nischt und der elfte doch wat.«
Nun gut: Thiele wollte sein Heil noch einmal versuchen. Er nahm sein letztes bisschen Courage zusammen und ging wieder los.
Diesmal hatte er Glück: Gleich an der ersten Tür bekam er einen Sechser. Ermutigt ging er von Tür zu Tür. Als er den Treppenaufgang erledigt hatte, konnte er zusammen sieben Pfennige und noch ein Paar Stullen buchen. In den nächsten Häusern klappte es ähnlich gut.
Als man nachmittags zusammen nach dem »Nassen Dreieck« zurückmarschierte, hatte er 87 Pfennige, einige Paar Stullen und ein altes Hemd geerbt. Seine beiden Begleiter meinten, dass dies für den Anfang schon ein ganz netter Erfolg sei. Was ein bekoberter Klopper sei, könne es jeden Tag auf mindestens eine Mark bringen. Früher wäre es sogar möglich gewesen, als Klopper drei, ja, sogar vier Mark pro Tag zusammenzufechten. Jetzt aber, wo die Arbeitslosigkeit so groß sei und so viele nebenbei auf »Fahrt« gingen, da seien eben schlechte Zeiten für die richtigen »Kunden«. Die Einäugige kam ihnen schon an der Tür entgegen; sie zog Thiele sofort an einen Tisch und ließ sich von ihm berichten. Auch sie meinte, er könne zufrieden sein; es wäre schon ein ganz schönes Ergebnis. Darüber erfreut, holte er die Stullen aus seiner Tasche hervor, legte sie auf den Tisch und bat die Einäugige zu essen, wenn sie Hunger habe.
Stern und Willi standen unterdes vorn an der Theke, wo sie erst noch einen tranken. Jetzt kamen sie auch an den Tisch. Thiele wurde von ihnen dahin belehrt, dass die überflüssigen Stullen noch Geld bringen müssten. Die Einäugige übernahm den Verkauf.
Heute fühlte sich Thiele seit langer Zeit zum ersten Male wieder wohl. Er klimperte mit den Geldstücken in seiner Hosentasche und ließ sich nicht abhalten, seinen drei Freunden Bier zu spendieren.
Abends, als zum Gekreisch des Lautsprechers hinten getanzt wurde, war Thiele so in Stimmung, dass er mit einer galanten Verbeugung vor die Einäugige trat und sie zum Tanz aufforderte.
Spät erst zog man zu dreien los. Willi und seine Schickse waren sich einig darin, dass Thiele auch diese Nacht wieder auf ihrem Boden schlafen dürfe.

 

IV.

Knapp ein Dutzend Gäste waren im »Nassen Dreieck« anwesend; die meisten von ihnen saßen zusammengekrümmt an den Tischen und pennten. Draußen herrschte so ein richtiges »Sauwetter«. Durch die Scheiben, gegen die unablässig der kalte Herbstregen spülte, sah man wie durch einen Nebel die langweiligen Fassaden der Mietskasernen jenseits der Panke, die heute noch grauer, noch trostloser aussahen als sonst. Nass glänzten die schwarzen Dächer. Man fühlte sich einigermaßen wohl, weil man im Trocknen hocken konnte.
Im Hinterzimmer des »Nassen Dreieck« saßen die Weiber um einen großen Tisch herum, auf dem Berge farbigen Papiers aufgehäuft waren. Einige Frauen zerschnitten es in kleine Stücke, andere zogen dieses Papierschnitzel auf Bindfäden, die dann aussahen wie die Schwänze, welche von Schuljungen an ihre Drachen gebunden werden. Beim geplanten »Blumenfest« sollten diese Strippen als Girlanden oder als »Blumenregen« von der Decke herabhängen. Nach Frauenart ging es ziemlich lebhaft dabei zu; und während ihre welken, rauen Hände flott arbeiteten, schwatzten und tratschten ihre Zungen nicht minder fleißig. Da war die Blonde Berta, wie man behauptet - die Tochter eines Sanitätsrates aus Oberschlesien, die dafür bekannt war, nur über ganz besonders Gepfeffertes lachen zu können. Heute quietschte und juchzte sie in einem fort und rief immer wieder: »Hör auf! Hör auf! Oh! Ich kann nicht mehr. Kinder, ich mache mir ganz nass!«
Äpfelchen, eine kleine Bucklige, auf deren Wangen die Schwindsuchtrosen grell blühten, erzählte die allen längst bekannte Sache mit dem Baron, der auf ihren Buckel angeblich so pervers scharf war und sie deshalb partout heiraten wollte. Sie erzählte diese Geschichte mit einem solchen Ernst, dass man fast annehmen konnte, sie glaubte selbst daran. Die anderen Weiber zogen sie auf und hatten ihren Spaß mit ihr.
Jetzt war die Einäugige, die bisher geschwiegen hatte, an der Reihe, aus ihrem Leben etwas zum besten zu geben. Vorsichtig schaute sie nach der Uhr, die über der Theke hing, um sich zu überzeugen, dass der Zahme Willi vorläufig noch nicht kommen würde. Dieser liebte nämlich einen derartigen Austausch von Vertraulichkeiten unter den Weibern ganz und gar nicht. Er hatte seine Gründe dafür!
Nachdem Käthe, die Einäugige, ihre dünnen, trocknen Lippen mit der Zunge angefeuchtet hatte, begann sie zu erzählen. Alles lauschte gespannt. Als sie die feinen Herren erwähnte, zu denen sie als Vierzehnjährige von ihrem eigenen Vater mit Kragenknöpfen hausieren geschickt wurde, warfen sich die Weiber lüsterne Blicke zu, machten keineswegs zweideutige Bemerkungen und wollten alles ganz genau wissen.
»Een so'n bessern Herrn sollt' ich 'n Tripper verschafft ha'm«, fuhr Käthe ungeniert fort. »Det wa aber eenfach jlatt jelogen«, beteuerte sie. Dann schilderte sie, wie man sie eines Morgens ganz früh aus dem Bette geholt und durch die Polizei in ein Krankenhaus gebracht hatte.
»Von da ha'm se mir in eene Erziehungsanstalt gebracht; da wollten se eene Anständije aus mir machen, so sagten se. Eenes scheenen Dages bin ick aber jetürmt. Vonwejen liebevolle Behandlung un so! Nee, ick danke! - Brr! - Na un denn bin ick nach eene Adresse jejangen, die mir drin eene jejeben hatte; von da bin ick denn weiter nach Hamburg gemacht, wo ick in eenen wirklich pikfeinen Salong angestellt wurde. Na un später - - - wo ick eenunzwanzig war, da konnten se mir nich mehr brauchen, da bin ick dann zurückjekommen nach Berlin. Janz keß bin ick persönlich nach de Dicksenstraße zum >Fleischbeschauer< jejangen un habe mir den Freipass (d. h. Kontrollbuch) jeholt. De erste Zeit wohnte ick mit Vadern zusammen in eenen nassen Keller, wat natierlich een bißken unbequem war, denn man hat doch schließlich ooch sein Schamjefiehl, nich wah? Wenn een Freier in die Bude kam, musste der Olle immer erst raus un
draußen warten, bis wir fertig warn. Nu-------un
eenes Dags kam mir der Willi in de Quere. Damals handelte er mit >Spezial<. Wat er vakoofte, fabrizierte er sich selbst. Ick weeß det noch wie heite: Ick holte ihm immer for zwanzig Pfennige zwee
Pfund Schlemmkreide, for'n Jroschen Wiener Kalk un for'n Sechser Zinnoberrot. Det Janze hat er denn ordentlich jemengt un eenen Eßlöffel voll ist er denn in Papierbeutel. Uff die hatte er vorher schon eenen Stempel ruffjedrickt: >Möbel-Putz Ideal<. So'ne Tiete vakoofte er fo zwee Jroschen. Det Jeschäft ging damals janz jut; bis Willi een Diebeken jemacht hatte. Dadruff kriegte er zwee Jahre. Wat ick da durchjemacht habe, det kann ick eich jar nich erzählen. Als er wieder rauskam, da war er fertig, - na un denn ha'm wir nachher keene Bleibe jehabt, un denn jing det eben so weiter, wie det manchmal so jehn duht...«
Im »Nassen Dreieck« war es inzwischen voller und voller geworden. Die von der »Fahrt« zurückgekehrten »Kunden« standen um den heißen Ofen herum, um ihre nassen Lumpen am Leibe trocknen zu lassen. Ein ekler, scharf nach Schweiß riechender Dampf stieg auf. Die Frauen machten Schluss mit der Arbeit, packten ihren Papierkram zusammen und gingen zu den Männern. Die Einäugige sah zu, wie der Hausdiener ein Plakat malte. Als er damit fertig war, half sie ihm, einen passenden Platz zum Aufhängen zu suchen, besorgte von München einige Reißnägel und reichte sie ihm zu. Neugierig kamen die Gäste herzu und buchstabierten:

Achtung! Achtung!
Sonnabend über Acht Tage!
Großes Blumenfest der Notverordnung
Eintritt frei! Idioten erhalten Vorzugskarten!
Laut Notverordnung: Garderobenzwang! Herren Gesellschaftskleid. Damen: Deklotiert. Ehemalige Insassen von Heilanstalten und Trinkerheimen nur durch Einführung zugelassen oder sind an die Leine zu führen. Tanzleitung und Einladung von Weltmeister Veilchenauge.-------
Das Komitee.

Alle freuten sich schon im voraus auf den Klamauk und das Gaudium.

Wilhelm Thiele hatte sich inzwischen schon an sein neues Leben gewöhnt. Anfangs fiel es ihm unsagbar schwer; besonders mit der Bettelei war es oftmals fürchterlich. Öffnete eine junge Frau oder ein Kind die Tür und fragte nach seinem Begehr, schien es ihm fast unmöglich, seine Bitte um eine Gabe zu äußern. Schließlich aber gewöhnt sich der Mensch unter dem Zwang der Verhältnisse an alles. Allmählich stumpft man ab, bekommt ein dickes Fell über die feinnervigen Organe des Innenlebens, wird zu einer Art Robot, der alle Impulse für sein Tun und Lassen von fremden Bewegungskräften, unabhängig von eigenem Denken und Fühlen, erhält. Wie wäre es sonst überhaupt möglich, ein solches Hundeleben zu ertragen???
Noch immer schlief Thiele mit dem Zahmen Willi und der Einäugigen zusammen auf dem Boden in der Wiesenstraße. In der ersten Zeit hatte er jeden Tag seine erbettelten Groschen bis zum letzten Pfennig in Muttchens Kasse wandern lassen und lebte nur von den Stullen, die er vom
Fechten brachte. Auf die Dauer ging das aber nicht so weiter: er wollte wieder heraus aus dem Dreck! Jetzt hatte er sich sogar schon ein paar Mark beiseite legen können, hatte sich im »Nassen Dreieck« von einem andern Kunden für einige Mark ein Paar getragene, aber noch gut erhaltene Schuhe gekauft. Jeden zweiten Tag und des Sonntags aß er bei Muttchen für zwei Groschen etwas Warmes. Sein Wunschtraum war, im Logierhaus ein Bett nehmen zu können. Die sieben Groschen pro Tag hätte er mit Mühe und Not jetzt schon aufbringen können; aber dann wäre es mit dem warmen Essen vorbei gewesen.
Während der Zahme Willi mit dem Dicken Stern und einigen Weibern an der Theke stand und sie eine Weiße nach der andern tranken, saß Thiele am Tisch und verzehrte einen Napf voll Löffelerbsen. Die Einäugige saß ihm, ihn unauffällig beobachtend, gegenüber. Ohne aufzusehen fühlte er diese Blicke und machte sich seine Gedanken darüber. Er wusste, dass Willi ihr nie etwas Warmes zum Essen kaufte, weil er der Ansicht war, dergleichen sei Luxus für Leute wie sie. Ihre heißhungrigen Blicke aber verrieten nur allzu deutlich, wie überaus gern sie einmal etwas anderes als immer nur Stullen und Schrippen gegessen haben würde. Von diesen Gedanken angeregt, schob Thiele ihr seine noch halbvolle Schüssel über den Tisch hin einladend zu:
»Da! Wenn de weiteressen willst? Anstecken wirste dir ja nich; ich bin ja jesund!«
»Aach!« seufzte sie gedehnt, »det is det
wenigste; aber du bist doch selber noch nich satt...«
Mit einer gemacht prahlerischen Pose nickte Thiele ihr aufmunternd zu und sagte von oben herab:
»Wenn ick wollte, könnte ick mir ja noch eene Portion jeben lassen; ick habe noch Jeld.«
Beruhigt nahm die Einäugige jetzt den Napf an sich und aß ihn leer. Die Schüssel beiseite schiebend, fuhr sie sich mit dem Handrücken über den Mund, schaute Thiele zufrieden an und sagte:
»Hat jut jeschmeckt; mal wat anderet. Aber du weest ja, wie komisch Willi in die Sachen is.« Dabei blickte sie ängstlich nach vorn, wo Willi, schon erheblich angesäuselt, noch immer weitersoff. Sie stand auf und ging zu ihm. Thiele folgte ihr. Willi am Rock ziehend, sagte sie halb zitternd, halb schroff: »Du sollst nich so viel drinken!«
Wütend drehte sich der Zahme um und fuhr sie an: »Lass mir in Ruhe, Mensch! Jeh los!«
Und Thiele bemerkend, fuhr er fort:
»Komm her, oller Junge, drink een mit. Lass die Weiber meckern. Det Leben is doch bloß im Suff zu erdragen. Ha'k recht oder stimmt's? Wat?«
Er nahm einen zünftigen Schluck aus dem Landwehrtopf und fing an, das Bruchstück eines alten Schlagers zu grölen...
Albert Stern bemerkte einen Bekannten, der eben zur Tür des »Nassen Dreieck« hereinkam.
»Ah!« rief er laut, worauf auch Willi sich umdrehte und, lebhaft winkend, dem Ankömmling zurief:
»Schaler Hermann, oller Kronensohn, komm, jenehmige eenen!«
Die beiden begrüßend, blickte der Hinzugetretene fragend auf Thiele.
»Hier«, stellte der Zahme mit versoffener Stimme vor: »Det is mein Freund un Schlummerjenosse Thiele,-------un det hier (gegen Thiele gewendet), det is mein oller Freind Hermann, Naturforscher un Fuhrwerksbesitzer in eener Person... « Der Zahme Willi reichte Hermann die Molle Bier und sagte: »So, nu drink erst mal, ollet Sumpfhuhn!«
Mit einer ausdrucksvollen Grimasse lehnte der Aufgeforderte ab: »Ick koofe mir meinen Becher alleene; - du weest, ick habe nie mit andern zusammen aus eenen Topp drinken können.« Auf Thieles erstaunten Blick hin erklärte er weiter: »Det schmeckt mir nich, - ick ekele mir neemlich.«
Der Dicke Stern lachte laut los: »Williken, lass den Mann; drinken wir eben unser Dröppken alleene...«
Hermann bestellte sich einen Becher, aus dem er sogleich einen kräftigen Schluck nahm. Er war ein merkwürdiger Kerl, dieser Schalbruder. Man hätte ihn auf fünfzig, aber auch auf sechzig Jahre schätzen können. Die Haut seines Gesichts war von Wind und Wetter rau und fest und hatte eine gesunde Farbe. Buschige rote Brauen saßen über unwahrscheinlich kleinen munteren Augen; unter einer kräftigen Nase hing ungepflegt ein struppiger Bart. Seine Hände waren groß und kräftig. Etwas ungemein Komisches gab aber die Kleidung dieses
Menschen. Sie bestand sozusagen nur aus nachlässig zugeflickten Löchern, eine Vogelscheuche würde diesem Kostüm gegenüber noch elegant erschienen sein. Als dieses Unikum sein Bier ausgetrunken hatte und sich wieder verabschiedete, fühlte Thiele beim Handschlag, dass die Hand des Schalers innen hart und rau wie ein Reibeisen war. Der Beruf brachte das mit sich.
Thiele kehrte zur Einäugigen, die dumpf und brütend im Hinterzimmer allein am Tisch saß, zurück. Sie tat ihm leid. Tröstend sagte er zu ihr: »Mach dir nischt draus!«
Abweisend die Schultern hochziehend, erwiderte sie kalt: »Ach wat, ick bin det schon jewöhnt.«
Mitleidig ergriff Thiele ihre Hand und streichelte sie zärtlich. Da sprang die Einäugige auf und lief nach vorn.
Thiele nahm sich vor, bei passender Gelegenheit einmal mit dem Zahmen über die Einäugige zu sprechen. Er fand, dass jener sie nicht richtig behandelte.
Bis ein Uhr nachts war der Zahme nicht von der Theke wegzubringen gewesen. Endlich weigerte sich Muttchen, ihm noch mehr auszuschenken. Er habe bereits übergenug, sagte sie, und außerdem habe er bereits eine solche Latte bei ihr stehen, dass sie nichts mehr pumpen wolle. Er solle erst einmal seine Schulden bei ihr abbezahlen. Wütend wollte er etwas erwidern, wagte aber doch nicht, allzu laut zu schimpfen, sondern räsonierte nur so vor sich hin. Als er sah, dass das nichts fruchtete, ging er ---d.h. er wollte gehen. Er war aber so betrunken, dass er hin und her taumelte und ohne Hilfe nicht weit gekommen wäre. Thiele und die Einäugige schleppten ihn mühsam die Straße entlang.
Da beide die Unmöglichkeit erkannten, den schwerbetrunkenen Kerl die Treppe zu ihrem gemeinsamen Bodenquartier hinaufzuschaffen, ohne die Aufmerksamkeit der Hausbewohner zu erregen, entschlossen sie sich notgedrungen, der kalten Herbstwitterung zum Trotz, die Nacht im Freien zu verbringen. Mit ihrer bisherigen »schönen« Schlafgelegenheit wäre es zu Ende gewesen. So schleppten sie also die bleischwere Bierleiche des Zahmen Willi in einen nahe gelegenen Park, wo sie ihn auf einer Bank derart hinlegten, dass auch für sie beide noch ein Plätzchen zum Beieinandersitzen übrig blieb. Nass und kalt fielen die Tropfen des Nachttaus aus den Baumzweigen auf sie herab. Ganz dicht rückten die beiden aneinander, um nicht zu sehr zu frieren.
Wie schon so viele Nächte des Elends ging auch diese schließlich zu Ende. Am anderen Morgen, wieder im »Nassen Dreieck« eingetrudelt, saß der Zahme mit brummendem Schädel da und trank schweigsam seinen Morgenkaffee, den Muttchen ihnen gutherzigerweise auf Pump gegeben hatte. Sein Gesicht sah blassgrün aus, und die Augen waren dick geschwollen. Ehe er wie üblich wieder auf »Fahrt« ging, ließ er sich vom Muttchen die Aufrechnung vom gestrigen Abend zeigen, die er verdammt hoch fand. Muttchen liebte es nicht, wenn man in solchen Dingen viel redete, und sagte ihm kurzangebunden: wenn er glaube, dass
sie ihn übers Ohr gehauen habe, dann solle er man in Zukunft dahin gehen, wo man ihm pumpe und sich obendrein dafür noch dummkommen lasse. Schweigend nahm er das hin.
Auf dem Wege zu ihrem heutigen Fechtbezirk schritten Thiele und der Zahme eine Weile schweigend nebeneinander hin. Vorsichtig tastend, fing Thiele zuerst an zu sprechen. Anscheinend so beiläufig brachte er das Gespräch auf die Einäugige und meinte, es sei doch eigentlich nicht richtig und nicht gut, wie er (Willi) sie behandle, -das arme Aas könnte einem mitunter direkt leid tun. Mit halboffenem Munde starrte der Zahme ihn an. Seine Stimme schnappte förmlich über, als er Thiele zubrüllte:
»Kümmere dir jefälligst um den Dreck in deine eijene Neese!«
Und wenn das Luder sich erlauben würde, ihn bei anderen Leuten anzuschwärzen, dann wollte er ihr schon die Mandeln streicheln. Im übrigen sollte Thiele ihm den Buckel runterrutschen und zum Teufel gehen. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, sich von solchem Drecksack wie Thiele Vorschriften machen zu lassen. Mit wutverzerrtem Gesicht war er stehen geblieben und schrie zuletzt so laut, dass die Vorübergehenden aufmerksam wurden.
Thiele war im höchsten Grade bestürzt. Eine solche Wirkung seiner arglos gemeinten Worte hatte er nicht erwartet. Verständnislos stierte er dem Zahmen nach, der ihm den Rücken zugekehrt hatte und erbost davongegangen war.
Erst am Abend trafen sich die beiden im »Nassen Dreieck« wieder. Als Thiele das Lokal betrat, stand der andere an der Theke und war schon wieder halb besoffen. Thiele, der gespannt nach ihm hinblickte, bemerkend, wandte sich der Zahme absichtlich von ihm ab. In der Erkenntnis, dass ein Aussöhnungsversuch jetzt zwecklos sei, ging Thiele nach dem Hinterzimmer. Die Einäugige fabrizierte mit den anderen Frauen wieder Blumenregen und nickte ihm, als sie ihn bemerkte, flüchtig zu. Dann beugte sie sich wieder über ihre Arbeit.
An diesem Abend gab es noch einen kleinen Skandal. Als der Zahme Willi zum Tisch der arbeitenden Weiber kam, packte er die Einäugige, die ihn gar nicht bemerkt hatte, beim Haar und stieß ihren Kopf brutal nach vorn, dass ihr Gesicht auf die Tischplatte klatschte. Nicht einen Laut gab die Misshandelte von sich. Gleichmütig blickte der Zahme auf die über ihn fluchenden Weiber, gab der Einäugigen noch mit der Faust einen Stoß ins Genick und wandte sich dann mit umnebeltem Blick nach Thiele, den er wütend anbrüllte:
»Passt dir wat nich? He, du-u-u? Mach de Fresse uff, wenn de wat zu sagen hast. Feine Dame, die da-------soll ick woll behandeln wie 'ne Prinzessin, diese kleene Sechsernutte... «
Thiele riss all seine Selbstbeherrschung zusammen. Der armen verschüchterten Frau wegen, auf die sonst alles zurückgefallen wäre.
Als der Zahme sah, dass Thiele ruhig blieb, ging er mit einem blöden Lachen zur Theke zurück, um weiter zu saufen.
An diesem Abend nahm sich Thiele zum ersten Mal in Muttchens Logierräumen ein Bett. Der Hausdiener, der ihn nach hinten brachte, belehrte ihn, was ein Logiergast tun dürfe und was nicht. Mit acht anderen Kunden schlief er in der engen Stube zusammen.
Nachdem er sich in der Küche unter der Wasserleitung gründlich gewaschen hatte, ging er frühzeitig zu Bett. Seit vielen Wochen zum ersten Male konnte er die Kleider vom Leibe ziehen. Welche Wohltat! Wie neugeboren fühlte er sich. Auf der weichen Unterlage drehte und streckte er wohlig den vom Pennen auf dem Treppenboden zerschundenen Körper. Sofort schlief er ein, so fest ein, dass er nicht einmal bemerkte, wie seine Zimmergenossen ihr Lager aufsuchten.
Früh am Morgen, als es noch dunkel war, wachte er auf. Die Luft im Zimmer war dick und setzte sich kratzend in der Kehle fest. Aus den Betten der Stubengenossen vernahm er lautes Stöhnen, Prusten und Schnarchen. Er drehte sich auf die andere Seite und versuchte wieder einzuschlafen, was ihm aber misslang. Unruhig wälzte er sich hin und her, grübelte, dachte an die beiden, mit denen er so viele Wochen lang oben auf dem Boden geschlafen hatte. Es tat ihm leid, dass er den Zahmen Willi so gegen sich aufgebracht hatte. Seine Absicht war doch nur gut gewesen, nur ganz freundschaftlich wollte er mit ihm über die Einäugige sprechen, deren freudlos-armseliges Leben ihn beinahe mehr schmerzte als sein eigenes Elend. Stundenlang lag er mit offen Augen und dachte nach.
Der Schläfer im Bett zu seiner Linken regte sich jetzt, und als Thiele hinsah, erkannte er den Dicken Stern, der in einer knallroten Unterjacke unter der Bettdecke hervorkroch. Mit einem Grinsen, das unzertrennlich zu seinem Gesicht zu gehören schien, blickte er Thiele an und sagte:
»Na weeßte, det ist aber wirklich 'ne Überraschung!«
Dann setzte er sich aufrecht ins Bett und kramte aus seinen Kleidern eine Mutzpfeife hervor, die er stopfte und anzündete. Den Qualm in dichten Wolken auspaffend, stöhnte er behaglich: »Jetzt fehlt nur noch der Kaffee ans Bett...«
Auch Wilhelm Thieles rechter Nachbar war lebendig geworden. Er hatte diesen sonderbaren Kauz bisher noch nie im »Nassen Dreieck« gesehen. Sein verhutzeltes Gesicht war voll grauer Stoppeln; auch das Kopfhaar war borstig und grau. Unter einer auffallend flachen Stirn saßen ein Paar so jugendlich blanker Augen, dass sie gut und gern einem Zwanzigjährigen hätten zugehören können. Lebhaft blitzend fuhren sie beständig umher und nahmen jeden Blick eines Beobachters sofort derart gefangen, dass man alles übrige an ihrem Besitzer beinahe übersah.
Im Bette kauernd, machte der Alte eine komisch wirkende Verbeugung gegen Thiele und begann wie ein aufgezogenes Uhrwerk zu schnarren:
»Ah, sieh da, ein neuer Herr Mitschläfer! Gestatten, mein Verehrtester-------man muss doch wissen, mit wem man nebeneinander liegt-------, Paul
Krüger ist mein Name; - Paul Krüger, ganz leicht zu merken. Haben Sie - hem, haben Sie Lumpen-Krüger gekannt? Ja, Lumpen-Krüger! Oh, der
hatte viel Geld-------aber mit dem habe ich nichts
zu tun. Sie sind wohl neu hier, wie? Na, wir werden uns ja noch oft genug sehen. Wenn man erst einmal hier gelandet ist, gibt's schwer ein Zurück. Komischer Laden, das hier, mein Herr; werden es ja noch merken.«
Umständlich kroch er aus dem Bett, zog die abgetretenen Stiefel auf seine nackten Füße, die an dünnen haarigen Beinen saßen, und fuhr dann in seine viel zu lange Harmonikahose. Grinsend beobachtete der Dicke Stern diesen Vorgang und sagte zu Thiele:
»Du, det es dir der Schlankste; drei Häuser hat er versoffen - traut man ihm jar nich zu, dem ollen Knacker, wat?«
»Hab ich auch, hab ich auch«, kreischte der Alte und klappte blitzschnell mit den Augendeckeln. Immer weiter vor sich hinbrabbelnd, verschwand er hinter der Küchentür.
In Muttchens Schnapsbude sah Thiele sich vergeblich nach der Einäugigen um. Der Zahme sei gerade vor einem Augenblick auf Fahrt gestiegen, erzählte man ihm. Auch am Abend war die Einäugige nicht zu sehen. Willi schien gegenwärtig seine Saufsträhne zu haben und stand schon wieder benebelt an der Theke.
Muttchens weibliche Stammgäste erzählten Thiele, dass der Zahme die Einäugige mächtig abgebürstet habe, als sie gestern nacht »nach Hause« gegangen seien. Mit zerschlagener Nase und zer-
schundenem Gesicht habe man sie in der Nähe des »Nassen Dreieck« herumlungern gesehen. Den Frauen gegenüber hatte sie geäußert, dass sie mit dem versoffenen Schwein nichts mehr zu tun haben wolle. Aber anstreichen würde sie ihm das schon noch, diesem »schofeln Luden«...
Dieser tobte am anderen Morgen wie ein Irrsinniger in der Kneipe herum. Aus seinen wüsten Schimpfereien erfuhr man schließlich den Grund seiner Wut. Seine Schickse hatte ihm den Boden vermasselt! Oben auf der Bodentreppe hatte sie sich heimlich hingesetzt und sich - gründlich entleert!!! Als er (der Zahme) dann vorige Nacht zwar solo, aber doch völlig ahnungslos zu seiner geliebten Matratze emporschleichen wollte, sei die Hölle über ihn losgebrochen. Mit Knütteln und Fäusten habe man blindlings auf ihn eingeschlagen und ihm zugerufen, dass man nicht daran denke, sich von solchem Pennerzeug das Haus verdrecken zu lassen.
Einmütige Empörung über diese Schandtat der Einäugigen erfüllte das »Nasse Dreieck«.
»So een jemeinet Aas.«
»So 'ne scheinheilige Töle, eenen anständigen Penner den Boden zu vermasseln!«
Durch diese Solidaritätskundgebungen gewissermaßen geschmeichelt, soff der Zahme Molle um Molle, die ihm von seinen Saufkumpanen als Beileid gespendet wurden. Wie ein gereizter Stier lief er herum und brüllte von Zeit zu Zeit immer wieder:
»Ick haue se zu Puppendreck, wenn se ma unter de Finger kommt - det vafluchte Mistvieh, det!«
Die so Bedrohte blieb aber verschwunden; nichts mehr war von ihr zu sehen noch zu hören. Nach einigen Tagen hatte der Zahme Willi sich anscheinend ausgetobt. Mit einer ins Grünliche schimmernden Leichenblässe im Gesicht saß er bei den Weibern und klagte ihnen sein Leid. Um ihm gefällig zu sein, kramten sie vor ihm alle nur erdenklichen Schlechtigkeiten aus, die sie der Einäugigen anhingen. Er bekam Mitleid mit sich selbst und fing jämmerlich an zu heulen. Der Dicke Stern kam und tätschelte ihm tröstend die Backen:
»Aber Williken, sei doch een Mann! Kopp hoch, Mensch! Nu ja, lass det Wasser man loofen; det schadt nischt - irgendwo muss et ja schließlich doch rauskommen ... « Mit diesen Worten ging er zur Theke zurück und ließ sich von Muttchen einen Korn geben.
Das Sauwetter wollte nicht abreißen. Der Himmel blieb grau; ohne Unterbrechung prasselte der Regen gegen die Scheiben. Bei dem Wetter gingen viele der Kunden erst gar nicht hinaus, sondern saßen herum oder fläzten den Kopf auf die Tischplatte und pennten. Jeder, der von draußen kam, vermehrte den ekelerregenden Geruch nasser Kleider, der so widerwärtig jede empfindliche Nase belästigt und einem fast den Atem benimmt.
Im Hinterraume arbeiteten die Weiber mit einigen jungen Burschen und dem Hausdiener an der Fertigstellung der Blumendekoration. Der
»Blumenregen« wurde an die Decke genagelt. Das Fest stand vor der Tür.
Heute kam Thiele schon früh von der Fahrt zurück. Er hatte keine rechte Lust gehabt. Die Sache mit der Einäugigen wollte ihm nicht aus dem Kopf kommen. Und dazu noch dieses Wetter! Die Kleider klebten ihm förmlich am Leibe fest, sie waren zum Auswringen. Am Ofen wärmte er sich zunächst ein bisschen; dann holte er sich eine Tasse Kaffee und setzte sich an einen leeren Tisch. Immer mehr Kunden kehrten vorzeitig aus ihren Revieren zurück, schlenkerten mit gequältem Lachen das Regenwasser von ihren Mützen oder Hüten und fluchten gottesjämmerlich, wobei sie sich wie nasse Köter schüttelten. Thiele sah vorn an der Theke den dicken Schädel von Albert Stern auftauchen; nicht lange danach kam letzterer zu ihm an den Tisch.
»Na, det is ja een dollet Wetter heite«, schimpfte er.
»Sauwetter, verdammt noch mal«, bestätigte Thiele.
Nachdem beide eine Weile geschwiegen hatten, platzte Stern plötzlich los: »Willi ha'm se in't Krankenhaus jebracht!«
»Wat de nich saachst?!« rief Thiele ungläubig erstaunt.
»Jeje, det stimmt schon, wat ick sage«, bekräftigte Stern und fuhr fort: »Det mit de Käthe is den Jungen mächtig an de Nieren jejangen, - da hat er sich sein bißken, vastehste, janz wegsaufen wolln. Seine Kaidaunen werdn ja scheene Oogen gemacht ha'm, als so plötzlich - uff een Ruck - een janzer Liter >Brennabor< runterjekluckert kam. Junge, Junge, - wenn ick ma det so vorstelle,----brrr!«
Er schüttelte sich, als ob er eine Gänsegalle verschluckt hätte.
»Ick muss ma direktemang zu Muttchen bejeben un det ieble Jefiehl niit'n Körnken runterspielen.«
Am nächsten Besuchstag gingen sie zu Willi ins Krankenhaus. In der sauberen blau-weiß-gestreiften Krankenkleidung war er fast nicht wieder zu erkennen. Ziemlich hinfällig und blass sah er aus.
»Wie Braunbier mit Spucke!« glossierte der gutgenährt aussehende Stern. Man hatte dem Zahmen den Magen ausgepumpt und ihn zunächst auf strenge Diät gesetzt. Im allgemeinen fühlte er sich wieder leidlich wohl; nur im Magen und in den Eingeweiden brannte und stach es noch in einem fort. Nach seinem Befinden befragt, erwiderte der jetzt wirklich recht zahme Willi süß-sauer lachend: »Ick lebe hier wie ne Made in'n Speck!«
Was ihn am meisten beunruhigte und was er von seinem Besuch vor allem erfahren wollte, war, ob seine Käthe inzwischen wieder im »Nassen Dreieck« gewesen sei. Als das verneint wurde, war er sehr enttäuscht. Jetzt wollte nun er so schnell wie möglich aus diesem »stinkijen Karbolkasten« wieder hinaus.
Am kommenden Sonnabend sollte das vielbesprochene Blumenfest stattfinden. In den letzten Tagen davor hielten die Stammgäste des »Nassen Dreieck« ihre Bettelsechser fest, damit sie beim Fest etwas springenlassen konnten.
Der langersehnte Tag war endlich da! Schon am späten Nachmittag ging der Rummel los. Der Saftladen war zum Bersten voll. Dicker, beißender Qualm von Zweipfennig-Zigaretten und billigstem Pfeifenknaster hing wie ein undurchdringlicher Wolkenhimmel unter der Decke, aus dem die Buntpapierbehänge, rhythmisch bewegt, phantastisch herabbaumelten. Im hinteren Raume war der Hauptbetrieb. Auf einer Handharmonika wurde zum Tanze aufgespielt, wobei der Spieler mit wackliger Stimme den zotigen Kehrreim grölte. In der Mitte des überfüllten Raumes ballten sich die Tanzenden wie ein Wespenschwarm zusammen, der sich schwerfällig hin und her schob. Ein ekelhafter, widerlicher Geruch von schwitzenden, schmutzigen Frauenleibern erfüllte jeden Winkel dieses »Tanzsaales«.
Einige der Gäste hatten sich besonders kostümiert. Äpfelchen, die kleine bucklige Baronin in spe, hatte sich Männerhosen angezogen, die, viel zu lang für sie, ihr immerzu unter die Absätze gerieten. Auf dem Haupte trug sie mit vieler Würde einen Elfenring aus Papier. Verschiedene von den Männern hatten ihre Kluft mit den schäbigen Fetzen einiger Frauen ausgetauscht, liefen also in Weibertracht herum, wobei sie sich, wenn ein unternehmungslustiger Schwerenöter an ihre ausgestopften Brüste tasten wollte, wie eine alte Jungfer zierten und mit hochgeschraubter Stimme scheinbar entrüstet abwehrten. Mit dem Dicken Stern vor der Theke stehend, schaute Thiele sich lächelnd das Getriebe an. Muttchen, die ihm hinter der Theke gegenüberstand, sah schmunzelnd zu, wie ihr Hausdiener unablässig Bier und Schnaps einschenkte. Als Thiele zufällig einen Blick zu ihr hinüberwarf, bemerkte er zu seiner Überraschung, dass Muttchen sich zur Feier des Tages feingemacht hatte und wirklich ganz nett aussah. Donnerwetter noch mal, ein ganz appetitliches Frauchen! fuhr es ihm durch den Sinn. Mit solchen Augen hatte er sie noch nie angesehen. Das Kleid stand ihr tatsächlich sehr gut und ließ - für seine Begriffe - reichlich viel von ihrem Körper sehen. Trotz Muttchens ausgesprochen schlanker Linie waren die Schultern wohlgeformt, und der am vorderen Kleiderausschnitt sichtbare Brüsteansatz schien ihm einer eingehenden Erforschung wohl wert.
Während er sich, scheinbar ganz Ohr, laut brüllend mit dem Dicken Stern unterhielt, um sich des im Räume herrschenden Lärms wegen verständlich zu machen, musste er doch immer und immer wieder zu der Frau hinter dem Ladentisch hinblicken. Diese hatte das längst bemerkt und wohl auch das merkwürdig Fragende, Suchende, das in seinen Blicken beredt zum Ausdruck kam. Ihr Kleid, das ein wenig von der Schulter herabgeglitten war, unauffällig ordnend, blickte Muttchen jetzt gerade auf Thiele, dessen Blick dem ihrigen begegnete. Ihm schien, als habe sie ihm zugelächelt. Auch er war ja noch ein ganz ansehnlicher Mann. Zwar schmal, aber doch kräftig gebaut. Über blauen, etwas matten Augen wölbte sich eine schöne hohe Stirn. Seine guterhaltenen festen Zähne in Verbindung mit dem kleinen rötlichen Bart unter der derben Nase verliehen seinem Gesicht einen ganz sympathischen, vertrauenerweckenden Ausdruck. Als seine Blicke jetzt wieder zu Muttchen schweiften, lächelte sie ihm wirklich freundlich zu. Scheinbar absichtslos ging sie zur Tür des Hinterzimmers, um den Tanzenden zuzuschauen. Unter einem Vorwand machte sich Thiele jetzt von dem Dicken Stern, der ihn mit Beschlag belegt hatte, los und gesellte sich zu Muttchen. Ein wenig kokett lächelte diese ihn an. Das Wasser lief ihm - sozusagen - im Munde zusammen. Sich straff in Positur setzend, verbeugte er sich vor ihr und forderte sie zum Tanz auf. Eng aneinandergeschmiegt, trippelten sie längs der Wand hin und her. Als sie aber, von den anderen Tanzenden weitergedrängt, in die Mitte gerieten, wurden sie buchstäblich aneinandergepresst. Ganz benommen fühlte er den heißen Frauenkörper durch den dünnen Kleiderstoff. Mitten im Tanze hielt er inne. Jetzt wurden die anderen Gäste aufmerksam und riefen ihm offenbar anzügliche Bemerkungen zu, die er aber in dem Trubel nicht verstehen konnte. Um sich verständlich zu machen, schnitten seine Beobachter ulkige Grimassen, begleitet von nicht mißzuverstehenden Gebärden. Er wurde plötzlich ganz rot; Muttchen aber, der das alles nicht entgangen war, wurde so ausgelassen, wie man sie im »Nassen Dreieck« bisher noch nie gesehen hatte.
Ungestört durch ernstere Zwischenfälle nahm die seltsame Lustbarkeit ihren Fortgang. Die »Damen« ließen sich von ihren »Kavalieren« spendieren: sie knabberten an Salzbrezeln, schleckten Negerküsse und nippten hier oder da an den Schnapsgläsern. Einige der Tänzerinnen, die von ihren stürmischen Partnern ganz ungeniert abgeknutscht wurden, quietschten und juchzten wie besessen. Alle waren heute in ihrer Art und Weise zufrieden - das graue nackte Elend des Alltags für ein paar flüchtige Stunden vergessen.
Spät erst waren die letzten Gäste gegangen. Nur Thiele und Muttchen saßen noch an einem Tisch beisammen. Der Hausdiener hatte die Jalousien heruntergelassen und war schlafen gegangen. Jetzt stand auch Muttchen auf, drehte das Licht aus und zog Thiele an der Hand hinter den Ladentisch zu der Tür, die in ihre eigenen Wohnräume führte. Der große Hund, der sonst ihr Schlafzimmer bewachte, musste heute vorn im Schankraum bleiben.
Nur ganz wenige von Muttchens Gästen hatten bisher den Vorzug genossen, ihre Privatgemächer zu vorgerückter Stunde betreten zu dürfen.

 

V.

Der Winter hatte sich eingestellt. Unermüdlich, wenn auch träge, wälzte die Panke ihr schmutziges Wasser vorbei. Die Schaufensterscheibe des »Nassen Dreieck«, soweit sie von innen über der gelben Zuggardine hinweg zu sehen war, hatte die ersten Eisblümchen angesetzt. Fröstelnd und hüstelnd
krochen die Gäste möglichst dicht an den eisernen Kanonenofen im Schankraum heran, der eine versengende Glut ausstrahlte.
Die Fabrikbetriebe der Umgebung wurden immer stiller, der Betrieb in den Stempelstellen für Arbeitslose in entsprechendem Maße immer reger. Doch auch die Zahl der Unterstützungsempfänger verminderte sich von Tag zu Tag. Als Ausgesteuerte wurden immer mehr der nächsten Etappe des grauen Elends, der Wohlfahrtspflege, überwiesen. Die Armee der unfreiwillig zum Bettlertum Degradierten rekrutierte sich täglich neu; sie wuchs unaufhörlich und überschwemmte schon fast die ganze Stadt.
Je größer das Heer der Heischenden, desto kleiner und spärlicher wurden die Gaben, die ihnen noch gereicht werden konnten. Nicht nur in den Arbeitervierteln, nein, auch in den Gegenden, wo der kleine Mittelstand zu Hause ist, hörte man die Leute öfter und öfter sagen: »Wir haben selber nichts mehr!«
Die Stimmung unter den Stammgästen des »Nassen Dreieck« wurde von Tag zu Tag mieser. Das Schlafgeld war nur noch von wenigen »Auserwählten« aufzutreiben.
Vom Zahmen Willi hatte man seit der Zeit, da er nach Wiederherstellung seines verkorksten Magens aus dem Krankenhaus entlassen war, nichts mehr gehört.
Thiele hatte nun schon manche Nacht hinten in Muttchens Tuskulum zugebracht. Ein eigenartiges Verhältnis hatte sich zwischen ihm und seiner
Wirtin herausgebildet. Vor der Theke war er nur Gast wie jeder andre auch. Sie behandelte ihn weder besser noch schlechter. Nur wenn sie hinten allein mit ihm war, ging sie aus sich heraus, taute ihr tagsüber gefrorenes Wesen ihm gegenüber auf. Dann überraschte sie ihn mit kleinen Geschenken, war sie unbeholfen zärtlich und lieb wie ein kleiner Tolpatsch zu ihm.

Langsam ging es nun schon auf Weihnachten zu. Einzelne Geschäfte im Innern der Stadt hatten angefangen, ihre Schaufenster für das Weihnachtsfest herzurichten. Tannenzweige waren auf Plakate gemalt oder lagen giftgrün auf weißen Hemdblusen. In manchen Auslagen stand ein putziger Weihnachtsmann und glotzte mit veilchenblauen Glasaugen auf die Vorübergehenden.
Thiele und Stern, die sich vor dem Schlafengehen ein bisschen die Füße vertreten wollten, liefen durch die Straßen wie kleine Bummler aus der Provinz. Die Geschäftsinhaber sparten Licht und hatten deshalb nur selten ein Schaufenster zu dieser Zeit erleuchtet. Wortlos gingen die beiden nebeneinander her, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Allmählich bekamen die Straßen ein anderes Gesicht. Sie waren in eine Gegend gelangt, wo man es den Häusern schon von außen ansieht, dass sie in den Vorderhäusern bis zur dritten Etage mit Treppenläufern belegt sind. An einem entfernten Knotenpunkt der Straßenflucht vor ihnen leuchtete wechselfarbig das Licht einer Verkehrsampel auf. Elegante Autos flitzten auf dem spiegelnden Asphalt fast geräuschlos an ihnen vorbei. Die Schupos, an denen die beiden vorüberkamen, schauten ihnen mißtrauisch-aufmerksam nach.
Ganz unvermittelt sagte plötzlich der Dicke Stern: »Komm, ick will dir mal wat zeigen!« - Er führte Thiele in eine Nebenstraße. Auf der Seite jenseits des Fahrdamms leuchteten die großen Scheiben eines Kaffees. Der Dicke war ganz aufgeregt. So hatte Thiele ihn noch nie gesehen. Obwohl niemand in der Nähe war, der seine Worte hätte hören können, flüsterte Stern seinem Begleiter etwas ins Ohr und wies gleichzeitig mit der Hand nach dem erleuchteten Schaufenster des Kaffees. »Wenn ick wollte, könnte ick jetzt da drüben gemütlich drinnen sitzen, könnte dicke Zigarren roochen - tja, Mensch. Du wirst mir det jar nich jlooben, un doch! Wenn ick bloß wollte, könnte ick mir einfach nach Belieben Jeld aus de Kasse nehmen - fünf Mark oder zehne, janz wie ick wollte, un keen Mensch könnte mir wat deswejen... «
Thiele glaubte, der Dicke sei übergeschnappt, und sah ihn forschend von der Seite an. Da bog sich Stern wieder flüsternd zu ihm und sagte im reinsten Hochdeutsch:
»Das ist nämlich--------mein Gescbäft!!!«
Thiele wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Als er beim Weitergehen nochmals einen Blick zu dem hellerleuchteten Kaffee hinüberwarf, entdeckte er, dass auf dem Inhaberschild tatsächlich »Albert Stern« zu lesen war. Trotzdem war Thiele überzeugt, dass sein herabgekommener Begleiter, von der Namensgleichheit bereits unterrichtet, sich einen dummen kleinen Scherz mit ihm erlauben wollte. Ohne dieses Thema weiter zu berühren, waren sie schon ein Stück Weges zurückgegangen. Da fing Stern wieder an: »Ja, ja, mein Lieber, et is wirklich so, wie ick dir jesaacht habe. Ick mach dir nischt vor.«
Und dann erzählte er dem staunend zuhörenden Thiele eine Geschichte, die so merkwürdig seltsam klang, dass er nur das wenigste davon in den tieferen Zusammenhängen und Folgerungen verstand:
Wie Stern seine Frau als Dienstmädchen bei demselben Bäckermeister, wo er als Geselle tätig war, kennen- und liebengelernt hatte. Wie sie sich beide nach und nach soviel von ihrem Lohn zusammengespart hatten, dass sie heiraten und sich draußen im Osten der Stadt eine kleine Brotbäckerei einrichten konnten. Wie sie Glück gehabt, das Geschäft florierte, so dass sie sich nicht nur gut über Wasser halten, sondern sogar etwas auf die hohe Kante legen konnten. Er selbst sei damals durchaus zufrieden gewesen und habe nie die anderen beneidet, die den dicken Wilhelm spielten und mit dem, was sie erworben hatten, protzten. Seiner Frau aber sei die Dicktuerei verschiedener ihrer damaligen Standesgenossen zu Kopfe gestiegen, und sie habe nicht einsehen wollen oder nicht können, warum der Schlachtmeister X im eigenen Wagen fahren könne oder der Bäckermeister Y draußen in Hermsdorf ein eigenes Grundstück besitze - und sie, die doch auch geachtete Geschäftsinhaber seien, nicht. Dieser Wahn, es den andern gleichtun zu können, wurde zur fixen Idee bei ihr.
Sein Junge, das einzige Kind, das sie besaßen, durfte nicht auf der Straße spielen, um nicht mit Proletenkindern zusammenzukommen und verdorben zu werden. Das Gymnasium musste er besuchen. Mindestens Doktor sollte er werden.
Unerträglich wurde diese Manie zur Großmannssucht, als seine Frau in der Inflationszeit das vorhin von außen gezeigte Kaffee gekauft hatte. Da war's um die Alte geschehen. Sie setzte Fett an wie ein Mastschwein, herrschte souverän in dem Kaffeebetrieb und schikanierte die Angestellten nach Strich und Faden. Länger als vier Wochen hielt es kein Dienstmädchen bei ihr aus. Er selbst wurde völlig beiseite geschoben, durfte tagsüber in Pyjama und gefütterten Hausschuhen zwischen Plüschdecken und Nippesfiguren untätig herumlungern, abends aber zwischen engstirnigen Spießern und kessen Nutten vorn im Kaffee sitzen.
Stern hatte sich während dieser Schilderung seines häuslichen Elends so in Hitze geredet, dass ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Ihn mit dem Handrücken abwischend, fuhr er in seiner Erzählung fort: Wie ihn das Leben unter den geschilderten Umständen schließlich angeekelt habe, wie er wild geworden sei, sich aufgelehnt und seine allen vernünftigen Argumenten unzugängliche dicke Alte öfters verprügelt habe. Wie es danach immer schlimmer, immer unerträglicher wurde, bis er es eines Tages einfach nicht mehr ausgehalten habe und durchgebrannt sei. Regelrecht durchgebrannt - wie ein grüner Junge oder ein Backfisch. Die Ta-
geskasse habe er noch mitgenommen, weil alles andere Geld von ihr verwahrt und verwaltet wurde. In seinen gefütterten Hausschuhen sei er getürmt. Einige Male habe sie seinen Aufenthalt ausspioniert und mit Schlichen und Kniffen ihn bewogen, zu ihr zurückzukehren. Lange habe er es aber nie mehr aushalten können, immer wieder sei er abgehauen. Und so führe er denn jetzt diese Lebensweise, wie Thiele sie ja kenne.
Diesem wirbelte das Gehörte im Kopfe herum. Er konnte einfach nicht begreifen, dass ein Mensch das Leben eines regelrechten Penners führen konnte, ohne durch bitterste materielle Not tatsächlich dazu gezwungen zu sein. Dass das Joch seelischer Knechtschaft, ja Sklaverei unter Umständen genauso hart zu ertragen ist wie die schlimmste rein physische Mühsal oder Entbehrung - das ging über seine derzeitige Erfahrung, über sein gegenwärtiges Begriffsvermögen hinaus. - In tiefes Grübeln versunken, schritt er neben dem auch schweigsam gewordenen Dicken Stern einher.

 

VI.

Heute hatte Wilhelm Thiele schon eine ganze Reihe Häuser abgeklappert, ohne das geringste ergattert zu haben. Vom vielen Treppensteigen war er so müde, vor Hunger elend und schlaff. Völlig entmutigt, gab er alle weiteren Versuche, ein paar
Sechser zu erbetteln, für heute auf. Es war ja doch vergeblich.
Immer öfter, immer lauter hörte man die Menschen klagen und stöhnen: »Was sind das bloß für Zeiten. Es wird nicht besser und wird nicht besser.« Auch die Stammgäste des »Nassen Dreieck« jammerten verzweiflungsvoll; das Fechten brachte ja nicht einmal das Salz zum trockenen Brot. Die älteren Kunden schüttelten verständnislos ihre grauhaarigen Köpfe und murmelten niedergeschlagen, so etwas sei noch nicht dagewesen. Sie kramten ihre Erfahrungen aus und hielten Lobreden auf die gute Zeit, in der alles tausendmal besser gewesen sei als heute. Die jüngeren hörten staunend zu, misstrauten aber den Lobpreisungen ein wenig. In der Kriegs- und Nachkriegszeit meist als Proletenkinder herangewachsen, hatten sie wenig gute Tage in ihrem Leben kennen gelernt.
Dumpf brütend, schlenderte Thiele mutlos dahin, geriet in das Gewühl eines Wochenmarktes und ließ sich vom Strom der Marktbesucher hin und her treiben. Mit leeren Einholetaschen liefen die Frauen aufmerksam spähend von Stand zu Stand, in der Erwartung, die angepriesenen Waren beim nächsten Händler vielleicht einen Pfennig billiger kaufen zu können. Ein betäubender Redeschwall aus den heiseren Kehlen der Händler und ihrer Markthelfer umwogte die zögernde Menge der Käuferinnen. Hin und her rechneten diese im Kopfe und drehten den Groschen zehnmal um, bevor sie sich entschließen konnten, ihn auszugeben. In der durcheinander wogenden Menschenmenge
entdeckte Thiele ab und zu einen Bekannten aus dem »Nassen Dreieck«, der auf dem Markt herumlungerte in der Hoffnung, irgendwie und irgendwo ein paar Pfennige verdienen oder etwas Essbares ergattern zu können.
Aus dem Getriebe des Wochenmarktes wieder in eine der Zugangsstraßen einbiegend, bummelte Thiele ziellos diese entlang. Sie war nur drüben auf der anderen Seite bebaut, während auf der, wo Thiele ging, ein verwitterter, windschiefer Bretterzaun Schuppen und Lagerplätze von der Straße abgrenzte. Ein Stück weiter vor einer breiten Einfahrt hatte sich eine Gruppe von Vorübergehenden angesammelt und sah neugierig einem Vorgang zu, der sich hinter dem Zaune abspielte. Als Thiele hinzutrat, sah er vor sich einen langen, mit schwarzer Schlacke beschütteten, von tiefen Wagenspuren zerfurchten Weg, der von der Einfahrt weit ins Gelände hineinführte. Links und rechts des Weges sah er ein graues Durcheinander von Schuppen, Zäunen, Lagerplätzen, Schildern und Abladestellen, aus dem hier und da ein verkümmerter Baum seine schwarzen kahlen Äste, verkrampft zum Licht strebend, emporreckte. Weit hinten wurde diese trostlose Landschaft von den teergeschwärzten Giebeln vielstöckiger Mietskasernen abgeschlossen.
Etwa zehn Meter von der Straßeneinfahrt entfernt, gewahrte Thiele die Ursache der Menschenansammlung vor der Einfahrt. Ein Handwagen war zwischen einem Pferdefuhrwerk und dem rechts vom Wege befindlichen Drahtzaun fest eingeklemmt. Der Mann, der Thiele den Rücken zudrehte, mühte sich aus Leibeskräften, aber vergeblich, seine Karre freizubekommen. Wüst fluchte und schimpfte der Kutscher des Pferdegespanns. Der Mann am Handwagen brüllte wütend den Kutscher an. Dabei versuchte er aber immer aufs neue, seinen Handwagen vor- oder rückwärts loszubekommen. Der rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Als der Handwagenmann sich jetzt umdrehte, glaubte Thiele, ihn zu erkennen. Richtig! Das war ja der Schaler-Hermann, den er vor längerer Zeit einmal im »Nassen Dreieck« flüchtig kennen gelernt hatte. Er ging den Weg bis zum Wagen, wechselte ein paar Worte mit dem Alten und packte dann an. Gemeinsam hoben sie jetzt das Wintergestell des vollbeladenen Wagens etwas zur Seite und schoben dann mit vereinten Kräften nach vorn. Der Wagen war frei. Der Kutscher hieb auf seine Pferde ein und fuhr lärmend davon. Halb enttäuscht, halb befriedigt verlor sich die Menge der Neugierigen.
Schaler-Hermann hatte sich an seinen Wagen gelehnt und strich sich, nachdem er die Mütze abgenommen hatte, mit dem Jackenärmel über die schweißnasse Stirn. Sich zu Thiele wendend, stutzte er plötzlich:
»Wenn ick ma nich irre, kennen wir uns - aber natierlich! Wir ha'm uns doch neilich im >Nassen Dreieck< getroffen, nich wah?«
Er reichte Thiele seine riesige Reibeisenhand zum Gruß. Dann schlug er Thiele vor, ihm rasch beim Verkauf seiner Ware ein wenig zu helfen; er wäre dann schneller fertig, und sie könnten nachher zusammen einen trinken gehen. Jetzt erst sah Thiele die seltsame Ladung, die auf dem kleinen Wagen hochgetürmt verstaut war: Packen von gebündeltem Zeitungspapier, gebrauchte leere Flaschen, zerbrochene, halbverrostete Metallteile und obenauf ein altes eisernes Bettgestell!
Als sie den schweren Wagen auf dem schwarzen Schlackenweg ein ziemliches Stück entlanggezogen hatten und nun um eine Ecke bogen, bot sich Thieles Blicken ein Bild wie aus einer anderen, ihm unbekannten Welt, dar. Ganze Gebirge von alten Eisen türmten sich da hochauf, aus denen ein Gewirr von verbogenen Stangen, zerfressenen Rohren, Drahtgeschlingen und zerbrochenen Maschinenteilen, zerbeulten Kannen, Kochgeschirren und wer weiß, was noch alles, in wirrem Durcheinander hervorragten. Ein halbes Dutzend leerer Handwagen stand herum, während ihre Besitzer am Boden hockten und die abgeladene Ware eifrig sortierten. Einige von ihnen schleppten das bereits Sortierte zu einer großen Waage, die ein dicker Mann bediente, der auch gleich die paar Groschen an die Verkäufer ausbezahlte.
Mit seinem neuen Freunde, dem Schaler-Hermann, war Thiele nun schon seit mehreren Tagen gemeinsam auf Tour gegangen. Mit der raschen Anpassungsfähigkeit eines aufgeweckten, arbeitsfreudigen Menschen begabt, fand Thiele diese neue Beschäftigung immerhin viel angenehmer als die verfluchte Bettelei. Man war gewissermaßen sein eigener Herr und leistete eine produktive, für den Schrottgroßhandel sogar ganz unentbehrliche Arbeit. Treppensteigen und an die Türen klopfen musste er zwar nach wie vor. Aber wie ganz anders stand er den Öffnenden gegenüber, wenn er sie fragte, ob sie Knochen, Lumpen, Papier oder sonstigen alten Hausrat zu verkaufen hätten.
Freilich, gelernt sein musste diese Arbeit auch. Mit dem bloßen Kaufen war es nicht getan. Man musste so billig wie möglich einkaufen. Die Leute durften aber auch in ihren Erwartungen nicht zu sehr enttäuscht werden, damit sie einem ihre Kundschaft nicht entzogen. Auch Sachkenntnis war unbedingt erforderlich, wenn man durch falsche Einschätzung nicht Verluste erleiden wollte. Die verschiedenen Metallarten mussten auch unter der dicksten Oxydationsschicht erkannt, gegebenenfalls durch Anfeilen geprüft werden. Baumwolle musste von Wolle, Leinen von Halbleinen genau geschieden werden. Der Inhaber der Lumpenstampfe, der für den Schalkram an sich schon die allerniedrigsten Preise zahlte, pflegte sofort die Preise zu drücken, wenn er feststellte, dass die zu ihm gebrachten Lumpen oder Metalle nicht streng voneinander geschieden, sondern mit verschiedenen Sorten untereinander vermischt waren. Durch jahrzehntelange Erfahrungen gewitzigt, war Schaler-Hermann ein hervorragender Fachmann auf diesem Gebiet, den keiner so leicht »uff de Schippe« nahm. Stolz nannte er sich den Behörden und seiner Kundschaft gegenüber Produktionshändler, obwohl er eigentlich nur ein besserer Schaler war. Diesen Beruf als Schaler übte er nun schon über fünfundvierzig Jahre aus.
Ja, früher, da brachte dieses Geschäft noch was ein! Auf dem Wedding weit draußen an der Müllerstraße war die »Ablage« der städtischen Müllabfuhr. Dort suchten die Proletarierjungens aus der näheren Umgebung, besonders vom »Ochsenkopp« (einem Elendsquartier) und von »der Insel« (einem damals frei im Felde stehenden Häuserblock) nach Kohle. Beim Kohlesuchen fanden sie achtlos zum Müll geworfene Metallstücke, Knochen und andere Dinge, die sich zu Geld machen ließen. Schnell sprach sich das herum - und bald wimmelte die Abladestelle von Schaljungen. Ja, das waren noch Zeiten! Aber dann kam die Berliner Stadtverwaltung dahinter, dass man auch aus Müll Geld machen kann, und errichtete ein »Schal-Monopol«! Jetzt durfte nur noch gegen Abgabe von 30 Pfennigen »Schalgeld« pro Tag und Kopf dort im Müll gewühlt werden. Die Jungens mussten sich fügen und zahlten diese erzwungene Lizenzgebühr. Was sie über Tag zusammengeschalt, kaufte Lumpen-Krüger des Abends auf und schaffte es mit seinem eigenen Gespann fort.
Eine ganze Anzahl der Schaljungen blieb ihrer langgewohnten Tätigkeit auch dann treu, als sie aus der Schule entlassen und eingesegnet waren. Sie wählten das Schalen zu ihrem Beruf. Nur gingen sie jetzt bald nicht mehr zur Abladestelle, sondern direkt an die Quelle des Zuflusses. Sie durchwühlten die Müllkästen auf den Höfen der Wohnhäuser. So ersparten sie die 30 Pfennige Schalgeld!
Ü ber ganz Berlin erstreckten sich die Streifzüge dieser berufsmäßigen Schaler vom Wedding.
Allein oder zu zweien und dreien zogen sie täglich los und erwarben sich so ihren Lebensunterhalt. Des Abends kamen sie dann mit ihren mehr oder minder vollbeladenen Handwagen alle zur Mittelstraße, wo verabredungsgemäß der Aufkäufer mit seinem Fuhrwerk wartete und ihnen ihre Ware abkaufte. Wer die richtige Schaler-Spürnase hatte, verdiente manchmal recht gut. Vereinzelte unter ihnen, die schalten, was nicht niet- und nagelfest war, wurden im Laufe der Zeit selbst Aufkäufer; besonders Geschäftstüchtige brachten es bis zum eigenen Pferd vorm Wagen. Die meisten freilich blieben ihr Leben lang gewöhnliche Schaler und zogen ihre Handkarre selbst.
Thiele kam jetzt mit anderen Menschen zusammen als bloß mit Kunden und Pennern. Ein Schaler ist nun einmal kein Penner. Er weiß das auch genau und hält streng auf diese Unterscheidung -wenn er selbst auch noch zu wenig zu brechen und zu beißen hat.
Ins »Nasse Dreieck« kam Thiele in der letzten Zeit nur noch zum Schlafen. In den Schankräumen war er selten zu sehen. Eines Abends spät, als die Jalousien schon heruntergelassen waren und hinten alles schlief, hörte er plötzlich lautes Schreien aus dem Schanklokal zu sich herüberdringen. Er erkannte Muttchens angstverzerrte Stimme und sprang aus dem Bett auf, lief, so wie er war, mit dem Dicken Stern zusammen nach vorn, um nachzusehen, was geschehen war. Muttchen stand mit totenbleichem Gesicht der Toilettentür gegenüber an die Wand gelehnt. Unfähig, einen weiteren Laut herauszubringen, zeigte sie auf Befragen der beiden erstaunten Männer angstvoll nach der Tür, die zum Toilettenraum führte. Schnell riss der Dicke Stern dieselbe auf, fuhr aber entsetzt zurück und wurde ebenfalls käseweiß. Thiele, der ihm über die Schulter geblickt hatte, erkannte mit Schaudern: hinten am schmalen Fenster hing ein Mensch. Ohne zu zaudern, sprang er hinzu und schnitt ihn ab. Es war bereits zu spät! Auch der Arzt, den der Hausdiener inzwischen herbeigeholt hatte, konnte nicht mehr helfen. Der Tote, ein junger Mensch von etwa 25 Jahren, war allen Stammgästen des »Nassen Dreieck« unbekannt. Nur ganz flüchtig erinnerten sich einige, ihn ein paar Mal dort gesehen zu haben. In derselben Nacht noch wurde die Leiche abgeholt und ins Schauhaus gebracht.
Wieder ins Bett zurückgekehrt, konnte Thiele keinen Schlaf finden: das Bild des am Klosettfenster baumelnden Toten hatte er immerzu vor seinen Augen.
Acht Tage nach diesem traurigen Ereignis feierte man Weihnachten. Muttchen hatte einen Tannenbaum und das dazugehörige Flitterzeug spendiert. Die Gäste hatten ihn ausgeschmückt.
Am Heiligabend wurden die Lichter angezündet. Das flackernde Licht ließ halbdunkle Schatten über die herumhockenden Menschen huschen, geheimnisvoll glitzerte der bunte Flitterkram. Einige der Frauen bekamen feuchte Augen und fingen in Erinnerung an frühere Jahre an, ein sentimentales Weihnachtslied zu summen. Die Männer aber machten Witze und grölten mit, wobei sie die Melodie absichtlich in die Länge zogen. Da genierten sich die Frauen und hörten auf. Jemand drehte das Licht an, die Wachskerzen wurden ausgelöscht.
Alle waren froh, als die Feiertage vorüber waren. Das war nichts für arme Teufel wie sie, die von der Gebelaune anderer Menschen abhängig waren. Die anderen Menschen wollten am »Fest der Liebe« ihre Ruhe haben und nicht durch Bettler gestört werden. Für die Kunden waren Feiertage regelmäßig Hungertage und deshalb niemals willkommen.
Wilhelm Thiele war jetzt Tag für Tag mit Schaler-Hermann unterwegs. Sie verdienten fast nichts, die allgemeine Absatzkrise hatte auch ihr Geschäft erfasst und völlig lahm gelegt. Als man eines Tages über die schlimme Lage sprach, sagte der alte Hermann unvermittelt zu Thiele, dass er wüsste, wo man mal ein paar gute schwere Brocken »schalen« könnte, - allerdings müsste man ein Herz haben dazu.
»Wenn de mitmachen willst?« fragte er lauernd.
Thiele wollte Näheres wissen, aber Schaler Hermann wich aus: »Wenn't soweit is, wirste schon sehen...«
Einige Tage später war es soweit! Thiele wurde unterrichtet. Ihm war alles egal. Endlich mal ein paar Mark in die Hand bekommen, sich mal wieder richtig satt essen können; was hatte er denn schließlich zu verlieren?
Mit einem schweren Kastenwagen und mehre-
ren alten wollenen Decken und Lumpen versehen, fuhren sie spät abends los. Noch ein dritter, den Thiele öfters auf der Lumpenstampfe gesehen und unter dem Spitznamen Kalte Hand kennen gelernt hatte, gesellte sich ihnen zu. Er war noch jung und hatte ein forsches, fast verwegenes Aussehen.
In einer kleinen Kneipe hatten sie vorher jeder ein paar Schnäpse getrunken, »um bei det kalte Wetter een bißken inzuheizen«, wie der alte Schaler-Hermann erklärte: in Wirklichkeit aber, wie Thiele erkannte, um sich für das geplante Unternehmen einen Schuss Mut einzuflößen.
Die wenigstbelebten Straßen wählend und um jeden Polizisten und jede Laterne einen weiten Bogen machend, fuhren sie nach Moabit rüber. Nach etwa einer guten halben Stunde gelangten die drei an die Stelle ihres Vorhabens. In nächtlichem Dunkel ragte hinter einem Bauzaun ein riesiges Gerüst auf, das um eine Kirche errichtet war. Seltsamerweise hatte Thiele keine Spur von Angst. Er half gleichmütig, den Wagen in eine stockdunkle Ecke zu schieben. Von Hermann geführt, gelangten alle drei zu einer Stelle, wo eine ca. 50 cm hohe Turmglocke vor ihnen auf dem Boden lag. Weil sie einen Sprung hatte, war sie abmontiert worden. Der alte Schaler, der mit den Fingerknöcheln gegen die Glocke pochte, flüsterte ihnen aufgeregt zu: »Reene Brongseü!«
Schnell entschlossen packten alle drei zu. Die Glocke war schwer. Beim Anheben hatte Thiele das Gefühl, als würde ihm das Rückgrat brechen.
Ein paar Mal mussten sie wieder absetzen. Endlich aber hatten sie es doch geschafft. Die Glocke lag auf dem Wagen. Fix wurde sie mit den Decken gut verhüllt, und dann ging's wieder hinaus in die Nacht.
Auf großen Umwegen fuhren sie nach dem Norden, ein Stück Weges außerhalb Berlins. Auf freiem Felde hielten sie an. Schaler-Hermann hatte umsichtigerweise alles schon vorbereitet. Sie warfen die Glocke in eine Grube, die sie dann mit Brettern und den Decken schaldicht machten. Mit schweren Vorschlaghämmern schlugen sie abwechselnd auf das Metall ein, versuchten sie die Glocke zu zertrümmern. Es war eine mühevolle Arbeit. Endlich aber, nach mehrstündiger Arbeit, glückte es ihnen. Die ziemlich dickwandige Glocke war in mehrere Bruchstücke zerlegt. Diese wurden noch weiter zerkleinert, bis man kleine, leicht transportable Stücke hatte.
Wenige Stunden später wurde sie als Altmetall in der Lumpenstampfe verkauft. Als des Nachmittags die Kriminalpolizei auf die erfolgte Diebstahlsmeldung hin nachsuchen kam, war bereits alles restlos eingeschmolzen und nichts mehr zu identifizieren.
Als seinen Beuteanteil an diesem nächtlichen Raubzug erhielt Thiele einen Zwanzigmarkschein. Für seine jetzigen Begriffe war das ein »Haufen Geld«! Soviel auf einmal hatte er seit vielen, vielen Monaten nicht mehr in der Hand gehabt.
Nun brauchte er nicht mehr beim Ausgeben jedes Groschens gleich an das Morgen zu denken, konnte er sich endlich einige schon längst notwendige Kleinigkeiten an Wäsche anschaffen.
Zu keiner Menschenseele sprach Thiele über diese Nacht, auch nicht mit dem Dicken Stern, der sich über den plötzlichen Reichtum Thieles gar nicht weiter wunderte und auch nicht neugierig war, wie er dazu gekommen.
Thiele selbst wunderte sich allerdings einigermaßen über die Gleichmütigkeit, die ihn erfüllte, wenn er an das Geschehen zurückdachte. Eine solche Robustheit seines »Gewissens« hätte er gar nicht für möglich gehalten. Ach, wie wenig kennen die meisten Menschen sich selbst, und wie wenig ahnen sie, dass sie fast ausnahmslos zu allem, auch dem Abscheulichsten, Verwerflichsten fähig sind, wenn nur die Vorbedingungen zur Tat gegeben sind und die Macht der obwaltenden Verhältnisse unwiderstehlich drängt!!!
Die paar Mark waren schneller aufgezehrt, als Thiele es sich hätte träumen lassen. Um zu leben, musste er wieder mit dem alten Hermann durch die Stadt ziehen. Es waren aber nur Groschen, die das Geschäft einbrachte. »De Leite dragen jetzt die Lumpen selbst, die se frieher vakooft ha'm«, erklärte trübselig der alte Schaler-Hermann.
Dem Druck der schlechten Geschäftsverhältnisse nachgebend, hatte der bald wieder eine günstige Gelegenheit zu einem kleinen »Diebeken« ausbaldowert. Auch die Kalte Hand war wieder von der Partie.
Diesmal ging's nach einem Vorort hinaus. Im Garten einer Villa, die während des Winters unbewohnt und unbewacht war, standen auf dem Rande eines Springbrunnens bronzene Putten, die im Sommer mit gleichfalls bronzenen Meerweibchen ihre lustigen Wasserspiele trieben und hoch im Bogen blitzende Wasserstrahlen in das Becken spuckten. Die drei waren eifrig beim Abmontieren, als plötzlich ein Wasserstrahl hoch emporschoss. Zu ihrem Schrecken gewahrten sie, dass der Zufluss des Wassers nicht abgesperrt worden war. Nach kurzer Zeit standen sie schon bis an die Knöchel im eiskalten Wasser. Schaler-Hermann fluchte wie ein Teufel. Er sah aber ein, dass es zwecklos war, noch länger zu bleiben. Schnell brachen und schlugen sie mit vereinten Kräften die ihnen am nächsten stehenden Figuren ab, warfen sie auf den mitgebrachten Wagen und machten dann schleunigst, dass sie fortkamen. Die drei Männer stellten den beladenen Wagen auf Schaler-Hermanns Laubengrundstück unter; dann gingen sie in die schiefe Holzbude hinein. Hermann machte im Ofen Feuer an. Als es brannte, hockten sich die drei herum, um die immer noch nassen Kleider am Leibe zu trocknen.
Dem Wilhelm Thiele war das Abenteuer in die Knochen gefahren. Er war nach der ausgestandenen Angst heilfroh, dass er jetzt hier sicher in der Bude hockte. Mit blassem Gesicht saß er da und stierte ins Feuer.
Die Kalte Hand zog Zigaretten hervor - und reichte Thiele eine hin - sagte so nebenbei:
»Det bißken heute, scheint dir ja ganz scheen in die Rippen jefahren zu sin - oller Freind.«
Als Thiele nichts erwiderte, fuhr die Kalte Hand fort: »Dir fehlt ebent die Jewohnheit, mein Junge
- Jewohnheit. - Wenn du det hinter dir hätt'st wie ick, na Mensch, denn würde dir so'n kleenet Abenteier bloß Laune machen.«
Die Kalte Hand drückte das Feuer ihrer Zigarette aus und steckte den Kippen in die Tasche, dann erzählte sie weiter: »Da ha ick als Lausejunge schon janz andere Sitatsjohnen hinter mir jebracht.
- Ick war euch mal een Ding erzehl'n, det ick mit zwee andre Halbstarke verzappt habe.
Icke, der Bruch-Artist un der Kesse Emil. Wir hatten als Jungs alle keene Bleibe un zijeunerten in Baiin rum. Nischt war vor uns sicha! An de Schusterkellas, wo >uffjewärmte< Trittchen (ick meene jetragene Schuhe un Stiebel) vor de Ladendier hingen, schnipperten wia die frech am hellichten Dage ab! Zuletzt hingen die Schuster bloß noch lauter rechte oder lauter linke Trittchen raus. Aba ick wollte da ja azehln, wat wa mal forn besonders frechet Ding jedreht ha'm. Also pass uff! Da war in eener Straße een Kleiderjude, der hatte een Ladenjeschäft un direkt daneben noch een Kellajeschäft
- beedet for Monatjadrobe. Meestens stand der Jude nu vor seinen Laden, manchmal ooch in de Ladendier. In den Kella war keen besondrer Verkäufer. Det hatten wir spitzjekriecht un ooch ausbaldowert, det de zweete Kellastufe von oben mit 'ne elektrische Klingel vabunden war. Eenes Mittachs hatten wia uns entschlossen, in den Kella zu schleichen un uns da neu inzupuppen. Wie wa also sehn, det der Jude im Laden steht, so det er den Kellaeinjang nich sehn kann, jehn wir drei, der
Kesse Emil voran, an de Häuser lang un--------
husch runter in den Kella. Ieba die Stufe mit de Klingel ha'm wia natierlich riebajetretn. Der Jude hatte nischt jemerkt. Uff die eene Seite aba war 'ne Öffnung hinter den Jadrobenstender, - da jing et in eenen Kohlnkella. Also da rutschen wir alle drei rasch in diesen Kohlnkella un vasteckten uns da. Der Kesse Emil schleicht raus, sieht, ob de Luft reen is, un holt denn jenau nach Jröße 46 fier jeden eenen elejanten Anzug un dazu een >Iber-mann<, det is een Paletoh! Die Kluft ziehn wir uns in unsa Vasteck sofort an. Denn jeht det freche Luda noch mal raus un holt noch for jeden een Anzug zum Einpacken un Mitnehm! Un nu kommt det Scheenste! Wie wa nu uffn Sprung stehn, um wieda raus zu komm aus die Löwenhöhle, - da sehn wa, det der Jude uff de Straße vor'n Laden steht un nich weicht! Iber zwee Stunden saßen wir jetzt schon da unten. Da fängt der Bruch-Artist plötzlich so richtig herzhaft an zu beten: >Lieba Jott, sei so jut un lass uns noch eenmal jlicklich rauskomm!!!< Wir andern beeden fangen laut an zu lachen. Der Bruch-Artist bleibt aba doternst un vasichert, det Beten immahin noch helfen konnte. Un er behielt recht! In detselbe Haus neemlich, wo det Kleiderjeschäft war, befand sich eene Steindruckerei, die jerade bestreikt wurde. Vor de Tür standen den janzen Dach drei Streikposten. Wie nu um halbe finfe die Streikbrecha de Fabrik valassen wolln, jab et uff de Straße jroßen Klamauk. Woll an de Hundert Menschen liefen zusamm und bildeten vor den Kella, wo wir drei Stipper drinsaßen un nich rauskonnten, eenen mechtigen Uffloof! Det war unsere Rettung! Ohne von irjendwen beachtet zu wem, kamen wir de Kellatreppe ruff un schoben uns in det Jedrenge. Denn vadufteten wir uns aber schnell.
Als det unsere Kollexe hörten, wat wir da jemacht hattn, habn se uns bestaunt. Wie richtigjehnde Helden kamen wir se vor! Einige wurden aba neidisch uff die feine Kluft un wollten sich ooch uff diese billige Weise nei inpuppen. Ick un der Bruch-Artist hatten de Neese voll. Die drei Stunden da unten warn uns doch een bißken zu sehr an de Niern jejangen. Der Kesse Emil hätte aus lauter Abenteierlust die Tour woll noch eenmal riskiert: aba - die Sache hatte een Haaken! In unsrer Angst hatten wir da unten in Kella so'n deemlichet Jefiehl in'n Magen gespiert un, - um unsere neien Hosen zu schonen, hatten wa uns alle drei in eene Ecke hinjesetzt und unserem bedrängten Herzen in iebelriechender Weise Luft jemacht. Der Kesse Emil, der immer an die Spitze war, arjumentierte nur so: >Wenn der Jude schließlich ooch nich jleich sieht, det die Anzüge fehlen, - riechen wird er et aba bestimmt, det da unten etwat faul is!!!< «
Wilhelm Thiele hatte mit steigender Aufmerksamkeit zugehört. Als die Kalte Hand jetzt fertig war, platzte er los und lachte so, dass ihm die Kinnladen weh taten. Auch der alte Schaler kicherte vergnügt vor sich hin.
Man blieb bis morgens beisammen. Dann, als es
schummrig wurde, suchte Thiele das »Nasse Dreieck« auf.
Am Nachmittag konnte er wieder mit Silberstük-ken in der Tasche klimpern. Ein wenig hatte sich die Sache also doch gelohnt.
Zwei Überraschungen auf einmal erlebte Thiele, als er an einem der nächsten Abende in das »Nasse Dreieck« zurückkehrte. Die erste bestand darin, dass Muttchen ihm einen Brief aushändigte, der bei ihr für ihn abgegeben war. Mit erstaunten Blicken betrachtete er ihn von allen Seiten. Wie der Poststempel und die Anschrift erkennen ließen, war der Brief in Elbing aufgegeben und an seine frühere Adresse gerichtet worden. Viele andere Stempel und Notizen auf der Vorder- und Rückseite des Briefes bewiesen, dass er fast durch ganz Berlin gewandert war. Sicher von meiner Frau, dachte Thiele und war auf den Inhalt gar nicht neugierig. In Wirklichkeit aber war es das Schreiben eines Elbinger Rechtsanwalts, der ihm mitteilte, dass Frau Thiele sich von ihrem Manne scheiden lassen wollte und um seine Einwilligung bat. Ohne tiefere Bewegung steckte Thiele den Brief in seine Brusttasche; er wollte ihn morgen beantworten.
Und dann kam die zweite Überraschung. Als er sein Logis aufsuchen wollte und durch den finsteren Schankraum ging, hörte er jemand seinen Namen rufen. Er blieb stehen und sah sich um. Zu seinem größten Erstaunen erkannte er den Zahmen Willi, der mit der Einäugigen friedlich in einer Ecke am Tisch saß. Unverkennbar war der Zahme wirklich erfreut, und auch die Einäugige hatte ein Lächeln im Gesicht, als sie beide ihrem verflossenen Schlummergefährten die Hand zum Gruß reichten. Dieser bestellte sich ein Bier und setzte sich zu ihnen. Nur schleppend kam ein Gespräch in Gang. Sie sprachen schließlich über alles mögliche, nur nicht über die eigenen Erlebnisse während der Zeit ihrer Trennung. Das Gesicht der Einäugigen sah noch runzliger, staubiger aus als vordem. Der Zahme hatte sich kaum verändert; nur die Augen schienen nicht mehr so recht zu wollen. Sie hatten wohl damals durch den Brennspiritus etwas abbekommen. Lange saßen die drei beisammen. Als Muttchen Schluss gebot, zog der Zahme mit seiner Begleiterin davon. Sie wollten sehen, ob ihr früherer Boden noch zugänglich war. Die Hausbewohner, meinten sie, hätten die Sache von damals doch längst vergessen.
Die anscheinend besonders befähigte Spürnase des alten Schaler-Hermann hatte eine neue Gelegenheit ausfindig gemacht, wo wieder Metall (sein beliebtester Handelsartikel!) zu krampfen war. Diesmal handelte es sich um Kupfer, und zwar nicht bloß um ein paar lumpige Kilos, sondern um mehr, als sie wegschaffen konnten.
Schon am hellen Nachmittag wurde der Wagen in die Nähe des Tatortes gebracht und im Walde hinter Buschwerk versteckt. Bis zum Einbruch der Dunkelheit schlenderten die drei Männer im Walde herum. In harmloser Freude bewunderten sie die ersten Knospen am Gezweig der Sträucher und Bäume; sahen belustigt einem Eichhörnchen nach, das unabsichtlich von ihnen aufgescheucht worden war und nun, in großen Sätzen davoneilend, mit fabelhafter Behendigkeit einen hohen Baum erkletterte. In halber Höhe des Stammes blieb es hocken und schaute neugierig auf die Männer hinab, die in die Hände klatschten und sich kindlich freuten, wie das braune Kerlchen schleunigst im Geäst verschwand, sie dabei mit einem Regen von trockenem Gezweig überschüttend.
Die hochragenden Stämme der Laubbäume weckten andächtige Bewunderung in ihnen. Mit einem gewissen Mitleid betrachteten sie aufmerksam eine verkümmerte Tanne, der die dichten Wipfel der größeren Brüder fast jede Entfaltungsmöglichkeit genommen hatten. Alles, was sie rings um sich sahen, kam ihnen so neu, so bewundernswert vor. Thiele fragte sich im stillen, wie lange es eigentlich schon her sei, dass er in einem Wald gewesen war. Er konnte sich gar nicht mehr darauf besinnen. Die sonst ziemlich kesse Kalte Hand wurde ganz melancholisch:
»Wenn ick mir so bedenke, wie scheen det allens is - wie so'ne feine jroße Halle-, ordentlich feierlich wird eenen da zumute. Wisst ihr, wenn man hier so alleene Spazierengehen kann, kommt man sich so jut vor, keene fremde Menschen - bloß Bööme un Bööme -, Kinders, ick kann eich janich sagen, wat man da fier een Gefiehl hat. Man mechte hier janz in sich rinkriechen un nischt mehr sehn von de dreckige Welt da draußen... «
Auch der Schaler-Hermann war nachdenklich
geworden und fing an, in seinen Erinnerungen zu kramen:
»Ja, Kinders, wenn ick so dran denke - damals, als ick noch so'n Junge war, - na, wie alt war ick? -so Sticker zehn Jahre valeicht - da zogen wir mit Muttan immer raus nach Tegel, Besinge suchen-, manchen Dag finfenzwanzig Liter-, aber den janzen Dag ha'mer jeflickt, bis uns der Puckel wehdat un bis et dunkel wurde. Dunnenmals wa da draußen noch der richtige Urwald - keenen sennijen Menschen bejejnete man den janzen Dag, man wa mutterseelenaleen. Un de Beeren, un die Vefferlinge, da kennt ihr eich ja keen Bild nich von machen, so dicht standen die. Abends jings denn miede nach Baiin zurück. De Straßenbahn fuhr ja noch nich, bloß der Ferdebus ging bis nach Tejel. Det Jeld reichte ooch janich, um alle fahren zu lassen; bloß Mutta fuhr, un wir drei Jungs liefen nebenher bis nach Berlin rin.«
Langsam war es Abend geworden. Im Walde machte sich die Kühle unangenehm bemerkbar. Die drei gingen in eine nahegelegene Kneipe und tranken ein paar Schnäpse. Als es dann richtig dunkel geworden war, kehrten sie zum Wald zurück. Der Wagen wurde hervorgeholt und zum »Arbeitsplatz« geschafft. Mitten durch den Wald führte die Starkstromleitung einer weitabgelegenen Kraftzentrale. Steil ragten die Eisenkonstruktionen, welche die Drähte trugen, empor. Etwa alle 30 Meter stand ein solcher Turm. Die Stromleitung sollte erst im nächsten Monat in Betrieb genommen werden. Hermann hatte sich genau orientiert. Vorläufig wurde der Strom noch nicht eingeschaltet; Gefahr war also nicht vorhanden.
Thiele und die Kalte Hand erkletterten einen der Eisentürme. Alles war in tiefste Dunkelheit gehüllt; der Himmel war tief schwarz; kein Stern war zu sehen. Schaler-Hermann konnte die beiden Gestalten dort oben kaum unterscheiden. Heftig pfiff den beiden der Wind um die Ohren. Sie arbeiteten fieberhaft. Mit Metallsägen zerschnitten sie die ziemlich starken Drähte der Drehstromleitung. Pfeifend sausten diese durch die Luft und schlugen klatschend auf den Erdboden. Eilig kamen die beiden herab und erstiegen schnell den nächsten Turm. Schaler-Hermann rollte inzwischen die herabgefallenen Drähte zu einem großen Ring zusammen, den er auf den Handwagen verlud. Derselbe Vorgang wiederholte sich mehrere Male. Dann fuhren die drei in Schweiß Geratenen eilig, aber mit der nötigen Vorsicht davon. Die Sache hatte sich gelohnt.
Der Appetit kommt beim Essen. Alles hatte so gut geklappt, dass sie beschlossen, es noch einmal zu wagen. Was man hatte, das hatte man.
Vorsichtig hinanschleichend, überzeugten sie sich am nächsten Abend, dass am Schauplatz ihrer vornächtlichen Tätigkeit keine Bewachung ausgestellt worden war. Alles war ruhig und kein Mensch zu entdecken. Der Diebstahl war also noch nicht bemerkt worden. Sie konnten unbesorgt sogleich wieder ans Werk gehen. Wieder wie gestern stiegen die Kalte Hand und Thiele nach oben, während der alte Schaler-Hermann unten wartete, bis die ersten Drähte herunterfallen würden.
Kaum hatte die Kalte Hand, die Thiele einige Meter voraus war, die Metallsäge angesetzt, als ein Schrei durch die Nacht schrillte. Ein Schrei - so unmenschlich, so entsetzenerregend, dass er den beiden anderen bis ins Knochenmark drang. Völlig gelähmt, klammerte sich Thiele an die Eisenkonstruktion und stierte verständnislos nach oben, wo es in bläulichen Flammen sprühte und zischte und im gleichen Augenblick ein widerlicher Geruch von verbranntem Fleisch zu ihm herabwehte. Und dann sauste ein schwarzer Klumpen an ihm vorbei zur Erde. Unten klatschte es dumpf und schwer auf. Mehr rutschend als kletternd, flüchtete Thiele nach unten. Das leichenblasse, angstverzerrte Gesicht des ebenfalls vor Schreck erstarrten Schaler-Hermann sah er neben sich durch die Finsternis geistern.
»Kinder, Kinder, - so een Unjlick, - nee so wat, - wat solln wa jetz bloß machen? Ach du lieber Jott nee, - wie is det bloß meejlig, - uff meine ollen Dage muss mir det passieren, - nee, nee, nee, nee... «, jammerte fassungslos der alte Schaler und hielt verzweifelt seinen Schädel zwischen den Händen.
Zögernd gingen die beiden zu der Stelle, wo der schwarze Klumpen lag. Mit zitternden Händen strich der Alte ein Streichholz an und leuchtete dem Abgestürzten ins Gesicht. Es war ein furchtbarer Anblick. Das Kopfhaar und die Augenbrauen waren völlig abgesengt. Schwarze Flecken und Streifen gaben dem Gesicht ein entsetzenerregendes Aussehen. Ein ekler Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihnen unabwehbar in die Nasen. Als Thiele das Jackett des Verunglückten berührte, fühlte er zu seinem Schreck: der Stoff zerfiel wie Zunder in seiner Hand!!!
Beide Männer wussten, dass die Kalte Hand tot war; aber keiner wagte, es dem anderen zu sagen. Sie aber mussten jetzt machen, dass sie schleunigst verschwanden, sonst konnten sie in »Teufels Küche« kommen. - Der Kalten Hand war ja doch nicht mehr zu helfen.
Thiele hatte alle Überlegung verloren. Er stolperte hinter dem alten Schaler-Hermann her, der zum Wagen eilte. Bloß fort von hier - weg - so schnell und so weit wie möglich weg! Die beiden fuhren durch den Wald, als ob die »Polente« schon hinter ihnen wäre. Etwas erleichtert atmeten sie auf, als der Wald hinter ihnen lag, die erste Straße erreicht war.
Kein Mensch war zu sehen. Alles war stockdunkel. Lärmend ratterte der Wagen auf dem Kopfpflaster durch die Ruhe der schlafenden Stadt. Im Eilschritt trotteten die beiden Männer mit ihrer Karre dahin. Ganz leer, wie ausgebrannt war es in ihrem Innern.
Endlich war der Norden erreicht. Noch ein kurzes Stück, dann hatten sie ihr vorläufiges Ziel erreicht. Der Wagen wurde untergestellt. Nur wenige Worte sprachen sie und gingen dann auseinander. Man hatte rasch verabredet, dass Thiele sich vorläufig, bis etwas Gras über die Sache gewachsen sei, beim Schaler-Hermann nicht sehen lassen sollte. Man konnte nicht wissen, was noch alles nachkäme.
In sich zusammengesunken schlich der alte Schaler seiner Bleibe zu, immer wieder murmelte er vor sich hin: »Nee, nee, so wat - det mir det noch uff meine ollen Dage passieren muss... «
Auf einer Parkbank sitzend, wartete Thiele, bis es hell wurde; dann ging er zum »Nassen Dreieck«, wo gerade die Jalousien hochgezogen wurden. Als er eine Stunde später wieder auf die Straße trat, blickte er sich scheu und ängstlich um. Er hatte drinnen alles rasch in Ordnung gebracht; seine paar Habseligkeiten hatte er dem Dicken Stern in Verwahrung gegeben.

 

VII.

Wieder begann das Rennen nach dem bisschen Fressen. Die ersten Tage ging es noch, denn er hatte ja noch ein paar Mark in der Tasche gehabt. Das bisschen Kies rann aber durch die Finger wie Wasser, und bald war auch der letzte Sechser ausgegeben. Wieder musste er als Fechtbruder die Treppen rauf, die Treppen runter, musste er sich die Türen vor der Nase zuknallen lassen. Fast noch schwerer als damals bei seinem ersten Anfang fiel Thiele jetzt die Schnorrerei.
»Verdammt noch mal!« fluchte er.
Gab es denn wirklich gar keine andere Möglichkeit, das bisschen Futter herbeizuschaffen? Was zum Henker hatte er denn verbrochen, dass es ausgerechnet ihm so dreckig ergehen musste?
Manchmal stieg er vier Treppen hoch, um dann, ohne an eine einzige Tür zu klopfen, wieder herunterzuklettern. In seiner tiefen Erbitterung kam es auch vor, dass er frech wurde, nicht bat, sondern forderte. Dann wurde er angebrüllt und ihm mit der Polizei gedroht. Nur wenn er es vor Hunger nicht mehr ertragen konnte, wenn die fürchterlich dumpfe Hohlheit seines Innern ihn ganz widerstandslos machte, konnte er sich noch zum Fechten entschließen.
Zehn Tage war er jetzt schon vom »Nassen Dreieck« fort. Er wusste nicht, was aus der ganzen schrecklichen Geschichte eigentlich geworden war, nicht, was Schaler-Hermann machte.
Bei seinem einsamen Herumstromern lernte Thiele eines Tages einen neuen Leidensgefährten kennen. Das kam so. Er war gerade aus einem Parkgebüsch, wo er über Nacht geschlafen hatte, hervorgekrochen und ging nun, sich das Laub und die Erdspuren von den Kleidern klopfend, den Parkweg entlang. Es war noch in aller Frühe, kein Mensch in der Nähe zu sehen. Als Thiele um eine Ecke bog, sah er vor sich einen jungen Mann, der am Boden etwas zu suchen schien, sich dann und wann bückte, um verstohlen etwas aufzuheben. »Aha, een Kippensucher!« dachte Thiele, der selbst auch schon oft genug Zigarren- oder Zigarettenstummel aufgelesen hatte. Der Mann vor ihm hatte wohl seine Schritte gehört, denn er drehte sich jetzt um. Offenbar war er unangenehm berührt durch die Annahme, dass er bei seinem Tun beobachtet worden sei. Den harmlosen Morgenspaziergänger markierend, ging er langsam weiter und pfiff leise vor sich hin. Zweifellos wollte er Thiele an sich vorübergehen lassen, um dann ungestört weitersuchen zu können. Herangekommen, redete Thiele ihn an:
»Guten Morgen! Na - auch schon so früh auf die Beine?«
Verlegen blickte der Gefragte Thiele an und erwiderte leise den Gruß. Sie gingen jetzt nebeneinander her. Thiele sah ihn von der Seite an. Der Fremde war noch jung, höchstens 27 Jahre alt. Er sah blass und mager aus, machte aber sonst keinen verlotterten Eindruck. Seine Kleidung war noch gut erhalten, obwohl man es ihr ansah, dass der Träger die Nacht über darin geschlafen hatte. Nach diesen unauffälligen Feststellungen nahm Thiele das Gespräch wieder auf.
»Sie haben wohl auch keine Bleibe? Haben wahrscheinlich auch draußen kampiert?«
Eine tiefe Röte überzog das Gesicht des Befragten. Schnell wandte er sich Thiele zu und erwiderte erregt:
»Ja doch - ich habe eine Wohnung!«
Dann, nach sekundenlanger Pause, fuhr er fort: »Aber, nun - ich habe keine Wohnung!«
Und, als ob er Angst hätte, dass Thiele ihn falsch einschätzen könnte, fügte er rasch noch hinzu:
»Ich bin aber ein anständiger Mensch - kein
Strolch-, nur durch die wirtschaftlichen Verhältnisse - na, Sie werden ja wissen und verstehen... «
Thiele lachte: »Ja, mein Lieber, warum sollen Sie denn kein anständiger Mensch sein? Nur, weil Sie keine Wohnung haben? Das ist nun mal so. Sicher gibt es sehr viele, die ein Dach, oft ein prunkhaftes Dach über dem Kopfe haben und doch - - -Schweine sind, nicht eine Spur von anständiger Gesinnung in höherem Sinne besitzen, -... oder ist es nicht so?«
Mit einem stummen Kopfnicken bestätigte der Gefragte die Richtigkeit dieser Feststellung. Allmählich taute er auf und erzählte.
Er hieß Franz Kaufmann und war Buchhalter. Die Firma, bei der er mehrere Jahre tätig gewesen war, hatte Konkurs gemacht. Er lag auf der Straße. Seine Eltern lebten in der Provinz. Die hatten selbst schwer zu ringen, um durchzukommen. Solange er Stellung hatte, schickte er ihnen jeden Monat ein paar Mark. Zu denen konnte er also nicht. Aus der »ALU« und dann schließlich auch aus der »KRU« ausgesteuert, hatte er sein Zimmer nicht länger halten können und war nun ohne Quartier. Seit einigen Tagen trieb er sich so herum.
Während Thiele teilnahmsvoll zuhörte, zählte er unauffällig seine letzten paar Pfennige in der Hosentasche durch. Dann lud er seinen Begleiter ein, einen Kaffee mit ihm zu trinken. Sie gingen in eine kleine Kellerkneipe.
Den ganzen Tag über blieben sie zusammen.
Thiele ging in einige Häuser, um etwas zum »Abkochen« anzuschaffen, während der andere vor den Haustüren in der Nähe wartete. Abends gingen sie zum Wedding hinaus. In der Nähe des »Nassen Dreieck« stellte sich Thiele in eine Toreinfahrt, seinen Begleiter schickte er hinüber. Als dieser zögernd die Tür zu dem Saftladen öffnete, schlug ihm ein dicker Dunst entgegen. Zaghaft trat er ein und fragte höflich einen ihm am nächsten stehenden jungen Kerl nach »Herrn Albert Stern«.
»Jeh mal hinter, da wird er woll sin«, wies der ihn zurecht.
Stern saß mit dem Zahmen Willi und einigen anderen beim Kartenspiel. Als Kaufmann auf ihn zutrat, schaute er misstrauisch auf und grunzte: »Nu-u-u?«
»Ich habe Ihnen eine Mitteilung von Herrn Thiele zu überbringen.«
Mit einem Schlage änderte sich des Dicken Stern
Benehmen. »Ach so-------«, sagte er erfreut, erhob
sich und trat mit dem Fremden etwas zur Seite. Als er erfuhr, dass Thiele draußen wartete, ging er mit hinaus.
Thiele stand drüben in der Hauseinfahrt und beobachtete gespannt den Eingang des »Nassen Dreieck«. Als er seinen neuen Bekannten mit Stern heraustreten sah, atmete er etwas erleichtert auf. Im stillen befürchtete er aber doch, jetzt zu hören, dass er polizeilich gesucht würde.
Stern grinste über das ganze Gesicht, als er Thiele bemerkte. Schon von weitem winkte er. Herangekommen, sagte er: »Na, oller Junge, wie geht's? Kannst ruhig kommen, allet ollreit! Keen Hahn hat jekreht ieber det Faktum. Komm man mit rieber... «
Thiele strahlte: »Mensch, Albert, wie ick mir freie! Wenn't bloß alles jut abjeht...«, zweifelte er dann aber doch.
Wieder der alte Trott. Nachdem Thieles neuer Bekannter seinen ersten Widerwillen gegen das ihm völlig fremde Milieu überwunden hatte, fühlte er sich im »Nassen Dreieck« ganz wohl. Die Menschen dort waren ja im großen und ganzen sehr kameradschaftlich. In der ersten Zeit nahm Thiele ihn unter seine Fittiche und futterte ihn mit durch. Zum Fechten besaß er kein Talent. Dazu war er überhaupt viel zu schüchtern. Dafür aber machte er sich in anderer Weise nützlich. Muttchen ließ sich gelegentlich die Steuerbücher von ihm führen oder sonstige schriftliche Arbeiten verrichten, und als die Gäste des »Nassen Dreieck« erst wussten, dass er hervorragend zu »fackeln« verstand, hatte er genügend zu tun, Gesuche oder Bettelbriefe und sonstige »Flebben« für sie zu schreiben. Als Entschädigung für seine Tätigkeit bekam er Stullen, Bier, Schnaps, auch Zigaretten. Auch ein Spitzname wurde ihm bald angehängt. Bei den Gästen des »Nassen Dreieck« hieß er nur noch »Fackler«.
Er verstand es ausgezeichnet, sich alle Gäste zum Freund zu machen. Besonders bei den Frauen, mit denen er meistens zusammenhockte, »lag er dick drin«. Er war sozusagen »Hahn im Korbe« bei ihnen.
Vor einiger Zeit war im »Nassen Dreieck« eine neue Frau aufgetaucht. Eines Tages war sie so »hereingeschneit«. Niemand wusste, woher sie kam.
Schätzungsweise gegen die Dreißig, sah sie noch verhältnismäßig frisch und unverbraucht aus. Sie passte nur wenig zu den heruntergekommenen weiblichen Stammgästen, obwohl sie sich in der Kleidung nicht von ihnen unterschied. Ihr fehlte dieses so unendlich Müde und Zertretene, das alle diese Frauen mit sich herumtrugen. Die auffallende Blässe ihres einnehmenden Gesichts wurde noch betont durch die pechschwarze Farbe ihres vollen Haars, das ihr schnell den Spitznamen »Schwarze Minna« verschaffte. Man wusste von ihr nur, dass sie »Hof«-Sängerin war und in der Nähe eine Schlafstelle hatte. Daneben hatte sie ein paar Stellen, wo sie reinemachte. Die Stunde für fünf Groschen.
Mit den Nerven der Schwarzen Minna schien nicht alles in Ordnung zu sein. Bei der geringsten Kleinigkeit schreckte sie zusammen, flackerte es in ihren Augen ängstlich auf. Sie hielt sich abseits von den übrigen, trank für sich allein, manchmal wie ein Kutscher!
Wilhelm Thiele war sie schon des öfteren aufgefallen. Als er eines Abends von der Fahrt zurückkam, fand er sie mit der Einäugigen zusammensitzend. Er trat zu ihnen an den Tisch. Die Schwarze hörte auf zu sprechen und blickte ihn an. Donnerwetter, dachte er, hat die aber schöne Augen!
Er setzte sich neben sie. Nach und nach kamen auch der Zahme, der Dicke Stern und der Fackler. Auch diese nahmen am Tische Platz.
Alle hörten aufmerksam zu, was der Zahme erzählte. Der gebärdete sich ganz aufgeregt und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.
»- wir stehn also da vor't Schaufenster und kieken, - mit eenmal dreht sich der Dickbalch um, reißt de Klappe uff un brüllt, seine Brieftasche sei wech. In'n selben Oogenblick schnappt 'a mia -wat soll ick eich sagen - bei't Handgelenk un hält fest. Und dann fängt er an, uff mia inzuschrein -aber janz laut, sage ick eich: >Der Mann hat mir meine Brieftasche gestohlen. Polizei!!!< «
Die Einäugige war blass geworden und schaute angstvoll auf den Zahmen. Dieser fuhr fort:
»Also stellt eich det bloß vor! Ick denke, ick höre nich richtig, ick will mir jrade so'ne Beleidijung va-bitten, da hat mia schon eener bein Kanthaken un - ruff uff de Wache. Oben jing det Theata nu erst richtig los. Der Volljefressene behauptete steif un fest, ick hätte ihn de Brieftasche >Jemacht<. Na, Williken, denke ick bei mia, det kann ja scheen wern'n!«
Der Zahme unterbrach sich, um sich durch einen Kuhschluck zu stärken. Seine Käthe hatte rote Flecken im Gesicht und wusste vor Aufregung nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollte. Der Dicke Stern hustete vielsagend und dehnte wohlig seinen massiven Korpus. Die Schwarze Minna war ganz dicht an Thiele herangerückt und legte ihre Hand wie in Gedanken auf seinen Arm. Er tat, als bemerkte er es gar nicht. Dem Fackler war vor lauter Spannung die Zigarette ausgegangen, schnell steckte er sie wieder an. Der Zahme erzählte nun weiter:
»Also wie jesaacht, der Kerl behauptete, ick hätte seine Brieftasche. Nu wurde mia die Sache doch zu deemlich, un ick schlug Krach. Et half aber nischt. Schließlich krempelten se mia alle Taschen um - konnten aber nischt find'n. Der Dickwanst wa platt. Jetzt wurde ick aber kröötisch un saachte zu det dicke Schwein: Ick werde Sie wejen Beleidijung vaklagen - sehe ick aus wie'n Taschenkrebs, he? Un ieberhaupt: so mir nischt dir nischt eenen fremden Menschen vadächtigen - Sie —, wat denken Sie sich eejentlich? Wer weeß, ob Sie ieberhaupt eene Brieftasche gejabt ha'm! - Ooch die Schutzleute sahen den Dicken jetzt so eejenartig an. Den wurde det unbequem, er kriegte eenen roten Kopp, kloppte sich uff die Arschtasche und schrie: Hier ist sie drin gewesen! Mit eenmal wird er keeseweiß, fängt an se stottern und wird janz kleen. Tja - was ist denn das? ruft er astaunt un, ick denke, mia laust een Affe, holt de Brieftasche hinten raus —— det Schwein!«
Aufrichtig waren alle Hörer über den Dicken empört. Die Einäugige lächelte jetzt beruhigt; der Dicke Stern warf ein: »Na, un du? Hast'n denn eene vor'n Latz jeknallt?«
»Immer abwarten und denn Tee drinken«, erwiderte überlegen der Zahme. »Det dicke Ende kommt erst noch! Jetzt wurde ick keß, sage ick eich, un ooch die Blauen hatten eene Wut uff den Dicken. Also ick valangte, det sofort Anzeije wejen
Beleidijung jemacht wurde. Na, da konntet ihr wat eleb'ne. Der Dickkopp kriegt et mit de Angst zu dun -, mit eenmal wa ick sein Lieber Herr. Also: Mein lieber Herr, saachte er zu mia, nehmen Sie mir das nicht übel, und zieht eene dicke Patte aus de Tasche un legt een Zehnmarkschein vor mia uff den Disch. Da, als Entschädigung! saachte der Lump. Nee, sage ick, ick valange mein jutet Recht, weiter will ick nischt ha'm! - Da zieht er noch eenen Zehner raus und legt'n daneben. Nee! sage ick wieder, woll'n doch mal sehn, ob Sie enen anstend-jen Mann so beleidjen dirfen. - Da nimmt er die beiden Zehner wieder zurück un holt een Fuffziger raus. Ick sehe den Lappen vor mia liejen - janz jrien wird ma vor de Oogen. Donnerlitzken, denke ick, so ville Jeld - wat kann man da nich allens for
koffen: Futterage, Schnaps, un - un der da-------
(er zeigte auf die Einäugige, die erwartungsvoll über das ganze Gesicht strahlte), der da wat Schee-net koofen. Jut, sage ick, ick bin invastanden un will nu det Jeld nehmen. Plötzlich, da werde ick -- - munter un merke, det allens bloß een Traum war. Ik habe mia direkt jeärgert, sage ick eich!... «
Alle Zuhörer lachten laut los. Der Zahme lachte befriedigt mit. Mit vor Lachen nassen Augen blickte Thiele auf die Schwarzhaarige und bemerkte, dass sie allein ernst geblieben war.
»Nanu«, fragte er sie besorgt, »ist dir was?«
Sie zog ihre Hand zurück, sah ihn an und sagte: »Nein, mir ist gar nichts, bloß - die Geschichte gefällt mir nicht!«
»Wieso nich?« fragte er zurück.
»Weil sie bloß geträumt war... «
Der Fackler war nach und nach ein Stück Vertrauensmann von Muttchen geworden. Oft saß er mit ihr in dem Zimmer, dessen Tür durch die Aufschrift: »Privat« für alle übrigen Gäste gesperrt war. Wenn Muttchen jetzt mit Thiele sprechen musste, blickte sie an ihm vorbei. Es war ihr unbequem.
Wilhelm Thiele machte sich nichts daraus. Er saß viel mit der Schwarzen Minna zusammen. Abends gingen beide oft spazieren. Der Dicke Stern machte seine Glossen darüber.
Jetzt machte sich die Sonnenhitze bereits unangenehm bemerkbar. Die Bäume waren längst grün geworden. Durch die staubigen Straßen fuhren die Sprengautos und milderten ein wenig die stickige Glut, die von dem dampfenden Asphalt zurückgestrahlt wurde. Der Himmel war vor lauter Hitze ohne Farbe. In einem leuchtenden Dunst war er über der Riesenstadt ausgespannt. Träge und matt schlichen die Menschen dahin...
Thiele schlenderte durch die Anlagen, in denen alle Bänke dicht besetzt waren. Er bekam plötzlich eine heiße Sehnsucht nach Wald, nach Wasser und Wiese. Fühlte förmlich den Kieferngeruch in seine Nase steigen, sehnte sich nach wuchernden Hecken und frech herumspringenden Eichhörnchen. Mit einemmal erinnerte er sich an jenen Spaziergang, den er einen Tag vor der Katastrophe beim Kupferdiebstahl mit dem alten Schaler-Hermann und diesem Pechvogel, der Kalten Hand, unternommen hatte - überhaupt, was mochte der Alte jetzt wohl machen? Er hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen. Thiele beschloss, ihn aufzusuchen.
Auf der Lumpenstampfe erfuhr er, was er nicht erwartet hatte. Das furchtbare Unglück war dem alten »Naturforscher« so auf die Nieren gegangen, dass er anfing zu kränkeln. Als Unheilbarer kam er bald darauf ins Siechenhaus, nach der Fröbelstraße, wo er einige Wochen später gestorben war.
Traurig ging Thiele von dannen. Er hatte vor seinen Augen den Hermann - nicht den alten, sondeern den Hermann als Kind, der mit heraushängender Zunge neben der Pferdebahn herlief, in der seine Mutter vom Besingepflücken heimwärts fuhr.
Wenn Thiele mitunter Glück gehabt und etwas Geld verdient oder »geerbt« hatte, brachte er der Schwarzhaarigen, in die er verschossen war, kleine Geschenke mit. Einmal gingen sie zusammen in ein Vorstadtkino. Im Dunkeln nahm er ganz vorsichtig ihre Hand und streichelte diese. Leise lehnte sie darauf ihren Kopf an seine Schulter und summte verträumt die Melodie mit, die der Klavier-Spieler aus seinem verstimmten Klimperkasten heraustrommelte. Nach der Vorstellung suchten sie einen Park auf und setzten sich dort eng aneinandergerückt auf eine Bank. Artig und lieb wie zwei Kinder hielten sie gegenseitig ihre Hände gefasst und schauten sich lächelnd an. Die Minna lehnte ihren Kopf nach hinten über und sah träumerisch zum nächtlichen Himmel empor, der sich über ihnen in einem tiefen ruhigen Schwarzviolett dehnte.
»Ach, die vielen, vielen Sterne - wie sie flimmern und funkeln, so mächtig viel -, die kann kein Mensch zählen... det sieht fast aus, als ob sie uns zuwinkten - wie schön das ist! Weißt du, Wilhelm, so könnte ich mit dir sitzen immerzu - nich an morgen und nich an übermorgen denken-, bloß still dasitzen und jar nich denken.«
Heftig drückte Thiele ihre Hand und schaute sie forschend an.
»Sag mal, - haste nich auch manchmal den Wunsch, - ich meine so das Verlangen, dir einen Menschen jejenüber so richtig auszusprechen, so janz rückhaltlos, - damit man nich immer alles so alleine mit sich rumtragen muss?« fragte die Schwarze ihn leise.
Er zog sie fest an sich und sagte herzlich:
»Ich kann das janz gut verstehen, Minna!«
Ermutigt begann sie von neuem:
»Wie ich damals dazu kam, das kann ick jar nicht allens erzählen, et ist 'n janzer Roman - - - Ich wohnte, als ich det machte, bei 'ner Frau, die einen Schlafburschen hatte. Pulverkopp nannten ihn alle. Er hatte keine Arbeit, ging aber gut angezogen, und Geld hatte er auch immer. Als ich mal todmüde nach Hause kam, traf ich ihn vor der Haustür. Na, Minna, sagte er zu mir so ganz treuherzig. Wie geht es dir denn?, und fragte mir nach meine Gesundheit und so, bis wir richtig in't Gespräch kommen, dann geht er mit mir nach oben. Ich koche Kaffee, und er holt aus seiner Stube Brot - et war alles so jemütlich. Die Nacht jing er nich mehr raus aus mein Zimmer.
'n andern Tag, als ich kam, lag er schon in mein Bett. Ick musste ja lachen über den frechen Kerl -was sollte ick auch machen? Ick war eijentlich janz froh, dass er da war, det ick einen Menschen um mir hatte, immer so alleine...
Ich verdiente für beide jenug. Aber nach een paar Wochen, da wurde er janz anders - so richtig jemein wurde er. Jeschlagen hat er mir, wenn ick nich genug brachte. Da habe ick manchmal vor mir hingeschluchzt. Wenn ick nur een Wort sagte, schlug er los, er war fürchterlich grob. Na, ick habe mir auch an die Prüjel gewöhnt, denn wenn ick mir nich daran jewöhnt hätte, wär's jar nicht jejangen.
Manchmal schlug er den Tag een paar Mal auf mir ein, - dann jing er los, und wenn er wiederkam, haute er wieder los.
Einen Abend regnete es mächtig, und det Jeschäft jing schlecht. Da lief ick zu ihm in die Kneipe. Als ick an seinen Tisch komme, wo er Karten spielte, brüllte er mir an: >Raus! Hier sitzen -is nich... < Ich will nur ein Wort sagen, - da schmeißt er een Bierglas nach mir. Warte, du Aas,
sagte er, wenn ick nach Hause komme--------Ich
war schon so müde, det ick kaum noch konnte, nass gemacht hatte ick mir vor lauter Angst. Als er dann nach Hause kam, nahm er mir unter seine Füße...«
Thiele zitterte vor Empörung und Mitgefühl. Teilnahmsvoll drückte er der Schwarzen Minna die Hand.
»Ick habe nie einen Menschen denunziert, aber nach dieser viehischen Misshandlung jing ich am anderen Tag zum Alex.
Als die Polizei kam, schon janz früh um fünf Uhr, war ick nich zu Hause. An der Ecke habe ick in einen Hausflur jestanden und habe jesehen, wie sie ihn rausjebracht, - jeknebelt. Da habe ich doch wieder Angst um ihn gekriegt und bin am andern Tag zum Polizeipräsidium jejangen. Ick wollte alles wieder zurücknehmen, alles widerrufen. Aber die haben jesagt: Das kennen wir schon.
Auch bei die Jerichtsverhandlung wollte ick ihn entlasten, aber es war alles umsonst: Er hatte schon mal wejen Zuhälterei jesessen.«
Thiele fühlte das Bedürfnis, der Frau neben sich etwas Gutes zu sagen: »Na, Minna, paß mal auf, -wie schön das noch alles wird, - wenn die Zeiten erst mal wieder besser sind und ich Arbeit habe. Wir mieten uns dann Stube und Küche, und ich kaufe dir einen weißen Küchenschrank. Und wenn ich morjens nach Arbeit jehe, dann winkst du mir vom Fenster nach, - und wenn ich abends komme, - hast du alles schön sauber jemacht, und das Essen steht auf dem Tisch. Minneken, wenn ich mir das vorstelle-------das wird ein Leben!!!«

 

VIII.

Ein in der Geschichte des »Nassen Dreieck« noch nie dagewesener Fall trat ein. In einem eleganten 8-Zylinder-Horch-Wagen waren zwei vornehme Herren angelangt, ließen den Wagen einige Häuser entfernt stehen und begaben sich direkt in Muttchens Giftbude, wo sie sich zwei Becher Bier bestellten und diese dann, ohne daran zu nippen, unbeachtet auf dem schmutzigen Schanktisch stehenließen. Die beiden merkwürdigen Besucher erregten natürlich bei den Gästen Aufsehen. Die zwei wanderten durch die Räume, beschauten sich neugierig alles und jeden und tauschten leise ihre Ansichten aus. Einer von ihnen machte sich eifrig in einem Taschenbuch Notizen. Es war ein Mann mit einem breiten Gesicht, um dessen eckiges Kinn ein brutaler Zug lag. Seinen Hut trug er wie ein Viehhändler weit ins feiste Genick geschoben. Er sah durch seine goldgeränderte Brille geflissentlich an den ihn umgebenden Menschen vorbei.
Es war im »Nassen Dreieck« still geworden. Die Kunden starrten alle stumm auf die beiden Männer, die jetzt versuchten, mit einigen der Gäste in ein Gespräch zu kommen. Einer nach dem anderen trat hinzu, bald waren die beiden von einer ganzen Gruppe umgeben. Schnell sprach es sich herum, dass sie vom Film waren und Typen suchten. Auch Thiele und der Dicke Stern waren nach vorn gekommen. Thiele sah, wie der eine Namen notierte. Da kann man vielleicht etwas verdienen, dachte er und schob sich näher heran. Jeder wollte der erste sein; ein furchtbares Durcheinander entstand, alle sprachen und brüllten zu gleicher Zeit. Die Besucher wurden mit dem Rücken gegen den Ladentisch gedrückt. Man hörte, wie sie sich gegenseitig auf einzelne der Gestalten aufmerksam machten: »Der da, sieht gut aus!« Oder: »Der Alte da, mit dem grauen Bart.«
Nur der Goldbebrillte sprach mit den Leuten. Sein hochmütiger Ton ließ erkennen, dass er sie als außerhalb der menschlichen Gesellschaft stehend betrachtete und es eigentlich als unter seiner Würde ansah, überhaupt mit ihnen zu sprechen.
»Komm du mal her,- ja, du, mit dem komischen Vollbart; auch du da, mit der schiefen Nase, - den Namen, wie? Lauter sprechen, - ach so... «
Hin und her drängten die aufgescheuchten Stammgäste, jeder suchte so weit wie möglich nach vorn zu kommen. Etwas Flehendes lag in ihrer Stimme:
»Sie, Herr! Ich komme doch auch ran, nicht? Sie - Sie!!«
Alle wollten sich irgendwie bemerkbar machen. Thiele, Stern und der Zahme waren auch notiert worden. Der Fackler war schmählich abgerutscht.
»Sieht viel zu gut konserviert aus«, hatte das Vollmondgesicht gemeint.
jetzt mussten noch die Weiber Revue passieren. Die als unbrauchbar befundenen Männer drängten sich missmutig zur Seite und gingen mit schiefen Köpfen auf ihre Plätze zurück. Dort saßen sie, schnitten böse Gesichter und schimpften unverhohlen über den ganzen Filmkram und versuchten die anderen misstrauisch zu machen. Die Aufgeschriebenen aber lachten nur still vor sich hin.
Eben hatten die Filmleute die Einäugige entdeckt. Sie stutzten, rückten die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander. Sie musste vortreten, sich von allen Seiten in Augenschein nehmen lassen. Ohne das Gesicht zu verziehen, drehte sie sich gleichgültig auf ihrem schiefen Absatz herum und ließ sich von hinten bewundern. Die Kurbelfritzen waren begeistert:
»Einfach fabelhaft! Großartig, ganz ausgezeichnet!«
Die männlichen Mitglieder der Korona wussten nicht recht, was sie von diesen Ausrufen halten sollten, und riefen der Einäugigen zu: »Dir ha'm se wohl for de Hauptrolle ausjesucht???«
In den Zurufen hörte man etwas den Neid heraus. Einige lachten und johlten. Der Zahme holte seine kesse Beere aus dem Gedränge heraus und war stolz, dass sie ein solches Aufsehen erregt hatte. Deutlich gab er den beiden Filmleuten zu erkennen, dass er zur ihr, dem einäugigen Musterexemplar, gehörte.
Unter den zwanzig für würdig befundenen Frauen befand sich auch die Schwarze Minna.
»Also morgen früh um acht Uhr alles pünktlich hier zur Stelle - aber det mir keiner besoffen kommt!« befahl kurz der Goldbrillenmann. Er zahlte die beiden Bier, die noch immer auf dem Ladentisch standen und schon schal wurden. Dann
gingen sie. Alle Gäste drängten vor die Tür und sahen zu, wie die beiden ihr Auto bestiegen. Ohne das »Nasse Dreieck« und die vor ihm stehenden Gäste auch noch eines Blickes zu würdigen, sausten die zwei vorbei.
»Feine Leute!« sagten die Aufgeschriebenen, die anderen aber meinten, ihnen käme die ganze Sache verdächtig vor, wer weiß, wofür es gut sei, dass sie selbst damit nichts zu tun hätten.
Den ganzen Abend herrschte große Aufregung. Man sprach ausschließlich von dem sensationellen Besuch der Filmleute. Muttchen musste ein paar Mal ihre wuchtige »Hausordnung« vom Haken nehmen, um hitzige Meinungsverschiedenheiten zu schlichten.
Pünktlich zur festgesetzten Zeit standen am anderen Morgen zwei Lastautos vor der Tür des »Nassen Dreiecks«. Vierzig Männer und zwanzig Frauen kletterten schwerfällig auf die Wagen. An den beiden Seiten der Wagen wurden große Planen heruntergelassen, damit man diese Fuhre zusammengehäuften Elends von außen nicht sah. Die gestern Zurückgewiesenen blieben auf ihren Plätzen im »Nassen Dreieck« sitzen und gingen nicht mal zur Tür, als die Lastautos abfuhren.
Dicht zusammengepresst saßen die vielen Menschen auf den beiden Wagen. Wenn der Wagen in schneller Fahrt um eine Ecke fuhr, purzelten sie lachend und schreiend durcheinander. Es war fast dunkel im Wageninnern, nur durch die Ritzen schoss grelles Licht hinein und blendete die Augen, die es traf. Man unterhielt sich munter, ohne einander sehen zu können. Einer fing an, einen Schlager zu grölen. Alle übrigen stimmten mit ein. Die Chauffeure gaben Gas, um schneller davonzukommen. Verdutzt schauten die Straßenpassanten den seltsamen Radau-Autos nach.
Endlich hielten die Wagen. Die Plandecken wurden hochgerollt. Mit lahmen Knochen kletterten die Fahrgäste von den hohen Wagen herunter. Ihre Augen mussten sich erst wieder an das helle Tageslicht gewöhnen. Eng aneinandergerückt standen sie auf dem großen Hof des Filmateliers. Wie zum Kriegsdienst Ausgehobene, die, eben auf dem Kasernenhof eingetroffen, instinktiv so nahe wie möglich zusammenkriechen, um dem Kommenden nicht so allein gegenüberzustehen.
Alles, was ihnen dort zu Gesicht kam, war ihnen neu und fremd, erfüllte sie mit ängstlicher Neugier, die sie hinter übertriebener Schnoddrigkeit zu verbergen suchten. Furchtsam schauten sie nach den großen geheimnisvollen grauen Schuppen hinüber, deren Türen mit weißen Schildern bedeckt waren. Rote Tafeln standen auf Pfählen überall auf dem Hof herum. Ein junger Mann in weißem Kittel, ein Blatt Papier in der Hand, kam jetzt über den Hof zu ihrer Gruppe. Er rief einzeln die Namen auf, führte sie dann alle um eine große Halle herum durch einen weißgestrichenen Gang mit vielen Türen, Stufen hinab, wieder durch mehrere Türen. Die Frauen von den Männern streng getrennt, wurden die Stammgäste des »Nassen Dreieck« in zwei großen Kellerräumen untergebracht.
»Sie müssen sich durchaus ruhig verhalten, Rauchen ist strengstens untersagt. - Kein Mann darf zu den Frauen hinüber. - Polizeiliche Vorschrift!« schärfte der im weißen Kittel allen ein und verschwand.
Als die Männer vorhin das Gebäude betreten hatten, nahmen sie unwillkürlich alle ihre Kopfbedeckung ab und behielten sie in der Hand. Jetzt saßen sie eingeschüchtert ganz still auf ihren Plätzen, die grobe Holzbänke ihnen boten, hatten die blaugeäderten Hände schwer auf die spitzen Knie gelegt und harrten geduldig des Kommenden. Einige nickten ein. Nach und nach begann es zu murmeln, immer lauter und lauter. Die Worte klapperten herum, prasselten gegen die kahlen Wände des leeren Raumes, von wo sie als hohlklingendes Echo nochmals in das aufquellende Gemurmel zurückfielen.
Sich ganz verlassen fühlend, saßen die Frauen in dem ihnen zugewiesenen Raume und unterhielten sich in kleinen Gruppen flüsternd. Sie waren scheu und verängstigt, weil die Männer nicht da waren.
Auf einen Sprung kam Aufnahmeleiter Scharfenstein - das war der Brutale mit der Goldbrille - nach unten zu den Männern, warf einen Blick in den Raum und verschwand wieder. Dann eilte er zu den Frauen hinüber. An der Tür des Raumes stehen bleibend, suchte er mit den Augen die Einäugige. Als er sie entdeckte, winkte er ihr mit dem Zeigefinger zu, ihm zu folgen. Die einäugige Käthe arrangierte ihre Augenklappe ein wenig, stand auf und lief kaltschnäuzig hinter dem Mann her.
Der quecksilbrige Scharfenstein war immer ein paar Meter voraus. Oben gelangten sie in einen großen Saal, dessen Fußboden mit Brettern, Balken und Leitungskabeln in wirrem Durcheinander bedeckt war. Springend und kletternd mussten sie sich ihren Weg bahnen. An merkwürdig seltsamen Kulissen und Aufbauten kamen sie vorbei. Die Atelierarbeiter, an denen die Einäugige vorbeikam, schüttelten unwillkürlich ihre Köpfe und schauten diesem am Filmhimmel neu aufgehenden »Star« lachend nach. Sie tat, als bemerke sie das alles gar nicht.
Irgendwo hinter Kulissenwänden blitzte unerträglich grell ein Licht auf, in das man gar nicht hineinsehen konnte - so blendete es die Augen. Plötzlich stand die Einäugige vor einer Menschengruppe. Alle sahen so gut genährt aus und hatten etwas sehr Gepflegtes. Eine junge Dame mit einem Wachspuppengesicht saß graziös auf einem Stuhl hingelehnt. Sie klemmte sich jetzt ein Einglas ins Auge und fing an, die Einäugige in ganz unverfrorener Weise von oben bis unten zu beäugeln. Alle lächelten, aber durchaus nicht diskret. Scharfenstein blickte in der Pose eines sehr selbstbewussten Malers, der sein neuestes Gemälde zeigt, um sich und fragte das Monokel-Dämchen gespannt: »Nun, habe ich zu viel gesagt???«
Diese betrachtete noch immer mit neugierigem Staunen die Frau mit der schwarzen Augenklappe. In ihrer Stimme lag Anerkennung, als sie sagte:
»Dolle Sache, - wo haben Sie die bloß aufgegabelt?«
Die umstehenden Männer bestätigten ihr Urteil:
»Wirklich ganz ausgezeichnet! Charmant!«
Der Aufnahmeleiter lächelte geschmeichelt, wandte sich dann an die Einäugige und (als wollte er zeigen, wie er mit dieser Art Menschen umzugehen verstand) sagte - von oben herab, jovial - zu ihr:
»Nu ab, - kannst wieder gehen, - seid da unten aber hübsch artig!«
Die Einäugige kehrte zu den übrigen Frauen zurück. Alle waren neugierig und wollten genau wissen, wo sie gewesen war, was sie gesehen hatte. Sie aber setzte sich still in eine Ecke und gab nur kurze, abweisende Antworten. Äpfelchen war empört: »Jetzt bildet sie sich wunder was ein!«
Inzwischen war ein Friseur mit seinem Gehilfen zu den Männern gekommen. Einzeln mussten sie vortreten und sich kritisch betrachten lassen. Gewisse »Schönheits«-Fehler, die der Haarkünstler feststellte, wurden sofort korrigiert. Einem wurde ein blutunterlaufenes blaues Auge angeschminkt; einem anderen die Haare mit Fett eingeschmiert und zur Sechsertolle gelegt. Die meisten aber entsprachen unverändert dem erwünschten Typ.
Der geschmeidige Lockenpriester verschwand wieder, seinen Schminkkasten gravitätisch unter den Arm geklemmt. Sein Helfer blieb unten bei den Männern. Diesen bestürmten sie jetzt mit tausend Fragen.
»Kollege«, sagten sie vertraulich, »wie lange dauert's denn noch? Gibts denn hier nischt zu schilen, ick meene (verbesserte sich der Frager) zu essen?«
Der junge Kerl kam sich beinahe vor wie der Regisseur in höchsteigener Person. Er suchte den Leuten zu imponieren, indem er ihnen fantastische Dinge erzählte und sich an ihren erstaunten Gesichtern ergötzte.
»Die Hauptdarstellerin bekommt achthundert Mark für einen Tag!« protzte er.
»Achthundert Mark???«
Die Hörer staunten, als ob dieser Schnauzenschinder selbst die Primadonna wäre.
»Das ist noch gar nichts«, fuhr er wichtigtuend fort, »in unserem letzten Film erhielt ein Schauspieler für die dreizehn Drehtage fünfzigtausend!«
Triumphierend blickte er sich um wie ein Schwergewichtler, der eben einen neuen Weltrekord verbrochen hatte. Alle murmelten staunend und bemühten sich, von dieser für sie fast unvorstellbar großen Summe einen schwachen Begriff zu bekommen.
»Wat macht der denn mit det ville Jeld?« fragte einer schüchtern.
»Junge, Junge - der kann aber leben!« sagte ein anderer.
Stern grinste boshaft: »Dafier kriejen die andern desto wenjer - irgendwo muß't doch herkomm'n... «
Der Zahme Willi war anderer Meinung: »Weeste, Albert, so een Mensch hat aber ooch janz andre Ausjaben wie unsereener, muss immer tiptop in Schale sein un so...«
Thiele blickte sinnend vor sich hin: »Fuffzigdausend Märker, bloß een Hundertstel davon möcht ich hab'n.«
Der Zahme spuckte verächtlich auf den Fußboden: »Ick wär schon mit'n Dausendstel zufrieden!«
Die Männer sahen sich an und brachen in ein dröhnendes Lachen aus.
Nachdem sie einige Stunden hier unten zugebracht hatten, wurde plötzlich die Tür aufgerissen: »Los, alle rauf zur Aufnahme!«
Schwerfällig erhoben sich die Leute und trotteten hinter dem Mann einher. Auch sie turnten und stolperten, wie vorhin die Einäugige, über die Kabelschlangen hinweg zur anderen Seite an der großen Halle, wo die Dekorationen standen. Schauspieler, Angestellte, Arbeiter - alles lief und brüllte dort durcheinander. Hoch auf einer Plattform saßen Beleuchter und probierten an Scheinwerfern herum.
Jetzt kamen auch die Frauen von unten herauf; sie waren ehrlich erfreut, ihre »Kerls« wohlbehalten wieder zu sehen.
Alle wurden nun in die Dekoration hineingeführt. Erstaunt sahen sie sich um: das war ja fast wie in Muttchens »Nassem Dreieck«! Und doch war alles so eigentümlich anders, so kalt und ungemütlich. Die Leute wussten selbst nicht, woran das lag. Scharfenstein, der allgegenwärtige Aufnahmeleiter, kam angeflitzt, hieß das Pennervölkchen an den Tischen Platz nehmen, bellte aufgeregt mit ihnen herum. Auch der Regisseur gab jetzt verschiedene Anweisungen.
Der Scharfenstein sah alles und war überall. Fortwährend kommandierte er:
»So setzt euch doch auf die Stühle hin, - tut, als wenn ihr in eurer Kneipe seid, - nicht so hölzern, nicht so steif. - Der Verhungerte da, 'n bisschen vorrücken, so! Die da mit der Augenklappe, - hier mit ran an den Tisch!«
Er überschrie sich fast: »Nicht in den Apparat sehen! Nicht das Bier beim Probieren trinken, -
bloß so machen, als ob-------Bühne, Kerl, wo biste
denn? Rasch, Zigaretten verteilen! So, jetzt feste qualmen!«
Die armen Teufel aus dem »Nassen Dreieck« gaben sich bereitwillig die größte Mühe, so zu sein, wie sie nicht waren, saßen steif und fremd da. Es dauerte sehr lange, bis der Regisseur zufrieden war und mit dem Drehen begonnen werden konnte.
»Aufnahme! - Licht!«
Grell überflutete es den Raum, über dem oben geheimnisvoll ein dunkler Abgrund hing. Der unerträglich grelle Schein der Projektoren biss den Leuten in die Augen; sie blinzelten und wischten sich mit den Händen die Nässe hinweg. Strahlendweiß erglänzte das Wolkenspiel des Zigarettenqualms über ihren Köpfen. Endlich war die erste Qual überstanden!
Diese Aufnahme war beendet. »Licht aus!« Stockdunkel wurde es jetzt plötzlich. Eine kurze Pause... Dann folgte wieder Aufnahme nach Aufnahme.
Die Leute gossen das Bier nur so in den Hals, rauchten wie Fabrikschlote! Dabei mussten sie fort-
gesetzt grölen. Schließlich schwankten sie hin und her, weil ihnen von dem ganzen ungewohnten Theater der Kopf schwindelte. Pause!
Ganz benommen stieg die Elendskolonne nach ihrem Keller hinab. Dort traktierte man sie freigebig mit - trockenen Schrippen und Malzkaffee!!!
Fast keiner sprach ein Wort. Zusammengeduckt saßen sie da. Dann wieder: »Rauf zur Aufnahme!« Es war noch nicht alles fertig. Die Kunden standen herum und warteten darauf, dass sie in die Dekoration geführt wurden. Thiele sah interessiert zu, wie einige Leute abseits dabei waren, eine neue Dekoration aufzustellen. Ein junger Arbeiter, der in seine Nähe kam, sprach ihn an:
»Von wo haben sie euch eigentlich geholt?«
Darüber aufgeklärt, forschte er weiter: »Habt ihr denn was ausgemacht? Ich meine, haben sie euch gesagt, was ihr bezahlt bekommt?«
Thiele stutzte: »Donnerwetter! Ja, richtig - darüber hätte man doch vor allem Klarheit haben müssen!«
Keiner von ihnen hatte daran gedacht, sich vorher Gewissheit zu verschaffen.
»Na«, fuhr der junge Arbeiter fort, »dann passt bloß auf, dass sie euch nicht übers Ohr hauen! Die wollen an euch und durch euch verdienen, sogar noch an den paar Kröten, die euch von Rechts wegen zustehen. Ihr solltet wirklich beizeiten fragen, was sie euch geben wollen.«
Thiele sprach später mit Stern und dem Zahmen darüber. Willi meinte: »Habt euch doch nich so; wia wer'n nachher schon sehen!«
»Ja, nachher, wenn es zu spät ist«, erwiderte Thiele. Auch Stern stimmte ihm zu.
»Komm«, sagte er, »wolln mal mit dem Flimmeronkel een Wörtken red'n.«
Scharfenstein, der ihnen zufällig gerade über den Weg lief, wollte nichts hören:
»Dazu hab' ich doch jetzt keine Zeit, - hab' doch wirklich Wichtigeres zu tun!«
Als der Atelierarbeiter wieder in Thieles Nähe kam, erkundigte er sich nach dem Ergebnis.
»Wo kann man euch heute abend sprechen?« fragte er, als er von Scharfensteins Verhalten erfahren hatte. Thiele schlug das »Nasse Dreieck« als Treffpunkt vor.
Die Vorbereitungen für die letzte Aufnahme waren jetzt beendet. Wieder ging es los. Der Regisseur, ein zwerghaft kleines Kerlchen, mühte sich ab, den Leuten etwas beizubringen. Mit dünner, schriller Stimme redete er auf sie ein. Dazu machte er mit den Händen Bewegungen wie ein Rummelplatzhypnotiseur:
»Ganz traurig müsst ihr jetzt sein - ganz traurig. Denkt doch mal an eure liebe Mutter - - - an Weihnachten! So, jetzt müsst ihr weinen, - nu los doch, heult doch! Versteht ihr denn nicht? Weinen sollt ihr!«
Er flehte und jammerte und brachte sich fast um. Ein rasch herbeigeholtes Grammophon musste zur Unterstützung seiner vergeblichen Bemühungen, die verhärteten Sünder zum Weinen zu bringen, das in doppeltem Sinne traurige Lied von der »Rasenbank am Eiterngrab« hergeben. Teils aus natürlicher Gutmütigkeit, teils auch, um bloß die quälende Stimme des auf ihre Tränen versessenen Regisseurs nicht mehr hören zu müssen, gaben die lieben Leutchen sich wirklich ehrliche Mühe, ihm sein Verlangen zu erfüllen. Aber dieser geheuchelten Traurigkeit gegenüber wollten ihre an ganz andere Erfahrungen gewöhnten Tränendrüsen auch nicht die Spur eines Tropfens hergeben.
Nun trat wieder Herr Scharfenstein in Funktion. Er hielt schon längst eine kleine Schüssel geschälter Zwiebeln bereit, die er nun unter den stümperhaften Akteuren und Aktricen verteilen ließ. Auf diese Weise wurde der Funktion der streikenden Tränendrüsen nachgeholfen. Das oft bewährte Mittel tat seine Dienste. Nass rollten den Leuten Zwiebeltränen über die Backen. Der Regisseur war befriedigt.
Für heute machte man Schluss mit den Aufnahmen. Der weißbekittelte Listen-Mann, der heute morgen ihre Namen verlesen hatte, kam zu ihnen und zahlte ihnen ihre »Gage« aus. Den meisten von ihnen wurden zwei, einigen wenigen »Prominenten« drei Mark in die Hand gedrückt. Dann wurden sie in Gnaden entlassen. Die Leute aus dem »Nassen Dreieck« drehten die Silberlinge hin und her und wussten nicht recht, ob sie nun zufrieden sein oder sich ärgern sollten.
Als sie im verhangenen Lastauto wieder durch die Straßen sausten, saßen sie, mit bösen oder stumpfen Gesichtern, schweigend da.
Es war schon 8 Uhr, als der Wagen vor dem »Nassen Dreieck« hielt. Die Zurückgebliebenen sahen die Gesichter der »Filmleute« und lächelten schadenfroh. Alles drängte jetzt an die Theke, um den heimlichen Ärger hinunterzuspülen.
Etwa eine Stunde später kam der junge Atelierarbeiter. Zunächst sprach er eine Weile mit Thiele allein, der bald darauf aufsprang und alle, die heute da draußen im Filmatelier waren, in den hinteren Raum rief. Auch die nicht direkt Beteiligten wurden neugierig und drängten nach hinten. Das war in dem ewigen Einerlei des »Nassen Dreieck« mal etwas Neues. Keiner wollte sich das Erwartete entgehen lassen.
Thiele stellte sich auf einen Stuhl und erhob wortlos die rechte Hand. Der Lärm ließ sofort nach, alle schauten gespannt auf ihn. Es dauerte aber doch eine kleine Weile, bis es so still geworden war, dass er reden und von jedem verstanden werden konnte. Dann begann er ganz sachlich:
»Wir waren nun heute da draußen beim Film und haben beinahe zwölf Stunden da zugebracht. Ich glaube, ein jeder von uns hat wohl im stillen gedacht, etwas mehr dafür zu kriegen. Man hat uns aber mit diesen paar Kröten abgespeist. Die Bande denkt, weil wir Penner sind, können sie mit uns machen, was sie wollen. Sie meinen, wenn man uns een paar elende Lausebeene auf'n Disch legt, sin wa zufried'n. Jewiss, et is ejal, ob wir hier rumsitzen oder da den Klaumauk mitmachen, und mit rausjefahren sind wir ja alle schließlich janz jerne, weil wir hofften, een bißken zu vadienen; aber so-o-o-o, nee, so hab ick mir die Sache doch nich jedacht!«
Alle hatten aufmerksam zugehört. Einige machten jetzt beifällige Bemerkungen.
»Jawoll, Willem hat janz recht -, die Dickköppe wolln uns bloß ausmisten. Solln sich ihr'n Dreck alleene machen!«
Thiele wollte weiterreden, hatte aber plötzlich den Faden verloren. Verlegen suchte er nach einem Anhaltspunkt. Da traf sein Blick die brennenden Augen der Schwarzen Minna, die ihn ermutigend anblickten. Sofort konnte er wieder weiter:
»Und dann hat der Kollege hier erzählt, dass sie sonst, wenn sie sich Leute vom Arbeitsnachweis holen, viel mehr bezahlen müssen. Wir müssen uns mal überlegen, wat wir morjen da machen wollen.«
Thiele war noch nicht ganz fertig - da brüllte hinten ein junger Kerl los:
»Bravo, Willem - recht haste, wia sin doch schließlich nich so doof, uns von die blöden Stuppen uff de Nudel schieben zu lassen!«
Thiele sprang vom Stuhl herab. Alle klatschten jetzt Beifall und waren begeistert. Stolz schaute die Schwarze Minna auf Wilhelm. Ein alter Kunde mit grauem Vollbart stand auf, machte sich bemerkbar und fing hüstelnd an zu sprechen. »Lauter!« riefen die Hintenstehenden. »Sperrt eire Ohren doch uff! Ich rede schon laut jenuch. Ick sage eich bloß det eene, wia könn zufrieden sinn, dat wia die paar Mark vadien könn, wia könnse alle jut jebrauchen. Un ick jloobe, wenn wia die Leite jetz Theater machen, schmeißen se uns raus und denn ha'm wia janischt. Wat ihr da wollt, det is doch allet Quatsch; bei die Zeiten muss ma zefrieden sinn mit jedem Sechser, 'n Pfennig is besser wie janischt!«
Große Unruhe unter den Zuhörern machte sich bemerkbar. Einige warfen dem Graubart recht unzarte Bemerkungen an den Kopf:
»Olle Quasseltute! - Dreckiger Wasserpollack! Deemlichst Aas! Lass dia deinen Sauerkohl abhacken un schmor'n dia!«
Der junge Atelierarbeiter hatte zunächst lächelnd zugehört, machte jetzt aber ein ernstes Gesicht und stand auf. Alle schwiegen erwartungsvoll.
»Zankt euch nicht; das hat ja keinen Zweck!« sagte er begütigend. »Könnt ihr euer wohlverdientes Geld gebrauchen, oder habt ihr soviel übrig, um den Leuten, die doch Pulver genug haben, noch was zu schenken? Sonst rennt ihr euch nach 'n paar Plautzpfennige die Hacken ab; hier aber, wo's um euern rechtmäßigen Lohn geht, wollt ihr still sein? Wenn ihr durchaus darauf verzichten wollt, nun gut, - das ist eure Sache!
Wundert euch denn aber nicht, wenn sie euch obendrein noch für dämlich halten und sich über euch lustig machen. Das wollt ihr doch wohl nicht? Ich weiß bestimmt, dass sie in den nächsten Tagen auf euch angewiesen sind. Die Dekorationen sind aufgebaut, keine andern so schnell zu beschaffen. Jeder Tag kostet sie - ob sie drehen oder nicht -einige Tausend Mark Ateliermiete. Ehe sie die opfern, bezahlen sie euch lieber ein paar Mark mehr. Wenn ihr aber wirklich so blöde sein wollt und
euch mit dem Gebotenen begnügt, zahlen sie später andern armen Teufeln auch nicht mehr. Also: Seid wachsam und fordert ganz dreist, was euch zusteht.«
Der junge Arbeiter war fertig. Es herrschte einige Augenblicke völlige Stille im Raum. Die Leute mussten erst verdauen, was ihnen da so plausibel gesagt worden war. Dann aber brach die Begeisterung los: man klatschte, schrie und lachte durcheinander. Alle waren jetzt Feuer und Flamme.
Thiele besprach noch mit Stern und dem Atelierarbeiter, wie sie die Sache morgen deichseln wollten. Dann ging er bald nach hinten schlafen. In Muttchens Logis waren heute alle Betten belegt!
Thiele lag noch lange wach. Er malte sich aus, wie er wohl früher in seiner Eigenschaft als Wiegemeister unter ähnlichen Umständen gehandelt haben würde. Fast schämte er sich ein wenig. Wie merkwürdig war es doch, dass er heute über viele Dinge ganz anders urteilte als damals! Was war er bloß für ein Trauerkloß von Kerl gewesen; er kannte sich kaum wieder. Direkt feindselig stand der Thiele von heute dem von damals gegenüber!
Am anderen Morgen kletterte die Elite aus dem »Nassen Dreieck« wieder auf die Lastwagen, um zum Filmatelier hinauszufahren. Als die Chauffeure die Plandecken an den Seiten herunterlassen wollten, verhinderten die aufgeklärten Kunden das ganz energisch. Die beiden Fahrer waren ratlos, fuhren erst dann los, nachdem der eine von ihnen telefoniert hatte.
Die Schupoposten, an denen die auffälligen beiden Lastwagen vorübersausten, wurden nervös und schauten unsicher hinterdrein. Die bürgerlichen Passanten drehten ängstlich die Köpfe weg und liefen dann schneller ihres Weges. Der durch das Telefongespräch schon informierte Scharfenstein stand auf dem Hof des Filmateliers und erwartete die beiden Autos in böser Stimmung. Scharf und schneidig brüllte er die ihn herausfordernd anblickenden Stammgäste des »Nassen Dreieck« an:
»Was fällt euch denn ein? Ihr seid wohl verrückt geworden, solche Schweinereien zu machen???«
Der Dicke Stern kniff Thiele in den Arm, flüsterte ihm leise zu: »Pass bloß uff, wat der jleich for 'ne Labbe machen wird! Schade, det wa keen Knipskasten bei uns ha'm!«
Seelenruhig gingen sie dann auf Scharfenstein zu:
»Wir haben ein Wörtchen mit Ihnen zu reden.«
Bestürzt trat der einen Schritt zurück, seine hinter der Goldbrille weit aufgerissenen Augen zuckten nervös. Dann brüllte er los:
»Fangt bloß nicht solche Mätzken mit mir an, das kann ich nicht vertragen! Nu los! Ich habe keine Zeit zu vertrödeln!« Seine Stimme hatte einen weinerlichen Unterton.
Thiele wollte wütend antworten, er bezwang sich aber, als er das zynische Grinsen des Dicken Stern sah, der, scheinbar beschwichtigend, sagte:
»Nu lass doch den Mann jetzt, Willem; du siehst doch, er hat keene Zeit nich...«
Scharfenstein warf einen erstaunten, aber misstrauischen Blick auf den Dicken, der ihn treuherzig angrinste und seelenruhig fortfuhr:
»Also warten wa hier, bis der jute Mann sich herablässt, Zeit for uns zu ha'm!«
Als ob diese Angelegenheit für ihn erledigt sei, drehte er sich gemütlich um und sagte zu den übrigen, die inzwischen von den beiden Lastautos herabgeklettert waren:
»Also, Kinnerkens, damit wa uns nich so de Beene in'n Bauch stehn duhn, schlage ich vor, det wa uns deweile uff unse Jummikaleschen placieren...«
Hilf- und fassungslos musste Scharfenstein zusehen, wie alle wieder auf die Wagen zurückkletterten und sich's bequem machten.
Stern und Thiele waren bei ihm stehen geblieben; sie warteten, dass der sonst so sprechwütige Aufnahmeleiter seine Sprache wieder finden würde.
Neugierig sahen einige der auf dem Hof beschäftigten Arbeiter zu ihnen hinüber. Aus allen Fenstern schauten schon Leute heraus.
So in die Enge getrieben, wusste sich Scharfenstein keinen Rat mehr. Wütend bullerte er:
»Nu, los, denn kommt mit!«
Er ging voraus; schweigend schritten Thiele und der Dicke Stern hinter ihm her.
Einige Herren kamen Scharfenstein aufgeregt entgegengelaufen und wollten wissen, was passiert sei.
Ohne sie zu beachten, lief er wie ein gereizter Stier weiter. Die beiden »Querulanten« blieben ihm kalt lächelnd auf den Fersen.
Scharfenstein hatte heute seinen schwarzen Tag! Den Leuten aus dem »Nassen Dreieck« aber kam es vor, als habe die Sonne nie heller geschienen. Das Licht aller Scheinwerfer zusammen war gar nichts dagegen!
Auch die Atelierarbeiter blinzelten sich vergnügt zu, wenn das blasse Gesicht des Aufnahmeleiters irgendwo auftauchte.
Abends, als die vollbepackten beiden Lastautos wieder durch die Straßen rollten, blieben die Menschen verblüfft stehen, schauten sich kopfschüttelnd an und gaben ihrer Verwunderung Ausdruck, dass dieses Lumpenpack da oben auf den beiden Wagen so ausgelassen lustig war. In dieser Stimmung kamen sie »zu Hause« an.
Im »Nassen Dreieck« hatte man noch nie so viele freudige Gesichter gesehen! Der Sieg über Scharfenstein wurde ausgiebig gefeiert. Jeder feiert Siege auf seine Art. Die Nassen Dreieckler besoffen sich bis dort hinaus! Sie wussten es nicht, ja sie ahnten nicht einmal, dass man derartige »Siege« auch anders feiern kann. Besoffensein, das war für sie das höchste der Gefühle! In diesem Zustande sprangen und tanzten sie herum, johlten und keiften, fluchten und prügelten sie sich. Ein Höllenlärm brach los.
Die Hände dieser Menschen waren nicht mehr gewöhnt, Geld zu halten, es rutschte ihnen zwischen den Fingern durch, fiel auf den schmutzigen Schanktisch und - - - rollte unfehlbar in Muttchens geräumige Kasse! Mit den Fressalien, die hinter dem Eisengitter aufgestapelt lagen, nudelten sie sich wie Mastgänse und spülten jeden Bissen mit Spiritus »fini« hinunter.
Im vorderen Schankraum war man sich in die Haare geraten. Die Menschen ballten sich dort zusammen und drückten nach der Tür zu. Ein junger Kerl hatte einem alten Kunden Geld stiebitzen wollen. Er war dabei ertappt worden. Jetzt schleppten sie den Frechling auf die Straße hinaus und schlugen mitleidslos in sinnloser Wut auf ihn ein. Er schrie, suchte seinen zerbeulten Kopf unter den gekrümmten Armen zu schützen. Als man ihn endlich ließ - weil den Männern die Handknochen schmerzten, rannte er wie ein gehetztes Wild davon. Seine Peiniger torkelten in die Budike zurück und soffen unverdrossen weiter. Der Zahme Willi mitten unter ihnen.
Thiele saß mit der Schwarzen Minna und der Einäugigen im Hinterraum.
»Jetzt jagen sie ihre paar Pimperlinge durch den Schlund!« sagte er verächtlich.
»Lass se, Wilhelm, wenn't Spaß macht; se frein sich doch bloß een bißken!« erwiderte entschuldigend die Schwarze Minna.
Am nächsten Tag fuhren sie zum letzten Male nach dem Filmatelier hinaus. Scharfenstein und seine Leute waren froh, als auch dieser Tag überstanden war. Drei Kreuze machten sie, als die beiden Wagen den Hof verließen. Die Bande aus dem »Nassen Dreieck« hatte sich zuletzt doch allzu sehr wie »in der Familie« benommen.
Auf der Heimfahrt rechneten Thiele und seine Schwarze Minna ihren Reinverdienst zusammen Netto zwanzig Mark blieben ihnen übrig. Ein ganz schönes Stück Geld für ihre augenblicklichen Verhältnisse, da konnte man etwas anfangen!
Sie schmiedeten Pläne. Bei einer bekannten Frau wusste die Schwarze eine kleine Stube, die zwölf Mark Miete kosten sollte. Die Umwelt war zwar nicht so ganz ohne, die Vermieterin bewohnte die Küche und empfing dort »Herrenbesuch«. Auch sollte sie im Kopf nicht ganz richtig sein, aber immerhin...
Das Haus, in dem Frau Kneschke - die Zimmervermieterin - wohnte, war eine baufällige Kabache, die erwähnte Stube eine düstere Buchte. Zwei Meter vom Stubenfenster entfernt stieg die Brandmauer des Nachbarhauses empor. Zwei wacklige alte Stühle, ein ebensolcher Tisch, auf dem ein Wachslicht aufgeklebt war. Ein an der Wand, der Fensterseite gegenüber aufgestelltes, tief durchgelegenes eisernes Bett ergänzte das Mobilar des Raumes.
Thiele war schwer enttäuscht und gerade im Begriff, das auch zu sagen. Als er aber das vor Begeisterung glühende Gesicht der Schwarzen Minna sah, schwieg er still. Er wollte ihr die Freude nicht verderben.
»Na Willem«, fragte sie eifrig, »is det for'n Anfang nich janz scheen? Un denn is det ooch nich deier, un fo't Fenster komm'n paar Blumentöppe hinjestellt, und da uffn Stuhl - det is dein Platz!«
Thiele lachte gequält und zog sie an sich.
Sie blieben gleich da. Mit ihm zusammen machte Minna sauber, holte von nebenan, wo sie bisher mit einer Frau und deren beiden Kindern in einer Kochstube geschlafen hatte, ihre paar Habseligkeiten.
Dann saßen sie in ihrem neuen »Heim« herum, sprachen dies und das miteinander, machten Pläne. Sie bemerkten plötzlich, dass das dünne Talglicht immer kürzer wurde. Da bekamen sie Sehnsucht nach dem »Nassen Dreieck« und gingen »auf einen Sprung« hinüber.

 

IX.

Die Zeit verflog wie ein Rauch. Im »Nassen Dreieck« saßen die hungrigen Kunden mit ihren Schicksen und bliesen Trübsal. Überall, wo ein paar Menschen zusammenstanden, hörte man dieselben Klagen:
»Drüben der Zigarrenhändler ist auch kaputt... und'n Stück weiter, der Grünkramhändler auch, und der Abzahlungsfritze an der Ecke hat gestern auch den Laden zugemacht.«
»Nanu, der? Der war doch fast 'n Menschenalter da drin?! Nee, nee, immer einer nach dem andern... «
Die Proletenkinder hatten ein neues Spiel ausfindig gemacht: Sie liefen durch die Straßen und zählten die leeren Läden, die das rote Plakat »Zu vermieten!« an den Scheiben kleben hatten. Als sie es in einigen Straßen bis auf dreistellige Zahlen gebracht hatten, wurde ihnen die Sache langweilig, sie gaben das Spiel auf.
In den Mietskasernen redete man nicht mehr viel. Nur noch ein dumpfes Stöhnen machte sich öfter und öfter Luft. Die Menschen fraßen den Groll verbittert in sich hinein: Bis an den Hals damit voll gestopft, liefen sie stumpf brütend umher. Sie brüllten nicht, denn das war ja verboten. Eilig flitzten die Polizeiautos durch die Straßen der Arbeiterbezirke, überall ausspähend, ob nicht das unter der Asche glimmende Feuer der Verzweiflung irgendwo schon, zur Flamme entfacht, emporzüngelte. Wenn die Hupen dieser Bereitschaftsautos schrill ertönten, flackerten die fiebrigen Augen der Hungernden ängstlich oder - wurden plötzlich wie geschliffener Stahl: hart und kalt! Zwischen den zusammengepressten Zähnen quetschten sie es heraus:
»Es wird schon mal anders kommen, jawohl, es wird schon mal.«
Wenn es irgendwo an die Wohnungstüren klopfte, gingen die Leute schon gar nicht mehr hin. um aufzumachen. Det is ja doch bloß een Bettler!, so sagten sie sich, durch tägliche Erfahrung gewitzigt.
Die Bettler aber gingen auf die Straße und Hefen hinter den besser gekleideten Passanten und jammerten:
»Bitte, bitte, liebe Dame, - bitte, bitte, lieber Herr, schenken Sie mir 'ne Kleinigkeit!!!«
»Skandal! Unerhörte Zustände!« schimpften die
Satten und fluchten auf die Polizei, die solche Belästigungen nicht verhinderte. Diese war indes durchaus nicht untätig. Sie veranstaltete Razzien in größerem Ausmaß, nahm an einem einzigen Abend Hunderte von Bettlern fest, die sie dann nach einer scharfen Verwarnung am andern Tage wieder laufen ließen. Manchmal wäre einer dieser armen Teufel froh gewesen, wenn sie ihn für ein paar Wochen eingesperrt hätten. So musste er mit knurrendem Magen wieder in das kalte Elend der Obdachlosigkeit hinaus.
Es ging immer weiter. Die Not der Masse wuchs von Tag zu Tag, und mit ihr die Verzweiflung. Draußen im Westen waren sie wiederholt über ehrsame Bürger auf offener Straße hergefallen. Man hatte diese nicht beraubt, doch misshandelt, weil sie den ungestüm Fordernden keine Gabe reichen wollten. Die Presse schlug Lärm und forderte energisch ausreichenden Schutz für den Bürger.
In den Arbeitervierteln standen hungernde Menschen mit brennenden Augen vor den Auslagen der Geschäfte. Sie stierten auf all die Dinge, die da zum Kauf angeboten wurden, von ihnen aber nicht gekauft werden konnten. Äußerlich zwar noch ruhig, knurrten sie innerlich wie angekettete Hunde, denen man das Futter in verlockender Nähe vor die Nase hält, es ihnen aber doch nicht gibt.
Thiele lebte jetzt schon einen Monat mit der Schwarzen Minna zusammen in ihrer Bude. Mit Mühe und Not hatten sie die zwölf Mark Miete zusammengekratzt. Voll staunender Bewunderung
sah er, wie diese Frau ihre kleine Stube liebte, wie sie sich die erdenklichste Mühe gab, alles ein bisschen schön zu machen, den öden Raum wohnlicher, anheimelnder zu gestalten. In qualvoller Sehnsucht verzehrte er sich nach Arbeit und Verdienst. Im Bewusstsein eines Unvermögens, der Frau wenigstens ein bisschen was vom Leben bieten zu können, litt er unsäglich und zerbrach fast darunter. Sie waren doch so furchtbar anspruchslos, wollten nicht viel. Nur so ein ganz klein wenig Menschsein... Das Allernotwendigste hätten sie gern haben mögen!
Verstohlen betrachtete er mitunter seine Hände und stellte fest, wie weich, wie empfindlich sie geworden waren. Seine Muskeln wurden vom Nichtstun und schlechten Fraß von Tag zu Tag schlaffer. Dann bekam er wahnsinnige Angst. Habe ich überhaupt noch Mut und die Kraft und die Ausdauer, um schwere körperliche Arbeit verrichten zu können?
Dieses zermürbende Grübeln über das Heute und Morgen jagte ihn tagsüber ruhelos umher, verfolgte ihn bis in die Nacht und raubte ihm den Schlaf.
Oft, wenn er sich so mit offenen Augen in seinem Bette herumwälzte, hörte er in der Küche nebenan die Wirtin rumoren, die sich irgendeinen Mann gekapert hatte. Manchmal war so ein Kerl betrunken und fing dann auch noch an zu schimpfen und zu spektakeln. Angeekelt zog Thiele sich dann die Bettdecke über die Ohren, um von all diesem Mist nichts mehr zu hören.
Zuweilen kam es vor, dass Frau Kneschke mitten in der Nacht, wenn die anderen Hausbewohner friedlich schliefen, einen Tobsuchtsanfall bekam. Dann schrie sie in gellenden Tönen:
»Die Hunde verfluchten, - mit de Axt hau ick se vor'n Kopp, et sinn doch meine Kinder, et is doch mein Blut!«
Hatte sie sich in dieser entsetzlichen Weise ausgetobt, dann fing sie an zu ächzen und zu stöhnen. Allmählich nur wurde sie ruhiger, so ruhig friedlich, dass die Schwarze Minna Angst bekam und aufstand, um nachzusehen, ob die Frau in der Küche noch am Leben sei. In solchen Nächten biss sich Thiele in hilfloser Qual die Lippen blutig und hämmerte mit den Fäusten gegen seinen Schädel, dass es Beulen gab.
Ein paar Mal, als er unerwartet nach Hause kam, traf er Frau Kneschke in seiner Stube an, wo sie sich mit der Schwarzen Minna unterhielt. Sobald sie ihn sah, wollte sie scheu verschwinden. Er empfand tiefes Mitleid mit dieser vergrämten Frau.
Obgleich sie erst Anfang Vierzig war, schien sie körperlich und seelisch ein vollkommenes Wrack zu sein. Ihr Gesicht war ohne jede Farbe. Tiefe Furchen durchzogen es und zeugten von Gram und Entbehrungen.
Vorübergehend hatte man sie in einer Irrenanstalt untergebracht. Nach ihrer eigenen Erzählung sollte der Arzt nach beendeter Untersuchung und Beobachtung gefragt haben: »Was soll ich mit der Frau?«
In dem Krankenbericht der Pflegerin hieß es:
»Sie ist sonst ganz vernünftig, nur des Nachts schreit sie unablässig nach ihren Kindern.«
Wo waren ihre Kinder? Man hatte sie ihr weggenommen, als sie damals, nach dem plötzlichen Tode ihres Mannes, vor dem Verhungern stand und aus Verzweiflung den Gashahn geöffnet hatte. Die Mitbewohner des Hauses waren durch den Gasgeruch aufmerksam geworden und hatten die Wohnung gewaltsam aufgebrochen. Das jüngste Kind war bereits tot. Die übrigen drei und die Mutter selbst konnten gerettet werden.
Dieser Verzweiflungstat wegen erklärte man sie für verrückt. Ein normaler Mensch tut so etwas doch nicht!
Nach ihrer Entlassung aus der Heilanstalt versuchte sie ein ganzes Jahr lang, den Aufenthalt ihrer Kinder ausfindig zu machen. Die zuständigen Behörden verweigerten ihr jede Auskunft.
Als sie die Kinder endlich fand, waren es nur noch zwei. Bei einer so genannten Ziehmutter machten diese beiden das Dutzend der zu Erziehenden voll. Das dritte Kind war inzwischen an Tuberkulose »eingegangen«.
Dieser von einem wahnsinnigen Leben zermürbten und zerschlagenen Frau war das Leben zu einer unerträglichen Last geworden. Immer wieder versuchte sie, es abzuwerfen, sich davon zu befreien. In einem Jahr dreimal hintereinander. Aber sie hatte auch darin Pech, jedes Mal wurde sie »gerettet«.
Wenn sie mit der Schwarzen Minna über diese schrecklichen Erlebnisse sprach, quollen ihr förmlich die Augen aus den Höhlen heraus, ihr Blick wurde starr und leer.
Für Thiele und Minna machte sich die allgemeine Not jetzt immer härter fühlbar. So manchen Tag hatten sie nicht einen einzigen Bissen im Magen. Viele von den Menschen, die früher was übrig hatten, waren froh, wenn sie jetzt die Stullen und sonstige Überbleibsel selbst essen konnten. Beim Fechten war also fast gar nichts mehr zu holen. Andere Verdienstmöglichkeiten mussten ausfindig gemacht werden.
Mit dem Zahmen Willi zusammen hatte Thiele neuerdings einige Male des Nachts von auswärts Blumen geholt, - natürlich »weggefunden«! Die Sache war nicht immer ganz ungefährlich. Da galt es manchmal, hohe eiserne Staketzäune zu übersteigen, ohne sich die letzten paar Lumpen, die sie am Leibe trugen, noch vollends zu zerreißen. Dann wieder hieß es alle Findigkeiten aufbieten, um nicht auf Selbstschüsse oder in Fußangeln zu treten, mit denen die Grundstücksbesitzer in dieser unruhigen Zeit ihre Gärten zu sichern suchten. Früher hatte der Bluff der bloßen Warnungstafeln genügt, heute aber zog der nicht mehr.
Hatten die beiden nun unter gefährlichen Umständen einen Korb voll Blumen zusammenstiebitzt, so machten sie kleine Sträuße daraus. Die versuchten sie am anderen Vormittag vor dem Wochenmarkt zu verkaufen. Ging das Geschäft gut, verdienten sie bestenfalls ein paar Mark dabei. Nur wenige Marktbesucher konnten es sich in dieser Notzeit noch leisten, für solche nicht durchaus notwendigen Dinge einen Groschen oder zwei auszugeben.
Heute hatte Thiele schon ziemlich frühzeitig ausverkauft. Eine ganze Mark und siebzig Pfennige klimperten in seiner Tasche. Verhältnismäßig froh gestimmt, wie er war, wollte er seiner Minna eine kleine Freude machen. Bei einem Straßenhändler kaufte er ein Pfund Pflaumen und lief damit schnell los, er wollte nach Hause.
Unterwegs bemerkte er vor sich auf dem Bürgersteig einen Mann, der wie ein Betrunkener hin und her torkelte. Plötzlich blieb der Mensch auf dem Fleck stehen, warf die Arme hoch in die Luft und brach dann lautlos in sich zusammen. Sofort sprangen einige Passanten hilfsbereit hinzu, andere aber warfen kaum einen Blick zur Seite, trotteten unbekümmert weiter.
»Ist ja doch bloß'n Besoffener!«, so dachten sie wohl bei sich.
Regungslos wie ein Toter lag der Mensch auf der Straße. Man hatte ihn rasch auf den Rücken gelegt. Jemand hielt ihm den Kopf etwas hoch. Jetzt sah man, dass es ein ganz junger Mensch war, kaum zwanzig. Grünblass schimmerte sein eingefallenes Gesicht. Aus dem halbgeöffneten Mund quoll weißer Schaum.
Ein Junge rannte zur nächsten Kneipe, um telefonisch einen Arzt herbeizurufen. Der Schupo auf der anderen Seite war aufmerksam geworden und kam mit ruhigen Schritten über den Fahrdamm. Als er die Gruppe der herumstehenden Menschen erreicht hatte, warf er einen Blick auf den am Boden Liegenden und forderte die Leute auf, weiterzugehen.
In der Nähe blieben die Menschen aber wieder stehen und bildeten kleine Gruppen. Thiele hörte, wie ein elend aussehender Mann sagte:
»Das kenne ich - ganz genau sogar-, das ist Hunger! Da wird einem so plötzlich dunkel vor den Augen, und plumps liegt man auf der Nase! Mir ist das schon öfter so ergangen!«
Der inzwischen eingetroffene Arzt beugte sich über den noch immer bewegungslos Daliegenden. Trotz des Schupos kamen die Umstehenden wieder näher heran. Der Arzt hatte seine Untersuchung beendet und richtete sich auf. Hilflos schüttelte er den Kopf. Dann rüttelte er den Kranken an der Schulter und rief ihn an:
»Hallo, Sie, junger Mann! Wie lange haben Sie nichts gegessen?«
Der Kranke musste verstanden haben. Ohne die Augen zu öffnen, lallte er etwas. Es war nur ein Wort gewesen, das der Arzt jetzt wiederholte: »Hunger!«
Den Frauen schoss das Wasser in die Augen, die Männer aber bissen fest die Zähne zusammen und drehten ihre Gesichter ab.
Hunger! Das Wort wirkte wie ein Peitschenhieb, von einem Unsichtbaren mit brutaler Gewalt ausgeteilt: Hunger!!!
Eine Frau nahm rasch ihrem Jungen die Mütze vom Kopf und lief von einem der Umstehenden zum anderen, um etwas zu sammeln. Kleine Münzen warfen die Leute hinein. Auch Wilhelm Thiele, der es in sich kochen fühlte, legte einen droschen dazu. Ein altes verhutzeltes Mütterchen hatte eine Tasse warme Milch gebracht, die man dem armen Kerl vorsichtig einflößte. Sein Magen aber vermochte nichts mehr anzunehmen, er gab jeden Schluck sofort wieder von sich.
Der Schupo hielt eine Autotaxe an, in die man den bewegungslosen Körper hineinlegte. Der Polizist nahm neben dem Kranken Platz und rief dem Fahrer zu: »Zum Virchow-Krankenhaus!«
Die Menschen sahen dem Auto nach, bis sie es aus den Augen verloren hatten, dann zerstreuten sie sich nach allen Seiten.
Thiele ging neben zwei Arbeiterfrauen einher und hörte, was sie miteinander sprachen:
»Es war doch ein ganz junger Mensch - und so sauber angezogen, er muss in einem Alter mit meinem jungen sein... «
Ganz mutlos niedergeschlagen setzte Thiele seinen Weg nach Hause fort. Der Schwarzen Minna erzählte er von dem Erlebnis nichts.
Da Thiele jetzt polizeilich gemeldet war, wurde ihm eines Tages ein Brief zugestellt, der schon längere Zeit auf der Post gelegen hatte. Daraus erfuhr er, dass er von seiner Frau geschieden worden war. Der Minna sagte er zunächst kein Wort davon. Erst abends, als es schon dunkelte und das Talglicht angezündet wurde, schob er ihr den Brief zu: »Na, Minna, was sagst du dazu?« Sie las neugierig das Schreiben durch. »Dann bist also janich mehr verheiratet?« fragte sie leise.
Ihre Stimme zitterte leicht. Thiele schaute sie liebevoll an und war froh, dass er ihr wenigstens auf eine Art zeigen konnte, wie er zu ihr stand.
»Sage mal, Minnekin, wie wär's, nu ja, ich weiß ja janich, wie du überhaupt darüber denkst, - ick meinte man bloß, - wenn wir beide zusammen aufs Standesamt jingen und uns heiraten würden.«
Es fiel ihm sichtlich schwer, das so einfach zu sagen. Minna saß ganz still da; ihr Gesicht hatte plötzlich alle Farbe verloren. Thiele zog sie zu sich empor, nahm sie unter den Arm und wanderte scherzhaft mit ihr durch den engen Raum.
»Weeeste, Willem, ick kann janich richtig darieber nachdenken, dann würde ick ja doch Minna Thiele heißen, nich wahr? Ick weiß jarnich, wat ick dir daruff sagen soll... «
Die Tränen liefen ihr nur so über die mageren Wangen. Auch Thiele wurde ganz gerührt und hätte beinahe selbst angefangen zu heulen. Liebevoll wischte er ihr die Tränen ab und sagte:
»Aber Minnekin, det is ja doch nich de Rede wert! Ick wollte, ick könnte dir mehr jeben als bloß so'n lumpigen Namen!«
Albert Stern und die Einäugige gingen als Trauzeugen mit aufs Standesamt. Nicht wieder zu erkennen war die Schwarze Minna in dem einfachen dunklen Kleid, das Muttchen ihr für einen Tag geliehen hatte. Wie durch ein Wunder war heute die Angst aus ihren freudig glänzenden Augen verschwunden.
Es war ein schöner Septembertag, der Himmel stand in einem reinen harten Blau, aus dem das duftige Weiß der eilig dahinziehenden Wolken leuchtete. Vereinzelte Blätter der Stadtbäume glühten schon in einem purpurnen Gold. Die beiden Frauen liefen einige Schritte voraus; Thiele und der Dicke Stern folgten ihnen, in ernste Betrachtungen versunken.
Als die Schwarze Minna auf dem Standesamt das Protokoll mit ihrem neuen Namen »Minna Thiele« unterzeichnen musste, zitterte ihr vor innerer Erregung die Hand. Sie sah so bleich aus, dass der Standesbeamte ihr besorgt ein Glas Wasser reichte.
Nachdem alles erledigt war, gingen die beiden Männer zum »Nassen Dreieck«, um den ersten Ehestandsschoppen zu trinken. Minna hatte die Einäugige mit nach Hause genommen, wo heute viel zu tun war. Muttchen gratulierte Thiele herzlich, und auch die anwesenden Stammgäste drückten ihm fest die Hand. Ein Paket, das Muttchen als ihren Beitrag zur Hochzeitsfeier der Schwarzen Minna schon vorher bereitgelegt hatte, musste Thiele mit nach Hause nehmen.
Frau Kneschke gab ihre große Lampe für heute abend her. Stühle, Tische sowie Geschirr lieh Muttchen.
Zu Hause angekommen, legte Thiele das mitgebrachte Paket auf den Tisch und öffnete es bedächtig. Minna und die Einäugige sahen ihm gespannt zu.
Als erstes kam ein großer Napfkuchen zum Vorschein. Die beiden Frauen konnten sich vor freudiger Überraschung gar nicht halten.
»Donnerwetter!« sagte Thiele gerührt, »da hat sich die Olle aber mächtig anjestrengt!«
Es war eine regelrechte »Freßkommode«, die Muttchen da zurechtgemacht hatte: Wurst, Brot und noch sonst allerlei appetitliche Kleinigkeiten. Die drei waren vor Freude und Bewunderung rein aus dem Häuschen. Gegen Abend schickte Muttchen noch einen ganzen Kasten mit Flaschenbier hinüber.
Vor der Wohnungstür ertönten plötzlich die schrillen Klänge von Blechinstrumenten. Drei Bettelmusikanten spielten, so gut oder vielmehr so schlecht, wie sie es eben vermochten, Webers »Schönen grünen Jungfernkranz«. Aus den Türen und Fenstern steckten die Hausbewohner überrascht und neugierig die Köpfe hinaus.
»Bei wem is denn det?« fragten sie sich gegenseitig.
»Da unten bei die Kneschke - ihre Aftermieter, wo hinten in de Stube wohnen«, antwortete jemand.
Verlegen öffnete Thiele die Tür. »Kinder, ich
bin-------abjebrannt!« sagte er bedauernd zu den
Musikanten. Er holte ein paar Pullen Bier, die er mit ihnen gemeinsam austrank. Verständnisvoll nahmen die Leute dann ihre Instrumente unter den Arm und zogen zur nächsten Hochzeit.
Als erste Gäste erschienen schon nachmittags der Dicke Stern, der Fackler und Äpfelchen. Letztere brachte als Geschenk der Frauen aus dem »Nassen Dreieck« einen Blumentopf, den sie hübsch mit hellblauem Seidenpapier dekoriert hatten- Mitten auf den Tisch wurde der Topf gestellt, Frau Kneschke brühte in der Küche eine große Familienkanne mit strammem Malzkaffee auf. Muttchens Napfkuchen wurde geschnitten; der Kaffee serviert.
Im Zimmer war es kälter als draußen. In den engen Lichtschacht von Hof kam die Sonne ja nie hinein. Da tat der heiße Kaffee allen so richtig wohl. Sie aßen mit hervorragendem Appetit den Kuchen und schlürften mit andächtigem Genuss den wärmenden Kaffee!
Die ungezwungene Unterhaltung aller Beteiligten war im schönsten Gange. Äpfelchen wurde sentimental, seufzend sagte sie, bei einer Hochzeit müsse sie immer an das Grabmal mit der Frauenfigur auf dem Kirchhof denken, das sie mal gesehen hatte und wo so ein schöner Spruch darauf eingemeißelt war. Sie hatte ihn auswendig gelernt, weil er ihr so ans Herz ging.
»Wie war das doch noch?« fragte sie sinnend. »Ach ja, so!«
Dabei blickte sie fortgesetzt starr in eine Ecke der Zimmerdecke, als ob der Spruch dort geschrieben stände und sie ihn nur ablesen brauchte:

»O könntest du mich hier
an deinem Grab und auf
dem Denkstein stehn sehn,
mit Tränen im Blick
und seelischem Schmerz!
Wie konnte nur nach 6 Tagen
unser Eheglück verwehn???«

Die Schwarze Minna war gerührt: »Ach nee - det tut mir aber leid, die Arme!« sagte sie. Die Einäugige fand das Gedicht so »schön« traurig. Frau Kneschke warf ein: »Ja, man kann manchmal die dollsten Sachen erleben!«
Ohne sich um die Unterhaltung weiter zu kümmern, aß der Dicke Stern seelenruhig ein Stückchen Kuchen nach dem andern. Zur Hebung der ein wenig melancholisch gewordenen Stimmung wusste der Fackler auch etwas zu erzählen. Vor ein paar Tagen hatte er es in der Zeitung gelesen. Ein junges Ehepaar hatte in der Hochzeitsnacht vergessen, den Gashahn abzusperren. Am andern Morgen wurden sie beide tot aufgefunden. Die junge Frau sollte noch ihr Brauthemd angehabt haben.
»Schrecklich, nee so een Unjlick! Sicher war die Braut sehr schön?« seufzte Äpfelchen.
In dieser erhebenden Weise floss das Gespräch dahin. Man kam aus dem Hundertsten ins Tausendste. Dabei wurde unverdrossen gegessen. Von dem großen Kuchen waren nur noch ein paar Krümelchen übrig geblieben. Die Frauen räumten das Kaffeegeschirr ab. Der Fackler ging mal rasch zum »Nassen Dreieck« hinüber.
Jetzt trudelte der Zahme Willi ein, mit einem großen Blumenstrauß beladen, den er mit zurückgestrecktem Hinterteil und vorgebeugtem Oberkörper, gemacht geckenhaft, der Schwarzen Minna überreichte.
»Der schönen Braut ein herzlich Angebinde!« deklamierte er dabei.
»Danke dir auch recht schön, Willi«, erwiderte die Schwarze Minna. »Gebt mir doch mal 'n Topf für die Blumen, - die sind wirklich sehr schön, un wie fein die riechen tun, - ick freue mir wirklich,
Willi...«
Alle Frauen rochen nacheinander an den Blumen. »Wirklich wunderscheener Jeruch«, sagte Äpfelchen. »Sicher aus deine eijene Plantage, Willi?«
Alle lachten vergnügt. Die Einäugige war froh, als sie bemerkte, dass der Zahme noch nüchtern
war.
Etwas später am Abend kam Muttchen herüber; wie sie sagte: »Nur auf`n Augenblick!«
Mit ihr war der Fackler zurückgekommen. Alle setzten sich um den Tisch herum, auf dem der übrige Inhalt von Muttchens Paket jetzt ausgebreitet lag. Mit überaus gesundem Appetit wurde nun zu Abend gegessen. Die Bierflaschen knallten und leerten sich rasch. Der Zahme war durch hastiges Trinken schnell ein wenig benebelt und wollte das Lied vom Jungfernkranz anstimmen, aber die andern meinten, dazu wäre es noch viel zu früh. Statt dessen sangen sie mit viel Gefühl und wenig Stimme das Lied von der Festung Köln am Rhein und darauf von Mariechen, die weinend im Garten saß. Nachdem die trocknen Kehlen wieder gebührend angefeuchtet worden waren, kam der »Treue Husar« und die »Grüne Heide« an die Reihe. Danach erhob sich der Dicke Stern, klopfte mit dem Messerrücken gegen sein Glas und räusperte sich mehrmals. Die Gäste klatschten schon im voraus Beifall. Der Redner nahm noch einen kräftigen Schluck Bier und begann dann:
»Liebe Festjemeinde! Unser lieba Willem und sein vielliebet Minnekin - der olle schwarze Deibel! - habn heit den Stand ihrer Ehe beschritten un wolln von jetzt ab zusammen durch den dicksten Dreck klettern. Ick jloobe woll, wir alle frein uns, dass die beeden jungen Menschen zusammenjekommen sind und dass wir hier so jemütlich beisammensitzen und die Hochzeit feiern duhn. Aber liebe Jemeinde, ein >Danke schön!< ooch unser jutet Muttchen, die die Spendierhosen anjezogen hat. Übrigens, mit die Hosen, da muss ick den Willem nachher noch 'n Hut jeben. Iberhaupt muss ick dem Brautpaar noch vaschiedene Ratschläge jeben. Nich etwa ieber det etwa, wat die beede nachher zu duhn ha'm, wenn wia wech sinn, ick jloobe, da könn wia bei die noch wat lern. Willem, als oller Ehemann, der jenen Bescheed weeß... « Die Gäste machten: »Hu - hu!!!«
»Jawoll, nur keen Held nich, - wir wissen Bescheid! (Äpfelchen, wenn du Luder so deemlich jrinst, jeh ick mit dir nachher mal in de Ecke, vastehste!) Also: muss ick, wie jesaacht, dem verehrlichen Brautpaar einige Ratschläge erteilen.
Wilhelmken, jeliebter Busenfreund, merk dir det eene: immer de Hosen anbehalten! Außert Bett natierlich! Und du jeliebte schwarze Jungfraue: nie den Ollen 'n Sechser in die Tasche lassen -, die Männer vanaschen det Jeld sonst doch bloß mit de kleenen Meechens... «
Die Frauen juchzten laut auf. Stern beendete seine Rede mit einem Hoch auf das Brautpaar. Alle Taste stimmten begeistert ein: »Hoch solln se lebn! Hoch solln se... «
Unter heiterem Gelächter stieß man mit den Gläsern an und begoss dabei Muttchens weiße Tischdecke mit Bier.
Muttchen konnte nicht länger bleiben und verabschiedete sich. Als sie auf die Straße trat, hörte sie noch immer die grölenden Stimmen der fidelen Hochzeitsgesellschaft: »... und weil sie der Herzliebste nahm, hat die den Kranz gewonnen.«

 

X.

Das »Nasse Dreieck« hatte seit einigen Tagen einen sensationellen Gesprächsstoff. Man sprach fast von nichts anderem mehr. Ein paar Häuser entfernt war eine neue Kneipe aufgemacht worden. Diese Tatsache an sich wäre kaum des Erwähnens wert gewesen: Auch das für eine Budike im Arbeiterbezirk Wedding wenig passend gewählte Kennwort »Zum Alten Fritz« hätte kaum zu besonderen Kommentaren Anlass geben können. Was die Stammgäste des »Nassen Dreieck« so lebhaft beunruhigte, waren vielmehr gedruckte Handzettel, die ihnen auf der Straße in die Hand gedrückt worden waren und auf denen u. a. zu lesen stand:
»Empfehle den P. P. Gästen besonders mein Ia Logierhaus mit über einhundert Betten. Schon von 40
Pfennige an. Erstklassige Kabinen billigst - von 50 Pfg. an. Jeden Abend musikalische Unterhaltung! Mittwochs und Sonnabends von 5 Uhr ab Pellkartoffeln und Hering. Portion 20 Pfg. «

Ganz offensichtlich handelte es sich hier um ein Konkurrenzunternehmen in Bezug auf Muttchens »Nasses Dreieck«. Je nach Veranlagung und sonstigen Gesichtspunkten stellten sich Muttchens bisherige Gäste ganz verschieden zu dieser für sie alle mehr oder minder wichtigen Angelegenheit. Einige sagten, das Ganze sei glattweg eine Gemeinheit; andere sagten nichts, dachten sich aber ihren Teil und kicherten verstohlen in sich hinein.
Muttchen selbst spielte die Gleichgültige, bei genauerem Hinsehen aber merkte jeder, dass diese Gleichgültigkeit eben nur gespielt war. Um sich über den Stand der Dinge zu orientieren, veranlasste sie ihre »rechte Hand«, den Fackler, mit dem Zahmen Willi einmal nebenan hinzugehen und sich auf ihre Kosten dort als Gäste ein bisschen umzusehen, sozusagen »Betriebsspionage« zu treiben.
Nach etwa einer Stunde kam der Fackler allein zurück und erstattete Bericht. Der Zahme war dort geblieben und soff mit dem Wirt, der in schlauer Berechnung fortgesetzt spendierte.
Kurz vor Ladenschluss kam der Zahme zum »Nassen Dreieck« hereingeschunkelt - sternhagel-voll! Aus seinem verworrenen Lallen und Sabbeln konnte man nur soviel entnehmen, dass der Wirt
»Zum Alten Fritz« nach seiner Meinung »een janz dufter Boss«, ein ganz feiner Schank- und Schlummervater sei.
In den nächsten Tagen gingen die Kunden des »Nassen Dreieck« absichtlich so, dass sie beim »Alten Fritz« vorbei mussten. Zuerst besahen sie sich neugierig die Kneipe von außen. Es dauerte aber nicht lange, da gingen die ersten hinein, um sich die Sache mal von innen zu »beschnarchen«. Als ihnen die ganze Aufmachung gefiel, blieben sie gleich dort. Andere folgten nach und zogen wieder andere nach sich. So kam es, dass nach kurzer Zeit ein beträchtlicher Teil von Muttchens bisheriger Kundschaft beim »Alten Fritz« verkehrte. Nur der alte Stamm war ihr treu geblieben. Das übrige Kroppzeug (unter ihnen natürlich auch der Zahme Willi) hatte sie treulos verlassen. Die Einäugige aber hockte nach wie vor im »Nassen Dreieck« herum.
Zwischen den Gästen der beiden konkurrierenden Saftläden entstand nach und nach eine direkte feindselige Spannung. Diese steigerte sich beträchtlich, als im »Nassen Dreieck« bekannt wurde, dass sich der Wirt vom »Alten Fritz« über Muttchen, ihren Laden und die dort verkehrenden Gäste fortgesetzt abfällig äußerte. Zu einem Penner, den er mit einer Pulle »Brennabor« (Brennspiritus) erwischt hatte, sollte er gesagt haben:
»Mein Lokal is keene wilde Penne - det kannste in't >Nasse Dreieck< machen, in den Miststall fällt det nich weiter uff, vastehste!«
Seit dieser unerhörten Herabwürdigung sagten sich die Gäste beider Schnapsbuden nicht einmal mehr »Guten Tag«! Verachtungsvoll gingen sie aneinander vorbei.
Allmählich sprach sich mancherlei über das Vorleben des Inhabers vom »Alten Fritz« herum. Einige behaupteten, er sei früher »Krimm« (Kriminalbeamter) gewesen, aber »jeschaßt« (fortgejagt) worden. Andre wollten wissen, dass er auf Rummelplätzen als Athlet aufgetreten sei. Sowohl sein ganzes Wesen wie auch seine klotzige Figur sprachen für beide Annahmen.
Thiele hatte sich um den ganzen Tratsch und Knatsch nicht gekümmert. Heute wie fast jeden Abend saß er mit seiner Minna, der Einäugigen und dem Dicken Stern im Hinterzimmer des »Nassen Dreieck«. Muttchen kam und setzte sich für ein paar Minuten zu ihnen an den Tisch. Die Frauen hörten aufmerksam zu, wie der Dicke Stern aus seiner langjährigen Erfahrung als Pfannekuchen-Architekt heraus ein Backrezept und dessen richtige Anwendung explizierte:
»...un der Teech muss so richtich jroße Blase haben, un denn erst de Butter nachjießen - jetzt noch een bißken warten un denn... «
Er brach verdutzt ab. Zur Tür des »Nassen Dreieck« kam der Zahme Willi hereingetorkelt, schräg wie eine blaulackierte Radehacke! Thiele sah, wie die Einäugige erblasste und am ganzen Körper vor Angst bebte. Der Zahme hatte ein über und über mit Blut verschmiertes Gesicht. Sein Anzug war mit einer Dreckkruste überzogen, als ob er sich im Rinnstein herumgesielt hätte. Sich nach allen Seiten umblickend, schwankte er durch das Lokal. Als er die Einäugige erblickte, wankte er auf den Tisch zu. Muttchen stand langsam auf und ging zur Theke. Ohne die am Tische sitzenden alten Bekannten zu grüßen, packte er die Einäugige beim Arm, pfiff kurz durch die Zähne und machte gleichzeitig mit dem Kopf eine auffordernde Bewegung zur Tür. Mit der freien Hand klammerte sich die Einäugige am Tisch fest. Als der Zahme sie loszureißen versuchte, kippte der Tisch um, die Biergläser zerschlugen am Boden und bedeckten die Dielen mit ihrem Inhalt.
Alle Anwesenden schauten gespannt zu, ohne sich einzumischen.
»Raus - sage ick dir!« schrie wütend der Zahme und zog wie verrückt am Arm der verängstigten Käthe, die sich noch immer am Tisch festgeklammert hielt. Jetzt sprang Thiele plötzlich auf, fasste den Zahmen derb an der Schulter. »Lass det Mädel los!!!« sagte er drohend. Der Zahme glotzte ihn wild an und wollte sich gerade zur Wehr setzen, als Muttchens gewichtige »Hausordnung«, der schwere Gummiknüppel, ihm zwischen die Hörner fuhr, dass es man so knallte. Jetzt packten auch einige der übrigen Gäste zu, und mit Schwung flog der Zahme zur Tür hinaus.
Als er sich von der ziemlich unsanften Landung wieder hochgekrabbelt hatte, brüllte er los, dass die Menschen vor dem Lokal zusammenliefen. Immer wieder versuchte er, sich Eingang zu verschaffen, wurde aber stets mit Püffen und Knüffen zurückgedrängt.
Die Einäugige fing fassungslos an zu weinen. Minna tröstete sie:
»Nu weene doch man nich, davon wird et ooch nich besser, - schlafste heit nacht mal bei uns!«
Alles schimpfte und fluchte über den Zahmen. Muttchen war richtig in Fahrt geraten und schrie wütend:
»Ick will in mein Jeschäft nich solchen Knatsch ha'm! Wejen eire deemliche Jeschichten mir noch de Jleeser zatöppern - det bringt det Jeschäft ooch jrade noch inn!«
Für die Nacht hatten Thieles der Einäugigen auf dem Fußboden ihrer Stube ein Lager zurechtgemacht. Am andern Morgen wurde heftig gegen die Tür geklopft. Thiele öffnete. Mit vor Ärger blassem Gesicht stand draußen der Zahme und japste:
»Is die bei eich?«
»Wat willste von se?« fragte Thiele zurück.
»Det is doch schließlich meine Sache, rauskommen soll se!« trumpfte der Zahme auf. Thiele wollte grob werden, da stand die Einäugige neben ihm: »Lass, Willem, ick mache eich doch bloß Unannehmlichkeiten, ick jehe lieba mit!«
Kaum war die Tür zu, da hörte Thiele draußen klatschende Schläge. Die Einäugige schrie. Sofort sprang Wilhelm Thiele hinaus. Auf dem Hof sah er, wie der Zahme die Frau beim Hals gepackt hielt und mit der andern Hand auf sie einschlug. Vor Luftmangel war das Gesicht der Einäugigen schon ganz verzerrt. Jetzt krallte sie sich in ihrer Angst an den beiden Ohren des Zahmen fest und trat ihm wütend mit einem Fuß gegen den Unterleib und gegen die Schienbeine. So unsanft an seine empfindlichsten Stellen getroffen, ließ der Zahme den Hals der Einäugigen los und versuchte jetzt, seine Ohren freizubekommen. Die Gereizte hielt aber fest. Ja, sie riss immer heftiger an den schon blutenden Fleischlappen.
»Laß los! Laß meine Ohren los! Die reißt mia de Ohren ab! Nehmt doch det varickte Weib wech!« so schrie und jammerte der hilflose Zahme. In seiner Stimme saß der blasse Schreck.
Das fast rasend gewordene Weibsbild lockerte ihren Griff nicht. Blut lief warm seinen Hals hinunter. Jetzt gelang es ihm, ihr mit beiden Händen das Gesicht zurückzupressen; die schwarze Augenbinde der Einäugigen verschob sich, rutschte ganz ab und ließ die leere Augenhöhle sehen.
Thiele bemühte sich, die beiden ineinander verkrallten Wüteriche auseinanderzubringen, aber -die Fäuste der Einäugigen hielten sich festgekrallt. Aus allen Fenstern blickten die Hausbewohner heraus und sahen dem blutigen Schauspiel zu.
»Vafluchtet Pennerzeuch, - die wohnen doch janich hier!« rief eine Frau. Andere Frauen lachten. Eine tiefe Männerstimme brüllte anfeuernd:
»Haut ihn, den Lukas!«
Von oben wurde ein Eimer Wasser auf die beiden Kämpfenden herabgegossen. Thiele, der sich verzweifelt abmühte, die Rasenden zu trennen, wurde mit hin- und hergerissen. Seine Minna, die auch herausgekommen war, bekam Angst und wollte ihn zurückhalten:
»Jeh du doch da wech, wat jeht det dia an?«
Vor Schmerz wie betäubt, wehrte sich der Zahme schon gar nicht mehr. Bei jedem neuen Ruck der Einäugigen flog er wie ein Bündel Lumpen hin und her. Endlich gelang es Thiele doch, die Hände der Einäugigen von den Ohren des Zahmen loszumachen. Nur mit Mühe ließ sie sich von neuen Angriffen zurückhalten. Mit einem eigenartig verlegenen Lächeln besah sie sich ihr blutendes Opfer und fragte befriedigt: »Haste nu jenuch, du Schwein???«
Der in dieser drastischen Weise gezähmte Willi stand bewegungslos da. Auf seinem blutbeschmierten Gesicht lag ein blödes Staunen. Mechanisch griff er nach den schmerzenden Ohren, befühlte sie vorsichtig und betrachtete dann verdutzt das an seinen Fingern klebende Blut.
Die aus den Fenstern zuschauenden Frauen riefen ihm höhnische Bemerkungen zu und lachten schadenfroh über ihn. Da drehte er sich plötzlich um und schlich wortlos davon. Wie auf den Fleck genagelt stand die Einäugige da und stierte mit irrem Ausdruck hinter ihm her. Dann nahm sie der Schwarzen Minna die Augenklappe aus der Hand, legte sie mit zitternden Fingern um und ließ sich in Thieles Stube zurückführen. Alle drei vermieden es, weiter über diesen Vorfall zu sprechen.
Kurze Zeit darauf gab's im »Nassen Dreieck« einen großen Klamauk: in Müttchens Privaträume war eingebrochen worden! Am hellichten Tage hatten die Einbrecher eine Füllung aus der Flurtür herausgesäbelt und waren durch die Öffnung eingestiegen. Mit ziemlicher Frechheit waren die Kerle vorgegangen. Den Hund, der sie gekannt haben musste, sperrten sie in der Speisekammer ein. Dann durchwühlten sie in aller Gemütsruhe Schränke und Kästen. Ein paar hundert Mark bares Geld und ein ganzer Haufen Wäschekram fiel ihnen zur Beute.
Als Muttchen abends das Zimmer betrat und die »Bescherung« sah, blieb ihr vor Schreck fast die Luft weg; zuerst verstand sie einfach gar nichts. Sie stand wie erstarrt und starrte auf das wüste Durcheinander der am Boden herumgestreuten Dinge. Dann stürzte sie sich plötzlich auf die Stelle, wo sie ihr Geld versteckt hielt - es war verschwunden! Erst wollte sie laut schreien. Rasch aber besann sie sich und schwieg ganz still. Sie wollte nicht, dass die Sache im Hause bekannt wurde. Das hätte ein schönes Geklatsche gegeben. Sie nahm ein Stück Pappe und stellte es so von innen gegen die Tür, dass das Loch von draußen nicht gleich zu sehen war.
Als Thiele etwas später ahnungslos zum »Nassen Dreieck« hinüberkam, waren gerade zwei Kriminalbeamte vom Polizeirevier da und recherchierten.
Wie üblich, stellten sie alle möglichen Fragen und machten sich Notizen. Auch von Thiele wollten sie wissen, ob er irgendwen aufs Auge habe, der mit der Sache zu tun haben könne. Nun hatte Thiele allerdings sogleich einen ganz dringenden Verdacht auf eine bestimmte Person, aber er hütete sich, diesen Verdacht den Beamten gegenüber zu äußern. Sollten doch selbst rausfinden und zusehen, wie sie fertig wurden, sie waren ja angeblich sonst immer so hellseherisch veranlagt. Schließlich kriegten sie doch für ihre Spürtätigkeit bezahlt. Er selbst hatte mit seinem eigenen Dreck zu tun und fühlte sich nicht im geringsten veranlasst, sich um die Angelegenheiten anderer Menschen zu kümmern.
Während diese Gedanken ihm durch den Kopf gingen, warf er einen Blick auf Muttchen, die dicht neben ihm stand. Er stutzte. Ihm schien es, als ob er so'n bisschen Misstrauen gegen sich in ihren Augen flimmern sah. Die denkt doch nicht etwa, dass ich - ach Quatsch! Blödsinn!!! sagte er zu sich selbst. Er fühlte aber doch, wie etwas Unbestimmtes heiß in ihm hochkroch, wie ein unerklärliches Angstgefühl ihm den Hals zuschnürte. Was war das bloß? Er hatte doch saubere Finger, hatte doch nicht das geringste mit dieser Angelegenheit zu tun! Um seiner Beklemmung Herr zu werden, fing er an zu reden. Lauter dummes, ungereimtes Zeug quatschte er zusammen, so dass die Beamten stutzig wurden, ihn scharf unter die Lupe nahmen und schließlich genau wissen wollten, wo er denn in der Zeit von dann bis dann gewesen war. Nun, Gott sei Dank! Das konnte er ihnen ganz genau verraten. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn, als dieses peinliche Verhör beendet war. Fast hätte er sich mit seinen albernen Redereien selbst in die Tinte gesetzt. Ganz blöd trommelte es da oben im Kopf. »Verdammte Schweinerei!« schimpfte er vor sich hin und ging fort.
Als er nach Hause kam und von dem Vorgefallenen erzählte, wurde die Einäugige kreidebleich und saß platt auf ihrem Stuhl. Die Schwarze Minna sah es und fragte sie überrascht:
»Wat is dia? Hast woll Angst, det der Willi...?«
Die Käthe zögerte ein wenig, ehe sie antwortete: »Der kriegt alles fertig, - is manchemal det reene Kind, - un wenn er denn noch in't Tran is, lässt er sich von andre besabbeln und macht allens mit...<<
Sie brach ab; eben hatte es geklopft. Der Dicke Stern erschien. Ohne viel Umstände setzte er sich in eine Ecke, rauchte seine Mutzpfeife an und sprach kein Sterbenswörtchen von dem, was alle gerade im Augenblick so sehr beschäftigte. Nur ganz unauffällig warf er einen forschenden Blick auf die Einäugige, um festzustellen, ob sie bereits den Zusammenhang der Dinge ahne.
Wenige Tage später hatte man die drei Mann, die dabei waren, geschnappt, der Zahme Willi war unter ihnen. Beim »Alten Fritz« waren sie »vaschütt jejangen!« Den Rest des Geldes hatten sie noch bei sich. Durch sinnloses Saufen und Spendieren von immer neuen »Stubenlagen« hatten sie sich verdächtig gemacht. Einer ihrer Saufkumpane ging schließlich zur Polente und verpfiff sie. Sang-und klanglos wurden sie ausgehoben!
Die Einäugige war ganz geknickt. Wenn Thieles zum »Nassen Dreieck« gingen und sie mitnehmen wollten, lehnte sie das ab.
»Man muss sich ja reenewech de Oogen aus'n Kopp scheem, - man kann sich ja jar nich mehr unter de Leite sehn lassen... «
Und doch hing sie jetzt noch an ihrem Willi und verteidigte ihn bei jeder Gelegenheit. Als sie zuerst von der Verhaftung erfuhr, presste sie fest den Mund zu. Minna legte ihr den Arm um die Schulter und versuchte sie zu trösten:
»Mach dir nischt draus - wirst dir wejen den Kerl jreemen!«
Da fing die Einäugige an zu plissen: »Durch dick und dünn bin ick mit ihm jejangen, ick kenn ihn doch bessa als ihr alle, er is doch so gut wie mein Mann ... «
Hilflos stand Thiele dieser von einer rührenden Treue beseelten Frau gegenüber. Gern hätte er ihr irgend etwas Tröstendes gesagt, aber er fühlte, dass alles doch bloß leere Redensarten gewesen wären, und so schwieg er lieber. Ihm fiel auch gerade sein eigenes Erlebnis damals mit der Kalten Hand ein, wie der arme Junge geschrieen hatte, als er an der Starkstromleitung ein so furchtbares Ende fand.
Thiele hockte sich wortlos auf die Bettstelle hin.
»Wenn dieset vafluchte Elend doch bloß een Ende nähme! Wenn man wieder arbeeten, freitags seine Sechsdreier nach Hause bringen könnte un mit den janzen Mist nischt mehr zu dun hätte... «
Die schreckliche Sache mit ihrem »Zahmen« nagte und zehrte an der Einäugigen wie eine schleichende Krankheit. Sie war tatsächlich nur noch Haut und Knochen. Da half alles Zureden und ein gut gemeintes Wort nichts. Keiner konnte ihr helfen.
Endlich war der Tag der Hauptverhandlung herangekommen. Mit Thiele und Stern zusammen saß die Einäugige im Zuschauerraum. Sie warf mitleidige Blicke auf den Zahmen Willi, der geduckt auf der Anklagebank saß und hin und wieder die Gefährtin seines Elends verstohlen von der Seite her betrachtete. In seinen Augen glaubte sie zu lesen: Verzeih, dass ich Esel wieder solche Dummheit begangen habe! Als ob's ihr Junge wäre, der da saß, so kam es ihr vor, als sie ihn jetzt so dasitzen sah und ihm doch nicht helfen konnte. Ihr gesundes Auge wurde nass, unter der schwarzen Klappe aber brannte es wie Feuer!
Die Verhandlung selbst nahm kaum eine halbe Stunde in Anspruch.
Ohne den geringsten Versuch, den tieferen Zusammenhängen nachzuspüren, wurde kalt und nüchtern nach Schema »F« der objektive Tatbestand noch einmal beleuchtet. Mit dem üblichen Schneid und der bornierten Dünkelhaftigkeit eines weltfremden, lebensfernen Moralisten betonte der Vertreter der Anklage die sittliche Verkommenheit und damit die Gemeingefährlichkeit der drei Verbrecher und beantragte für jeden wegen schweren Diebstahls im Rückfalle unter Versagung mildernder Umstände die gesetzliche Mindeststrafe von zwei Jahren Zuchthaus. Nach kurzer Beratung gab das Gericht dem Antrag statt.
»Der nächste, bitte!«
»Zwei Jahre Zuchthaus!!!« Der Verstand blieb der Einäugigen stehen; sie vermochte nicht weiter zu denken.
Als der Zahme Willi von den Justizbeamten abgeführt wurde, drehte er sich schnell noch einmal um und rief durch den Saal:
»Adjös, Käthekin, mach's jut!« Mit hängendem Kopf und erloschenem Blick verschwand er.
Bewegungslos saß Käthe Ulrich noch eine Weile da und schaute starr nach der verhängnisvollen Tür, durch die ihr Willi verschwunden war. Sie stand erst schwerfällig auf, als durch dieselbe Tür die Angeklagten für die nächste Verhandlung hereingeführt wurden. Thiele nahm ihren Arm und sagte düster:
»Na, ick jloobe, wia könn jetz jehn - det Theata is ja nu vorbei.«
Schweigend trottete die nun völlig vereinsamte Frau neben den beiden Männern her. Die unterhielten sich über das eben Erlebte und machten höhnische Bemerkungen über Richter und Staatsanwaltschaft.

 

XI.

Tag für Tag und Nacht für Nacht grübelte Wilhelm Thiele über sein trost- und hoffnungsloses Schicksal. Am Anfang und am Ende seiner zermürbenden Grübeleien stand immer wieder nur ein Gedanke: Arbeit!! Eine hundertmeterdicke, unübersteigbar hohe Mauer schien sich zwischen ihm und der Arbeit aufgetürmt zu haben. Mit seinen Gedanken versuchte er diese Mauer zu durchbohren, immer wieder, unermüdlich. Aber nicht einen Millimeter kam er in die harte Masse hinein. Manchmal senkte er den Kopf wie eint gereizter Stier und
rannte blindlings gegen diese Felsenwand. Bums! Sie rührte sich nicht. Sein mürber Schädel aber trug Wunden und Beulen davon!
Links und rechts, an allen Seiten Millionen von Thieles, die sich wie er abmühten, Breschen in die Mauer zu legen, aber gleich ihm auch nur ihr Blut daran verspritzten, sich den Schädel daran einrannten und hilflos vor ihr verreckten.
Einige Überkluge versuchten es auf andere Weise. Sie schlossen sich zu einem Kreis zusammen und bliesen riesige Seifenblasen. An die suchten sie sich zu klammern, um sich so über die Mauer hinübertragen zu lassen. Wenn sie mit derbem Griff zupackten, zerplatzten die schillernden Blasen und ein Tropfen Seifenwasser fiel zur Erde.
Gab es denn gar keine Möglichkeit, das Hindernis zu beseitigen? Die Millionen Köpfe und Hände könnten zupacken und, hastenichgesehen, zum einheitlichen Angriff gegen das Ungetüm vorgehen. Dann musste es ihnen gelingen, einen gangbaren Weg durch die hundertmeterdicke Mauer zu reißen, einen Weg aus der Hölle der Arbeitslosigkeit in eine bessere Wirtschaftsordnung zu bahnen. Prost Mahlzeit! Leute vom Schlage Thieles (und sie zählen nach Millionen) machen da nicht mit. Sie begnügen sich mit dem Blasen der Seifenblasen oder rasen sinnlos mit dem Schädel gegen die steinernen Schranken, bis ihnen das bisschen Hirn vollends verspritzt. Als Gehirnkrüppel vegetieren sie dahin, bis sie eines schönen Tages verenden, wenn sie sich nicht schon vorher selbst auf den Leichenberg oben drauf legen.
In furchtlosem Grübeln hungerte Thiele mit seiner Frau weiter. Ihre Kleidung war schließlich vollkommen abgerissen. Minna hatte neulich von einer Frau, bei der sie hin und wieder die Wohnung saubermachen durfte, ein Paar Schuhe mit festen Sohlen geschenkt bekommen. So war sie fein heraus! Sie hatte bei allem sonstigen Elend wenigstens trockene Füße in diesen regnerischen Herbsttagen. Thieles Schuhe dagegen waren völlig durchgelaufen. Er fühlte schmerzhaft jedes Steinchen, auf das er trat, und wenn es regnete, waren seine durchlöcherten Strümpfe pitschnass, wie ein vollgezogener Schwamm. Bei jedem Tritt spritzte das Wasser nur so aus den Stiefeln heraus!
Bei der endlosen Jagd nach irgendwelchen Verdienstmöglichkeiten war Thiele auf einen alten Dreh gekommen. Er ging täglich hinaus nach den westlichen Stadtteilen. In den Neubauhäusern klopfte er an die Türen, fragte, ob er irgendeine Handreichung tun, Mülleimer heruntertragen, Teppiche klopfen oder andere Hausarbeiten verrichten dürfe. Meistens wurde ihm die Türe vor der Nase zugeknallt wie dem schäbigsten Bettler. Manchmal hatte Thiele Glück, verdiente auf diese Weise ein paar Pfennige. Eines Tages aber gewann er das »große Los«! Er durfte beim Abladen einer ganzen Fuhre Briketts helfen. Mit Feuereifer ging er an die Arbeit. Sein ausgemergelter Körper brach unter der Last der zentnerschweren Kästen, die auf seinen Buckel drückten, fast zusammen. Fest biss er die Zähne zusammen, als er fühlte, dass die
Schulterpartien wundgescheuert waren. Die Traggurte der Kästen schnürten ihm die Luft ab, das Blut zersprengte fast die Halsschlagadern, und die Augen quollen ihm vor Anstrengung weit heraus. Er hielt aber aus. Mit aller Energie riss er sich zusammen, bis der Wagen leer war. Wie im Fieber malte er sich die Freude seiner Frau aus, wenn er ihr heute abend ein paar Mark auf den Tisch legen konnte. Von der U-Bahnstation rannte er im Trab nach Hause. Das Geld hielt er fest in der Hand! Er fürchtete, etwas davon zu verlieren. Ein kleines Vermögen schien es ihm, was er heute verdient hatte. Sonst waren es immer nur ein paar Pfennige, meist aber überhaupt nichts, das er der Minna geben konnte.
Nach solchen, sehr seltenen, Glückstagen machte sich das Elend nur noch härter fühlbar. In der letzten Zeit war er oft nahe dran, sich widerstandslos gehenzulassen. In einem solchen Augenblick sagte er mal zu seiner Frau:
»Weeste, wenn man sich det allens so überlegt -zu wat quält man sich eijentlich noch weiter hin? Et lohnt sich wirklich nich mehr! Det Beste wär, man machte Schluss mit de janze Elend. Wozu den Blödsinn in de Länge ziehn? Nischt in'n Leib und nischt uffn Leib rennt man Dag für Dag rum un müht sich, aus dem Dreck rauszukomm - rutscht aber bloß immer tiefer rin... «
»Ick weeß ja nich, wat du da reden dust, Willem, ick bin so wat von dia ja nicht jewöhnt. Wat soll ick denn erst sagen, wenn du als Mann schon schlapp machen willst? Kiek mal, - eenes Dages wird et doch besser werdn, - et kann doch nich ewig so
bleiben!!!«
Leider sollte es bald noch schlimmer für sie werden. Minna fühlte eines Tages, dass in ihr etwas nicht stimmte. Sie besprach sich mit der Kneschken darüber. Diese ging mit ihr nach der Charite zur Untersuchung. Der diensthabende Arzt war ein Menschenfreund, dem es nicht leicht wurde, der elend aussehenden Minna, die in entsetzlicher Hilflosigkeit vor ihm stand, die Wahrheit zu sagen. Nur zögernd brachte er es über die Lippen: »Tja, Sie sind----schwanger!«
Schwer wie Blei fielen diese Worte der Schwarzen in die Seele. Schwanger? Wo sie selbst nicht einmal das Unentbehrlichste zum nackten Leben hatten, jetzt noch ein Kind! Himmel! Wie sollte das enden? War es nicht doch besser, das zu tun, was der Willem da neulich mal angedeutet hatte: einfach Kurzschluss zu machen mit allem Jammer und Elend? Aber schließlich: man lebt nur einmal, und besser werden musste es doch über kurz oder
lang.
Zwischen Verzweiflung und Hoffnung hin und her gerissen, tastete sie behutsam nach ihrem Schoß, in dem sie jetzt das werdende Leben wusste. Was würde bloß ihr Mann zu dem neuen Pech sagen: Wie sollte sie es ihm nur beibringen? Sagen musste sie es ihm ja auf jeden Fall. Also: »Ick muss et ihm heite noch beibring'n«, beschloss sie. Als Thiele es erfuhr, wurde er bleich wie der Tod. Zunächst wehrte er sich mit aller Macht dagegen, es zu glauben.
»Wat saachste da, Minna? Is et denn ooch wirklich wahr? Ick kann det jar nich jlooben! Du lieba Jott, nee-------det fehlte uns ooch jrade noch - -
- selbst ha'm wa nischt zu futtern - un jetzt noch wat Kleenet! Nee, nee - immer eene Backpfeife nach de andre krischt man von't Schicksal!!!«
Wie schuldbewusst hatte Minna den Kopf sinken lassen und stand nun in schmerzhafter Scham vor ihm. Dicke Tränen tropften aus ihren Augen.
»Nu weene man nich, Minnekin! Ick weeß ja, du kannst nischt dafor. Aber - wat solln ma jetz bloß machen? Wenn man Jeld hätte, denn wäre det 'ne Kleenigkeit - denn könntest du eenfach >kippen<
- vastehst doch, nich wah? Ach, ick Idiot! Wenn wa Jeld hätten, wer det ja jar nich nötig, - denn könnst't ausdragen un groß füttern, un wa hätten unsere Freide dran - - - aber so-o-o! Ick weeß schon nich mehr, wo mia der Kopp steht...«
»Haste Kinder jern, Willem?« fragte zärtlich die Frau, indem sie die Hände gefaltet über den Leib schloss.
»Doch, Minna, sehr jern sojar! Et wa immer mein Traum, een juter Vader zu werd'n, - aber: wenn ick schon een Kind haben soll, denn will ick et doch ooch wat se fressen jeben könn un nich mit ansehen müssen, wie et for Hunger krepiert!«
Verzweifelt riss er seine schäbige Mütze vom Nagel und ging hinüber zum »Nassen Dreieck«. Von Muttchen ließ er sich einen großen Kümmel einschenken. Er goß ihn in einem Zug hinab, um den gallenbitteren Nachgeschmack des eben Vernommenen hinabzuspülen. Der kratzige Fusel war ihm gar nicht scharf genug, wie Wasser kam er ihm
vor.
Dem Dicken Stern klagte er sein Leid. Bedächtig
wackelte der mit dem Kopf, verzog mies das Gesicht und sagte: »Tja, mein Junge, da bist ja wirklich in de... wollte sagen: in wat rinjetretenü«
Minna war inzwischen zu Frau Kneschke in die Küche gegangen. Die hatte doch sicherlich Erfahrung in solchen Dingen und würde ihr zu raten oder vielleicht gar zu helfen wissen.
Die Kneschken aber wich furchtsam aus: »Det so'ne Sache! Jewiß, wie man det macht, det weeß ick schon, - mit 'n Stricknadel un Schmierseefe un so... Aber jefährlich is et uff jeden Fall!«
Der Minna lief es kalt über den Rücken. Ob es sehr weh tue, wollte sie wissen.
Als Thiele zurückkam, lag seine Frau schon im Bett. Kalt und ungemütlich war's in der Bude. Ohne Licht zu machen, setzte er sich zu ihr auf den Bettrand. Sie roch den eklen Schnapsdunst, der seinem Munde entströmte.
»Is doch reenewech zum Kotzen, Minna!« flüsterte er. »Wat machen wa jetz bloß weiter?«
Sie nahm seine Hand, die eiskalt war, und rückte sie liebkosend gegen ihre warme Wange. Dabei erzählte sie stockend, was die Kneschken zu ihr gesagt hatte.
»Wat meenste dazu, Willem, wenn de willst, denn werd ick's machen.«
Thiele fühlte entsetzt, wie feige Angst ihn umkrallte. Die Verantwortung stand riesengroß vor ihm. Er wollte die Entscheidung hinausschieben.
»Na, Minnekin, morgen is ja ooch noch 'n Dag -wolln mal die Sache beschlafen un bei Licht darüber reden... «
Der Schlaf wollte nicht kommen. Noch lange lagen sie beide wach und sprachen miteinander. Minna schüttete ihm ihr Herz aus:
»Weeßte, ick habe doch immer kleene Kinder so jern jehabt un wollte immer jerne eens haben, det zu mia Mutter saachte, un denn ooch, det man uff de ollen Dage nich so alleene is... Willste mal fiehlen, Willem, - 'n bißken ist et schon dick, ob et schon Oogen hat?«
Thiele bemühte sich, ihre Worte zu überhören, er wollte einfach nicht verstehen. Er duldete doch, wie sie sachte seine Hand ergriff und sie vorsichtig an ihren jetzt so geheimnisvoll erscheinenden Schoß führte.
Die Minna ließ der Kneschken keine Ruhe. Immer wieder drang sie auf die Frau ein, sie solle ihr die Sache doch machen. Sie bettelte und flehte in einem fort:
»Dun Sie et doch! Se kenn ma doch helfen!!!«
Lange ließ die Kneschken sich bitten - sie wollte nicht, das Risiko war zu groß! Als sie aber immer wieder Minnas zerquältes Gesicht vor sich sah, da konnte sie nicht länger »nein« sagen.
»Wat hat det Balch denn von't Leben, wennt de Oogen uffmachen dut? Lieba et dotmachen - als et später sterben sehn... «, so beruhigte sie ihr Gewissen, während sie ging, die für die Prozedur erforderliche Schmierseife zu besorgen.
In der Küche musste die Minna auf den Fußboden sich hinlegen. Dann nahm die Kneschke eine alte Stricknadel, wischte die »desinfizierend« an ihrer schmutzigen Küchenschürze vorsorglich ab und fing dann an, in Minnas Unterleib damit herumzupolken, bis das Blut herauslief. Die gequälte Frau konnte es vor Angst und Schmerzen nicht länger aushalten.
»Nee, nee, det jeht doch nich - ick kann't einfach nich mehr aushalten!«, so schrie sie in die vor dem Mund zusammengepressten Hände.
Mühsam stand sie auf und schleppte sich nach ihrer Stube. Vor Schmerzen im Unterleib konnte sie sich kaum noch geradehalten. Die Kneschken bekam es jetzt mit der Angst zu tun und drängte, dass Minna rasch ins Bett ginge. Die stöhnte und krümmte sich - ihr ganzer Körper war in Schweiß gebadet. Von der Nachbarin unterstützt, kroch Minna ins Bett und zog die Decke bis unters Kinn fest an. Matt drehte sie den Kopf nach dem Fenster zu.
Dort sah sie, wie durch einen Nebel, die ersten Schneeflocken in wirrem Durcheinander langsam zu Boden sinken. Sie dachte an Weihnachten, sah Weihnachtsbäume mit Watteschnee übertupft und davor einen uralten, eisgrauen Weihnachtsmann mit langem weißem Bart und blauroter Nase... Langsam schien ihr das Bewusstsein zu entschwinden. Ganz kalt wurde ihr, im Schüttelfrost klapperten die Zähne laut gegeneinander. Die Kneschken
jammerte:
»Ick war ja doch gleich dajejen - nee, det ick mia off dadruff inlassen musste, man wird un wird nich kluch, - det hat man nu davon!!!«
Heulend latschte sie in die Küche, um rasch eine Tasse voll Pfefferminztee aufzubrühen, den sie der Minna dann brachte. Erleichtert atmete sie auf, als endlich Thiele nach Hause kam. Als er seine Frau krank im Bett fand, bekam er einen Schreck. Sofort ahnte er den Zusammenhang. Als Minna seine Vermutung bestätigte und er erfuhr, was die Frauen angestellt hatten, fing er auch an zu jammern: »Nee so wat! Wenn det bloß jut abjeht!« Angstvoll fragte er: »Wie fiehlste dia denn jetzt, Minnekin?«
Mit einer so liebevollen Hingebung, wie sie bei ihrem bisherigen Zusammenleben noch nie in Erscheinung getreten war, sorgte er sich um die fiebernde Minna. Er machte ihr fortgesetzt neue Umschläge, rückte ihr das Kopfkissen bequemer und tat überhaupt alles, was ihre traurige Lage nur irgendwie zu erleichtern vermochte. Die ganze Nacht tat Wilhelm Thiele kein Auge zu. Still saß er neben ihrem Bette und hielt ihre Hand in der seinen.
Diese Frau war ihm alles. Nie zuvor hatte er dies so tief empfunden wie in diesen Stunden.
Ihr Zustand hatte sich gegen Morgen etwas gebessert. Das Fieber hatte nachgelassen. Sie wollte aufstehen, heute hatte sie doch ihre Aufwartestelle - da gab's wieder eine Mark! Und wie überaus nötig konnten sie die gebrauchen.
Thiele musste erst ordentlich böse werden, um sie von ihrem Entschluss abzuhalten:
»Wülste dia mit Jewalt kaputtmachen in diesem Zustand??? Still liejen bleibste ma, vastehste?!«
Die Kneschken erbot sich als Stellvertreterin für Minna, die Aufwartung für heute zu übernehmen. Damit die Stelle ihnen nicht ganz verloren ging.
Thiele selbst lief zum »Nassen Dreieck« hinüber und bat Äpfelchen, nach seiner Frau zu sehen. Er machte sich auf die Strümpfe nach irgendeinem Verdienst. Er musste doch ranschaffen, wenn sie nicht glatt verhungern wollten.
Mehrere Tage lang lag die Minna vollkommen fest. Als sie endlich wieder ohne Gefahr aufstehen konnte, fühlte sie sich schwach und hinfällig wie nie zuvor. Sehr vorsichtig musste sie sein. Wenn sie sich unbedacht einmal bückte, fühlte sie sofort heftiges Stechen im Unterleib: Die Verletzungen mit der Stricknadel waren noch nicht verheilt!
Was hätte Thiele in seiner gegenwärtigen Lage nicht alles getan, um irgendwie Geld in die Finger zu bekommen! Vor dem Gewagtesten wäre er nicht zurückgeschreckt! Wenn jetzt der alte Schaler-Hermann wieder aufgetaucht wäre! Ohne zu überlegen, würde Thiele auf Hochspannungsmasten gestiegen sein - noch und noch!
Berlin ist doch so riesengroß: Gab's denn gar keine Möglichkeit mehr für ihn, auf saubere oder unsaubere Art ein paar Kröten zu verdienen?!!!
Ganze Nächte hindurch wälzte er sich schlaflos herum, sann und grübelte und machte immer neue Pläne. Bei Lichte besehen aber blieb nichts Ausführbares an ihnen übrig: wie Nebel in der Morgensonne lösten sie sich auf.
Unermüdlich lief er Tag für Tag durch die Stadt, raste durch Dutzende von Häusern, die Treppen rauf, die Treppen runter! Überall forschend, überall spähend, ob nicht irgendwer eine kleine Gelegenheitsarbeit für ihn habe. Zwischendurch zog er mal einen Tag lang mit einem Brennholzhändler, dessen sonstiger Begleiter gerade erkrankt war, durch die Stadt. Keine Gelegenheit, einige Sechser zu verdienen, ließ Wilhelm Thiele aus.
Minna wurde jetzt um den Leib herum schon sichtlich voller. Das neue Leben fing bereits an, sich in ihr zu regen. Beide dachten fortwährend an das, was in wenigen Monaten soweit sein würde und unaufhaltsam näher kam: die Geburt des Kindes!
In banger Sorge legte Thiele mitunter sein Ohr an Minnas Schoß, um zu lauschen, ob er von den geheimnisvollen Vorgängen dadrinnen vielleicht etwas hören könne. Zärtlich fuhr sie ihm dann durch die Haare und streichelte seinen Kopf. Diese liebevolle Besorgnis um das Kommende verband sie innerlich von Tag zu Tag immer enger, immer inniger. Schmerzlich empfand er sein Unvermögen, dieser Frau etwas zu bieten, für die werdende Mutter zu sorgen, sie pflegen und hegen zu können ...
Viele, viele Tage des Elends und der Entbehrung hatten diese beiden Menschen schon zusammen durchlebt, noch schlimmere aber standen ihnen bevor. Nichts im Magen und dazu noch die kalte Bude.
Durch den Dicken Stern hatte Thiele im »Nassen Dreieck« eine neue Bekanntschaft gemacht. Es war ein weißbärtiger Alter, August Leiche mit Namen. Im Gegensatz zu seinem seltsamen Namen war das alte Kerlchen aber noch quicklebendig. Klein und rundlich von Statur, schien sein mit zwei überaus lebhaften Augen verziertes Gesicht sonst nur noch aus Bart zu bestehen. Aus einem Bart, der in schneeweißen Zotteln von der Stirn bis zum Kinn jeden Flecken Haut überwucherte. Thiele hatte diesen merkwürdigen »Patriarchen« schon mehrmals im »Nassen Dreieck« gesehen, jedoch ohne ihn weiter zu beobachten. Heute hatte er seine nähere Bekanntschaft gemacht. Der Alte war sehr gesprächig und wusste allerlei Dinge zu erzählen, die seine beiden Zuhörer, Thiele und Stern, sehr interessierten. Ehe er ging, lud er sie beide noch ein, morgen früh mit ihm hinauszugehen auf den Kaninchenfang. Gern nahmen sie die Einladung an.
Als der Alte fort war, erzählte Albert Stern seinem Freund Thiele Näheres über den neuen Bekannten.
»Der vadient manchmal schweret Moos - der olle Strauchdieb! Der is so wat wie een Amphibienfänger, musste wissen. Wat da schwimmt, fleucht und kreucht - det es seine Beute! Nischt entjeht ihm. Wenn de beispielsweise zu den saachst: Hör mal, Leiche, ick brauche morjen frieh zweedausend Frösche, - denn kannste sicher sein, der bringt se dia! Eenmal - det war aber schon for Jahren - hatten se ihn wejen Mordvadacht vahaftet. Det kam so. Er wollte mit een andern Ameiseneier holn. Der andre war schon een paar Stunden vor ihm rausjefahrn, und - wie mein Aujust Leiche in den Wald an die vaabredte Stelle kommt, da findt er seinen Freund als Leiche in eenen Ameisenhaufen liegen - mausedod! Die lebendige Leiche - der Aujust, meene ick, jeht zu de Polente un meldet den Fall. Da ha'm se ihn jleich dabehalten! Et stellte sich dann aber doch rasch raus, det er tatsächlich unschuldig war. Den Doten, det heest, als der noch lebte, war nämlich vor Kohlndampf schlecht jewordn, un war direktemang koppüber in den Ameisenhaufen jefalln. Da sinn de Biester woll ieber ihn herjefallen, ha'm ihn uffn janzen Leib jepiesackt, un durch de scharfe Ameisenseire is er denn woll kaputtjejangen.«
Früh am andern Morgen zogen die drei Männer los. Es ging nach Wittenau hinaus, hinter die Kirchhöfe. Auf den Feldern lag hoher Schnee. Thiele bekam in seinen durchlöcherten Schuhen schnell naßkalte Füße. Das machte ihm aber nichts aus. Es war recht kalt. Wenn sie sprachen, stand der Hauch wie eine Wolke vor ihnen in der eisigen Luft. Fröstelnd schienen sogar die Bäume ihre schwarzkahlen Äste in den weiten Raum zu strecken.
Die drei Männer waren schon eine Weile durch den ziemlich hochliegenden Schnee gewatet. Da wies der weißbärtige Alte plötzlich auf vereinzelte Spuren, die, wie er erfahrungsgemäß genau wusste, von Kaninchen hinterlassen waren.
»Seht mal«, machte er seine Begleiter aufmerksam, »da sind wa ihnen schon uff de Sprünge!«
Je weiter sie kamen, desto mehr Spuren zeigten sich und liefen schließlich zu einem schmalen Pfad zusammen, der am Zaun des Friedhofes endigte. Bei näherer Untersuchung stellten sie fest, dass der Zaun an mehreren Stellen unterwühlt war. Die Kaninchen, die sich hier draußen in großer Anzahl herumtrieben, hatten die Löcher gegraben.
»Die Biester findn jetz woanders nischt zu fressen, un da jehn se nach'n Kirchhof, da is immer wat Jrünet for se«, erklärte August Leiche mit verschmitztem Blick. »Na, een paar von ihnen wolln wa schnell ha'm!« versicherte er siegesgewiss.
Im Fallenstellen und Schlingenlegen war er ein Meister, dem so leicht keiner was vormachen konnte. Bedächtig holte er einen kleinen Hammer, mehrere Nägel und eine Rolle Draht aus der Tasche. Überall, wo sich unter dem Zaun ein Schlupfloch befand, schlug er unmittelbar darüber einen Nagel ein und befestigte daran eine kunstgerecht gelegte Schlinge derart, dass sie ein paar Zentimeter vom Boden entfernt frei vor dem Loch schwebte. Nachdem sie in dieser Weise etwa zwei Dutzend Schlingen ausgelegt hatten, entfernten sie sich; dann gingen die drei in eine in der Nähe gelegene Kneipe und wärmten sich ein bisschen auf. Als sie nach ein paar Stunden wieder zum Kirchhof zurückkehrten, gewahrten sie schon aus einiger Entfernung, dass in einigen Schlingen etwas zappelte. Thiele war einfach platt. Drei feiste Burschen saßen in den Schlingen.
»Jenau berechnet«, sagte lachend der alte Rattenfänger, »for jeden von uns een Braten!«
Die ausgehungerte Minna war aufs freudigste überrascht, als ihr Mann den fetten Bengel auf den Tisch legte.
»Menschenskind, Willem, Kanickelbraten!! De kenn wa aber mal Fettlebe machen! Mir lofft schon det Wasser in'n Mund zusamm!«
Die Kneschken wurde gebeten, den Braten zurechtzumachen und dann mitzuspachteln. Mehr als gern war die dazu bereit.
Während dieser überaus seltenen Schlemmermahlzeit erzählte Frau Kneschke ihren beiden Mietern, dass sie schon seit Jahren da drinnen im Leib so ein komisches schmerzhaftes Pieken hätte. Sie habe noch nie den Mut gefunden, deswegen zu einem Arzt zu gehen. Eine ganz eigenartige Scheu hielt diese Frau, die doch von der Gemeinheit des Lebens durchtränkt war, davon ab, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen.
»Vor so'n wildfremden Kerl soll ick mia da ausziehn un mia unten bekieken lassen, nee, um allet in de Welt nich, det kriege ick nich fertig!«
Auf unablässiges Zureden der Minna entschloss sie sich aber endlich doch am nächsten Tage, nach der Poliklinik in der Luisenstraße zu gehen.
Dort wurde sie sorgfältig untersucht. Daß sie an Unterleibs-Krebs in vorgeschrittenem Stadium litt, verschwiegen ihr die Ärzte, rieten ihr aber, sofort ein Krankenhaus zur Beobachtung und Behandlung aufzusuchen.
Schweren Herzens entschloss sich die Kneschke, ins Krankenhaus zu gehen. In ihrer armseligen Küche brachte sie erst noch alles in Ordnung und vermietete den Raum dann für acht Mark im Monat an einen jungen Mann.
Der neue Mieter war ein junger Arbeitsloser, der bisher bei seiner Mutter gewohnt hatte, dort aber nun fortgezogen war, weil er mit einer Mark Wohlfahrtsunterstützung pro Woche nicht auskommen konnte. Mehr wollte die Fürsorgebehörde unter keinen Umständen herausrücken, da seine Schwester, die auch bei der Mutter wohnte und in Stellung war, ein Monatsgehalt von 90 Mark bezog. Die war angeblich bestimmungsgemäß verpflichtet, ihn mit zu ernähren. Da zog er es vor, sich einen »eigenen« Haushalt zu schaffen, um auf diese Weise unterstützungsberechtigt zu werden.
Er hieß Paul Schmidt und war ein frischer junger Bursche. Oft kam er zu Thieles in die Stube und unterhielt sich mit ihnen. Die hatten ihn bald recht gern, weil er ein so einnehmend offenes und aufgewecktes Wesen hatte. Die beiden Männer sprachen häufig über ernste Tages- und Lebensfragen. Thiele war zuweilen erstaunt über die gereiften Ansichten des jungen Menschen. Vieles, was der in kluger, bedächtiger Rede vorbrachte, erschien so einleuchtend, so unwiderleglich. Vieles, was ihm bis dahin gänzlich unklar war, begann er wie durch eine saubergeputzte Glasscheibe zu erkennen.
Eines Abends war Paul Schmidt nicht zum Schlafen nach Hause gekommen. Auch am andern Tage ließ er sich nicht sehen. Thieles verwunderten sich darüber. Es verging eine ganze Woche, ohne dass sie das geringste von ihm gehört oder gesehen hätten. Schließlich kam die Mutter von Paul zu ihnen und klärte sie über das Verschwinden ihres Sohnes auf. Beim heimlichen Verbreiten von Zellenzeitungen war er erwischt und verhaftet worden.
Bedauernd, ein wenig aber auch verurteilend, sagte Thiele zu der proletarischen Frau:
»Ja, ja - det is die Jugend von heite! Schade um den Jungen, det er sich uff so wat innjelassen hat!«
Die Arbeiterfrau sah Thiele groß an. In ihrem verhärmten Gesicht mit den tiefen Furchen war ein großes Staunen. Aus ihren Augen aber glänzte ungebrochener Lebenswille und tatkräftige Entschlossenheit, als sie mit ruhiger Stimme erwiderte:
»Schade um den Jungen??? Im Jejenteil - ick freie mia, det mein Paule so is. Wenn der anders dächte un handelte, würde et jar nich mein Junge sinn! De janze Welt würde anders aussehen, wenn bloß alle Arbeiter, alle Proleten so kampfmutig un opferfreidig wem wie der!«
Ein Gefühl der Scham stieg in Thiele auf. Er hatte einen roten Kopf, als er wie entschuldigend zu ihr sagte:
»Na - ick meente ja man so-, unsereener kann det allens ja nich so richtig bejreifen. Die Jugend von heitzutage is in solche Sachen viel uffjeklärter wie manch oller Kerl. Bei die Jungs kann man noch wat lern!«

 

XII.

In den nächsten Monaten hatten die beiden Thieles ihre bisher schlimmste Zeit durchgemacht. Weihnachten war vorüber und auch Neujahr überstanden. Jetzt ging es langsam aus dem Winter hinaus.
Mit seinem weißbärtigen Freund Leiche ging Thiele jetzt öfter auf den Vogelfang. Hinter Hermsdorf zogen sie manchmal hinaus, um dort Zeisige, Stieglitze und andere gefiederte Sänger zu fangen. Thiele erstaunte immer wieder, mit welcher Raffinesse sich der Alte auf derartige verbotene Dinge verstand. Die Vögel flogen nach den Stauden des wilden Tabaks, der dort bei Hermsdorf stellenweise meterhoch stand. Diese Stauden wurden von den beiden Vogelfängern teilweise heruntergetreten, um Platz zu schaffen für das Setzen von Leimruten.
Diese Leimruten waren mit Leim bestrichene Birkenspitzen, die nun schräg in die Erde gesetzt wurden. Wenn die ahnungslosen Vögel dann futtersuchend nach dem wilden Tabak flogen, blieben sie an den Leimruten hängen und konnten mit leichter Mühe gefangen werden. In Berlin wurden die Tiere als Ziervögel für die Stube unter der Hand verkauft. Die Inhaber der Vogelhandlungen lehnten den Ankauf in der Regel ab, weil sie befürchteten, auf Grund des Vogelschutzgesetzes sich strafbar zu machen. Zeitweise verdiente Thiele ganz gut bei diesem Geschäft, das ihm selbst eigentlich nie so recht zusagen wollte.
Interessant für Thiele war es, dem alten ausgekochten Weißbart zuzusehen, mit welcher Sachkenntnis und Gründlichkeit er die Vorbereitungen für solche Expeditionen traf. Da war das Kochen von Vogelleim, das meistens am Abend vor einem Fangtag in Thieles Küche stattfand. Eine Flasche Firnis wurde in einen Kochtopf gegossen und aufs Feuer gesetzt. Der kochende Firnis wurde dann angezündet, dass er lichterloh brannte. Durch luftdichten Abschluss mit dem Topfdeckel wurde der Brand dann rasch erstickt. Ein unerträglich widerlicher Gestank erfüllte dabei die ganze Bude und verbreitete sich durch das Haus bis zu den obersten Wohnungen. Jetzt war man fertig. Der auf diese Weise hergestellte Vogelleim klebte wie die Pest!
Wieder gings auf den Frühling zu. Seit der verhängnisvollen Katastrophe beim Kabelstehlen waren schon zwölf Monate vergangen. Mit der Kneschken Stands schlecht. Minna hatte sie mehrmals im Jüdischen Krankenhaus, wo sie Aufnahme gefunden hatte, besucht. Sie wog nur noch achtzig Pfund. Ihr Gesicht war so zusammengeschrumpft, dass es anzusehen war wie das eines verkümmerten fünfjährigen Kindes. Die Kneschken wusste, wie es mit ihr stand, und machte sich keinerlei Hoffnungen mehr auf Wiedergesundwerden.
Als Minna, um etwas zu sagen, in der üblichen Weise von Besserwerden sprach, wehrte die Kranke müde ab:
»Ick weeß, det et mit mia zu Ende jeht - wenn et bloß erst vorbei war!«
Als Ersatz für den verhafteten Paul Schmidt hatten Thieles einen neuen Mieter gefunden, der Frau Kneschkes Küche am Ersten beziehen wollte. Sie mussten sich darum bekümmern, weil ihnen als Untermieter sonst auch ihre Stube gekündigt worden wäre. Dann hätten sie auf der Straße gelegen.
In den Tagen vor Ostern gab's für Thiele wieder ein paar Groschen zu verdienen. Zusammen mit Leiche und Stern zog er in die Waldungen draußen hinter Haakenfelde, um »Oster-Kätzchen« zu holen. Leiche wusste genau, wo Edelweiden standen, die knospenden Zweige der gewöhnlichen Weiden brachten zu wenig und waren schwerer zu
verkaufen.
Wie Sumpfvögel stelzten die drei »Naturforscher« in dem tiefliegenden Gelände umher, balancierten vorsichtig über verdächtig dünne Eisflächen, die das sumpfige Wiesenland teilweise noch bedeckten. Mehrmals brachen sie ein und rutschten bis an die Knie in die kalten Wasserpfützen. Lachend und fluchend turnten sie weiter herum. Sie mussten dabei nach allen Seiten wachsam Umschau halten, denn die Forstbeamten waren scharf hinter den Kätzchensuchern her. Nachdem die drei einen ordentlichen Haufen zusammengebracht hatten, teilten sie diesen in drei Teile und verpackten sie in die mitgebrachten Säcke. Dann ging es auf Schleichwegen zum Bahnhof. Zu Hause mussten die Kätzchen, die noch mit einer feinen braunen Schutzhaut versehen waren, erst einzeln »gepellt« werden. In kleine Sträuße zusammengebunden, wurden diese dann vor den Kirchhöfen in der Seestraße losgeschlagen.
Während Thiele ein paar Mark zu verdienen suchte, stand Minna in den letzten Tagen vor Ostern vor der Markthalle am Weddingplatz und handelte mit Eierfarben: »En Jroschen det Paket!!!«
Am Dutzend verdiente sie sechzig Pfennige. Die Frau, der man es jetzt schon ansah, dass sie schwanger war, rief durch ihren Zustand bei den Arbeiterfrauen Mitleid hervor. Am Tage vor Ostern gelang es ihr, anderthalb Dutzend Pakete zu verkaufen. Sie hatte also neunzig Pfennige verdient.
Von dem gemeinsamen Verdienst der letzten Woche hatten Thieles nur die allernotwendigsten Ausgaben gemacht. Ein paar Emchen, die sie überbehalten hatten, wurden vorsorglich auf die hohe Kante gelegt. Dann konnte man sich sogar erlauben, einen ganzen Tag keinen Finger krumm zu machen.
»Raus mit de Zicke an de Friehlingsluft!« hatte Thiele am zweiten Ostertage zur Minna gesagt und sie unterm Arm genommen, um einen kleinen Spaziergang ins Grüne mit ihr zu machen.
Arm in Arm wanderten sie hinaus. Vorbei an Fabriken, Lagerschuppen, Laubenkolonien und Friedhöfen. Es war das richtige »Kneif«-Wetter! So hatte seine Mutter dieses Wetter immer genannt, wenn das grelle Licht des nur teilweise bewölkten Himmels die Augen blendete, dass man sie zusammenkneifen und dabei ulkige Grimassen schneiden musste.
Wie sich das hier draußen im Laufe der Jahre alles verändert hatte! Nur hin und wieder sah Thiele Gebäude oder Örtlichkeiten, die ihm noch bekannt waren. Erinnerungen wurden in ihm wach. Innerlich ganz warm wurde er. Für Minuten fühlte er sich wieder als der ungestüme Zwölfjährige, der hier mit den andern Jungen herumtobte und so manchen Schabernack, so manchen Lausekrötenstreich verzapft hatte. Alles schien wieder vor ihm lebendig zu werden.
»Sieh mal, Minna, da drieben uff de Promenade ha'ck vor - - - na vor Sticker die finfunzwanzig Jahre - Koks jesucht aus die Aschenhaufen, die de uffjeschitt hatten. Meine Mutta war ja eijentlich dajejen, aber wenn ick unvermutet so'n Schrippenbeitel voll Koks za Hause brachte, hatse sich doch immer mechtig jefreit. Und da hinten, siehste, det rote Haus, det war de Luxuspapierfabrik von Albrecht und Meester, un'n Stick weita, wo de Laubn stehn, det war unser Fußballplatz! Junge, Junge, ick saache dia, da is manchet Tor jeschossen, aba ooch manchet Schienbeen kaputt jetreten worn.
Fast alle, die damals mit dabei warn, sinn nu woll längst dot! Een paar sinn ja schon vorn Kriech gestorbn; de meisten aba in'n Kriech!
Da warn zwee Zwillinge, die kriechten mit eenmal de Jalloppierende; un ihr Bruda, der dritte, versoff in Tejel beit Badn. Die andern Jungs sinn woll so jut wie alle jefalln. Ick hab' fast keen von se wiedajesehn. Da der Bomme Fetzrat - eene janz dolle Marke, saache ick dia! Bei alle Keilereien, die in unsern Kietz vorkam'n, war er der Stoßer - vor keen hat er sich gefircht, imma vorne weg! Eene janz kesse Kreete war det! Uff de Stirn hatte er 'ne dreifingerbreite Narbe; - da hatte een so'n langer Lulatsch ihn mal mit 'ne Wagenspeiche eens vorgewischt! Ja, un als diese Bomme in'n Kriech musste, da hat er jeweent wie'n kleenet Kind! Nich etwa aus Angst! -Det wa woll mehr so die Ahnung, die er jehabt hat.
Na, - ooch er is draußen jeblien------Ja, Minnekin,
wenn ick so an allet denke! Da war een anderer, der konnte stehln wie'n Rabe! Mit'n vanickelten Fennich jing der keß int erste beste Zijarettenjeschäft und koofte forn Sechser drei Stick Bolero Blaukopp, - un wenna rauskam, denn hatte er noch 'n Katong mit hundert Stick unter de Jacke!
Weeste, Minna, so sehr ick diese freche Lausekreeten damals bewundert hab, mitzemachen draute ick ma doch nich! Ick hab immer so'ne ei jenartige Scheu jehabt un bloß imma von weiten zujekiekt, wenn se uff Räubereien ausjingn. Un wat die alle vazappt ha'm! Bei de Obst- und Kolonjalwarnjeschäft durfte nischt vor de Diern stehn, da langten se im Vorbeijehn mit eene fabelhafte Jeschicklichkeet rin! Wo een Schokladenautomat war, der wurde uffjebrochn! Kam een Selterwasserwagen vorbei, schwuppdich! da hatten se schon een paa Flaschen runterstiebitzt, die se dann aussoffen un nachher bei Likör-Meyer im Kella wieda vakooften.«
Eine Weile gingen die beiden in Gedanken versunken weiter. Dann fing Thiele wieder an:
»Kiek mal, hier drieben war det Akazienwäldchen, det war scheen da, Minna! Tiefe Höhlen jab's da - un hier jing 'n Weech runta nach de Seestraße - uff beede Seiten warn Hecken, so hoch wie icke-, un Hummels ha'm wa da jefangn. In unsern Unvastand ha'm wa die een Faden ant Been jebunden un denn mit fliejen lassen. Un wenn die Weißdornhecken jeblieht ha'm, kriechten se sone scheene kleene weiße Blümkens! In eene Ausbuchtung von de Hecken ha'm se eenes Dags eenen Doten jefunden... «
Wie trunken wühlte Thiele in seinen Kindheitserinnerungen; längst vergessen Geglaubtes stand wieder in voller Lebendigkeit vor ihm. Mit ihrem hohen Leib ging seine Frau zufrieden neben ihm her und hörte aufmerksam zu, was er ihr aus seiner Kindheit erzählte. Sie war glücklich, wenigstens für einen Tag einmal nicht an das Morgen denken zu müssen: zu essen hatten sie ja für die nächsten Tage.

Der neue Mieter war inzwischen in Frau Kneschkes Küche eingezogen. Thiele kannte den kleinen Schautermann mit der brennendroten Sturmtolle und der großen schwarzen Brille auf der Himmelfahrtsnase aus dem »Nassen Dreieck«, wo das kleine Monstrum schon seit längerer Zeit verkehrte. Er hieß Kleist, Hermann Kleist, -wurde aber allgemein nur »Jesusgreifer« genannt.
Dieser puppige, struppige Jesusgreifer war höchstens einsvierzig groß oder vielmehr klein: seine Frau aber, unter dem halblangen Rock schauten ein Paar O-Beine hervor, war noch eine Portion kleiner. Um ihrer Körper-Kürze eine Elle hinzuzusetzen, trug sie stets eine auffallend hohe Frisur, deren Gerüst aus einem solchen Haufen Rosshaar bestand, dass man gut und gern eine Kindermatratze damit hätte stopfen können.
Völlig aus der Art geschlagen war die zehnjährige Tochter des Kleistschen Ehepaars: gertenschlank war sie ins Blaue emporgeschossen und war so-o mager, dass sie sich beinahe hinter einem Besenstiel hätte auskleiden können, ohne überhaupt bemerkt zu werden.
Als Wilhelm Thiele am Tage nach dem Einzug der Familie Kleist durch die Küche kam, gewahrte er etwas so Seltsames, wie er es als Berliner Kind in seinem bisherigen Leben noch nie gesehen hatte. Vor dem Küchenfenster war eine leere hohe Kiste aufgestellt, auf der ein Kruzifix thronte. Daneben steckten in primitiven Holzleuchtern ein paar ganz dünne Kerzen. Die schwarzverräucherten Küchenwände waren ringsherum mit Öldrucken beklebt, Darstellungen der Gottesmutter mit dem Jesuskinde und anderer Heiliger... Völlig überrascht und verständnislos starrte Thiele auf all diese Dinge. Scheu von unten herauf, so dass er über den Rand der großen runden Brillengläser hinwegschielte, blickte das kleine rothaarige Unikum Thiele fragend an, als ob es ein Werturteil von ihm erwartete.
Da Thiele den alles andere als christlichen Lebenswandel der verkommenen kleinen Schnapsdrossel des »Nassen Dreieck« zur Genüge kannte, vermochte er nur zu stammeln:
»Na, weeßte - det is ja allerhand!!!« - Dann zog er ganz bedeppert die Tür hinter sich zu.
Nach und nach lernten Thieles die Gepflogenheiten ihrer religiösen Mitbewohner näher kennen. Oft bekamen diese Besuch von angejahrten Damen, deren bis zum Hals geschlossene schwarze oder dunkle Kleider mit über dem Latz baumelndem Kreuz sie auf hundert Schritte als Betschwestern von Beruf erkennen ließen.
Auffallenderweise war der gerissene Rotkopf nach solchen frommen Besuchen immer bei Kasse. Ein untrügliches Kennzeichen dafür, dass er Geld hatte, war sein Besoffensein. War er aber besoffen, gabs in der Küche Geschrei; denn dann verprügelte er seine Frau und auch das Kind nach Strich und Faden. Vorausgesetzt natürlich, dass das Kind gerade zu Hause war, was nicht allzu oft vorkam, weil die Kleine über Tage bei einem Schlächtermeister in der Nähe mit dessen blödem Mädel spielen musste.
Die Ehe der Schlächtersleute war mit einem blöden Kind belastet, das oft epileptische Anfälle bekam und dann wie irre um sich schlug und jeden biss, der in seine Nähe kam. Wenn dieses Geschöpf sich auf der Straße sehen ließ, liefen die andern Kinder angstvoll schreiend davon. Mit einer wahrhaft himmlischen Geduld ließ die kleine Kleist sich von dem blöden Kind die ganze Woche über prügeln, stoßen und beißen. Alles im Hinblick auf das Paket Abfallwurst, das ihr Vater von den Schlächtersleuten des Sonnabends als Lohn erhielt.
Einmal, in einem unbewachten Augenblick, war der Schwachsinnigen eine Schere in die Hände geraten. Mit der lief sie wild fuchtelnd herum. Die kleine Kleist hatte Angst und wusste nicht mehr ein noch aus. Sie jagte in der Stube herum und das Mädel mit der Schere hinter ihr her. Bis es ihr endlich gelang, das Handgelenk der wildschreienden Kranken zu packen und ihr die Schere abzunehmen. Dabei wurde die Kleist aber doch verletzt. Als sie das Blut sah, fing sie an, laut zu weinen. Die Frau Schlächtermeister kam auf das Geheul hin hereingestürzt, und als sie sah, dass nicht ihr Kind, sondern das andere verletzt war, tat sie ganz empört:
»Was heulste denn so wegen dem kleinen Riss wo du doch vorhin den schönen Pudding bekommen hast!«
Der Stolz des Jesusgreifers war sein »Kleener«,
der ihm von der Jugendfürsorge fortgenommen
worden war, weil er ihn gewissermaßen zum gewerbsmäßigen Betteln verpumpt hatte. Wenn der Rothaarige von diesem kleinen Knirps erzählte, war er ganz aufgeregt und wusste nicht genug zu rühmen, was für ein tüchtiger Junge das schon von der Windel an gewesen war.
»Tja - mein Kleener!« sagte er zu Thieles. »Det reene Wunderkind, kann ick Ihn vasichern. Den hättense mal sehn solln! Wenn ick mal 'ne Katze jeschlacht hatte, war er nich wechzukriejen. Vada, But, But, But, hat er immer jerufen un vor lauter Freide mit de Beene jestrampelt. Wose den min wechjeholt ha'm, Mensch, da wa'ck reene aut't Heiske! Ick ha' sonne Wut jehabt, det ick meine Olle hin (er zeigte mit dem Daumen auf seine zwerghaft kleine Frau, die mit über dem Leib gekreuzten Armen und einem feinen Lächeln im Gesicht neben ihm stand) windelweich gehaun habe - - - in't Gerhardt-Stift mussten se de Olle bring'n!«

 

XIII.

Im »Nassen Dreieck« waren in der letzten Zeit viele neue Gesichter aufgetaucht - viele alte aber verschwunden. Die alten Kunden waren auf Walze gegangen und tippelten als getarnte Speckjäger, also als arbeitssuchende Großstädter, auf den Landstraßen von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, überall bei den Bauern und Handwerkern anfragend, ob nicht irgendwelche Arbeit für sie zu haben sei.
Die Einäugige war seit der Verurteilung ihres Zahmen Willi aus dem »Nassen Dreieck« spurlos verschwunden. Auch bei Thieles hatte sie sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Kein Mensch wusste, wo sie sich aufhielt oder was aus ihr geworden war.
Durch den Zuwachs vieler neuer Gäste herrschte wieder Hochbetrieb bei Muttchen. Die Feindschaft zwischen den Dreiecklern und den Leuten vom »Alten Fritz« bestand noch immer. Es war selbstverständlich, dass sie sich traditionsgemäß auf jeden Neuen wie eine Infektionskrankheit übertrug. Es war dazu nicht einmal notwendig, dass man die feindliche Kneipe auch nur ein einziges Mal von außen gesehen hatte.
Vor kurzem hatte Muttchen verreisen müssen. Nur einige Eingeweihte von der alten Garde wussten, dass sie auf ärztliche Anweisung in Böhmen Bäder nahm. Mit einem Zapfer, dem alten Hausdiener und einer Reinemachefrau führte der Fackler, Münchens Vertrauter, jetzt das Geschäft weiter. Er fühlte sich gewissermaßen als Herr des Hauses. In einer braunen Drillichjacke und kahlgeschorenem Schädel stolzierte er im »Nassen Dreieck« umher. Der ehedem so spacke Federfuchser hatte unter Muttchens Pflege mächtig ausgelegt und ein recht feistes Genick bekommen. Er fühlte sich! Und alle Gäste respektierten ihn wegen seiner Pfiffigkeit in allen Dingen. Der Fackler hielt Ordnung im »Nassen Dreieck«! Er war aber auch ein ganz gescheiter Kopf. Für die Fechtbrüder war er im Laufe der Zeit eine Art von »Gebets-Schmied« geworden. Er tüftelte für sie rührselige Sprüche aus, die sie beim Kloppen an den Türen herleierten.
Nun hatte sich der Fackler etwas ganz Besonderes, einen neuen Trick ausgeknobelt. Von einem Grossisten bezog er billig einige Tausend bunter Glückwunschkarten. Von diesen steckte er je zwei in einen Briefumschlag und legte einen Zettel mit vervielfältigtem Text bei:

Ich bitte die werten Herrschaften mich in meiner Notlage zu unterstützen und mir 2 Karten abzukaufen. Da ich seit 1930 arbeitslos bin, versuche ich auf diese Weise mein Brot zu verdienen.
Werde mir erlauben im Laufe des Tages bei Ihnen vorzusprechen. Im voraus meinen besten Dank.
- 2 Stück kosten 10 Pf.-.

Diesen kouvertierten »Schmus mit Beilage« verkaufte der Fackler an die Gäste des »Nassen Dreieck« Stück für Stück gegen sechs Pfennige in bar. Er machte ein gutes Geschäft dabei. Aber auch die Wiederverkäufer unter ihnen. Natürlich musste er geschickt dabei zu Werke gehen. Er warf den Leuten unbemerkt einen Umschlag in den Briefkasten oder durch den Türspalt. Ein paar Stunden später sprach er dann vor und erklärte höflich, er käme wegen der in Empfang genommenen Postkarten, um deren Bezahlung er ergebenst bitte. Entweder erhielt er dann seine zehn Pfennige oder aber den Umschlag mit Inhalt zurück.
Das einzige Risiko bei diesem Geschäft war, dass manche Leute gar nicht öffneten oder sogar bestritten, die Karten erhalten zu haben. Hin und wieder kam das vor, konnte aber verschmerzt werden.
Nach einiger Zeit aber hatte sich die Sache allgemein herumgesprochen. Die Leute kamen dahinter, dass es sich um einen aufgezogenen Dreh handelte, auf den sie nun nicht mehr hereinfielen. Der kleine Nepp hatte sich überlebt, war tot.
Frau Kneschke war im Jüdischen Krankenhaus unter qualvollen Schmerzen verschieden. Sie hatte ausgelitten. Als ihr Tod im Hause bekannt wurde, sammelten die Mitbewohner unter sich für den Kranz. Zwei Mark und fünfundachtzig Pfennige kamen zusammen. Zu Lebzeiten ihres Mannes hatte sich Frau Kneschke in der Verbrennung eingekauft, so dass die Wohlfahrt der Sorge um die Beerdigung enthoben war. Im Krematorium in der Gerichtstraße fand die Einäscherung statt. Außer Thieles und Stern nahmen noch sieben Frauen aus dem Hause an der Trauerfeier teil. Nach einem kurzen Orgelspiel leierte ein Vertreter der Bestattungsgesellschaft ein paar nichts sagende Worte herunter und verschwand dann. Oben von der schmalen Galerie ertönten die getragenen Weisen eines Gesangsquartetts: »Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh?« und »Wie sie so sanft ruhn, alle die Seligen... «
In sich zusammengesunken saß die kleine Trauergemeinde da. Ihre echt empfundene Trauerstimmung galt aber mehr ihnen selbst als der Verstorbenen. Fast beneideten sie alle die Kneschken, die den Rummel nun hinter sich hatte, die sich nie mehr um das Morgen ängstigen musste.
Als die Trauernden nachher gemeinsam nach Hause gingen, sprachen sie über die Kneschken und über den Krebs.
»Na - die hat's hinter sich, was wir noch vor uns haben, die ist fein raus.« So endeten alle Gespräche. Ein armseliges Menschenleben hatte seinen kümmerlichen Abschluss gefunden. Die Kette riss nicht ab! Ein neues, wahrscheinlich noch armseligeres Leben bereitete sich schon wieder vor.
Minnas Leib wurde höher und höher, der Tag ihrer Niederkunft rückte unaufhaltsam heran.
Seit jenem missglückten »Kipp«-Versuch in Frau Kneschkes Küche hatten Minna und Thiele das Abtreibungsthema nie mehr berührt. Jeder von beiden quälte sich heimlich mit seinen eigenen Gedanken über die bevorstehende Geburt ab. Thiele überraschte sich manchmal dabei, wie er im geheimsten Winkel seines Herzens auf eine Totgeburt hoffte.
Minna, die das neue Leben unter ihrem Herzen von Tag zu Tag merklicher sich regen fühlte, hatte sich mit dem Unvermeidlichen abgefunden. Sie empfand weder Sorge noch Angst um das, was da kommen sollte, kommen musste. Fatalistisch ließ sie dem Schicksal seinen Lauf. Sie wusste ja doch weder Mittel noch Wege, es abzulenken oder es aufzuhalten. Wenn ihr Mann völlig verzagt sich gehen ließ und seinem Unmut Ausdruck gab, blickte sie ihn vorwurfsvoll an und sagte enttäuscht: »Willem, ick vasteh dia eenfach nich... « Dann nahm er die Frau bei den Schultern und drückte sie im Übermaß seiner durcheinander wogenden, sich widersprechenden Gefühle so heftig in seine Arme, dass sie laut aufschrie:
»Du-u-u, det Kind! Du zardrickst et ja reenewech!«
Einen Monat vorher ging Minna in eine städtische Entbindungsanstalt. Viele arme Frauen, die das Geld für eine Entbindung nicht aufbringen konnten, machten es so. Die Anstalt lag in der Schulstraße, nicht weit von Thieles Wohnung ab. In dem Institut wurden Hebammen ausgebildet. Als Entgelt für den etwa vierwöchigen Aufenthalt sowie für die Entbindung selbst mussten die Wöchnerinnen Hausarbeit verrichten. Auf diese Weise ersparte die Anstalt festangestellte Arbeitskräfte und hatte zugleich für umsonst immer eine genügende Anzahl von Lernobjekten für die auszubildenden Hebammen. Es war ein im modernsten Sinne rationalisierter Betrieb: Geburtshilfe am laufenden Band! Ja, unsere Kultur! Wie herrlich weit haben wir es doch gebracht! Nicht nur das Geborenwerden, nein, auch das Sterben wird uns Gegenwartsmenschen so furchtbar leicht gemacht, abgesehen natürlich von dem bisschen Elend, das zwischen Geburt und Tod kreist.
Wilhelm Thiele musste in diesem Monat zusehen, wie er sich allein durchschlagen konnte. Mit düsteren Gedanken lief er herum. Von morgens bis abends war er auf den Beinen, um irgendwie und irgendwo ein paar Pfennige einzuheimschen. Wenn Minna nachher wieder da war, und noch dazu mit dem Wurm, dann brauchte man Geld. Das wenige, was ihm ab und zu in die Hände fiel oder vor die Füße geworfen wurde, langte ja für ihn selbst kaum. Ein paar Groschen zurückzulegen, daran war doch gar nicht zu denken. Abend für Abend hockte er drüben im »Nassen Dreieck«. Allein zu Hause hielt er es einfach nicht mehr aus, er musste unter Menschen sein, mit denen er ein Wort sprechen konnte. Wenn diese Menschen auch nicht besser daran waren als er selbst.
Wenn die Frauensleute im »Nassen Dreieck« ihn so niedergeschlagen sitzen und vor sich hinbrüten sahen, kamen sie mitunter teilnahmsvoll zu ihm und erkundigten sich nach der Minna. Auch im Hause selbst wurde er jetzt öfter von den Mitbewohnern angehalten und nach dem Ergehen seiner Frau gefragt. Irgendwie tat ihm diese Anteilnahme wohl. Er fühlte in all diesen Fragen so etwas wie eine Kameradschaft, kam sich in seinem Elend nicht so isoliert vor. Er ahnte die Gemeinschaft seiner Klasse, deren Mitglieder trotz aller eigenen Sorgen und Nöte doch immer noch einen flüchtigen Gedanken, eine kleine Spur von Gefühl übrig hatten für ihre leidenden Klassengenossen.
Er war doch jetzt jemand. Wer hatte denn vorher von ihm etwas wissen wollen? Gewiss war er nichts Besonderes, aber noch immerhin »Etwas«, wenn vorerst auch nur der Mann einer Frau, die ein Kind bekommen sollte. Für ihn reichte die Zukunft gegenwärtig nur bis zu dem Augenblick, da seine Minna entbinden würde. Was dahinter lag, war endlos gähnende Leere, ging ihn jetzt einen Dreck an. Mit der sich schon heute auseinanderzusetzen, lehnte er müde ab. Man würde ja sehen... Warum sich schon heute das Hirn zergrübeln über Dinge, über Verhältnisse, die noch in so weiter Ferne lagen?
Er fiel ein. Seine Augen lagen in dunkelumschatteten, tiefen Höhlen. So schleppte er sich müde von einem Tag in den andern, ohne einen Ausweg zu finden aus dem Labyrinth, in das er kalt und sachlich hineingestoßen worden war und aus dem er nun nicht mehr herausfinden konnte.

Muttchen war von ihrer Bäderkur aus Böhmen zurückgekehrt. Sie sah gut erholt aus. Hinter der Theke aber war sie nur noch selten zu sehen. Den Ausschank und die übrige Geschäftsführung überließ sie ganz dem Fackler und seinen Helfern.
Im »Nassen Dreieck« lief ein eigenartiges Gerücht um. Einmal aufgetaucht, wollte es nicht mehr aus der Unterhaltung der Gäste verschwinden.
Man munkelte heimlich, dass Muttchen sich mit der Absicht trage, ihre »Joldjrube« zu verkaufen. Bestimmtes wusste allerdings keiner. Aus dem Fackler, der doch sicherlich informiert war, konnte man nichts herauskriegen, er hielt dicht. Die meisten Gäste glaubten nicht recht an das, was da geredet wurde. Es wird ja so viel zusammengequatscht, am Ende: lauter blauer Dunst!
Zwar behauptete einer, ein diesbezügliches Telefongespräch Muttchens mit angehört zu haben. Aber der Mann konnte sich täuschen!
Sie alle, die sie seit Jahr und Tag im »Nassen Dreieck« sozusagen zu Hause waren, fühlten sich so mit dieser Klause verwachsen, dass der Gedanke, Muttchen könne sie treulos verlassen, nicht in ihren Kopf hinein wollte. Eine solche Schlechtigkeit trauten sie ihrem Muttchen gar nicht zu. Wie ausgesetzte Waisenkinder wären sie sich ja vorgekommen. Verstohlen blickte der eine oder der andere nach Muttchens »Hausordnung«, dem schweren Gummiknüppel, der in orakelhafter Würde wie das Schicksal selbst ruhig auf seinem Platz hing und jede Auskunft verweigerte.
Dann sprach der Dicke Stern mal unter vier Augen mit der Frau darüber.
Zu Sterns Überraschung sagte Muttchen nicht, dass es eine Lüge sei. Im Gegenteil! Wie etwas Selbstverständliches gab sie offen zu, dass sie die wohlüberlegte Absicht habe, zu verkaufen:
»Ich habe bereits mehrere Interessenten an der Hand. Ich kann 's nicht mehr machen, aus Gesundheitsrücksichten bin ich zu diesem Schritt gezwungen. Von meinen Ersparnissen habe ich mir in Mecklenburg eine Pension gekauft, schön am Wasser, mit Obstgarten und Kleinviehzucht.«
Die Gäste des »Nassen Dreieck« waren, als sie das vom Dicken Stern erfuhren, wie vorn Kopf geschlagen. Bitter enttäuscht, sagten sie:
»Also wirklich - ist es also doch wahr!«
Sie wurden förmlich böse auf Muttchen und ließen es sie deutlich merken. Die trug es mit Würde.
An den Tischen steckten die Kunden ihre Köpfe zusammen und erörterten im Flüsterton die Aussichten, die der neue Wirt ihnen bieten würde!
»Wer kann wissen, wat for een Dollbreejen hier herkommt?« sagte einer.
»Na«, erwiderte ein anderer, »wenn der meent, uns olle jewiechte Raben hochnehmen zu könn, denn sollr sein blauet Wunda aleben!«
Die Ungewissheit des Kommenden hing dick und undurchdringlich in der Atmosphäre des »Nassen Dreieck«. Eine Saustimmung herrschte dort!

Aus dem Wöchnerinnenheim in der Schulstraße hatte Thiele eine Karte bekommen, auf der ihm mitgeteilt wurde, dass die Entbindung seiner Frau heute bevorstand.
Nun saß er mit banger Seele im Wartezimmer und zitterte am ganzen Leibe. Unruhig wanderten seine Blicke über die kaltweißen, schmucklosen Wände des Raumes, sah die Frauen in ihren weißen Leinenkitteln vorbeilaufen. Ein widerlich sich aufdrängender Karbolgeruch schwängerte die Luft und beklemmte ihm den Atem. Alles ringsum erschien ihm so unsagbar seelenlos, so schablonenhaft amtlich, so gar nicht menschlich. Selbst das Geräusch einer schlagenden Tür oder das ferne Klirren von Geschirr hatten einen so fremdartigen, toten Klang.
Mit angespannten Nerven saß Thiele da und wartete. Er lauschte unbewusst auf jeden Laut. Er fühlte eine unwiderstehliche Müdigkeit langsam in sich hochkriechen und gleichzeitig eine unsagbare Leere in seinen Gedanken, in seinem Empfinden. Mit größter Anstrengung nur gelang es ihm, seine bleischweren Augenlider immer wieder hochzureißen, wenn sie in der ihn umgebenden Stille ganz unmerklich abgesackt waren und er einzuschlafen drohte.
Plötzlich vernahm er hastiges Türenöffnen und erregte Frauenstimmen. Er sprang auf. Eine junge Frau kam zu ihm und sagte lächelnd, dass alles glücklich überstanden sei. Jetzt dürfe er zu seiner Frau hinein. Thiele stürzte in den Saal. Da lag die Minna im Bett. Wie sie ihn glückselig anstrahlte!!! Ihre Augen glänzten klar und warm wie die eines ganz jungen Mädels!
Thiele trat heran und strich ihr leise und zärtlich über die blasse Stirn. Ganz scheu und furchtsam nur warf er einen Blick auf das kleine violette Wesen, das da mit unförmigem Schädel neben der Mutter lag. Fragend sah er die Minna an. Die verstand und flüsterte: »Ein Mädel!« Liebevoll lächelte sie ihm dabei zu. Dann schloss sie plötzlich die Augen und schlief ruhig ein. Noch einen beruhigten Blick warf Wilhelm Thiele auf die Schlafende, dann schlich er leise auf den Zehenspitzen hinaus.
Als Minna nach einigen Tagen in ihre Wohnung zurückgekehrt war, kamen die Frauen aus dem »Nassen Dreieck« herüber, um sich Mutter und Kind einmal anzusehen. Später kamen auch noch einige von Muttchens männlichen Gästen. Mit ungewohnter Scheu ihre schmutzigen Hüte oder Mützen in der Hand haltend, gingen sie vorsichtig durch die Stube ans Bett und besahen sich neugierig das strampelnde, schreiende kleine Ding.
Die Minna hatte vor Stolz und Aufregung rote Backen.
Schneller, als alle Gäste erwartet hatten, war der Verkauf des »Nassen Dreieck« vollendete Tatsache geworden.
Schon ab kommendem Ersten sollte der neue Wirt hinter der Theke stehen. Muttchen hatte sich seit Wochen in ihrer Giftbude nicht mehr sehen lassen. Sie weilte meist in Mecklenburg, wo sie sich für die Übernahme des Pensionats vorbereitete. Was hier in Berlin für sie noch zu erledigen war, besorgte der Fackler. Die Möbel aus Muttchens Privaträumen waren vom Bahnspediteur bereits abgeholt worden.
Mit misstrauisch erwartungsvollen Gesichtern saßen die Kunden herum und waren gespannt auf die Dinge, die da kommen sollten. Der erste Tag des neuen Monats stand dicht vor der Tür.
Die Ereignisse warfen ihre Schatten voraus. Heute, gegen Abend, war ein fremder Mann in das »Nasse Dreieck« gekommen, der, ohne etwas zu bestellen, sich mit dem Fackler begrüßte und dann angeregt unterhielt, als ob er hier zu Hause wäre. Die Kunden wussten, ohne dass es ihnen jemand gesagt hatte: Das war er! Sein bartloses knalliges Gesicht strotzte nur so von Gesundheit. Wo bei anderen Menschen das Kopfhaar ist, strahlte es bei ihm in poliertem Hochglanz.
Der Anblick dieser enormen Glatze veranlasste einen der jüngeren Gäste, durch den Raum zu brüllen:
»Da, kiek mal, den sein peröser Keks jlänzt wie so'n polierter Kinderarsch!«
Diese schnoddrige Bemerkung wurde mit freudigem Grinsen quittiert.
Wenig passend zu der massigen Körperfülle des neuen Wirtes erschienen die hervorquellenden wasserblauen Augen. Sie erinnerten in ihrer blöden Sanftmut an ein paar in Magermilch schwimmende aufgeblähte Vergissmeinnicht. Die offenbar sehr kräftigen Hände des Neuen waren ebenfalls von pralliger Fülle. Auf seinen unförmig dicken, dichtbehaarten Fingern protzten mehrere Goldringe mit ihrem Karatgewicht. Überhaupt alles an diesem Fleischklumpen schien zu schreien: Seht mal, wer Wir sind!!!
Mit gemachter Lässigkeit gegen ein Regal gelehnt, stand dieser Knallprotz da, kaute nervös an einer dicken Zigarre und schien im stillen zu berechnen, wie hoch der Tagesumsatz unter seiner Leitung des Betriebs sich wohl stellen würde.
Am Tage vor der Geschäftsübergabe kam Muttchen plötzlich hereingeschneit. Die Gäste gaben sich ziemlich kühl ihr gegenüber und ließen merken, dass sie von diesem letzten Besuch ihrer »Rabenmutter« nicht sonderlich erfreut waren. Dieser Eispanzer der Zurückhaltung schmolz erst, als Muttchen um sieben Uhr abends zu aller Überraschung verkündete:
»Was jetzt noch in der Tonne ist, gehört euch! Jeder kann trinken, soviel er mag, es kostet nichts!«
Das brachte die ganze trübselige Bande auf die Beine. Alles drängte sich um die Theke. Der Fackler und der Hausdiener hatten alle Hände voll zu tun. Durch das schnelle Zapfen bekam jeder
Schnitt einen hohen Stehkragen. Da die Sauferei aber nichts kostete, machte das nichts aus.
Nach und nach kam eine bessere Stimmung auf, und schließlich waren alle geneigt, Muttchen großmütig zu verzeihen. Die Kunden stießen immer wieder mit ihr an und grölten rührselige Abschiedslieder. Erst gegen elf Uhr war die Tonne leer. Es wurde aber auch höchste Zeit; die meisten waren schon ganz nett fett.
Unbemerkt war Muttchen vorher verschwunden. Jetzt drückte auch der Fackler allen Freunden und Bekannten noch einmal herzhaft die Hand und versprach, sich öfters im »Nassen Dreieck« sehen zu lassen. Dann ging er.
»Schade«, sagte bedauernd der Dicke Stern zu Thiele, »is 'n wirklich patenter Kerl jewesen!«
Am andern Morgen kamen die ersten Gäste mit sehr gemischten Gefühlen in den Schnapsladen. Mit bis über die Ellbogen aufgekrempelten Hemdsärmeln stand der »Bulle«, wie der neue Wirt schon allgemein genannt wurde, hinter der Theke und wartete auf den erhofften Hochbetrieb. Den alten Hausdiener hatte man an die Luft gesetzt, dafür einen neuen gleich mitgebracht, der jetzt durch das Lokal flitzte.
An der sonst des Morgens immer vollbesetzten Theke blieb es heute verdächtig leer. Nur der Dicke Stern ließ sich, wie immer, seinen obligaten Korn einschenken. Der Budiker sprach kein Wort, auch die Gäste verhielten sich ungewohnt schweigsam. Mit mürrisch neugierigen Blicken sahen sie nach dem untätig hinter dem Ladentisch stehenden Wirt hinüber.
Thiele kam und holte den Dicken Stern ab. Er sah den neuen Wirt jetzt zum ersten Mal. Einen recht unangenehmen Eindruck machte der auf ihn. Als Stern und Thiele nachher die Straße entlang gingen, meinte der Dicke:
»Du, wenn ick ma nich mehr teische, denn wird der hier nich alt! Die Pinose riecht ma verdammt sauer!!!«
Mit diesem Orakelspruch war die Sache für ihn abgetan.
Gleich am Abend des ersten Tages kam es zu einem Zusammenstoß zwischen Wirt und Gästen. Ein paar junge Kerle hatten sich hinten im Raum mit den Weibern aus Spaß herumgebalgt. Wie ein grimmiger Spieß auf dem Kasernenhof bullerte der hinzugekommene Budiker los:
»Macht mir hier nich sone Afferei'n! Wenn ihr euch nich anständig benehm tut - ab durch die Mitte! Bei mir - Ejypten: Keilschrift! Merkt euch det. So'n Theater duld ick nich.«
»Hoho - immer scheen langsam!« meinten die zurechtgewiesenen Kunden und sahen den Bullen herausfordernd an. Der schaute sich um nach den anderen Gästen, aber auch da sah er nur lauter feindselige Mienen. Mit vor Verlegenheit knallrotem Schädel zog er sich hinter seine Theke zurück und spülte weiter seine Gläser. Das war der Anfang! Nicht sonderlich ermutigend für den Neuen. Kein Tag verging jetzt, ohne dass es im »Nassen Dreieck« nicht irgendwelchen Klamauk zwischen
Wirt und Gästen gegeben hätte. Es war ein regelrechter Kriegszustand, der sich da zwischen den beiden Parteien herausgebildet hatte. Halsstarrig widersetzten sich die Kunden den »neumodischen« Sitten und Gebräuchen, die der Bulle zwangsweise einführen wollte.
Ein paar Mal gab es großes Hallo von seiten einiger Kunden, die beim Begleichen ihrer Zeche feststellten, dass der Wirt ihnen zuviel angeschrieben hatte. Zuerst glaubte man noch gutmütig an einen Irrtum, als aber derartige »Irrtümer« immer wieder vorkamen, merkte man die böse Absicht und setzte sich energisch dagegen zur Wehr. Wenn der Bulle meent, er könnte uns bekleckern, denn solle noch wat aleben! schwuren die erbosten Gäste.
Als weitere Überraschung fanden die Kunden des »Nassen Dreieck« eines Tages, dass der Eingang zum Hinterraum der Kneipe versperrt war. Wie es hieß, sollte der Raum renoviert werden. »Jottvoll!« riefen lachend die Kunden. »Jloobt der denn wirklich, uns mit so'ne Mätzken zu imponieren?«
Während sie sich im vorderen Raum wie Heringe im Fass zusammendrängten, sich über den Bullen belustigten und Vermutungen anstellten, was der sich noch alles für Schikanen austifteln würde, war die nächste schon Tatsache geworden. An der Tür zur Toilette fanden sie ein Schild mit der Aufschrift:
»Nur für Gäste!!! Nicht-Gästen ist die Benutzung strengstens untersagt! - Der Wirt.«
Gleichzeitig wurde im Schankraum ein zweites Plakat angebracht; darauf hieß es:
»Stühle dürfen nur von Gästen benutzt werden, die etwas verzehren! - Der Wirt.«
Der Bulle war hinterher und passte wie ein Schlosshund auf. Die wäßrigen Vergissmeinnicht-Augen spähten nach allen Tischen und beobachteten genau, ob die dort sitzenden Kunden auch tatsächlich etwas verzehrten. Für die alte Stammkundschaft des »Nassen Dreieck« waren derartige Raffke-Methoden völlig neu. Alles in ihnen bäumte sich dagegen auf. Muttchen, die sich doch gewiss aufs Geschäft verstand, hatte darauf nie gesehen, ob ein Kunde bei ihr etwas verzehrte oder nicht. Und dieser Bulle wagte es.
Als der Dicke Stern mit Thiele und dessen Frau mal ahnungslos im »Nassen Dreieck« kaum Platz genommen hatten, kam der Bulle auf sie zu an den Tisch und polterte kurz angebunden grob los: »Wollt ihr wat zu drinken?«
Thiele sah erstaunt auf und wusste im Moment gar nicht, was er sagen sollte. Der Dicke Stern aber war schlagfertig und hatte sofort eine Antwort:
»Wenn't for lau is - na selbstverständlich doch!«
Wütend knurrte die Bulldogge von Wirt den Dicken an:
»Macht mir nich sone faulen Witze - mein Schanklokal is doch keene Wärmehalle un keen Wohltätigkeitsverein! Merkt eich det, damit ihr im Bilde seid!«
Den Bauch voll Zorn, murmelte Stern den Grobian an:
»So een Drecksack, vafluchta!« Einem krankhaften Zuge der Zeit folgend, brütete der bullrige Wirt des kaum wiederzuerkennenden »Nassen Dreieck« fast täglich neue »Notverordnungen« aus. Als der hintere Raum fertig gestrichen war, warnte eine solche neue Verordnung alle Gäste:
»Beschmutzen der Wände hat sofortige Ausweisung aus dem Lokal zur Folge! - Der Wirt.«
Infolge dieser unaufhörlichen Maßregelungen fühlte sich schließlich keiner der Gäste mehr im »Nassen Dreieck« wohl. Sie verwünschten den geldgierigen Machtbold mitsamt seinen »Notverordnungen« in den Abgrund der Hölle. Je schroffer der Bulle vorging, desto widersetzlicher, böswilliger wurden die Kunden. Der Krieg wurde mit immer härteren Waffen geführt.
Noch am Abend des gleichen Tages, an dem im neugestrichenen Hinterraum das Warnungsschild angebracht worden war, hatte irgendein erboster Kunde seine Bierneige gegen die Wand gegossen. Braun stand ein großer Fleck auf der weißen Leimfarbe. Wie ein aufs schwerste gereizter Stier tobte der Wirt herum, als er diese Schandtat entdeckte. Am liebsten hätte er die ganze Schweinebande auf seine (unsichtbaren) Hörner genommen.
Bei diesem Tobsuchtsanfall des Bullen saßen die Kunden da, als ob sie wie unschuldige Englein eben erst vom Himmel gefallen seien und gar nicht ahnten, dass es auf Erden soviel Schlechtigkeit geben könne. Innerlich aber kicherten sie vor Schadenfreude über die hilflose Wut des abgebrühten Halunken von Wirt, der da glaubte, an ihren Bettelpfennigen in kürzerer Zeit ein kleines Vermögen zusammengaunern zu können.
Irgendein neuer Schabernack, eine gegen den verhassten Giftmischer von Wirt gerichtete Bosheit schien jetzt schon zum Tagesprogramm des »Nassen Dreieck« zu gehören. Wie auf den »Clou« des Tages warteten die gelangweilten Kunden darauf, dass etwas geschah, was den leicht erregbaren Panscher wie einen aufgezogenen Brummtriesel im Lokal herumtanzen ließ.
Eben war es wieder soweit: der Bulle schäumte vor Wut! Seine Vergissmeinnicht-Augen waren mit roten Adern durchzogen und standen so prall hervor, dass die Kunden jeden Augenblick befürchteten, sie würden aus den Augenhöhlen herauskullern. Diesmal hatte er aber auch wirklich allen Grund, ein bisschen aus der Haut zu fahren. Die schöne neue gelbe Zuggardine, die er erst vor kurzem vor das Schaufenster des Hinterraumes gespannt hatte, war von ruchloser Bubenhand total zerschnitten und zerfetzt worden! Seine muskelbepackten Arme bis an die Schulter entblößend und blutrünstige Drohungen ausstoßend, raste der so schnöde am Geldbeutel Gekränkte durch die beiden Räume, dass die Gläser auf den Tischen furchtsam erzitterten. Diejenigen, denen dieser Vulkanausbruch von Verwünschungen und Drohungen galt, saßen in absoluter Gelassenheit an ihren Tischen und nahmen nicht die geringste Notiz von dem, was um sie her vorging. Wenn der Bulle bei ihnen vorbeifegte, hoben sie nicht einmal die Köpfe auf.
Diese niederträchtige Passivität der innerlich feixenden Halunken ließ den Tobenden vor ohnmächtiger Wut fast zerplatzen. Dumpf grollend zog er sich hinter die Theke zurück. Er sah ein, dass er eine neue Taktik anwenden musste, um aus diesem ungleichen Kampf als Sieger hervorzugehen. Durch eine neue Notverordnung wollte er in diese Front des passiven Widerstandes einen Keil treiben.
Wenige Stunden später prangte diese schon an der Wand:

Fünf Mark Belohnung zahle ich demjenigen, der mir die Halunken nennt, die in meinem Geschäft die Sachbeschädigungen verursachen.
Der Wirt

Wirkung dieses raffiniert ausgeklügelten Abführmittels war einfach verblüffend: Als der Bulle
nach Geschäftsschluss noch einmal durch alle
Räume ging, fand er den Klosetttrichter bis obenan
mit zerschlagenen Gläsern gefüllt!!!
Nichts ahnend kam am nächsten Morgen der Dicke Stern an, wie üblich auf nüchternen Magen einen großen Korn zu vereinnahmen. Der Bulle sah unausgeschlafen und krankhaft blaß aus. Einen ordentlichen Schreck bekam Stern, als der sonst überaus maulfaule Bulle ihn plötzlich ansprach. Mit halboffenem Munde starrte er den Budiker an, der, die Worte mühsam herausquetschend, zu ihm sagte.
»Sie sind doch hier eener der Ältesten, nich wahr? Können denn die Älteren nich een bißken uffpassen, det die Lauselümmels sich anständig bedragen dun? Jestern ha'm mir die Strolche 'n paar Dutzend Jläser zertöppert, ick werde die Burschen schon erwischen, denn haben die wahrhaftig nischt zu lachen. Ick meene, da müssen doch wenigstens die alten Jäste uffpassen.«
Mit einem undefinierbaren Grinsen blickte Stern auf den so wehleidig klagenden Bullen und wollte gerade etwas erwidern, als er bemerkte, dass Wilhelm Thiele von draußen hereinkam. Er rief ihn sogleich an die Theke.
»Morjen, Willem! Hör mal, dia wird det ja ooch intressieren, der Herr Wirt hat neemlich een Anliegen an uns. Er will, det wia hier sein'n Laden een bißken in Ordnung bringen. Wat meenste dazu? Mensch, kiek ma nich so doof an! Det is voller Ernst! Bist dir woll zu schade, Polizei zu spielen? Na - mia jeht's ja ooch so. Also: nischt for unjut, Herr Wirt! Aber schließlich sind Sie ja der Wirr un wia sind bloß janz jewöhnliche Jäste! Nee, wirklich, et tut mia uffrichtig leid, aber ick kann Sie nich helfen. Adjehs, - nochmals: nischt for unjut!!!«
Als er mit Thiele zur Tür heraus war, lachte er aus vollem Halse los:
»Ha-ha-ha-ha!!! Mensch, Willem! So een Dollpatz! Haste Worte? Ausjrechnet uns als Sittenknechte for nass angaschiern!!!«
Thiele hatte von den Vorgängen im »Nassen Dreieck« fast alles nur durch Stern erfahren. Er selber ging nur noch ganz selten des Abends in die Kneipe hinüber. Abend für Abend saß er in seiner Stube bei Minna und der Kleinen. Er nahm das winzige Mädelchen auf den Arm und tobte scherzend mit ihm in dem engen Raum herum, bis seine Frau Ruhe gebot und ihm die Kleine abnahm, um sie schlafen zu legen. Der sonst von allen Freuden des Lebens ausgeschlossene Mann ergötzte sich jetzt mit offensichtlichem Wohlbehagen an allem, was das kleine Lebewesen durch unartikulierte Laute und tapsige Gebärden zum Ausdruck zu bringen versuchte. Ohne sich darüber klar Rechenschaft zu geben, war er im Grunde genommen froh, dass das Kind da war und er sich desselben erfreuen durfte. Wenn es des Nachts munter wurde und zu schreien anfing, kroch er fix aus seinem Bett und legte das kleine Balg trocken. Wenn nur nicht die unaufhörliche Sorge um die Ernährung des Kindes gewesen wäre. Seine Frau konnte jetzt nur schwer ein paar Groschen mitverdienen. Nur die paar Aufwartestellen für einige Stunden am Tage hatte sie behalten. Sie bekam einige Groschen dafür. Wenn sie diese Arbeit erledigen ging, blieb das Kind bei Frau Kleist in der Küche.
Auf der Hetze nach ein paar Pfennigen Verdienst trabte Thiele von morgens bis abends kreuz und quer durch die Stadt. Es war unsagbar schwer, ja fast so gut wie aussichtslos, ein paar Nickel zu verdienen. Gab's denn überhaupt noch irgendwo Verdienstmöglichkeiten? War nicht schon ganz Berlin arbeitslos? Millionen von Menschen, die von Kind auf nichts als Arbeit und wieder Arbeit
kennen gelernt, deren Lebenszweck und Lebensinhalt nur Schufterei zu sein schien, liefen jetzt untätig herum, klagten und jammerten, stöhnten und fluchten über die verdammten, trostlosen Zeiten. Nur wenige merkten von alledem nichts, redeten aber mit, wenn wo von der schlechten Zeit gesprochen wurde, und erzählten herum, wie sie sich auch einschränken müssten. Sie trugen nach wie vor gute Kleidung und aßen gut zu Mittag. Überhaupt sagten sie nie: die Masse leidet Not! O nein! Dazu fühlten sie sich viel zu sehr mit dem Volk verwachsen. Also hieß es denn auch: Wir leiden Not! Sie sagten das in einem solchen Tonfall und mit einem solchen Ausdruck im Gesicht, dass man fühlte, die taten sich selbst leid, weil die andern hungerten.
Konferenzen zur Behebung der Wirtschaftspleite wurden abgehalten, Programme herausgegeben. Aber die Arbeitslosigkeit wuchs und wuchs weiter an, und mit ihr Not und Elend der Masse. Die geduldige Nachsicht, die unerhörte Leidensfähigkeit der durch eine wahnsinnig verfehlte Wirtschaftsordnung zu erbärmlichstem Siechtum, zu qualvollstem Untergang verurteilten und verfluchten Proleten schien einfach grenzenlos.

 

XIV.

Schon Monate lang waren Thieles mit der Miete im Rückstand. Machen konnte er, was er wollte, das Geld war einfach nicht mehr aufzubringen. Tage gab es, wo Thiele ohne einen einzigen Pfennig in der Tasche nach Hause kam, obwohl er durch seine Rumrennerei nach Verdienst hundertmal ermüdeter war, als wenn er den ganzen Tag in der Fabrik geschuftet hätte.
Sein sich im fortgesetzt sich drehenden Karussell des täglichen Sorgens und Mühens marternder Geist wurde von einer lähmenden Gleichgültigkeit befallen: der ganze Mist ekelte ihn an. Das »Leben«, dieses blödsinnige hundsgemeine Zerrbild des Lebens, zu dem er schuldlos verurteilt war, mit Weib und Kind zugleich verurteilt war, weil die Ordnung das so wollte, hing wie eine zentnerschwere Sklavenkette an ihm und scheuerte ihm an tausend Stellen die müde, verkrümmte Seele wund. Oft war er nahe daran, unter dieser alles menschliche Maß übersteigenden Last zusammenzubrechen und liegenzubleiben. Öfters und öfters ließ er sich gehen, dann kam es vor, dass er die Minna ohne Grund anbrüllte. Wenn das Kind schrie, riss er die Mütze vom Nagel und lief auf die Straße hinaus.
Thieles hungerten! Im Magen war's ihnen hohl, und im Kopf saß ein solch schmerzender Druck. Mehr als einmal blieb Thiele im vierten Stock an einem Treppenfenster stehen und sah auf den Hof hinunter. Er bekam dann Angst vor sich selbst und machte, dass er schnell die Treppe hinunter kam.
In dieser lebensmüden Stimmung, matt vor Hunger, mit schmerzendem Magen und Kopf eben nach Hause gekommen, teilte seine Frau ihm mit, dass ein Beamter vom Wohlfahrtsamt dagewesen sei. Nach dem Verbleib der von Frau Kneschke hinterlassenen Möbel hatte er geforscht. Die Behörde erhob Anspruch auf die armseligen paar Klamotten, weil die Kneschken mal eine Zeitlang aus Mitteln der öffentlichen Wohlfahrtspflege unterstützt worden war. Die Minna hatte verheulte Augen und jammerte: »Pass uff, die holen uns det Bett unterm Hintern wech!«
Thiele wurde wild: »Lass se bloß kommen!« knurrte er, »ick jage ihnen det Messa in de Kaidaunen...«
Am andern Tage schrieb er aber doch einen Antrag auf Belassung der paar Möbelstücke und brachte ihn selbst zum Wohlfahrtsamt. »Sie bekommen Bescheid!« wurde ihm kurz entgegnet.
In angstvoller Sorge warteten sie nun von Tag zu Tag auf diesen Bescheid.
»Gottesseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses und des jenseitigen Lebens!« Dieser schöne Bibelspruch war das Leitmotiv für den Jesusgreifer, wenn er in »frommer« Weise auf die Tränendrüsen und damit gleichzeitig auf den Geldbeutel der ihn von Zeit zu Zeit besuchenden Betschwestern spekulierte. Auch jetzt musste seine Spekulation wohl wieder erfolgreich gewesen sein, denn - seit einigen Tagen schien er chronisch besoffen zu sein. Da sich das kleine rothaarige Luder in seinem deliriumartigen Zustand wie ein Held vorkam, tobte er herum, verprügelte die kleine Frau und das Kind und schlug das bisschen Geschirr, das sie besaßen, kurz und klein. Als die Toberei des alkoholseligen Knirpses gerade ihren Höhepunkt erreicht hatte und Thiele aufspringen wollte, um sich Ruhe auszubitten, wurde plötzlich seine Stubentür aufgerissen. Hilfesuchend stürzte Frau Kleist mit ihrem Mädel in die Stube hinein. Der Jesusgreifer wollte in blinder Wut hinter ihnen her, Thiele nahm ihn kurzerhand beim Schlafittchen, warf ihn in die Küche hinaus und riegelte die Stubentür ab. Wieder hörten sie Geschirr krachend auf den Fußboden der Küche aufschlagen.
Frau Kleist und ihr Mädel zuckten bei jedem Aufschlag zusammen und verkrochen sich angstvoll in die äußerste Ecke der Stube. Allmählich ließ das Toben draußen nach. Schließlich hörte sie ihn laut schnarchen. Da stand die Frau leise auf:
»Nu wer ick man wieder jehn. Jetzt hat er sich ausjetobt. Wenn er nachher wieder nüchtern is -denn weeß det Schwein von nischt mehr!«
Der Kleinkrieg im »Nassen Dreieck« wurde unverdrossen weitergeführt. In diesen ungleichen Kämpfen: »Einer gegen alle - oder besser: Alle gegen einen« sah sich der Wirt rat- und hilflos in die Defensive gedrängt. Am Ende wusste er schon nicht mehr aus noch ein. An Kapitulation und Friedensschluss wollte er aus Starrköpfigkeit aber immer noch nicht denken. Er hatte seinen »Stolz«.
Ein Schabernack gegen ihn löste den andern ab. Bald wurden ihm die Glühbirnen herausgeschraubt oder deren Faden durch einen Schlag zerstört, - dann wieder Gläser entzweigeworfen oder mitgenommen. Kurz: Sosehr er auch aufpasste und die ihm verdächtig Erscheinenden belauerte, er war immer wieder irgendwie der Geleimte. Selbst die verlockend hohe Summe von fünf Mark, die er als Belohnung für Namhaftmachung der Übeltäter ausgesetzt hatte, brachte keinen positiven Erfolg.
Durch reinen Zufall gelang es ihm eines Tages, einen jungen Bengel dabei zu erwischen, wie der auf der Toilette gerade eine kurz vorher neu eingeschraubte Glühlampe wieder herausdrehte. Endlich! Seine wochenlang aufgespeicherte Wut ließ er jetzt an diesem Burschen aus. Mit seinen riesigen Fäusten schlug er auf den schwächlichen Jungen ein. Durch das jammervolle Geschrei des Geprügelten wurden die vorne anwesenden Gäste aufmerksam und stürzten nach hinten. Als sie sahen, wie das breitschultrige Ungetüm noch immer auf den schon stark blutenden Jungen einhieb, sprangen einige Gäste dazwischen und versperrten dem Wirt den Weg.
»Jetz is aber jenuch! Lass den Jungen los!« schrieen sie den Bullen an.
Wütend drehte sich der herum und fuhr die Leute an. »Wat wollt ihr??? Macht, det ihr wechkommt - mit euch... nehm ick's alle uff, wie ihr jebacken seid!!!«
Das war zuviel. Wie die Wildkatzen sprangen die Kunden den Bullen jetzt von allen Seiten an, hingen sich wie Kletten an seinen Fettbalg und knallten ihm ihre knochigen Fäuste ins Gesicht. Das Hemd wurde ihm in Fetzen vom Leibe gerissen. Die ihn von obenher mit der Faust nicht erreichen konnten, traten ihm von unten mit den Füßen gegen die Beine und den Leib. So riesenstark der Kerl war, dieser Übermacht gegenüber vermochte er sich nicht zu halten. Er ging zu Boden!
Als er sich wieder erholt hatte und hochgekrabbelt war, saßen alle Gäste im Vorderraume friedlich an ihren Tischen. Nachdem er sich auf der Toilette das Blut abgewaschen und in seinem Zimmer ein anderes Hemd angezogen hatte, kam er wieder in den Schankraum und stellte sich mucksstill hinter die Theke. Er sah gar nicht hoch. Die Kunden gaben sich völlig harmlos, als ob überhaupt nichts vorgefallen wäre. Nur ganz unauffällig blickte der eine oder der andere mal nach dem Bullen, um sich dessen verschwollenes und zerschundenes Gesicht zur Erinnerung gut einzuprägen.
Von den Gästen des »Nassen Dreieck«, die noch was auszugeben hatten, blieben nach und nach immer mehr fort. Sie siedelten zum »Alten Fritz« über, dessen Wirt sich, durch Erfahrung gewitzig, seiner Kundschaft inzwischen mehr und mehr angepasst hatte.
Die wenigen Kunden, die noch im »Nassen Dreieck« zu finden waren, lungerten nur da herum, um nicht auf der Straße liegen zu müssen. Verzehren taten sie so gut wie nichts. Der Bulle duldete sie widerwillig, um den Laden nicht ganz leer zu haben.
Auch der Dicke Stern mied die Schankräume des »Nassen Dreieck«. Nur als Logiergast kam er des Abends dorthin, und auch das nur aus reiner Bequemlichkeit, aus Trägheit. Oft saß er bei Thieles in der Stube. Der sonst immer zu humorvollen Reflexionen aufgelegte alte Stern schien in der letzten Zeit schwermütig zu werden. Manchmal war er gar nicht wieder zu erkennen. Thieles glaubten schon, dass er nicht auf dem Posten sei. Sie sprachen mit ihm darüber, da erwiderte er zögernd:
»Ick merke, wie et so langsam an mir ranschleicht - ick werde älter und älter. Det Leben hat sich zu sehr verändert, - et is heitzudage zu schwer for unsereenen, sich jewissermaßen als besserer Penner durchzuschlagen. Tja, frieher - da hatten ma keene zehn Pferde uff den Jedanken jebracht, su meine Olle als reimietiger Sinda zurückzukehren - - - aber heite... ick weeß nich...
Na, vorleiflich hat's ja noch 'n bißken Zeit... « Wieder einmal war Wilhelm Thiele den ganzen Tag vergeblich herumgelaufen. Nicht einen einzigen Pfennig, ja, nicht einmal ein paar Stullen hatte er aufgetrieben. Er hatte keine große Sehnsucht darauf, nach Hause zu kommen. Er fürchtete sich entsetzlich vor dem Blick der Minna. Das Enttäuschte in diesem Blick marterte ihn mehr als sein eigener wühlender Hunger. Wenn sie auf ihn geschrien hätte, ihm Vorwürfe machen würde, das wäre nicht so schlimm gewesen. Aber die Minna sagte kein Wort, sah ihn nur an.
Da bummelte er lieber mit hungrigem Magen durch die umliegenden Straßen. So gelangte er in die Reinickendorfer Straße, wo heute am Sonnabendabend starker Verkehr von heimkehrenden oder Einkäufe besorgenden Menschen herrschte.
Vor dem großen spiegelblank geputzten Schaufenster einer Gänseschlächterei drängten sich Menschen. Auch er blieb gedankenlos stehen. In der Anlage des Schaufensters waren ganze Reihen der schönsten, fettesten Gänse ausgelegt, zart und appetitlich anzusehen! Zwischen den Reihen waren Gänseleberwürste, rohe und geräucherte Keulen geschmackvoll um einen großen Napf mit köstlichem Gänseschmalz garniert. In der ganzen Breite des Schaufensters baumelten dicht nebeneinander drei Reihen der schönsten geräucherten Gänsebrüste. Ein Fraß für Götter!!!
Eine Gruppe von Arbeitslosen: Männer, Frauen und Kinder, hatten sich vor dem Schaufenster angesammelt und schauten mit brennenden Augen auf alle diese Herrlichkeiten, die für sie unerschwinglich, unerreichbar waren. Ihre schlaffen Mägen hüpften vor Sehnsucht, das Wasser lief ihnen zu Pfützen im Munde zusammen bei dem bloßen Gedanken, davon etwas essen zu können, so ein kleines Bisschen.
Mit feindselig neidischen und gierigen Augen blickte diese graue Masse in das Innere des Ladens auf all die Glücklichen, die sich dort vor dem Ladentisch drängten oder mit großen schweren Tüten das Geschäft verließen.
Nach Hunderten zählten wohl noch die Gänseleiber, die an den Wänden des Ladens so schön in Reih und Glied hingen und die man von draußen durch die Scheibe sehen konnte.
Ein scheinbar achtlos hingeworfenes Wort eines der Ausgehungerten. Mit einem Mal kam der Haufen vorm Schaufenster in Bewegung. Ohne jede Verabredung, rein instinktiv drängte alles nach dem Ladeneingang zu. Eine Scheibe zersplitterte klirrend. Der Gänseschlächter kam aufgeregt nach vorn gelaufen, wurde nervös und versuchte mit ausgebreiteten Armen die anstürmende Menge zurückzudrängen. Es war bereits zu spät.
Wie von einer Dampfwalze wurde er durch die dichtaneinandergedrängten Menschenleiber beiseite geschoben. Frauen schrieen, griffen von allen Seiten mit gierigen Händen nach den Gänsen, rissen sie sich gegenseitig aus den Fingern und liefen mit der erhaschten Beute, mit Fleischteilen, Würsten, Brüsten oder was sie gerade bekommen konnten, so schnell wie möglich davon.
Wie gelähmt stand Thiele da und schaute fassungslos dieser Tragödie des Hungers zu. Ehe er noch zur Besinnung kam, ließ ein ausgemergelter blasser Junge, der zuviel auf dem Arm trug, um es ohne Gefahr fortschaffen zu können, eine schwere Gans fallen. Direkt Thiele vor die Füße. Da griff Thiele hastig zu, versteckte den großen Vogel, so gut es ging, unter seiner Jacke und rannte davon. Es war auch höchste Zeit! Von weitem hörte man bereits die schrille Auto-Sirene des Überfallkommandos, das der Schlächter inzwischen alarmiert
hatte.
Nach allen Seiten spritzten die Menschen jetzt
auseinander. Nicht nur die direkt Beteiligten, sondern auch die zufälligen Passanten liefen davon. In solchen Fällen ist es immer besser, möglichst weit vom Schuss entfernt zu sein. Man konnte nie wissen, wo der Gummiknüppel hintraf.
Thiele rannte, dass ihm der Atem ausging und der Schweiß aus allen Poren brach. Er dachte nichts, nur laufen, laufen! Als er nicht weiter konnte, stürzte er in das nächstliegende Haus, über zwei Höfe, lief leise die Treppe bis zum Boden hinauf. Dort erst hielt er nach Luft japsend an und kauerte sich hin. Sein Herz schlug bis zum Halse hinauf. Vor Anstrengung und noch mehr vor lauter Angst, hier oben festgenommen zu werden. Er regte sich nicht! Lange hatte er so dagesessen, bevor er es wagte, seinen Schlupfwinkel zu verlassen. Ganz leise schlich er die Treppe hinab, sah sich auf den Höfen scheu um und lugte dann vorsichtig durch die Haustür auf die Straße hinaus. Es war alles still. Mittlerweile war es völlig dunkel geworden. Feiner Regen rieselte hernieder. Da ging er hinaus und eilte so schnell wie möglich nach Hause.
Weit riss die Minna die Augen auf, als er hinter verriegelter Tür die Gans unter der Jacke hervorzog:
»Mein Jott!« rief sie nur und schlug die erhobenen Hände zusammen. »Wo haste die denn bloß her!« Er legte bedeutungsvoll den Zeigefinger an die Lippen und erzählte ihr flüsternd, was geschehen war. Zuerst bekam sie eine große Angst, als sie aber nachher beim Essen saßen, wusste sie sich vor Freude über dieses unerhörte Glück gar nicht zu fassen. Am anderen Tage hatten Thieles Magen- und Leibschmerzen. Ihre Eingeweide waren kein fett mehr gewöhnt.
Sie überlegten, wie sie das Fleisch am vorteilhaftesten einteilten, damit sie möglichst lange damit
auskamen.
Eine ganze Woche aßen sie von dem Fleisch und Fett. Dann aber gings mit der entsetzlichen Hungerei von neuem los.
Auf die Eingabe betreffs der Möbel hatten Thieles vom Wohlfahrtsamt noch immer keinen Bescheid erhalten. Daher lebten sie nun in beständiger Angst, dass ihnen die Klamotten schließlich doch noch aus der Bude geholt würden. Große Sorgen machte den Thieles auch das Kind. Das kleine Wesen wollte gar nicht zunehmen, nicht größer werden, blieb mager und mickrig und kränkelte hin, des Nachts schrie es unaufhörlich. Sein Gesicht zeigte eine rosabläuliche Farbe, die Haut war so durchsichtig, dass die blauen Äderchen zu sehen waren. Die Frauen aus dem Haus, die es sahen, meinten, es müsse unbedingt bessere Nahrung haben. Minnas Muttermilch sei kraftlos, zu ausgelaugt und deshalb für das Kind mehr schädlich als nützlich. Man redete ihr zu, mit dem Kind zur Fürsorge zu gehen und um Säuglingsbeihilfe zu bitten. Dazu war die Minna eben nicht zu bringen. Sie hatte eine zu große unüberwindliche Scheu vor allem, was auch nur entfernt nach Amt oder Behörde roch.
Thiele selbst war in der letzten Zeit unglaublich gleichgültig geworden. Ihm hing schon alles zum Halse heraus, so elend fühlte er sich. Wenn er in der Stube saß, sprach er oft stundenlang kein Wort, stierte vor sich hin und explodierte bei der geringsten Kleinigkeit. Seine Minna aber war vernünftig und blieb ruhig. Sie gab auch dann keine Widerworte, wenn er ihr in seinem Missmut ganz unberechtigte und grundlose Vorwürfe machte. Er fühlte zuweilen die stille Überlegenheit seiner Frau und wurde dadurch mitunter noch ärgerlicher. Sollte sie doch auch brüllen und schreien, damit man wusste, woran man war.
Eines Abends, als Thiele mit Frau und Kind trübselig in der düsteren Stube hockte, wurde plötzlich heftig gegen die Tür geklopft. Ganz außer Luft und Atem kam der Dicke Stern sehr aufgeregt hereingestürzt und ließ sich, vor Luftmangel keuchend, auf dem Bettrand niederfallen. Er musste sich erst verpusten, bevor er erzählen konnte, was passiert war. Mit heiserer, stockender Stimme berichtete er, was er soeben in der Abendzeitung gelesen hatte. Es war furchtbar, furchtbar für sie, weil es sich um jemand handelte, mit dem sie Tag für Tag zusammen gewesen waren: die Einäugige!
Sie hatte sich erhängt!
Thieles wollten es gar nicht glauben. Minna zündete Licht an. Jetzt sah man Sterns Gesicht - aus dem heute jedes Grinsen verschwunden war.
»Hier in de Zeitung steht's doch, ick wollte ja zuerst ooch ja nich meine Oogen traun, aber allet stimmt janz jenau, jeder Zweifel is ausjeschlossen.
Det Haus, wo se mit dem Zahmen Willi immer jepennt hat, is jenau beschrieben, un denn ooch der Polizeibericht... Pass uff, ich lees't eich vor! Also
hier:
»...die Erhängte ist wahrscheinlich eine Obdachlose, deren Personalien sich nicht feststellen ließen. Sie ist etwa 30 bis 35 Jahre alt und trägt über dem linken fehlenden Auge eine schwarze Klappe. Der Beweggrund zum Selbstmord ist unbekannt.« Stern ließ das Zeitungsblatt niedersinken und starrte Thieles an, die ebenfalls stumm, bleich und starr dasaßen.
Keiner von ihnen brachte eine Silbe über die Lippen. Endlich brach Stern das Schweigen:
»Jehste morjen mit in't Leichenschauhaus, Willem? For mia besteht ja keen Zweifel, detse't is, aber ibazeijen miss'n wa uns doch schon... Det arme, arme Luda!! Det is det Ende! - Heite mia, morjen dia!«
Wie verabredet gingen die beiden Männer am nächsten Morgen nach der Hannoverschenstraße zum Leichenschauhaus.
Sie brauchten nicht lange zu suchen. Wenn sie im stillen doch noch ein wenig gezweifelt hatten, jetzt stand die nackte, kalte Gewissheit riesengroß und unbestreitbar vor ihnen.
Ohne ein einziges Wort zu wechseln, aber erfüllt von unzählig vielen wild durcheinander wirbelnden, unaussprechlichen Gedanken, verließen sie die Stätte des Grauens, dieses trostloseste, verhängnisvollste Gebäude Berlins.
Ein feiner Regen, der durch ihre abgetragene Kleidung bis auf die Haut drang, ging vom bleigrauen Himmel hernieder. Thiele fröstelte, die Zähne schlugen ihm hörbar wie im Fieber zusammen. Heute vermochte er nichts zu unternehmen, er war völlig geknickt und fühlte nur das eine Bedürfnis, allein zu sein, allein mit sich und seinen Gedanken, die trüb waren wie das Wetter.
Nachdem sie ein Stück Weges völlig schweigsam nebeneinanderher gegangen waren, verabschiedete sich Thiele kurz von Stern und lief einsam durch die Straßen weiter.
Schwarz glänzten die regennassen Äste der kahlen Bäume, die zu beiden Seiten der Straße standen. Nur hin und wieder hingen ein paar übrig gebliebene kupferfarbene Blätter weltverloren an den Zweigen.
Bin Blatt wurde jetzt vom scharfen Herbstwind erfasst und zu Boden geschleudert, dann im qualvoll-neckischen Spiel durch die Luft gewirbelt, die Straße herauf und hinab, über die vierstöckigen Häuser hinweggetrieben.
Thiele schlug den schmalen Kragen seiner Jacke hoch, vergrub die Hände noch tiefer in die Hosentaschen und schlich geduckt dahin. Sein hungriger, seit gestern Mittag noch völlig nüchterner Magen knurrte so laut, so rebellisch, dass er meinte, die Vorübergehenden müssten es hören.
Immer wieder kehrten seine Gedanken zurück zu der bedauernswerten Frau, die nun starr und kalt mit verzerrtem Gesicht in dem grauen Gebäude lag.
Das war nun das Ende eines Lebens! Was diese Frau hinter sich gebracht hatte, war das denn das Leben? Das Leben, welches sich die Menschen gestalten, die Menschen mit dem großen Gehirn im Schädel, die sich werweißwas einbilden auf ihre gepriesene Kultur, auf ihre entwickelte Technik? Da im Schauhaus lagen sie, die Menschen, die sich ihr Leben nicht selbst gestalten durften, sondern ein aufgezwungenes »leben« mussten, an dem sie wie Glas auf Stein zerbrachen.
An jedem Tage durchschnittlich acht. Acht Menschenleben waren es Tag für Tag allein in Berlin, die gleich der armen Einäugigen ihr Leben, ihr armseliges bisschen Leben, das ihnen zur Hölle gemacht worden war, in letzter Verzweiflung von sich warfen. Dann wurden sie als namenlose Kadaver bloßen Form wegen im Schauhaus zwecks Feststellung ihrer Identität ausgelegt. Von diesen Gedanken innerlich zu rasender Wut aufgepeitscht, schlich Thiele dahin und beobachtete mit brennenden Augen die gleichgültigen Gesichter der vorbeieilenden Passanten. Wussten sie davon? Weshalb taten sie dann, als ob sie das nichts anginge?! Er hätte dieses stumpfsinnige, kaltschnäuzige Pack am liebsten beim Kragen genommen, sie geschüttelt, gerüttelt und angebrüllt: »Ihr gottverfluchten satten Hunde, - ich will nicht länger hungern, will endlich was zu fressen haben, hört ihr mich??? Da in dem grauen Hause liegen sie, acht Menschen, jeden Tag acht andere Menschen, vom Hunger ausgedörrte Skelette -und ihr? Eure Weiber und Kinder sind satt, hungern nicht, frieren nicht!«
Thiele brüllte nicht, griff niemand an. Mit zusammengebissenen Zähnen, den schmerzenden Kopf tief in den Nacken gezogen, schlich er an den Häusern entlang. Unmittelbar vor ihm trat eben eine Dame aus einem Haus, blieb unter der Tür stehen und schien sich nach einem Autotaxi umzusehen. Sie war elegant gekleidet, ein tadellos sitzendes Persianerjackett gab ihr ein sehr gepflegtes Aussehen. Als Thiele die Dame bemerkt hatte, da wusste er es ganz genau: jetzt würde etwas geschehen. Unwillkürlich reagierte sein ausgehungertes Ich auf dieses Bild satten Wohlbehagens und trieb ihn vorwärts zu einem Schritt, den er bisher zu tun noch nie gewagt hatte. Jetzt war ihm alles unsagbar schnuppe.
Höflich den Hut ziehend, trat er auf die Dame zu und sagte mit tonloser flehender Stimme:
»Bitte, gnädige Frau, seien Sie so gut, mir eine Kleinigkeit zu schenken, nur ein paar Pfennige, ich bin am Verhungern!!!«
Voll Erstaunen über seine Frechheit sah die Dame ihn einen Augenblick an, dann schaute sie nervös rechts und links nach einem Taxi aus, seinen Blick dabei soviel wie möglich meidend. Ihre elegante Handtasche presste sie fest an sich. Wilhelm Thiele stand ganz ruhig da und stierte die Frau an. Langsam begann es in ihm zu kochen. Plötzlich explodierte er. Er schrie seinen Jammer hinaus, bis ihm die Stimme vor Erregung überschnappte:
»Verstehen Sie denn nicht, meine Frau will ooch noch essen und mein Kind ooch, die am Verhungern sind! Zu fressen wollen wir was haben - zu
fressen!!!«
Erschreckt warf die Dame einen furchtsamen Blick auf den zerlumpten, vor ihr stehenden Thiele, der sie mit wilden Augen anstarrte. Angstvoll wich sie einige Schritte zur Seite, sah hilfesuchend die Straße entlang, aber kein Mensch war in der Nähe zu sehen. Da sprang sie in das Haus zurück und lief polternd die Treppe hinauf.
Thiele riss die automatisch zufallende Tür wieder auf, drohte mit geballter Faust hinterher und schrie wie unsinnig:
»Sie Aasstücke, verfluchtes, Sie, Hunger habe ich, verstehen Sie, Hunger!!!«
Erschöpft lehnte er sich einen Augenblick gegen die Haustür. Dann ging er ruhiger die Straße entlang. Er hatte sich etwas Luft gemacht, seine Wut und Verzweiflung hinausgebrüllt.
Planlos lief er bis zum nächsten Abend in den Straßen umher. Seine Kleidung war zum Auswringen nass, seine Strümpfe und Schuhe trieften nur so. Zu Hause angekommen, sprach er kein Wort mit seiner Frau, zog sich aus und kroch ins Bett.

 

XV.

Mit seinen merkwürdigen »Erziehungs«-Maßnahmen gegen die tief eingefleischten Gepflogenheiten der Stammkundschaft des »Nassen Dreieck«
hatte der neue Wirt nach und nach die Gäste hinausgeekelt. In den entvölkerten Räumen lief er herum wie ein richtiggehender Bulle, dem man soeben einen eisernen Ring durch die Nase gezogen hatte.
Die vielen, vielen Kunden, die sich unter Muttchens mildem und trotzdem energischem Regiment vermehrt hatten wie Pilze im Mairegen, sie hatten sich verzogen. Die ehedem immer brechend volle Bude stand jetzt so leer, als sei die Pest dort eingezogen und habe alles Lebende in die Flucht gejagt. Auch hinten in den Logierräumen war's totenstill. Die weitaus meisten Betten standen Nacht für Nacht leer, obgleich der bullrige Schlummerboß die Preise für seine muffigen Flohkisten um 50% gesenkt hatte.
Dieser geschäftstüchtige Raffer schien am Ende seines Lateins. Wie konnte das alles nur so-o-o kommen? Gerade durch den bei Muttchen ständig herrschenden Hochbetrieb hatte er sich verleiten lassen, diese anscheinend unerschöpfliche Goldgrube zu kaufen. Und nun? Eine komplette Fehlspekulation! Woran lag das bloß? Etwa an ihm selbst? Ja, in der Tat. Er war eben zu schade für dieses verkommene Pennerzeug (so sagte er sich). Sein Privat-Schicksal hatte ihn für höhere Kulturaufgaben auserlesen. Das fühlte er ganz deutlich im tiefsten Innern seines Geldbeutels!
Nach mehreren schlaflosen Nächten hatte er ein neues Projekt ausgeschwitzt. Er wusste jetzt, welchen Kurs er zu steuern hatte, um das Ziel seiner Wünsche zu erreichen.
Am nächsten Morgen wurde die Rolljalousie vor der Eingangstür zum »Nassen Dreieck« seit vielen Jahren zum ersten Mal nicht hochgezogen. An den beiden Schaufenstern der Schankräume waren von innen zwei Plakate befestigt, die jedem, den es anging, verkündeten:

»Wegen vollständiger Renovierung vorübergehend geschlossen. Wiedereröffnung demnächst.«

Die Schaufenster wurden innen von unten bis oben mit Schlämmkreide abgeblendet, so dass niemand von draußen sehen konnte, was im Innern vor sich ging. Ein paar Arbeiter kamen, stellten Leitern an und begannen, die beiden großen blauen Firmenschilder mit der schon ziemlich verwitterten Aufschrift »Zum Nassen Dreieck« abzumontieren.
Unter den vielen Kunden, die den Staub des »Nassen Dreieck« von ihren abgelatschten Trittchen geschüttelt hatten und davongezogen waren, befand sich auch der Dicke Stern. Er war plötzlich sang- und klanglos verschwunden. Auch bei Thieles, seinen intimsten Freunden, hatte er sich schon seit Tagen nicht mehr sehen lassen. Thiele empfand das wie einen neuen schweren Verlust. Albert Stern, dieser Altmeister der Schnorrerzunft, dieser phlegmatische, humorbegabte Kerl, fehlte Thiele jetzt wie ein wichtiger Teil von seinem eigenen Ich. War Stern doch der einzige gewesen, mit dem er jederzeit reden konnte, bei dem er immer wieder Verständnis, Belehrung und Ermutigung gefunden hatte.
Gewiss, Wilhelm Thiele hatte seine Frau. Aber zu der stand er doch ganz anders! Was sollte er zu der mit seinen Sorgen und Klagen kommen, wo sie doch nicht weniger zu schleppen hatte als er. Sollte er ihr noch ein Teil seiner Sorgen aufpacken, die er sich doch gerade ihret- und des Kindes wegen machte? Konnte er darüber mit ihr sprechen, mit ihr, die doch selbst schon nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand. Mit ihr, die täglich rat- und hilflos mit ansehen musste, wie ihr Kindchen dahinsiechte, vor Entkräftung verdorrte wie eine Blume in trockner Erde? Nein, seiner Minna durfte er nichts mehr aufbürden von all dem, was ihn selbst fast zu Boden drückte und seine letzten, allerletzten seelischen Kraftreserven zu fressen drohte. Er musste jetzt sehen, wie er allein damit fertig würde.
Und wenn er darüber zugrunde ging, was dann? Würde sein plötzliches Verschwinden die allergeringsten Folgen haben für irgendwen, für irgendwas? Wilhelm Thiele kam sich so überflüssig vor. Er war doch weniger als nichts. Wenn er heute fortging aus diesem Leben, nun ja, dann war er eben fort. Als wenn er gar nicht gewesen wäre!
War dieses langsam zerstörende Bewusstsein seiner Minderwertigkeit etwa nur ein bloßer Wahn? Nicht eine unbestreitbare Tatsache? Wurde ihm der absolute Nullwert seiner Existenz nicht stündlich in die Seele gehämmert von dem Verhältnis, in dem er zu seiner Umwelt, seinen Mitmenschen stand? Was war denn in Wahrheit sein so genanntes »Leben«? Eine rätselhafte, undeutbare Hieroglyphe, von geheimnisvoller Hand mit flüchtigen Kreidestrichen auf eine schwarze, nachtschwarze Tafel gemalt. Ein nasser Schwamm fährt darüber, weg ist sie. Nicht einmal eine blasse Spur erinnert dann daran, dass sie einst gewesen ist.
Wenn dem aber so ist, wozu dann die ganze unaufhörliche Qual des Hinauszögerns, des In-die-Länge-Ziehens? Warum nicht lieber heute als morgen Schluss machen mit dieser Sinnlosigkeit, dieser kompletten Widersinnigkeit, die wir das »Leben« nennen? Was ist es, das uns alle, den einen genau wie den anderen, so zäh, so krampfhaft, so unnachgiebig, so bis zum Äußersten festhalten läßt an den Spinnwebenfäden, durch die wir mit der Welt verbunden sind???
Dieses rein instinktive, fast unbewusste, oft sogar ungewollte Haschen des Ertrinkenden nach dem Strohhalm musste doch einen Grund, einen vernünftigen, erklärbaren Grund haben. Und wenn es tatsächlich, wie ja nicht zu bezweifeln war, einen solchen Grund hatte, dann musste dieser doch einem bestimmten Zweck dienen, und zwar einem höheren, über dem unmittelbaren, dem Augenblickserfolg hinausliegenden Zweck. Unsere stärksten, geheimsten Triebkräfte zwangen uns also zur Erfüllung eines Zweckes, der nur in der Erhaltung des Lebens bestehen konnte. Wenn es so war, dann mussten doch auch die weiteren Mittel, die Nahrung, Kleidung usw. vorgesehen sein, die zur Erhaltung allein schon des rein animalischen Lebens unbedingt erforderlich waren. Wo waren diese Mittel? Wie konnte er selbst zunächst einmal sie erlangen, sie herbeischaffen???
Die Mittel waren da, sogar im Überfluss! Die Ladenbesitzer blieben auf ihren Waren sitzen, weil, wie Thiele, so Millionen kein Geld hatten zum Kaufen. Die Fabriken hielten ihre Tore geschlossen, weil für ihre Produktion keine Nachfrage bestand. Keine Nachfrage? Vor den mit Nahrungsmitteln gefüllten Läden brachen Menschen vor Hunger zusammen! Keine Nachfrage? Auf den Halden lagen die Kohlengebirge, und in Berlin erfroren in den Proletenwohnungen die Säuglinge!
Wie war das möglich? War das nicht eine brutale unmenschliche Unnatürlichkeit? Weshalb ließen sich die Millionen von heißestem Lebensdrang beseelten Menschen diese Unnatürlichkeit gefallen, obwohl sie wussten, dass sie von ihr um das bisschen Leben bestohlen wurden?
Warum schlossen diese Millionen vernunftbegabter Lebewesen sich nicht zusammen, um diese Unnatürlichkeit, die mit kalter Berechnung der Menschheit das Menschsein verwehrte, Trotz zu bieten, sie anzugreifen, niederzuringen und auszutreten?
Mit fiebernden Schläfen, vor Hunger bis zum Umsinken erschöpft, war Wilhelm Thiele den ganzen Tag einsam grübelnd herumgestreift. Wie ein vom Sturme in unbekannte Gewässer verschlagener Schiffer versuchte er, mit dem Senkblei seiner Vernunft die Tiefen seiner Erkenntnis, seiner Erfahrung auszuloten. Um einen Weg zu finden aus diesem Labyrinth von Klippen und Untiefen, die seinen morschen Lebenskahn von allen Seiten mit Vernichtung bedrohten.
Als er des Abends ziemlich spät nach Hause gekommen war und nun mit seiner Frau in der öden kalten Bude unter der schäbigen Bettdecke lag, vermochte er nicht einzuschlafen. In seinem fiebernden Hirn jagten in wildem Durcheinander noch immer die Gedanken herum, mit denen er sich den ganzen Tag abgequält hatte. Er fühlte ein unwiderstehliches Verlangen, mit einem einzigen Menschen wenigstens über das sprechen zu können, was ihn so sehr peinigte und nicht zur Ruhe kommen ließ. Er musste irgendwie damit ins reine kommen.
Zögernd weckte er seine Frau: »Du, Minna?«
Sie fuhr erschreckt hoch. »Wat is denn los? Wat willste denn?« fragte sie überrascht.
»Tja-a-a«, sagte er zögernd, »weeßte, Minna, ick wollte mal mit dia iber wat sprechen, wat mia schon lange jequeelt hat. Den janzen Dach ha'ck drieber nachjedacht. Kuck mal - wa lebn doch, nich wah? Na, det muss doch eene Bestimmung ha'm, det wa lebn. Un wenn det stimmt, denn missten wa doch ooch lebn kenn, ick meene det richje Lebn, also: nich hungern, nich friern un Kleeder ha'm un - un - eene Uffjabe afilln un so, nich wah? Vastehste mia, Minna, wia ick det meene?
Wenn ick iba allet so nachdenke, denn kommt ma da wat nich richtich vor. Kiekma, wenn' Vogel lebt, denn findt der ooch sein Futta, det is von Anfang an so injericht. Det heest natierlich, wenn nich jrade een Naturereichnis dazwischenfunkt oder wenn de Menschen ihn nich in'n Keefich injesperrt ha'm un vahungern lassen. Un so is't doch eijentlich mit allens in de Welt. Vastehste mia, Minna???«
Thiele bekam keine Antwort. Von ihm unbemerkt, war seine Frau wieder eingeschlafen. Da warf er sich mit einem Ruck auf die andere Seite herum und kroch tief mit dem Kopf in die Falten der Schlafdecke hinein.
Als er einige Tage später am »Nassen Dreieck« vorüberkam, sah er, wie ein paar Arbeiter gerade dabei waren, über den beiden Schaufenstern neue Firmenschilder anzubringen. Über der Ladentür prangte schon eins. Auf himmelblauem Grunde leuchtete weiß in verschnörkelten Buchstaben die Schrift:

»Zur Weissen Taube«

Zur Illustration des für manche Menschen vielleicht nicht ganz eindeutigen Textes war mitten darüber ein weißer Vogel gemalt, der allerdings weit mehr Ähnlichkeit mit einem Raben als mit einer Taube hatte.
In tiefes Nachdenken versunken, ging Thiele seines Weges. Das also war das Ende des »Nassen Dreieck«, der Kneipe, die ihm eine Zeitlang Heimat gewesen war, wo er in zwei Jahren mehr von den Schattenseiten des Lebens kennen gelernt hatte als zuvor in Jahrzehnten. Ganz deutlich sah er jetzt vor sich, wie er damals mit dem Zahmen Willi und der Einäugigen zusammen den schmutzigen Schnapsladen zum ersten Male betreten hatte. Er konnte sich noch an alles genau erinnern, als obs erst gestern gewesen wäre. Nun war das »Nasse Dreieck« nicht mehr. Die Einäugige war nicht mehr, war tot. Der Zahme saß irgendwo im Zuchthaus, auch der Dicke Stern war verschwunden! Das Leben aber ging unaufhaltsam weiter und mit ihm im gleichen Tempo sein Elend!!! Thiele hatte bei diesen Gedanken und Erinnerungen das Gefühl, als ob eine riesige eiskalte Faust ihm die Kehle zusammenpresste. Er atmete so schwer, so mühsam wie ein Erstickender.
In großen, duftig-weißen Flocken fiel der erste diesjährige Schnee über Berlin. Kaum, dass er die Straße berührt hatte, verwandelte er sich in graugelben Matsch, dessen eiskalte Nässe höchst unangenehm durch das kaputte Schuhzeug drang. Durch seine erbärmlich abgeschabte Kluft fühlte Thiele die Kälte dringen, seine Hände waren so klamm, dass er die Fingerspitzen kaum noch spürte. Um aus dem Schneegestöber herauszukommen, ging er in die Markthalle am Weddingplatz. Der Anblick der vielen Lebensmittel reizte seinen ausgehungerten Magen fast bis zur Unerträglichkeit. Vor einem der Verkaufsstände blieb er stehen. Mit dem Hute in der Hand wartete er bescheiden, bis der Standinhaber auf ihn aufmerksam wurde und nach seinen Wünschen fragte. Leise und schüchtern brachte Thiele seine Bitte um eine Gabe vor. Er wurde abgewiesen. Die Händler in der Halle wurden von »Stoßern« förmlich überlaufen. Bei seinen weiteren Versuchen, ein paar Brocken zu erbetteln, musste Thiele immer wieder hören:
»Nu macht bloß halbwegs! Sie sind heute schon der Soundsovielte! Wenn man jeden wat jeben wollte, denn könnte man bald selbst fechten jehn!«
Durch den Ausgang nach der Reinickendorferstraße verließ Thiele die Halle. Draußen war man schon dabei, Buden für den bevorstehenden Weihnachtsmarkt aufzubauen. Verdammt noch mal - ja doch! Weihnachten stand ja schon wieder bald vor der Tür, erinnerte sich Thiele. Vielleicht konnte man da ein paar Groschen verdienen. Sollte er nicht mal zu August Leiche rumgehen? Der hatte sich schon so lange nicht mehr sehen lassen. Der wusste doch bestimmt, wie und wo man ein bisschen verdienen konnte, jetzt zu Weihnachten. Daß er nicht schon früher darauf gekommen war! Sicher, August Leiche würde irgend etwas für ihn haben.
Thiele bog in die Liebenwalderstraße ein. Durch den dunklen Hausflur einer klamottigen Mietskaserne ging er über den ersten und dann den zweiten Hof auf das Quergebäude zu. Das waren ehemalige Pferdeställe, die man zu Wohnräumen umgebaut hatte. Über eine schmale Treppe gelangte Thiele zum oberen Stockwerk und befand sich dann auf einem dunklen Flur. Es roch durchdringend nach Katzen und Abort. An einem Halbdutzend Türen versuchte Thiele, im Scheine eines angezündeten Streichholzes die Namen zu entziffern. Endlich fand er ein Schild, auf dem mit Tinte gekritzelt war: »August Leiche - Amphibienhändler«. Die Türklingel war offenbar kaputtgegangen, sie funktionierte nicht. Mehrmals pochte er laut gegen die Tür, - aber hinter ihr regte und rührte sich nichts. Jetzt wurde nebenan eine Tür geöffnet. Eine ältere Frau kam heraus und fragte:
»Sie wollen zu Herrn Leiche? - Ja, der sitzt doch - wegen Wilddieberei!«
Thiele möchte gern mehr wissen. Aber mit der instinktiven Zurückhaltung, die den meisten Menschen in solchen Lebenslagen eigen ist, schaute die Nachbarin Thiele misstrauisch an und sagte:
»Mehr weeß ick ooch nich; ick kümmere mir nich um die Verhältnisse von andre Leite!«
Ganz niedergeschlagen zog Thiele ab. Wieder mal nischt! dachte er. Was er auch anpackte - alles ging schief! Eigentlich komisch, dass er immer wieder enttäuscht war. Er hätte sich doch schon längst daran gewöhnen müssen.
Ohne zu wissen warum, schlenderte er planlos zur Müllerstraße. Da wurde er plötzlich aufmerksam. Es wimmelte dort von armseligen grauen Gestalten. Eine Demonstration von Arbeitslosen! Die Bürgersteige waren gedrängt voll von zerlumpten, unterernährten Menschen, die sich immer dichter zusammenballten und mit heiseren Stimmen herausfordernd nach Arbeit und Brot schrieen. Ohne sich dessen recht bewusst zu sein, war Thiele sogleich mitten hineingeraten. Noch bevor der Zug der Demonstranten sich richtig geordnet hat, um die Straße entlang zu marschieren, kommen Polizeiflitzer herangesaust, die Beamten springen elastisch und schwingen die Gummiknüppel. Wild laufen die Demonstranten durch- und auseinander. Auch Thiele läuft davon, jagt fluchtartig die Straße entlang. Neben und hinter sich hört er das Tapsen von Mitflüchtenden. Sie überholen ihn, rasen vorbei, in Hausfluren verstecken sich einige, andere sausen um die Straßenecke. Thiele kann nicht mehr, verlangsamt seinen Lauf. Da hört er hinter sich das Klappern der schweren Polizeistiefel, ganz dicht hinter sich. Er bekommt einen schweren Schlag über die Schulter, taumelt nach vorn, beinahe stürzt er zu Boden. Leichenblass ist er vor Schreck und vor ohnmächtiger Wut! Er will sich umdrehen, da packen ihn ein paar Arbeiter rechts und links an den Armen und reißen ihn ungestüm mit sich. Bis er vor Atemnot nicht mehr weiter kann.
An einer entfernten Straßenecke hat sich ein Teil der auseinander gesprengten grauen Gestalten wieder gesammelt. Und wieder fangen sie an, nach Brot, nach Arbeit zu brüllen. Dumpf und schwer wälzt sich der Ruf durch die Straßen, von Gruppe zu Gruppe weitergetragen und immer von neuen Stimmen mit erhöhter Kraft aufgenommen. Die erneut heranrückenden Polizisten werden jetzt mit Pfeifen und Johlen empfangen. Als sie zum Angriff überzugehen drohen, spritzen die Arbeitslosen wieder nach allen Seiten auseinander, angstvoll schreiend suchen einige Frauen in den nächsten Häusern Schutz.
Ganz fanatisch geworden, ist Thiele überall dabei. Er denkt nicht daran, nach Hause zu gehen. Von dem brutalen Schlag mit dem Gummiknüppel schmerzt ihm die Schulter, dass er kaum den Arm zu bewegen wagt. Ein verhaltener Hass gegen die Blauen glimmt und schwelt in ihm. Um sich Luft zu machen, brüllt er sich seine Wut aus dem Leibe heraus, bis ihm der Schädel zu platzen droht. Wieder müssen sie sich die Straße entlang hetzen lassen.
Minna wartet zu Hause auf ihren Mann. Durch sein ungewohnt langes Ausbleiben beunruhigt, war sie schon ein paar Mal vor die Haustür gegangen, um sich nach ihm umzusehen. So lange war er doch noch nie ausgeblieben. Sollte ihm etwas zugestoßen sein?
Bleich und unterernährt lag das Kind im Waschkorb und schlief. Beim Atmen röchelte es wie ein Schwerkranker. Greisenhaft verschrumpft war das Gesicht des armen kleinen Wurms anzusehen.
Minna Thieles Gedanken waren nachtschwarz. Im Geiste sah sie sich am Ufer des Nordhafens gehen, ihr Kind auf dem Arm. Mit Schaudern fühlte sie, wie sie im eiskalten Wasser versank, tiefer und immer tiefer versank, bis in die Unendlichkeit. Plötzlich schreckte sie aus ihrem verzweifelten Gedankenspiel mit dem Tode auf. Hatte sie nicht eben Schritte gehört? Sicher doch! Das war ihr Mann! Sie erkannte ihn genau am Gang.
Als er langsam in die Stube trat, schaute sie ihn bestürzt an. Er sah so elend aus! Aus dem zu weit gewordenen Hemdkragen ragte dünn und krankhaft gelb der magere Hals hervor. Tiefe Schattenringe lagen um seine flackernden Augen, führten unter den hervorstehenden Backenknochen bis zu den Ohren hin. Sein ganzer zusammengeklappter Körper schien wie von einem bösartigen Fieber geschüttelt zu werden. Minna war ernstlich besorgt. »Wie siehste bloß aus, Willem? Du jefällst mir janich! Wat haste denn?«
»Ach, nischt, Minna! Nischt, - et wird schon wieder jut werdn, - ick fiehle mia bloß so hundsmiserabel. Laß man... «, so wehrte Thiele die besorgten Fragen der Frau ab.
Er ging zum Fenster, wo der Tisch stand, und setzte sich schwer auf den Stuhl. Plötzlich ließ er seinen Kopf nach vorn auf die Tischplatte fallen, zog beide Arme wie schützend vor sein Gesicht. Wilhelm Thiele schluchzte!
Sein Rücken ging auf und nieder, der ganze Körner zuckte wie in Krämpfen. Minna stand wie erstarrt mitten im Raume und blickte völlig rat- und hilflos auf ihren Mann. Noch nie hatte sie ihn weinen gesehen.
Das im Wäschekorb schlummernde Kind bewegte sich unruhig, öffnete die Augen, blickte suchend umher, verzog weinerlich das kleine Gesicht und fing dann plötzlich an, laut zu schreien. Minna ging zu ihrem Mann, legte ihm die Hand auf die Schulter. Sagte tröstend:
»Weene dir man ruhig aus, det tut jut, nachher Hehlt man sich denn een bißken leichter.« Nach einer Pause fügte sie leise hinzu: »Wir haben nu
eenmal keen Jlick, Willem-------« Sie hatte Mühe,
nicht selbst loszuheulen.
Thiele hob sein tränennasses Gesicht auf und schaute die Frau an. Er riss sich zusammen, um das Weinen zu unterdrücken. Wie zur Entschuldigung erklärte er ihr dann:
»Du verstehst mir doch, Minna? Sieh mal, det hält uff die Dauer keen Pferd aus, det Leben! Da muss man doch schließlich mal zusammenklappen un schlappmachen.«
»Ick vasteh det allens jut, Willem! Ick hab doch ooch een Herz im Leibe un weeß, wie dia zumute sein muss. Nee, Willem, du kannst doch nischt dafor!«
Mit dankbar zärtlichen Blicken sah Thiele auf sein verständiges Weib.
»Minnakin, du bist wirklich jut zu mir, - wenn ick's dia bloß mal wiederverjelten könnte - - -«, presste er gequält durch seine ihm erbärmlich scheinende Hilflosigkeit hervor.
»Det wird allens schon mal werdn«, beruhigte sie ihn. Bei diesen Worten holte sie ein paar Stullen herbei, die sie ihm zuschob. Ermunternd forderte Minna ihn auf:
»Da, nu eß mal erst een bißken wat!«
Verwundert blickte Thiele auf die Brotschnitten und dann auf seine Frau. Er wusste genau, dass sie heute morgen nicht einen roten Pfennig besessen hatte. Ihre Aufwartestelle hatte sie ja doch seit Wochen auch nicht mehr. Die Hausfrauen sparten die paar Groschen und klaubten ihren Dreck alleine.
»Nanu, woher haste denn det?«
Forschend blickte er die Minna an. Sie wandte
sich schnell ab, um ihr Gesicht zu verbergen, und sagte so obenhin:
»Ick erzähl et dia nachher, - nu eß man, damit du wat in'n Magen kriegst, - denn wird dia ooch wieda bessa wern... «
Als sie zu Bett gegangen waren und still nebeneinander lagen, erzählte sie ihm, dass sie heute das Kind auf den Arm genommen hatte und - betteln gegangen war. Wie um Entschuldigung bittend und um ihr Verhalten verständlich zu machen, fügte sie hinzu:
»Bloß in een paar Häuser, - weeßte, Willem, 'ner Mutta mit'n Kind uffn Arm jeben de Leite noch eher wat wie 'nem Mann.«
Mit stockendem Atem hörte Thiele ihre »Beichte« an. Er erwiderte kein Wort. Unsäglich erbärmlich und dreckig kam er sich vor. Soweit war es also schon gekommen!
Von nun an ging Minna Thiele jeden Tag auf Bettelfahrt. Nicht den ganzen Tag war sie unterwegs. Sie lief so lange die Häuser ab, bis sie einige Paar Stullen und ein paar Pfennige zusammen hatte. Dann eilte sie wieder nach Hause. Wenn Thiele des Abends ausgehungert und durchfroren in die Stube kam, fand er immer etwas zu essen vor. Aber diese Bissen wollten nicht rutschen, trotz seines riesigen Hungers. Er würgte förmlich daran, um sie herunterzubringen.
Ja, herrlich weit hatte er es gebracht: Wilhelm Thiele, Ehemann und Familienvater! Noch weniger als der armseligste Penner war er jetzt. Von den Fechtbrocken seiner eigenen Frau musste er sich nähren, um nicht vollends zu verhungern. Er hätte sich vor Verzweiflung selbst ins Gesicht spucken mögen, so jammervoll, so gotterbärmlich, so abgebrüht kam er sich vor. Weshalb griff er nicht endlich zum Strick oder sprang er nicht aus dem Bodenfenster auf den Hof hinab, um Schluss zu machen mit diesen Erniedrigungen ohne Ende, mit diesem ganzen tausendmal verfluchten Mist? Dann hatte er all diesen Dreck doch hinter sich. Was hatte er denn überhaupt noch zu verlieren? Rein gar nichts. Denn was noch vor ihm lag, war doch nur die Aussicht, immer tiefer in Mist und Jauche hineinzugeraten.

Aber Wilhelm Thiele dachte nur so. Er machte nicht Schluss mit dem Elend, das ihn längst in seinen brutalen Fängen hielt, mit Haut und Haar fraß; das ihn so festhielt, dass er sich zu keinem ernsthaften Entschluss mehr aufraffen konnte. Taumelnd ließ er sich vom Strom der Ereignisse weiterschieben. Unverdrossen latschte er durch den Schneematsch auf den Straßen, selten aber bemühte er sich noch, die Treppen in den Häusern emporzusteigen, um als Fechtbruder an die Türen zu klopfen. Gerieten ihm durch irgendeinen Glücksfall wirklich mal ein paar Pfennige in die Hand, dann trug er sie nicht etwa nach Hause, sondern in die erstbeste Destille, die ihm in die Quere kam. Der Suff schien jetzt die einzige Erlösung von seinem Elend zu sein. Im Dusel vergaß er alles, was ihn sonst bis zum Irrsinn peinigte. Und er war meist schon von ein paar Gläsern Fusel total fertig. Der
ausgehungerte Magen trug dazu bei, dass Thiele schon nach dem ersten Schnaps ins Schwanken geriet. Mit verschwommenem Blick, der die Dinge außen und innen weniger krass, weniger brutal erscheinen ließ, taumelte er die Straße entlang. Thiele kümmerte sich den Teufel darum, was die Vorübergehenden von ihm dachten. Mochte die ganze Welt ihm den Buckel runterrutschen! Was fragte er jetzt noch nach der Meinung der Menschen?
Diese Menschen aber dachten anders darüber. Empört sahen sie ihm nach, wenn er vorbeigeschaukelt war, und sagten dann zu sich oder zu den andern:
»Da sieht man's ja wieder, dieses Lumpenpack! Gibt man gutherzig so einem Kerl einen Groschen, dann geht er hin und versäuft ihn. Man kann gar nicht vorsichtig genug sein, am besten tät man, überhaupt nichts mehr zu geben.«

 

XVI.

In den letzten Tagen vor Weihnachten hatte Thiele sich wieder ein bisschen zusammengenommen und handelte auf dem Weihnachtsmarkt am Weddingplatz mit Nusshaltern und Lametta. Der Jesusgreifer hatte ihm ein paar Groschen gepumpt, damit er den Flitterkram bei dem Grossisten in der Kleinen Frankfurter Straße einkaufen konnte. Der Markt war förmlich überschwemmt von Männern, Frauen und Kindern, die sich alle in gleicher oder auf ähnliche Weise ein wenig Weihnachtsgeld machen wollten. Leider waren die Käufer für derartige Dinge sehr rar. Die meisten Leute hatten den Putzkram noch vom Vorjahre in irgendeinem Pappkarton, und dann: wer hatte denn heute überhaupt noch die fünf Silbergroschen für'n Baum übrig?
Thieles aber machten sich einen »Boom«. Ihres Kindes wegen. An den Weihnachtsbaum-Verkaufsständen hatte Thiele einen Arm voll Tannenäste aufgesammelt, die er zu Hause in den mit Bohrlöchern versehenen Besenstiel einsetzte. Das nicht verkaufte Lametta wurde darüber gehängt. Damit war die Pracht vollendet. Billig. - aber -na ja!
Am Heiligabend kam der Jesusgreifer, um die Minna zur Bescherung eines frommen Vereins mitzunehmen. Sie brachte eine Tüte nach Hause. Drei blankgeputzte Äpfel, zwanzig Nüsse und ein Stück Pfefferkuchen mit einem Kreuz aus Zuckerguss waren darin. Außerdem hatte sie noch ein Paketchen erhalten. Erst zu Hause, in ihres Mannes Gegenwart, öffnete sie es mit gespannter Miene: ein Paar baumwollene Socken und - ein Gebetbuch kamen zum Vorschein. Während Thiele nüsseknackend in dem Buch herumblätterte, grunzte er boshaft:
»Een Eisbeen mit Sauerkohl wär mir entschieden lieber jewesen!«
Minna rügte seine Bemerkung und sagte, er solle zufrieden sein, dass sie überhaupt etwas erhalten hätten: denn schließlich waren die Leute doch nicht verpflichtet, ihnen Geschenke zu geben...
Nach dem Fest war es aber auch rein »zappendüster« mit dem Verdienen. Die Feiertage hatten die letzten Sechser und Groschen aus den Taschen der Leute herausgeholt. Die paar Menschen, die noch Arbeit hatten, bekamen in der Woche nach Weihnachten weniger an Lohn heraus, weil ja die Feiertage abgingen, und mussten nun selbst zusehen, wie sie sich durchhungerten.
Pünktlich am ersten Januar brachte der Jesusgreifer seine acht Mark Miete für die Küche zu Thiele. Dieser aber brachte das Geld nicht zum Verwalter rauf.
»Schließlich kommt erst det Fressen un denn de Miete!« sagte Thiele kurz zu sich selbst, holte einen Zentner Kohlen und gab das übrige Geld Minna zum Verbrauch.
Mochte der Verwalter warten, ein paar Monate waren sie sowieso schon mit ihrer Miete im Rückstand. Da kam es auf einen Monat mehr nicht an!
Im Laufe des Monats aber kam der Verwalter zu Thieles und drohte energisch mit Exmission. Die Minna lief den ganzen Tag mit dickverweinten Augen herum. Thiele aber hatte den Balg voll Wut und raste durch die Straßen. Als er sich müde gerannt hatte, setzte er sich auf eine vereiste Bank im Kirchenpark. Lange hockte er so da, ohne sich zu rühren. Ein vorbeipatrouillierender Schupobeamter sah aufmerksam hin nach ihm, dann ging er weiter bis zur Ecke, wo er sich wieder nach Thiele umsah. Schließlich machte er kehrt, ging auf die Bank zu und blieb vor Thiele stehen.
»Sie werden sich hier den Tod holen, - gehen Sie lieber nach Hause!« sagte der Beamte nicht unfreundlich zu dem frierend Dasitzenden.
Seit dem niederträchtigen Hieb mit dem Gummiknüppel über die Schulter litt Thiele an einer Art von »Blaukoller«, - er konnte keine Schupouniform mehr riechen, geschweige denn sehen, ohne dass ihm übel wurde vor Groll. Er gab dem Beamten gar keine Antwort, stand mühsam auf und trottete davon.
Wenn man ihn so hinschaukeln sah, hätte man glauben können, einen gebrechlichen, müden Greis zu erblicken. Wie ein alter Zarengeneral mit hervorstehenden krummen Knien, die schlaff herabhängenden Arme bis zu den Ellenbogen in die Hosentaschen versackt, den Buckel haltlos gekrümmt, so torkelte er stumpfsinnig dahin. Sah nicht nach rechts oder links, sondern hielt den Blick ständig auf den Boden gerichtet. Wilhelm Thiele schleppte seinen müden Körper schwankend über den Bürgersteig. Automatisch, wie aufgezogen bewegte er die Beine, Schritt, Schritt. Bei jedem Tritt in den Schneematsch spritzte das Wasser unter seinen zerfetzten Schuhsohlen hervor, er bemerkte es aber gar nicht. Jede seiner Bewegungen hatte etwas unbeschreiblich Schwerfälliges, Ausgestorbenes. In seinen stierblickenden Augen war alles leer.
Ohne die Stullen, die Minna jetzt täglich von ihrer Fahrt nach Hause brachte, hätten Thieles überhaupt nicht mehr gewusst, wovon sie leben sollten. Minna sprach nie über ihre Erlebnisse und Erfahrungen auf diesen demütigenden Betteltouren. Er selbst war aber schon viel zu wurstig geworden, um sie darüber zu befragen. Dabei fühlte er mitunter sehr wohl, wie sie unter dieser seiner Teilnahmslosigkeit litt. Dann riss er sich doch wieder etwas zusammen, fasste neue Entschlüsse, lief rüber nach Charlottenburg, nach Spandau und klapperte wie früher Haus für Haus ab. Er musste unbedingt versuchen, ein paar Mark Miete zusammenzuschnorren, um den Hausverwalter wenigstens vorläufig ein wenig zu beruhigen und so das drohende Rausgeschmissen-Werden hinauszuschieben. Thiele war aber körperlich schon zu sehr heruntergekommen, um das mühselige Treppensteigen lange auszuhalten. Oft war er nahe am Zusammenbrechen. In einem solchen Augenblick akuten Schwächeanfalls passierte es ihm, dass es ihm auf der Treppe eines fremden Hauses plötzlich schwarz vor den Augen wurde. Alles schien sich um ihn zu drehen. Ehe er sich noch am Geländer anklammern konnte, kippte er aus den Latschen und stürzte hintenüber die Treppe hinunter. Auf dem Treppenabsatz blieb er liegen. Hausbewohner waren durch das Gepolter aufmerksam geworden und kamen aus den Wohnungen herausgestürzt, um zu sehen, was passiert sei. Alle bemühten sich hilfsbereit um den fremden Mann, der da bewusstlos lag. Als sie sahen, dass es offensichtlich ein vor Hunger zusammengebrochener Bettler war, holten einige rasch heißen Kaffee und Stullen.
Thiele hatte sich wieder etwas erholt. Als er sich aufzustehen bemühte, bemerkte er, dass er sich beim Sturz den Fuß abgeschrammt hatte. Er bedankte sich bei den Leuten für ihre freundliche Hilfe und humpelte dann unter ziemlichen Schmerzen im Fußgelenk davon. Unterwegs zählte er die paar Sechser durch, die man ihm mitleidig in die Hand gedrückt hatte: es waren dreißig Pfennige!
Thiele dachte nach. Man musste also tatsächlich erst vor Hunger umkippen, bevor die Leute, von Mitleid gepackt, einen Sechser herausrückten. Solange man krauchen konnte, wenn auch bloß auf allen vieren, war's gut, hielten die Menschen ihre Taschen fest zu. Konnten sie ihr Mitleid noch aufsparen. Das sollte ihm eine Lehre sein!
Von diesem Tag an kippte Wilhelm Thiele oft um. Der Selbsterhaltungstrieb machte ihn zum Schauspieler. Leicht wurde ihm das wahrhaftig nicht, so abgebrüht und dickfellig er auch schon geworden war. Wenn er aber scheinbar so hilflos dalag und die Frauen sich um ihn mit Ausdrücken echten Bedauerns bemühten, hätte er vor Scham am liebsten ersticken mögen. Er ekelte sich vor sich selbst. Und trotzdem: Er machte doch dies alles nur, um nicht tatsächlich vor Hunger umfallen zu müssen. Gewiss wars eine Gemeinheit, die er beging.
Das Leben selbst war doch noch unendlich viel gemeiner, schamloser und brutaler mit ihm ungesprungen, hatte sich so schweinisch gegen ihn benommen, dass man selbst langsam zum Schwein geworden war.
Die paar Pimperlinge, die er den Leuten auf diese Weise abnahm, verdiente er eigentlich noch viel zu schwer, viel zu umständlich.
Wilhelm Thiele erlangte durch die ständige Wiederholung seiner simulierten Schwächeanfälle bald Routine. Diese Methode fing an, verhältnismäßig einträglich zu werden. Es waren fette Tage für die Thieles gekommen. Nicht nur Brot, nein, auch einige Groschen Bargeld brachte er jeden Tag heim. Die Minna zerbrach sich im stillen den Kopf, wie er es bloß fertig brachte, ihr Tag für Tag beinahe bis zu einer ganzen Mark auf den Tisch zu legen. Er erzählte ihr über seinen Trick kein Sterbenswörtchen.
Thiele trank jetzt nicht mehr. Er hielt die Groschen zusammen und brachte es sogar fertig, einige Mark zum Verwalter hinauftragen zu können.
Die Gastwirtschaft »Zur Weissen Taube« war eröffnet worden. Im frischen Glanze der hellen Farben waren die Wände und die La...

(hier fehlt im Original-Manuskript ein Stück/abgerissen/.)

...Vom Dicken Stern-Albert hatten Thieles kein einziges Lebenszeichen mehr bekommen oder vernommen. Er war und blieb spurlos verschwunden. Thiele konnte sich denken, wo der wohl sein könnte. Er erinnerte sich an Sterns Anspielungen, damals, nicht lange vor seinem Untertauchen. Sicher hockte er jetzt als reumütig heimgekehrter Sünder bei seiner überfetten »Altsche« im Kaffee. Wie er sich da wohl so fühlte? dachte Thiele.
Einmal führte ihn sein Weg in jene Gegend. Ohne den Mut, das Kaffee zu betreten, ging Thiele ein paar Mal an dem Lokal vorbei. Schließlich blieb er vor dem einen der Schaufenster stehen und versuchte, ins Innere zu spähen. Drinnen war's dunkel, er konnte nichts Genaues erkennen. Er glaubte aber doch, hinten in einer molligen Ecke eine dicke Gestalt zu sehen, die mit seinem früheren Intimus, Albert Stern, eine ganz verteufelte Ähnlichkeit hatte. Als Thiele dann vor der Eingangstür überlegte, ob er mal hineingehen solle oder nicht, entdeckte er plötzlich an der unteren Türhälfte ein Schild, ein kleines grauweißes Schild, wie er ähnliche schon tausendmal an anderen Türen gesehen hatte. Er brauchte erst gar nicht genauer hinzusehen; denn die Aufschrift kannte er auswendig:
»Mitglied des Vereins gegen Verarmung und Bettelei.«
Thiele nickte ein halbes Dutzend Mal wie zur Bestätigung mit dem Kopf. Nachdenklich ging er dann langsam weiter. Der große Unterschied zwischen einem Albert Stern und einem Wilhelm Thiele wurde ihm klar.
Nicht die Not, sondern ein unwiderstehlicher Drang nach persönlicher Ungebundenheit, nach eigenwilliger Lebensgestaltung hatte Stern veranlasst, vielleicht auch gezwungen, der sorglosen Bequemlichkeit eines eigenen Heims zu entfliehen. Dafür hatte er das überaus entbehrungsreiche Leben eines »besseren« Penners, eines so genannten »Keller-Kavaliers« auf sich genommen. Da war es leicht, selbst in den misslichsten Lagen sich seinen Humor zu bewahren und alle Beschwerden mit philosophischem Phlegma zu ertragen. Die Rückkehr zu den vollen Fleischtöpfen in der Mittelstraße war ja jederzeit ganz in sein Belieben gestellt. Mochte alles kommen, wie es wollte: er blieb doch immer Herr der Lage und gewissermaßen, mit Einschränkungen, auch Herr im eigenen Hause!
Wie anders aber sah es mit ihm selbst, mit Wilhelm Thiele aus?! Ganz gegen seinen Willen, nur dem furchtbaren Druck der Verhältnisse nachgebend, war er so geworden, wie er jetzt war. Für ihn gab es kein Zurück, so überaus gern er es auch gewollt hätte, kein Voran, nur ein Abwärts, immer tiefer in Schmutz und Schlamm, in Mist und Jauche hinein. Weder rechts noch links konnte er den Dreckpfützen ausweichen. Mitten hindurch musste er. Und eines Tages wird es soweit sein. Lang liegt er dann in der Jauche, alle viere von sich gestreckt.
Dieses Ende konnte nicht mehr fern sein! Er fühlte es von Tag zu Tag näher heranrücken. Hielt er sich doch schon jetzt nur noch durch gemeinsten Betrug, durch infamste Vortäuschung von mitleiderregenden Schwächeanfällen notdürftig hoch.
Vom Wohlfahrtsamt hatten sie endlich die Mitteilung erhalten, dass sie die paar Klamotten der verstorbenen Frau Kneschke widerruflich bis auf weiteres benutzen dürften. Thieles freuten sich nicht einmal mehr darüber. Auch damit wurde das drohend bevorstehende Ende, die fast schon zur Gewissheit werdende Katastrophe nicht abgewendet, sondern etwas hinausgezögert. Solche Fürsorgemaßnahmen machten den Kohl, der nicht da war, nicht fett.
Das Kind machte ihnen immer größere Kopfschmerzen. Das arme Wurm konnte nicht leben und nicht sterben. Seine Entwicklung war völlig ins Stocken geraten. Es kränkelte fortgesetzt, hatte immer fieberheiße Händchen und röchelte schwer. Wie die vermeckerte kleine Frau des Jesusgreifers weise bemerkte, war das bei Kindern, die die Schwindsucht hatten, immer so.
»Weeßte, Willem«, sagte Minna zu ihrem Mann, »et wär doch bessa jewesen, man hätte det damals anders jemacht, hätte det Wurm janich uff de Welt komme lassen soll'n.« Kaum aber waren ihr diese Worte entschlüpft, bekam sie einen knallroten Kopf, sie schämte sich schrecklich, weil sie glaubte, eine herzlose Mutter zu sein. Thiele brummte unverständlich etwas vor sich hin.
Für die Aufführung seiner simulierten Anfälle suchte sich Thiele immer wieder andere Stadtteile aus. Jetzt graste er gerade die Pankower Gegend ab. Als er in einem Hause der Florastraße die Treppe emporkletterte, bemerkte er in der zweiten Etage, wie die Tür zu einer Wohnung halboffen stand. An der auf dem Korridor stehenden Flurgarderobe, die er im Vorbeigehen sehen konnte, hingen mehrere Kleidungsstücke. Er dachte sich gar nichts weiter dabei, sondern stieg weiter hinauf und klopfte dort an die Türen. Wieder in der zweiten Etage angelangt, sah er, dass die Tür noch immer, genau wie vorher, offen stand. Er hatte das schon vergessen gehabt. Sein Herz fing plötzlich an, ganz rasend zu klopfen. Kochend heiß stieg ein Gefühl, das er sich nicht erklären konnte, in ihm auf. Er war sich auch nicht klar darüber, warum er gerade auf diese offene Tür, die doch von seinem augenblicklichen Standpunkt am entferntesten lag, zuging und an der Klingel riss. In der Wohnung rührte sich trotz des lauten Klingeins nichts. Niemand kam, um nach seinen Wünschen zu fragen. Er klingelte nochmals, wieder vergebens.
Neugierig schob er den Kopf durch die halboffene Tür und blickte sich auf dem Korridor um. Er sah wieder die Kleider an den Haken der Flurgarderobe hängen. Fast in Reichweite! Er brauchte nur den Arm auszustrecken, dann konnte er sie berühren. Mit zitterndem Körper ging er zurück ans Geländer und lauschte angespannt nach unten und oben. Auf der Treppe war es mäuschenstill. Er setzte den Fuß auf die abwärtsführende nächste Stufe, um die Treppe hinabzugehen, da zog er ihn mechanisch, fast unbewusst, wieder zurück. Nochmals spähte er verstohlen in den Korridor hinein. Unter den Kleiderstücken, die da in so verführerisch greifbarer Nähe hingen, erkannte er einen Paletot, ein Ding, das er gerade jetzt im Winter so überaus nötig gebrauchte. Er brauchte ihn nur nehmen. In ihm wurde es ganz ruhig. Dann fasste Wilhelm Thiele zu. Der Aufhänger des Mantels wollte nicht sogleich über den Knopf des Hakens rutschen, hatte sich wohl etwas verdreht. Thiele riss, da hatte er den Mantel in der Hand.
Im gleichen Augenblick überkam ihn eine wahnsinnige Angst. Am liebsten hätte er das Kleidungsstück wieder in die Wohnung geschleudert und wäre davongelaufen. Seine Finger hielten aber die Beute fest, sie wollten den Raub nicht wieder herausgeben. Fort! So rasch wie möglich. Beim Heruntereilen rollte er den Mantel zusammen und klemmte ihn unter den Arm. In seiner Hast wäre Thiele an der Haustür beinahe mit einer Frau zusammengeprallt, die, ein großes Einholenetz in der Hand, gerade den Hausflur betreten wollte. Einen derben Schreck hatte er bekommen. Die Frau sah ihn misstrauisch an. Hastig riss er die Haustür auf und ging eilend über den Damm nach der andern Straßenseite hinüber.
Der Frau aber schwante nichts Gutes. Der zerlumpte Kerl mit dem Kleidungsstück unterm Arm kam ihr stark verdächtig vor. Wenn der bloß nicht etwa bei ihr...! Bei diesen unsicheren Zeiten konnte man nie wissen! Schnell lief sie nach oben und sah sich in ihrer Wohnung um. Gott sei Dank. Bei ihr war alles in Ordnung. Aber, ja, mein Gott! Was ist denn das? Drüben bei der Köhlern stand ja die Tür so merkwürdig offen??? Sie sprang hinüber und rief laut den Namen ihrer Nachbarin. In der Wohnung blieb alles still. Zufällig kam Frau Köhler, die oben in der Waschküche zu tun gehabt, die Treppe herunter. Auf den erregten Bericht ihrer Nachbarin hin sah sie sich schnell im Korridor um und fand sofort zu ihrem Entsetzen, dass der gute neue Paletot ihres Mannes verschwunden war! Schnell eilten die beiden Frauen die Treppe hinab auf die Straße.
Wilhelm Thiele, der inzwischen schon ein ganzes Stück Weges weg war, sah sich von Zeit zu Zeit scheu nach allen Seiten um. Plötzlich bemerkte er mit Schrecken, dass zwei Frauen hinter ihm herrannten und die Passanten auf ihn aufmerksam machten. Da rief man auch schon.
»Haltet ihn fest!!! Haltet den Dieb!!!«
Ein kurzer Blick nach hinten überzeugte ihn, dass die Menge hinter ihm her war. Er sprang ein paar Schritte vor und raste dann die Straße entlang. In seiner blinden Hast prallte er gegen eine Frau, die ihm nicht mehr ausweichen konnte, sie flog weit zur Seite auf den Boden! Beinahe wäre er selbst mit hingestürzt. Von vorn sprang jemand ihn an, er stieß ihn brutal zur Seite und jagte weiter. Vor ihm tauchte eine blaue Uniform auf! Der Schupobeamte war sofort im Bilde und fing Thiele geschickt ab. Mit kunstgerechtem Jiu-Jitsu-Griff wurde ihm der Arm nach hinten auf den Rücken gedreht und nach oben gedrückt. Thiele war völlig wehrlos. Den Schmerz verbeißend, hielt er ganz still, er wusste, dass er erledigt war! Der gestohlene Mantel war ihm entglitten und zu Boden gefallen.
Eine erregte Menschenmenge hatte sich inzwischen angesammelt und schaute mit teils neugierigen, teils drohenden Blicken auf den zerlumpten Mann, der sich unter dem schmerzhaften Griff des Polizisten krümmte.
Die Zurufe und Fragen prasselten wirr durcheinander:
»Was hat er denn ausjefressen?«
»Hat er einen umjebracht???«
»Ordentlich de Jacke vollhauen müsste man den Hund!!!«
»Wie'n richt'jer Mörder sieht der Kerl aus!«
Wilhelm Thiele verstand von all dem, was um ihn her vorging, nichts. Er war mit seinen Gedanken bei der Minna. Sein Gesicht war kalkweiß und mit kaltem Schweiß bedeckt. Der Polizist wehrte die Umstehenden ab und führte Thiele ab zur Wache. Eine ganze Horde durcheinander redender Männer, Frauen und Kinder begleiteten sie. Was würde die Minna sagen, wenn sie erfuhr, was er angestellt hatte??? Was sollte jetzt aus der Wohnung werden, wo sie monatelang mit der Miete im Rückstand waren??? Auf der Wache wurde Thiele sofort einem Kriminalbeamten zur Vernehmung vorgeführt. Wie ein hilfloser dummer Junge stand er da. Er gab alles freimütig zu, stritt nichts ab. Nur gegen die Unterstellung, die verschlossene Tür gewaltsam geöffnet zu haben, wehrte er sich energisch. Das konnte er selbstverständlich nicht zugeben, sosehr der Beamte in ihn drang, gerade in diesem Punkt doch geständig zu sein. Nein, das konnte er und durfte er nicht, es wäre ja eine glatte Lüge gewesen!
Die erboste Kleinbürgersfrau aber, aus deren Wohnung er den Mantel entwendet hatte, behauptete steif und fest, dass sie die Tür zugeschlagen habe, bevor sie auf den Boden gegangen sei. Dieser Behauptung einer ehrbaren Frau gegenüber musste natürlich die Versicherung eines auf frischer Tat ertappten Diebes als freche Lüge, als hartnäckiges Leugnen erscheinen. Seine Aussage war unwahrscheinlich und deshalb einfach unglaubwürdig. Man hatte ja seine Erfahrungen in diesen Dingen!
Möglicherweise hatte die gute Frau Köhler nachher ein paar Minuten lang so etwas wie Gewissensbisse über ihre falsche Behauptung. Aber was machte das! Das war noch immer leichter zu ertragen als der unvermeidliche Krach mit ihrem Alten, wenn der erfahren würde, dass ihre leichtsinnige Nachlässigkeit die Hauptschuld hatte an dem ganzen ärgerlichen Vorkommnis.
Nach seiner ersten Vernehmung wurde Thiele in eine halbdunkle schmutzige Zelle eingesperrt, deren ganzes Inventar aus einer Holzbank bestand. Hoch oben unter der Decke war ein schmales kleines Fenster, das durch dicke Eisenstäbe gut gesichert war. Völlig apathisch hatte er sich in einer Ecke hingekauert und blickte wie geistesabwesend vor sich hin. Als seine Augen sich an das Halbdunkel etwas gewöhnt hatten, entdeckte er, dass die Wände ringsum mit zahllosen Monogrammen, geheimnisvollen »Zinken« und mit Inschriften bedeckt waren. Auf einer solchen blieb sein Blick haften. Es sollte wahrscheinlich ein »Trost-Wort« sein und lautete:
»Allet is verjänglich - ooch lebenslänglich!!!«
Minna Thiele saß den ganzen Abend in ihrer kalten Bude und wartete vergeblich auf ihren Mann. Es war bereits über zehn Uhr und die Haustür längst abgeschlossen. Sie wusste, dass er nicht einmal einen Hausschlüssel bei sich hatte. In ihrer angstvollen Spannung hörte sie eine Viertelstunde nach der anderen von der nahen Kirchenuhr schlagen. Es wurde ein Uhr, es wurde zwei Uhr, und ihr Mann kam nicht! Minna hatte noch kein Auge zugemacht. Sie machte sich Gedanken um ihn. Sollte ihm was passiert sein? Oder, wenn er sich was angetan hatte, Schluss gemacht hatte mit sich und dem ganzen Dreck. Er sollte sie mit dem Kinde so ganz allein zurückgelassen haben? Nee, das würde ihr Wilhelm doch nicht tun, das traute sie ihm doch nicht zu!
Vor quälender Ungewissheit hielt sie es im Bett nicht länger aus, sie sprang auf, zog sich rasch einen Rock über und lief hinaus auf die Straße. Wo sollte sie ihn suchen? Planlos lief sie bis zur Ecke, spähte die Straße nach beiden Seiten entlang und kehrte dann noch mutloser wieder um. Es hatte ja keinen Zweck! Wenn er zurückkam, würde er seinen Weg auch allein finden. Minna schlich sich in ihre Bude zurück und kroch wieder ins Bett.
Erst gegen Morgen fiel sie übermüdet in einen unruhigen Schlaf. Als sie wieder erwachte, war es schon hellichter Tag. Ihr Wilhelm aber war immer noch nicht gekommen.
Gegen elf Uhr erschien ein Polizeibeamter vom Revier, schnüffelte in der kalten Bude herum und stellte sehr neugierige und sehr verfängliche Fragen. Wovon sie eigentlich lebten, wollte er wissen. Minna antwortete.
»Von so jut wie ja nischt?« fragte er mit einem zweifelnden Lachen. »Na - det erzählen Sie man Ihrer Jroßmutter, aber nich de Polizei! Von nischt, oder so jut wie nischt kann keener nich leben!«
Auf Minnas angstvolle Frage ließ er sich herab, ihr zu sagen, was mit ihrem Mann passiert war. Verständnislos glotzte sie den gesunden, von Kraft strotzenden Menschen an. Regungslos stand sie mitten in der Stube. Die Arme hingen ihr schlaff am Leibe herab. Kein Laut kam über ihre fest zusammengepressten Lippen. Die aufsteigenden Tränen hielt sie gewaltsam zurück.
Als sich die Tür hinter dem Beamten geschlossen hatte, sackte die Frau zusammen und fing fassungslos an zu schluchzen.
Wilhelm Thiele war ins Untersuchungsgefängnis Moabit eingeliefert worden. Er konnte noch immer nicht recht begreifen, wie das alles möglich geworden war. Seltsamerweise fühlte er nicht eine Spur von Reue oder von Bedauern über seine Tat an sich. Ja, im Grunde genommen war er eigentlich froh, dass es so gekommen war! Was ihn quälte und peinigte, war nur der Gedanke an die Frau und an das Kind. Wenn die nicht gewesen wären, dann hätte er sich freuen können, der zermürbenden Sorge um das tägliche bisschen Fressen enthoben zu sein. Genau auf den Stundenschlag brauchte er nur den leeren »Bimmel« hinhalten und bekam ihn dann gefüllt wieder zurück!!!
Aber wie gesagt, die unaufhörlichen Gedanken an seine Minna und an das Kleine verbitterten ihm jeden Bissen, den er zu sich nahm. Er fühlte dumpf, dass er jetzt das letzte bisschen Hoffnung auf andere Zeiten, das trotz allem und allem noch immer in ihm geschwungen, zerstört und zertreten hatte. Nun war es für sie und für ihn vorbei mit all den stillen Träumereien von wegen Wiederhochkommen und so. Der schöne weiße Küchenschrank, der als Symbol künftigen Wohlstandes immer vor ihren inneren Augen geschwebt und an dessen endliche Erlangung Minna im tiefsten Winkel ihres Herzens unerschütterlich geglaubt hatte, er war jetzt in unendliche, ewig unerreichbare Ferne entrückt!!!
Die geballten Fäuste gegen die Stirn bullernd, raste Wilhelm Thiele von morgens bis abends in seiner Zelle umher, unermüdlich hin und her, immer sechs Schritte von der Tür bis zum Fenster. Wie ein sich ungestüm nach Freiheit sehnendes Raubtier im Käfig kam er sich vor.
Auf einen Brief ihres Mannes machte Minna sich mit dem Kind auf den Weg zum Untersuchungsgefängnis. Besuchserlaubnis hatte sie beim Untersuchungsrichter eingeholt. Durch stummen Händedruck begrüßten sich die beiden Menschen. Nur ihre Augen sprachen zueinander. Das Kleine hatte Minna auf den Tisch im Besuchszimmer vor sich hingesetzt. Es spielte mit ein paar Knöpfen, die Frau Thiele aus der Tasche gekramt und vor das ahnungslose kleine Wurm hingelegt hatte, um es abzulenken. Still, nur ganz wenige Worte wechselnd, saßen die Eltern beieinander.
Als die vorgeschriebene Besuchszeit abgelaufen war, legte Thiele seiner Frau den Arm um die Schulter und sah ihr tief in die Augen.
»Sage mal, Minnakin, aber ganz ehrlich, biste mir sehr böse, det ick det jemacht habe???«
Mit festem Blick und sicherer Stimme erwiderte sie sofort:
»Ick dir böse sein??? Ibewahre, Willem!!! Warum sollte ick denn det???«
War es der Tonfall, etwas in ihrem Blick oder irgend etwas anderes? Thiele wurde misstrauisch, eine ungeheure Angst kroch plötzlich in ihm hoch.
»Minnakin!« sagte er mit tränenverhaltener Stimme, »Mädel! Mach mir bloß keene Dummheiten! Wenn ick wieder bei dia bin - wird allens noch jut! Ja, janz bestimmt! Et müssen doch mal wieda andre Zeiten kommen!«
Er wusste selbst nicht recht, wie er dazu kam, das so zuversichtlich zu sagen. Sie suchte ihn zu beruhigen und ging.
Der Untersuchungsrichter, dem Thiele vorgeführt worden war, wollte durchaus die »Wahrheit« aus ihm herausholen. Er wollte, dass Thiele zugab, die Wohnungstür in rechtswidriger Weise geöffnet zu haben. Durch immer erneute, erregte Zwischenfragen wollte er ihn offenbar in Widersprüche verwickeln, wollte er ihn noch nervöser machen, als er an sich schon war. Thiele war und blieb aber »ein verstockter Sünder«. Als alle seine Beteuerungen nichts fruchteten, wurde er schließlich patzig und verweigerte jede weitere Antwort. Er wurde wieder abgeführt, man wusste jetzt Bescheid.
Dann kam der Tag der Hauptverhandlung. Noch vor Beendigung der gerade stattfindenden Verhandlung wurde Thiele von hinten her in die Anklagebank hineingeführt. Der Angeklagte, gegen den verhandelt worden war, ein politischer Redakteur, saß außerhalb der Anklagebank vor dem Tische seines Rechtsanwalts. Der Gerichtshof hatte sich ins Beratungszimmer zurückgezogen. Die Blicke aller Anwesenden richteten sich auf Thiele, als seine bleiche, zerlumpte Jammergestalt in der Anklagebank auftauchte. Wie Messerstiche, die ihm durch die Seele drangen, fühlte Thiele diese neugierigen Blicke auf sich ruhen. Er musste es schweigend erdulden.
Das Richterkollegium kam jetzt aus dem Beratungszimmer, feierlich, in streng eingehaltener Reihenfolge ihrer Amtswürde. Unter lautlosem Schweigen aller Zuhörer verkündete der Vorsitzende das Urteil und verlas dann die Begründung.
Eilig rafften die Presseleute ihre Papiere zusammen und verließen den Sitzungssaal. Ein so gewöhnlicher kleiner Kriminalfall wie der nächste zur Verhandlung stehende interessierte sie nicht
im mindesten.
Auch der Zuhörerraum hatte sich stark geleert. Nur ein paar Menschen, vermutlich Arbeitslose, die die Zeit totschlagen wollten, blieben zurück.
Ganz unauffällig war Minna Thiele in den Zuhörerraum hereingehuscht. Scheu und verängstigt nahm sie auf der hintersten Bank in einer Ecke Platz. Als Thiele, der zusammengesunken dasaß, sie bemerkte, suchte er ihren Blick. Stumm, aber mit warmer Herzlichkeit ihn grüßend, schaute Minna ihn an. Er fand, dass sie furchtbar mager und blaß aussah. In ihren Augen sah Thiele wieder die flackernde Angst, die er damals, als er Minna kennen gelernt, so oft mit Verwunderung bei ihr wahrgenommen hatte.
Die Verhandlung gegen Thiele nahm nicht so viel Zeit in Anspruch. Nach Auffassung des Vertreters der Anklage und auch nach Ansicht des Gerichts lag der wahre Sachverhalt ja klar zutage. Der Staatsanwalt sprach deshalb kaum zwei Minuten. Er war sich seiner Sache absolut sicher.
Mit hilflos ungläubigem Staunen musste Thiele mitanhören, was für ein »schwerer Junge« er war. Nicht genug, dass er jetzt als überführter Einbrecher vor den Schranken des Gerichts stand, nein, auch sein Vorleben belastete ihn in der übelsten Weise! Wegen versuchten Betruges war ihm die Erwerbslosenunterstützung entzogen worden!!! Wegen Sachbeschädigung war er mit drei Tagen Gefängnis vorbestraft!!! Was er sonst noch alles auf dem Kerbholz hatte, konnte ihm zwar nicht nachgewiesen werden, gab aber gewissen Vermutungen weitesten Spielraum. Bei solchem Vorleben war eben alles möglich!!!
Der Offizialverteidiger gab sich wirklich große Mühe, die ganze Sache ins wahre Licht der Tatsachen zu rücken, versuchte mit warmen Worten, die furchtbare Notlage, in der sich der Angeklagte bei Begehung der Tat unbestreitbar befunden hatte, als Milderungsgrund in die Waagschale zu werfen. Dann wurde Thiele gefragt, ob er selbst noch etwas zu seinen Gunsten zu sagen habe. Stumm schüttelte er den Kopf.
Das Gericht zog sich zur Beratung zurück. Thieles Verteidiger, der im Gespräch mit dem Staatsanwalt auf dem Korridor hin und her wandelte, musste seine erst halbgerauchte Zigarette in einen Spucknapf werfen, so schnell war die Beratung zu Ende. Beide eilten wieder in den Saal zurück. In feierlicher Prozession kamen die Richter gerade aus dem Beratungszimmer heraus.
In geschäftsmäßigem Tone verkündete der Vorsitzende das Urteil. Es lautete: Zwei Jahre Gefängnis!!!
In der kurzen Begründung hieß es wortwörtlich: »Die Arbeitslosigkeit und die Not des Angeklagten kann nicht als Milderungsgrund gewertet werden. Der Angeklagte kann sich nicht auf eine besondere Notlage berufen, sondern teilt nur das Schicksal von zwei Millionen Deutschen. Die meisten von denen halten sich auf ordentliche Art und Weise über Wasser, und ganz wenige, von einem verbrecherischen Trieb besessene, gehen vor die Hunde! Deshalb: bei aller Würdigung der Tragödie der Arbeitslosigkeit muss doch gegen Straftaten, die aus ihr entsprungen sind, mit fühlbaren Strafen eingeschritten werden.«
Ohne den eigentlichen, tieferen Sinn der ganzen Prozedur begriffen zu haben, wurde Thiele in seine Zelle abgeführt. Den Absichten des Gesetzgebers entsprechend, sollte er jetzt durch Verbüßung seiner Strafe sühnen, was die Gesellschaft an ungeheurem Unrecht ihm zugefügt hatte!!!