Hans Marchwitza - Sturm auf Essen (1930)
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Erstes Kapitel

Es ist das Jahr 1918 und Winter.
Schnee fällt.
Die Männer, die den Krieg überlebt haben, kommen heim. Die Zechenhäuser, in die sie zurückkehren, sind grau und schief, und ihr Verputz sieht aus wie das abgeschundene Fell alter Grubengäule. Die „Grabentiere" sollen wieder Väter, Ehemänner, Brüder, Söhne werden. Die Frauen schreien, Mütter schreien, Schwestern heulen : „Er ist wieder da, o mein Gott!" O mein Gott! Die Kinder fragen den fremden Mann, der ihr Vater ist: „Bringst du Brot mit?"
Das Wort „Brot" wirkt wie der Duft von Blumen in einem Märchen. „Heiliges Brot", stammeln die vor Hunger zitternden alten Leute, während sie das ihnen hingehaltene Stück mit aller Scheu hinnehmen. „Die Totgeglaubten dachten an uns."
Einem verhassten, verfluchten Krieg folgte ein verhasster, verfluchter Nachkrieg.
Dunkel sind die Küchen, die Kammern; die Höfe dunkel und die Straßen dunkel. Der Krieg hat Menschen gefressen, er hat Kohle gefressen mit seinem Riesenmaul, er fraß Liebe, Ehen, er fraß die Läden leer; die Zähne des Krieges zerbissen und zerrissen die Wände der Zechenhäuser. Der Krieg nagte die mühsam erkämpften Gardinen von den Fenstern, die Bezüge von den Betten
und die Füße nackt. Er bedeckte die Familien mit Geschwür und Krätze und setzte Rachitis und Hunger als nie mehr weichende Schreckensgäste in die verkommenden Wohnungen der Bergarbeiter.
„Du, das mitgebrachte Hemd will ich einem der Buben umnähen, sie haben fast nichts mehr am Leibe!"
„Du, wenn du doch daran gedacht hättest, noch einige Lumpen mitzubringen, ich hätte den Kindern paar Hosen draus zusammengestoppelt. Hast nicht dran gedacht...!"
Der Krieg kaut an den Wänden, knackend, schreckend. Draußen flattert Schnee.
An einem Dezembertag war auch Franz Kreusat zurückgekommen. Er hatte, nach der bewegten Wiedersehensszene mit der Mutter, seinen verdreckten Soldatenmantel und den Schal abgeworfen und saß stumm und grübelnd am Tisch. „Zu Haus!" Er sagte es mehrere Male zu sich selbst, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er tatsächlich wieder daheim sei. Dieses Glück hatte er sich lange nicht mehr vorstellen können, er hatte daran nicht mehr geglaubt. Er blickte sich halb um, das Gesicht in die Hand gestützt: es war ihre alte Küche. Da stand der gelbe Geschirrschrank, da hing der kleine Spiegel am selben Fleck. Da in der Ecke stand sein Tischchen. Nein, es war kein Traum, er war zu Haus.
„Komm, iss was!" sagte die noch erregt umhertrippelnde Mutter. Sie hatte noch, Gott sei Dank, ein paar Kartöffelchen im Haus gehabt und hatte ihm diese mit einer Messerspitze Fett, der nur selten vorhandenen Kostbarkeit, in dem Pfännchen gebraten. „Komm, iss...!" ermahnte sie und tupfte mit der Schürze die jetzt immer so leicht fließenden Tränen weg. „Komm, iss... Träum nicht!"
Der alte Kreusat, ein großer Mann, aber welk und dürr wie ein kranker, dorrender Baum, saß auf der kleinen Fußbank am Herd und schnaubte. Als ihm der Sohn die Hand gegeben - denn für eine Umarmung fühlten sich beide zu scheu -, hatte der alte Mann geschluckt. Jahrelange heimliche Angst und Sichverfluchen, dass er den Jungen nicht gehindert habe, als er freiwillig wegrannte; der Rest dieser Angst hielt ihm noch die Kehle zu.
Der Junge aß die Kartoffeln, die ihm die Mutter aufnötigen musste. Sie beobachtete ihn dabei und wischte an ihren Augen. Groß und mager war er. Und der düstere, abwesende Blick schreckte sie. Sie wusste nicht, dass dieser Blick, diese sich krampfhaft faltende Stirn, die Unrast, mit der er sich umsah, Flandern, Verdun, Aisne und noch einmal Verdun und noch einmal Flandern waren. Sie wusste nicht, dass er nicht dreiundzwanzig Jahre, sondern fünfzig, hundert Jahre alt war, dass er eine Ewigkeit von Schrecken und Toden durchgehetzt hatte. Sie dachte glücklich: Er ist wieder zurückgekommen!, und sie schnaubte die Tränen in ihre Schürze.
Franz sah sich in der Wohnung um. Alles war noch wie früher, stand fast gespenstisch genau auf dem alten Fleck - aber ein Jahrhundert schien zwischen dem Früher und Heute zu liegen. „Wer ist denn von den anderen noch zurückgekommen?" fragte er.
Einige waren zurück. Von einem ganzen Dutzend vier. Ihre alte Ecke war leer geworden. Auch dieses Erinnern an die alte Ecke lag hundert Jahre zurück.
„Ja - der Freising-Bruno und der Koschewa-Edy sind wieder auf der Zeche am Arbeiten. Nur der Kahlstein rennt noch mit dem Gewehr rum", erzählte ihm die
Mutter. „Der Kahlstein-Hermann war doch bei der Marine in Kiel und ist schon vor zwei, drei Wochen zurück. Er rennt wieder mit dem Gewehr..."
Franz grübelte. Er war vorläufig zu gar nichts entschlossen, er wusste nicht, ob er noch einmal in die Grube gehen oder ob er die Arbeit wechseln solle. Vielleicht mit einer Übertagearbeit. Aber er konnte sich das kaum noch vorstellen, dass er jetzt wieder einer normalen Tagesbeschäftigung nachgehen könne; er fühlte sich noch immer draußen im Graben. Und allen, die das Glück hatten, sich zu retten, erging es wohl ebenso; alle phantasierten sie nachts dasselbe; sie waren noch immer in Flandern oder vor Verdun.
„Du wirst doch wohl auch wieder in die Grube gehn?" wagte die Mutter die schüchterne Frage.
„Das weiß ich noch nicht!" antwortete er erst nach einer Weile, und auf seiner Stirn erschien wieder diese finstere Falte, die sie so schreckte. Er wandte sich halb um und blickte sie fast feindselig an: „Wartest du so sehr darauf? Ich sag' dir, ich weiß nicht, was ich machen werde."
Die Mutter fühlte die Bitterkeit und Unrast aus dem bösen Ton des Jungen und erzitterte.
„Was willst du denn sonst? Du willst doch nicht wieder losziehn?" stammelte sie unter Tränen.
„Nu lass ihn doch", sagte der alte Mann heiser, „er muss sich doch erst etwas zurechtfinden. Plag ihn nicht gleich am ersten Tag!"
„Ich dräng' ihn ja nicht", entschuldigte sich die alte Frau, „gewiss, er soll sich erst etwas ausruhen. Mit der Arbeit eilt es nicht..."
Franz griff nach seinem Mantel.
„Wo willst du denn hin?" fragte sie ängstlich.
Der Junge sah sie einen Moment ungewiss an. „Ich will an die Ecke gehen", sagte er und verließ die Wohnung.
Franz Kreusat stand draußen an seiner alten Ecke. Hier hatten sie früher getobt und gerungen und von Abenteuern gesponnen. Er sah sich um. Keiner der alten Bekannten kam. Eine Schar Jüngerer, sechzehn-, siebzehnjährig, versammelte sich einige Schritte weit von ihm. Die Jungen beobachteten ihn scheu. Er trug ja noch die Uniform. „Das ist Kreusats Franz", flüsterte einer.
Er ging weiter. Die alte Straße, und doch eine fremde Straße. Er sah den rauchigen Himmel, er sah die bekannten Schachtgerüste zwischen den Häusern auftauchen. Er war zu Hause, und doch fühlte er keine Freude, eher eine Beklemmung. Unter den alten Verhältnissen schuften, nein, dazu fehlte ihm jede Lust. Und die Kumpels schinden sich ganz bestimmt wie früher ab, das sah er jedem Grubengesicht an, dem er begegnete. Mit der Revolution ging es ja wieder bergab. Diese Enttäuschung hatte ihn ernüchtert und mit diesem quälenden Argwohn erfüllt, dass seinesgleichen nichts mehr zu hoffen habe... Er erinnerte sich an den einen Tag. Er hatte wie viele nicht glauben wollen, dass so etwas wirklich möglich sei - Revolution! Aber dann, als sich die Massen der Soldaten und Arbeiter durch die Stadt wälzten, da hatte es ihn mitgerissen. Die Reden des einen Matrosen, der aus Kiel gekommen war, versengten ihn, und dann hatten sie die alte Kaserne und das Zuchthaus gestürmt, wo die Deserteure und Abgeurteilten saßen, die sich weigerten, weiter mitzumachen. Und als ihn der eine Kuli heulend umarmte und zu ihm „Genosse" sagte und schrie: „Wir sind frei,
die Schinder haben nichts mehr zu bestimmen" - da hatte er sich das Büchlein ausstellen lassen. Er war Partei geworden, Mehrheitssozialist. Und nun war alles wieder zu Ende. Man spuckte die Revolutionäre nach vier Wochen Umsturz an! Verbrecher, Verräter...!
An der Hoffrone-Schenke, vor der doppeltürmigen Kirche, kam ihm ein älterer Mann in einer abgeschlissenen Uniform entgegen. Franz Kreusat erkannte ihn trotz des ausgehöhlten Gesichts. Es war der Karl Labisch, sein früherer Strebenkumpel.
„Na, auch zurück?" Auch Labisch schien nicht sehr glücklich zu sein mit seinem Nachhausekommen. „Komm", sagte er, „lass uns in die Schenke reingehen, ich habe keine Lust, nach Haus zu gehn."
Franz Kreusat ließ sich mitziehen.
Sie tranken das schale Bier.
Labisch grübelte.
„Weißt du, man hätte sich vorher eine Kugel durch den Schädel schießen sollen", sagte er. „Man kommt aus einem Dreck heraus und in einen anderen hinein. Die Plagen abgerissen und barfuss, und das Weib schaut einen an, als brächte man die Rettung. Verflucht, man könnte gleich wieder fortrennen." Er verlangte von dem träge gähnenden Wirt ein paar Schnäpse.
„Die musst du dir selber brauen. Ich hab' kein' zu verkaufen! Es gibt nichts mehr, seit ihr den Rummel gemacht habt!" brabbelte der dicke, fleischige Mann.
„Du hast schon was!" schrie Labisch zornig. „Gib's her!"
Der Wirt zögerte noch, sagte: „Die kosten aber etwas!" „Egal!" schrie Labisch, „schenk ein!"
Der Wirt brachte die Gläser mit dem Schnaps.
Labisch zahlte die verlangten drei Mark, knurrte: „Alles Spitzbuben!" und trank. Er begann wieder: „Ich habe tatsächlich keine Lust, unter diesen Verhältnissen wieder in der Grube herumzukriechen. Nicht mit zehn Pferden kriegen sie mich hinein. Ich komm' doch nicht nach dem ganzen Mist nach Haus, um hier zu hungern und mich noch um nichts und wieder nichts im Pütt abzuschinden."
„Wo willst du denn sonst hin?" warf Franz Kreusat missmutig ein. „Es bleibt dir doch nichts anderes übrig."
Labisch hatte das Glas Schnaps ausgetrunken und forderte von dem Wirt noch eins. „Sauf!" befahl er Franz.
Franz Kreusat betrachtete nach dem Schluck das gehetzte Gesicht des Kumpels. „Was willst du denn sonst anfangen?" wiederholte er seine Frage, und etwas wie Hass regte sich bei dem Anblick des verstörten Menschen. „Ich hab' mir das überlegt", bemerkte Labisch nach längerem, finsterem Grübeln. „Ich melde mich einfach zu dem neuen Grenzschutz. Man sucht Leute dafür und bezahlt nicht schlecht. Auch das Fressen ist bei der Truppe besser. Die Familie müssen sie ja unterstützen", sagte er. „Ich hab' von verschiedenen gehört, dass sie sich dort ganze Koppel Gäule requirieren und für sich verscheuern. Hier gehst du ja mit Glanz vor die Hunde... Ich hab' es mir überlegt, ich geh' und melde mich. Machst du mit?" fragte er mit dem Blick eines Wahnsinnigen. „Ich sag' dir, nur der Spitzbube lebt heut gut. Man war einmal ein anständiger Mensch, aber man hat an diesem anständigen Menschen so lange herumgeschunden, bis er ein Lump wurde. Sind wir denn heut mehr als Lumpen? Heut anständige Arbeit? Ich will nicht lachen...", und er lachte, lachte, bis er sich verschluckte. Er fragte heiser: „Gehst du mit, oder willst du dich hier begraben?" Franz Kreusat schwieg. Labisch redete weiter auf ihn ein.
„Ü berleg dir die Geschichte. Wenn wir so lange den Dreck ausgewetzt haben, dann können wir mit ruhigem Gewissen auch den guten Teil mitnehmen. Hier verkommt man doch vollends. Wenn man die Kinder ansieht, das fremd gewordene Weib, dann könnte man zur Axt greifen und alles totschlagen." - Ob er mitgehe?
Diese wahnsinnigen Augen! Das hassvolle, höhlige Gesicht. -
Franz Kreusat trank, um nicht in dieses Gesicht schauen zu müssen, seinen Schnaps aus; er trank, obwohl das Glas leer war. Nein, nicht diesen Irrsinn, nicht diesen Weg. „Ich werde es mir überlegen", sagte er, als Labisch mit seinem Drängen nicht nachlassen wollte. Er zog den Betrunkenen hinaus. „Geh nach Haus, Mensch, schlaf erst mal aus..."
„Kommst du mit?" drohte Labisch und presste in Wut seinen Arm. „Hier krepierst du. Ich sag' dir, komm mit mir!"
Franz Kreusat ging wieder allein. Die Schachtsirene heulte wie ein Tiger... Höööö... !
Er ging an einem Schacht vorbei. Es war sein Schacht. Er sah einige Scharen Kumpels aus der Grube kommen. Der eine und andere rief ihn an. „Franz...! Fränzchen, bist auch schon da?"
„Dann kannst du ja wieder in die Grubenplorren steigen", riefen sie. „Mensch, immer noch: schipp-schipp hurra!"
Er hörte die Hammersignale. Die Mittagsschicht kroch wieder nach unten in die Löcher. Soll ich wirklich hinunter? grübelte er. Soll ich mit Labisch losziehen? Er hat recht, hier wird man wieder hoffnungslos schleppen müssen.
Er ging im freien Feld. Schnee flatterte. Es tat ihm wohl.
Unterhalb des Salkenberges breitete sich die Stadt Essen aus: grau, flammend. Kamine und Kamine, Rauch und Rauch. Hämmerdröhnen und Pfiffe von Lokomotiven. Eintönige, von Narben und Rissen bedeckte Häuserzüge, Ruß, Schlackestaub und der Geruch von brennender Kohle und glühendem Eisen. Es war seine Ruhr, seine Erde, seine Heimat. „Ich bin zu Haus...", sagte er sich, „... zu Haus...!"
Er kehrte um. „Ich werde nicht davonrennen", sagte er sich.
Er blieb wieder an der alten Ecke stehen.
Er hörte in einem der gegenüberliegenden Häuser ein Bandoneon. Das Lied kannte er, sie hatten es früher hundertmal gesungen. Der Bandoneonspieler konnte nur Bruno Freising sein.
Franz steckte die Finger zwischen die Zähne und pfiff.
Oben im Fenster erschien der bekannte schwarze Schopf, aber das Gesicht war älter und fast fremd.
Bruno Freising kam nach ein paar Minuten herunter. Er reichte Franz die Hand. „Mensch, gut, dass du wieder da bist!" sagte er. „Ja, ich bin wieder da", sagte Franz.
Sie wollten wie früher eine Unterhaltung anfangen, aber sie waren sich irgendwie fremd geworden, und es blieb nur bei einigen nüchternen Fragen.
„Was macht der Edy?" fragte Franz. „Ach, der, der zeigt sich fast gar nicht mehr unten", lachte Bruno Freising, „er sitzt jetzt immer bei irgendeinem Weib, oder er schläft. Und was soll man auch sonst mit sich anfangen?"
Sie trennten sich, nachdem sie noch eine halbe Stunde so zusammen gestanden hatten.
„Sie wissen mit sich nichts anzufangen", sagte Franz, als er nach oben ging. „Die letzte Geschichte hat sie nicht aufgemuntert. Sie bleiben die gleichen."
Franz stand am anderen Nachmittag wieder an der alten Ecke. Er lehnte sich an die Mauer wie früher. Die Straßenbahn rappelte vorbei. Frauen mit mageren, mürrischen Gesichtern, ärmlich bekleidet, Männer mit blauen Narben stiegen aus, Kumpels von den entfernt liegenden Schächten. Dürr und krumm. Unten waren Bruchwüsten aufzuräumen. Der Krieg hatte Kohle gefressen, die Brüche fraßen die Menschen.
Zwei Männer kamen in Soldatenuniformen; ein abgemagerter älterer, mit grauem, zernarbtem Gesicht, der andere in einer Kulibluse. Beide hatten Gewehre über der Schulter hängen. Sie gingen langsam auf ihn zu.
Franz erkannte den Kuli. Erfreut rief er: „Hermann !"
Der Matrose blieb stehen. „Bist du's, Franz?"
„Mensch, Hermann!" rief Franz Kreusat erstickt. „So eine Freude. Wir beide sind da... !"
Auch der Ältere war ihm noch bekannt. Das war doch der Fritz Raup, der ihnen früher, vor dem Krieg, in der Waschkaue lange Reden gegen den Kapitalismus gehalten hatte. An alles erinnerte sich Franz Kreusat in diesem Augenblick...
„Was treibst du?" fragte der breitschultrige Kuli und rückte an dem Gewehr.
„Was soll unsereiner treiben?" antwortete Franz Kreusat. „Gar nichts!"
„Du siehst doch", meldete sich Raup, „an der Ecke stehen sie. Sie haben nichts zu tun. Eine faule Gesellschaft ist das!" Er wandte sich mit einem Blick der Verachtung ab und spuckte zur Seite. „Die denken doch nicht, etwas Gescheites zu tun. In Berlin werden die Genossen totgeschlagen, und die Gesellen lungern faul an den Ecken rum."
„Lass doch", sagte ihm Kahlstein, „er ist ja erst gekommen." Und er drehte sich wieder zu Franz Kreusat um. „Wir sind älter geworden, Fränzchen", sagte er, nachdem er ihn länger angeschaut hatte. „An unserer Ecke hier siehst du niemanden mehr von den alten Jungen."
„Keinen mehr", sagte Franz Kreusat und sah sich um.
„Die Zeit hat sich geändert", sagte Kahlstein. „Ich denke", forschte er, „du bist nicht ganz blind durch die letzten Wochen gerannt und weißt, was sich abspielt. Wir haben heut anderes zu tun, als hier an der Ecke zu stehen und zu träumen..."
„Ach, was hat das für einen Zweck, dieser teilnahmslosen Gesellschaft von unserer Mühe zu erzählen", meldete sich der Raup wieder. „Sie duseln alle ... derweilen verbluten unsere Menschen. Hier ist jedes Wort in den Wind geredet..."
Der Kuli sagte ärgerlich: „Poltre doch nicht immerfort, er wird sich auch noch besinnen." Er sagte zu dem grübelnden Franz Kreusat: „Er hat schon recht. Die alten Leute müssen sich mit den Gewehren rumschleppen, weil die Wehr auseinander rennt. Und in Berlin würgen sie unseren Kampf ab... Natürlich wirst du nicht wie ein verlorenes Schaf hier an der Ecke herumstehen", sagte er, während der Ältere empört schwieg. „Mit dem Spinnen ist es doch ein für allemal aus..."
Franz Kreusat durchlebte in diesen Minuten alle schönen und verfluchten bitteren Erinnerungen. Rasend stürmten sie über ihn her. Ihre Jugend war draußen geblieben. Die Phantasterei, ihr Spiel, ihren Leichtsinn, ihre Träume hier an der Ecke wieder zu finden, erschien ihm jetzt kindisch. Da stand der Hermann vor ihm, einer der früheren Jungen, mit älter gewordenem, ausgeträumtem, strengem Gesicht. Und dass er selber nicht mehr der frühere Franz Kreusat war, das Fränzchen, das sagte ihm Kahlsteins noch immer peinigendes Suchen und Forschen in seinem Gesicht und Blick.
„Du starrst darein, als interessiere dich gar nichts mehr", hörte er den Kuli ungeduldig sagen. „Jeder, der heut noch ein Gewissen hat, der regt sich und hilft. Komm und hol dir ein Gewehr! Wir können die Geschichte doch nicht aufgeben. Die Banditen möchten uns gern wieder entwaffnet sehen; dann sind alle unsere Opfer umsonst gewesen..." Er sah den grübelnden Franz vorwurfsvoll an. „Überlege nicht zuviel. Man schlägt uns die Genossen tot, die ohne Hilfe dastehen. Kommst du, Franz...?"
Franz Kreusat starrte den Freund unentschlossen an. „Ich wollte keins dieser verfluchten Dinger mehr anfassen..." Er sah Raups kleine, blauen Augen, in denen nur Groll und Verachtung lebten.
„Du kommst", ermahnte Kahlstein. Er fasste seine Hand: „Komm!"
„Ich weiß nicht", sagte Franz.
Kahlstein sagte noch einmal: „Du wirst kommen!"
Franz sah der Gestalt des Freundes nach; er ging noch wie auf dem Schiff, den breiten, wiegenden Schritt der Matrosen. Kahlsteins harter Blick sagte, dass er sich nie ergeben werde. Wollte er sich ergeben? Da war einer, der ihn nicht mehr für ein Kind und nicht für einen Lump hielt. Komm...! hatte er ihm gesagt, nimm ein Gewehr!
Die Kumpels von der Morgenschicht kamen vorbei. Bleich, abgewrackt, streitend, zwiespältig. Er konnte ihre Auseinandersetzungen hören. Der Hunger schürte ihre Wut. „Man soll mit dem unseligen Streit aufhören und nicht noch mehr Zwietracht schüren. Hindenburg freut sich darüber, und Noske kann sagen: ,Mit dieser Masse wird man leicht fertig."
„Noske!" schrie ein anderer, „seid ihr nur wie Noske! Der weiß, was ihr mit eurem Radikalismus anzettelt. Die Schädel schlagen wir uns gegenseitig ein..."
„Krupp regiert wie vor dem Krieg, und Stinnes regiert wie vorher, es hat sich nichts geändert. Der ewige Hader muss beendet werden, der ist unser Unglück...!"
„Ja, Stinnes herrscht wie früher. Nichts haben wir mit dem neunten November gewonnen. Die Gören nagen die Tische an. Die erbosten Weiber treiben uns Kerle zur Schicht..., schafft Kleidung, schafft Fressen. Woher nehmen und nicht stehlen? Der ewige Hader, der verdammte, muss unter uns aufhören..."
Der Hader stapfte mit fahlen Wutmienen und vor Erschöpfung einknickenden Knien vorbei... „Die Revolution? Lasst mich nicht lachen... Die Revolution ist tot! Es geht bergab, weiter bergab..."
Der Vater kam aus dem Haus, groß, ausgetrocknet wie ein kranker Baum. „Nun, Junge, was willst du tun? Hier an der Ecke stehen bleiben?"
Sie sahen sich an.
„Geh rauf, die Mutter wartet auf dich!" sagte der alte Mann und ging seufzend weiter.
Franz Kreusat hatte sich nach einem schweren Zwiespalt entschieden. Er hüllte sich fester in den Mantel und setzte sich grübelnd in Bewegung. Seine Gedanken eilen, sie wiederholen: In Berlin schlagen sie die Genossen tot.
Kahlstein und Raup hatten ihn aus einem wirren Traumzustand geweckt. Vielleicht war der Kuli, der ihn damals umarmt hatte, auch schon erschlagen. Er wollte nach Berlin.
Franz dachte an die Mutter. Die wird natürlich wieder entsetzt sein, wenn er mit einem Gewehr im Haus auftauchte. Sie möchte ihn lieber wie früher daheim hocken und friedlich die Romanhefte lesen sehen; sie möchte ihn noch einmal in die Windeln einpacken. Sie träumt von besseren Verhältnissen, wenn er wieder arbeiten wird.
Da stampften die fluchenden Verhältnisse, krumm und lahm von der Grubenarbeit, die sich noch in nichts geändert hatte. Diese Verhältnisse änderten sich nie, ehe man nicht den Schindern an die Kehle ging.
Da torkelte ihm der Labisch entgegen. „Kommst du mit?" heulte er ihn an. „Beim Grenzschutz kannst du in einem Tag einen guten Ramsch machen, und du bist aus dem Dreck... Komm...!"
Franz riss sich mit Mühe von dem schwatzenden, schwankenden Mann los, der ihn wieder in eine Kneipe mitziehen wollte. „Ich will nichts trinken, es hat keinen Sinn. Gib der Frau die paar Mark, versauf sie nicht... I" „Kommst du mit? Komm, ich weiß, wo der Laden zu finden ist, wo sie auf uns warten", schrie der Betrunkene.
Franz Kreusat drehte sich nicht um. Die Angst vor diesem Nichtsmehr jagte ihn schneller. Ja, er hatte einige Minuten erwogen, ob es nicht doch ein bequemerer Weg sei, bei dieser neuen Truppe mitzumachen. Man brauchte ja nicht mit den anderen zu räubern, vielleicht gab es anständige Jungen dabei. Man konnte unter Umständen die Dummheiten und Gemeinheiten der Irrsinnigen verhindern, wenn man dabei war. Jetzt aber, als er Labischs stumpfes Gesicht wieder gesehen, schauderte ihm vor dieser Gesellschaft. Er quälte sich, zu begreifen, wie ein Mensch, der früher zwar gegen seine Umwelt gleichgültig, aber nicht bösartig gewesen war, sich so verwandeln, so widerlich, hässlich werden konnte.
Das waren Tiere, Aasgeier, die der Krieg wieder entließ, die sich jetzt, nach einer verfehlten Glückssuche - auch Labisch war freiwillig in die Uniform gestiegen -in neue, Ungewisse Abenteuer stürzten. Er war ihnen gleich nach dem Novembertag überall begegnet, diesen abgewetzten, verstumpften und entwurzelten Gestalten. Sie stanken nach den Kaschemmen der Etappe, die Leichenfledderer, der üble Tross des Krieges, graue und blutjunge Gesichter, mit Gefreitenknöpfen und Tressen, die Bordelle füllend, dreckige Zoten erzählend. Den Sumpf gewöhnt, nur noch im Sumpf lebend, waren sie die ersten, die wieder von Werbebüros, von Grenzschutz und Freiwilligentruppen redeten. Nein, mit diesem Gespinst war es für ihn aus.
Aber war der Weg, den Kahlstein eingeschlagen hatte, der richtige? Ich hätte vielleicht lieber der Mutter nachgeben und nach der Zeche gehen sollen, dachte er. Man sollte sich einfach dem Gegebenen beugen, es ist vielleicht doch nichts daran zu ändern. Man sollte sich fügen, schuften und sparen und heiraten. Die Alten müssten dann etwas zusammenrücken, bis eine andere, erträgliche Zeit käme. An ein Mädel denkt man fast gar nicht mehr - man ist doch kein Mönch geworden. Wirklich, man müsste sich nach einem guten Mädel umsehn und heiraten. Das war' ganz nach dem Sinn der Mutter, und vielleicht das einzig richtige, was ein Mensch tun kann, der drei Jahre draußen rumgehetzt wurde...
Franz Kreusat war an der Wache. Er war schon mehrere Male daran vorbeigekommen, ohne einen Entschluss zu fassen, die Gedanken rasten mit ihm umher; nun stand er abermals da. Hineingehen oder umdrehen? Was werden die Alten sagen, wenn ich mit dem Gewehr komme? Die Mutter wird sich vor Schreck umbringen.
Ging er hinein, dann hatte er zu etwas „ja" gesagt, mit dem er schon längst zu Ende zu sein glaubte..., denn mit der Novembergeschichte ging es offensichtlich bergab. „Du kommst!" sagte Hermann Kahlstein, und deshalb war er hergegangen. Du kommst! Er erinnerte sich an Kahlsteins älter gewordenes, ausgeträumtes Gesicht -und ging hinein.
In der Essener Straße tauchten weitere Heimkehrer auf. Auch Kleinemann war aus dem Krieg zurückgekommen. Kleinemann war der Krämer an der Ecke. Er war als Landsturmmann gV eingezogen gewesen und hatte seinen Dienst als Wachmann in einem Kriegsgefangenenlager ausgeübt.
Kleinemann, den man gewöhnlich „Herr Kleinemann" nannte, war abends gekommen, weil er einen vollen Koffer und Rucksack und noch einige wichtige Kisten mit sich schleppte. Es hatte viele Umwege und Schwierigkeiten gekostet, aber die Sachen waren gerettet, und man konnte sie in dieser speck- und butterlosen Zeit gut gebrauchen. Herr Kleinemann war wie viele Heimkehrer ebenfalls mit der roten Tuchkokarde angekommen; die war auf jeden Fall ein guter Ausweis, und die Leute von der Soldatenwehr ließen sich mit diesem Abzeichen gern blenden. So eine rote Tuchkokarde wirkte oft besser als der klug geschriebene Ausweis eines befreundeten Kompanieschreibers. Ein tüchtiger Geschäftsmann hatte seine Augen und Ohren überall und allezeit offen, und Herr Kleinemann hatte sich immer als einen guten Geschäftsmann betrachtet.
Herr Kleinemann war wieder zu Hause. Er packte den Inhalt des Koffers, des dicken Rucksacks und der Kisten in der guten Stube aus, weil er hier keine unliebsamen Blicke zu befürchten hatte. Er verstaute die Sachen in sichere Verstecke, denn im Laden konnten sie vielleicht durch ihren Duft auffallen und sich verraten. Sie waren seine persönliche Angelegenheit. Noch in später Abendstunde brutzelten Bratkartoffeln mit Speck und einigen Eiern. Er bangte nur wegen des verräterischen Geruchs, der alle hungrigen Fetzen anziehen könnte.
Der einzige Alpdruck, den Herr Kleinemann nicht los wurde, war der Laden. Der war eine Wüste geworden. Bis auf einige Karten-Lebensmittel, die er um keinen Preis in der Welt fressen würde, standen nur leere, schon faulende Kisten und Schachteln herum. Und das Schaufenster war der gleiche Friedhof; da standen noch immer die rot und gelb angemalten Holzkäse, die er Siebzehn hineingestellt hatte, und die leeren Haferflockenschachteln. Das war der verfluchte Alpdruck, der Herrn Kleinemann die gute Nachtmahlzeit verleiden konnte. Es war aber nicht nur dieser eine Alpdruck; noch ein zweiter hatte sich seit dem Zusammenbruch eingestellt: die paar tausend Mark, die er in die Kriegsanleihen gesteckt hatte, waren hoffnungslos schwimmengegangen. Die vertrauten Leute hofften zwar, diese unsicheren Verhältnisse würden nicht lange anhalten und die eingezahlten Gelder könnten unter Umständen noch einmal gerettet werden. Mit diesen Auskünften versuchte er seine apathische Frau zu trösten.
Die schien aber nüchterner zu rechnen. Sie antwortete: „Dieses Geld können wir ruhig in den Schornstein schreiben, davon wird niemand, nach der Lage der Verhältnisse, je auch nur einen Kupferpfennig zurückbekommen."
Diese müde, verdrossene Frau mit der unheilvollen Skepsis war ein weiterer Alpdruck.
„Womit wollen wir denn in Zukunft den Laden weiter erhalten?" sagte die Frau. „Ich glaube", murrte sie, „du wirst jetzt, wie die meisten Krämer, in die Grube gehen müssen, wenn wir leben wollen!"
Herr Kleinemann würgte den Bissen herunter. Dieses Weib war in dem leeren Laden irrsinnig geworden. „Ich in die Grube gehn? Du bist wohl da oben nicht mehr ganz richtig?" lachte der kleine, rothaarige Mann böse. Er war noch rundlich wie ein Fässchen. Sein Gesicht war ebenso rund und schüttelte sich jetzt empört: „Dann geh' ich schon lieber als Kneipenkellner mein Brot verdienen, aber in die Grube geht ein Kleinemann niemals. Verstehst du - niemals!"
„Dann wirst du hier hinter den leeren Kisten alt und grau werden", quälte die Frau verdrossen.
„Ich habe mich mit einigen der Bauern, die mir auch diese mitgebrachten Sachen besorgt haben, etwas angefreundet, und ich werde diese guten Beziehungen gelegentlich ausnutzen", beruhigte er sie. „Die meisten
sind heut Gauner, sie hamstern und schieben, warum soll ich hier hinter der leeren Theke versauern!" Er schlang wieder mit größerem Appetit.
Auf der Schwelle erschien ein schmächtiger Junge von vielleicht vierzehn Jahren mit wirrer Mähne und missmutigem, frechem Blick.
„Nun, futtre nicht alles auf", sagte er zu dem kauenden Krämer, „ich möchte auch noch was haben."
Herr Kleinemann unterbrach sein Kauen. Er brummte etwas. Der heranwachsende Bursche war auch ein Alpdruck. Er überließ dem Sohn mit Widerstreben den Rest der Mahlzeit. „Ich möchte aber nicht, dass du heimlich in den Kisten rumschnüffelst", sagte er zu dem Jungen, der sich sofort über das übriggelassene Essen hermachte. „Ich will nicht haben, dass die anderen Leute davon etwas erfahren, sonst steigen sie uns noch nachts durchs Fenster. Aber auch so muss damit sparsam gewirtschaftet werden, es soll auf längere Zeit reichen. Ich weiß nicht, wann ich die Quelle wieder aufsuchen kann." „Reg dich nicht künstlich auf", antwortete der Sohn kauend, „wenn du hier bist, dann wird unsereiner wohl kaum noch dran kommen. Man kennt dich ja..."
Herr Kleinemann schluckte seine aufsteigende Wut hinunter. „Der Bursche hat ein reichlich loses Maul", brummte er und blickte giftig auf die Frau, die dem jungen Kerl anscheinend die Zügel zu locker ließ.
Vater und Sohn maßen sich einen Moment mit den Blicken.
Der Bursche kaute gleich weiter.
Der Krämer seufzte und ging in die gute Stube, um die mitgebrachten Sachen noch sicherer unterzubringen. „Frech wird der verfluchte Bengel! Man muss der jungen Bande wieder mal die Kandare straffer ziehen!"
Am nächsten Tag ging der Krämer hinaus, um sich ein wenig umzusehen und die Stimmung der Leute zu erforschen. Er hatte die rote Kokarde von seiner Mütze abgenommen; so stieß man jedenfalls weder bei den einen noch bei den anderen an. Er wollte sich vorerst neutral halten, das war sein Vorsatz. Auch seinen Extrarock hatte er in den Schrank gehängt und nur den alten Wachrock angezogen, wie auf der Bahn. Er war ein guter Geschäftsmann und wollte nach Möglichkeit alles Auffällige vermeiden. So wie die Masse rumlief, so lief auch er; und wenn der Wind mal wieder von der gefährlichen Seite wehte, dann würde man sich auch noch zu helfen wissen. Man hatte ja in den letzten vier Wochen allerlei zugelernt.
Herr Kleinemann kontrollierte vor allen Dingen die Schaufenster und den Inhalt der anderen Läden. Er fühlte Genugtuung: alle Läden zeigten dieselbe und noch schlimmere Öde wie sein Laden.
„Wenn unsereiner nichts haben soll, dann sollen die anderen alle auch nichts haben. Gut so", sagte er sich schadenfroh, „die Zeit ist gerecht. Wenn verrecken, dann soll alles verrecken. Aber Kleinemann verreckt noch nicht - er hat seine guten Beziehungen..."
Er betrat die Wernersche Schenke gegenüber der Kirche, um einen Schnaps zu trinken und sich drinnen ein wenig umzuschauen.
Hinter dem Stammtisch gähnte ein junger, starker
Kerl. Herr Kleinemann erkannte in ihm den Willi
Werner, der als Kriegsfreiwilliger ins Feld gegangen war.
„Ha... der Kleinemann!" lächelte Willi und rekelte
sich.
„Ja, Kleinemann!" antwortete der Krämer. „Wir sind wieder zu Haus. Es wird auch Zeit, dass unsereiner kommt, denn sonst geht es mit dem Rest auch noch drunter und drüber."
Willi, der sich noch nicht entscheiden konnte, ob er die unterbrochene Bergschule wiederaufnehmen oder noch länger in der elterlichen Kneipe lümmeln solle, beobachtete den heimgekehrten Krämer.
„Was gedenkst du hier anzufangen?" fragte er ihn endlich, während Herr Kleinemann von seinem Schnapsglas nippte und ihn seinerseits lauernd beobachtete. „Mit dem Laden ist es doch Dreck..."
„Ein ganz großer", gab Herr Kleinemann mit einem Seufzer zu. „Und man sieht noch gar nicht, wie das weitergehen soll."
„Mist...", knurrte der Wirtssohn.
Wieder belauerten sie eine Minute lang einer den anderen.
Keiner wollte mit einer offenen Frage oder Antwort herausrücken.
„Verfluchter Mist...!" sagte auch Herr Kleinemann, denn „Mist" sagte heute fast jeder, und das war nicht verfänglich.
Draußen waren langsame, schwere Schritte zu hören. Willi Werner stand auf und ging an ein Fenster. Sein dickes, schläfriges Gesicht verzog sich einen Augenblick in Hohn.
Auch Herr Kleinemann war an ein anderes Fenster getreten und sah hinaus. Zwei Leute mit Binden um den Arm und mit Gewehren über den Schultern gingen auf der Straße.
„Vom Soldatenrat?" bemerkte Herr Kleinemann fragend.
Willi warf ihm einen Wutblick zu und schlenderte wieder hinter seinen Stammtisch.
Der Krämer wusste genug. Hier war man keineswegs von der Revolution erbaut. Hier konnte man im Notfall etwas hören, wie man sein Verhalten balancieren solle. Er trank den Rest Schnaps aus, sagte noch einmal: „Mist..." und ging, um sich draußen noch weiter umzusehen.
In keinem Laden sah es besser aus; alles Wüste, Mist, wie seiner. Gut so...!
Da kam einer in Uniform und mit der Armbinde. Herr Kleinemann blieb eine Minute lang mit offenem Mund stehen. „Wirklich? Oder täuschen mich meine Augen... Der Stübel...! Der Gemüsefritze..."
Stübel hatte ihn gleich wieder erkannt und kam auf ihn zu.
„Servus. Du wunderst dich, dass du mich in diesem Aufzug siehst?" sagte er etwas verlegen, „aber, wie gesagt, wer sich heut nicht nach der Decke streckt, der geht vor die Hunde", entschuldigte sich der ehemalige Gemüsehändler.
Herr Kleinemann überlegte schnell, wie er sich diesem Kerl gegenüber verhalten sollte. So sagte er nur: „Das stimmt. Ich habe jetzt auch genug Zeit, mich in meinem Laden umzusehen, ein Dreck ist übrig geblieben. Man muss wieder ganz von neuem anfangen."
„Mit dem Neuanfangen können wir noch sehr lange warten", entgegnete Stübel. „Verhungern kannst du bis dahin. Ich hab' mich einfach kurz entschlossen, mit der Soldatenwehr rumzutrampeln. Und schließlich ist unsereiner ja doch von der Menge abhängig..."
„Das stimmt", sagte Herr Kleinemann noch einmal. Er studierte dabei das Gesicht des Gemüsehändlers, von dem er wusste, dass er immer ein geriebener Spekulant gewesen war.
„Ich würde mich an deiner Statt ebenfalls zu so was entschließen", riet ihm Stübel. „Kurz und schmerzlos... Wenn man leben will, kann man nicht lange wählen..."
„Das stimmt", bestätigte Herr Kleinemann noch einmal. „Wenn man leben will, kann man nicht wählerisch sein... Ich will es mir überlegen!"
Stübel, der noch gar nicht so verhungert aussah, denn auch er hatte seine heimlichen Beziehungen, die er nicht gern anderen verriet, prüfte erst eine Weile das Gesicht des Krämers. Er glaubte, dem konnte man etwas mehr sagen. Und er sagte vorsichtig und lächelnd: „Man weiß auch nicht, wofür es noch gut ist, dass man dabei ist. Die vielen Gerüchte deuten darauf, dass es bei dem radikalen Kurs nicht lange verbleiben wird..., und es ist vielleicht nicht ausgeschlossen, dass sich eine vernünftigere Politik durchsetzt..."
„Das wäre tatsächlich zu wünschen", seufzte Herr Kleinemann und dachte in plötzlicher Wut wieder an die Gelder, die in der Kriegsanleihe steckten und wohl verloren waren.
Stübel beobachtete ihn.
„Ich rate dir", verabschiedete er sich von ihm, „komm und überlege nicht zuviel... !"
Herr Kleinemann blickte nach den Fenstern der Wernerschen Schenke. Er drehte um. „Der Stübel ist ein alter Gauner", sagte er sich, „wenn einer seine Fahne nach dem Wind aushängt, dann ist er es... Aber man sollte sich die vorgeschlagene Geschichte überlegen.“
Der Krämer begegnete den Bergleuten, die aus der Morgenschicht zurückkamen. Die rot entzündeten Augen tief in den Höhlen, Flüche und Dreck speiend, ausgelaugt und krumm von der Kohlenarbeit. Das war das
Letzte, das ihm zugemutet werden konnte. „Das Weib ist oben nicht mehr ganz richtig... Dann befolge ich schon lieber den Ratschlag des Gemüsefritzen! Was sich der junge Kerl in der Schenke denkt, das ist mir Wurscht... Der Mensch muss in jedem Wasser schwimmen können..." Sein Entschluss stand fest - er ging morgen nach der Wache.
Unterwegs stieß er auf den Bäcker Schwerlich, der sich - niemand konnte raten, mit welcher Fürsprache -die ganzen vier Jahre daheim rumgedrückt hatte.
„Na, auch schon zu Hause?" begrüßte ihn der noch gut gefütterte Bäcker.
„Was, auch schon...", entgegnete der Krämer, „ich denk', es war Zeit. Nicht jeder hatte das Glück, einen guten Onkel irgendwo sitzen zu haben...", bemerkte er boshaft.
Schwerlich wollte nicht auf diese fühlbare Spitze eingehen. Er hatte ja nur das getan, was viele andere Schlauberger getan hatten. Ihm lag im Augenblick mehr daran, Kleinemanns Haltung zu den heutigen Geschehnissen zu erforschen. Er sagte: „Die Verhältnisse haben sich schwer geändert, man pendelt heut ein wenig in der Luft rum. Wie steht es mit Ihnen...?" Die hellen Augen in dem rosigen Gesicht verrieten Lauern... „Wie finden Sie die neuen Verhältnisse? Ich wenigstens", fuhr er fort, „ich bin buchstäblich bankrott. Und man weiß nicht, wie lange dieser Zustand noch andauern wird..."
Das ist deine Strafe, dachte Herr Kleinemann zufrieden, du hast mit deiner Drückebergerei auch nichts retten können. Gott sei Dank! Er gab sich alle Mühe, seine Schadenfreude nicht zu verraten; er fühlte die rasende Neugier des Bäckers, der wissen wollte, wie er sich zu der Revolution stelle. Herr Kleinemann stellte sich überhaupt nicht, weder so noch so; man wusste ja noch gar nicht, wie die Dinge weiterliefen. „Das mit dem Bankrott stimmt", antwortete er, „der hat manchen erschlagen, dieser Bankrott. Es ist tatsächlich eine Riesenpleite..."
„Sehn Sie", ging der Bäcker darauf ein, „eine Riesenpleite, ja, das können wir sagen. Nun sagen Sie, wie kommt man jetzt aus dieser Pleite heraus. In absehbarer Zeit doch wohl kaum. Und dann bei den heutigen Zuständen...?"
„Bei diesen Zuständen schon gar nicht", vergaß sich Herr Kleinemann jetzt ein wenig, denn ihm waren seine mit der Kriegsanleihe verlorenen Tausender wieder eingefallen. „Unter diesen Umständen kaum noch!" wiederholte er in Wut.
„Sie sind also derselben Meinung", sagte der Bäcker, mit der Antwort des aufgeregten Krämers zufrieden. „Und was sollen wir tun, um diese wahnsinnigen Verhältnisse wieder in eine normale Bahn zu lenken? Denn unter diesen Verhältnissen besteht kaum eine Hoffnung, dass sich unsereins je wieder aufkratzen kann. Dann besteht auch noch jeden Tag die Gefahr, dass einem der Rest aus dem Laden geräubert wird. Man muss doch endlich wieder an den eigenen Schutz denken."
Herr Kleinemann wurde in seinem Vorsatz, den er nach seiner Unterredung mit dem Gemüsefritzen gefasst hatte, wieder schwankend. Er wagte aber darüber vor dem Bäcker nicht zu reden. „Ich lass es lieber sein", sagte er sich, „es könnte nur Missverständnisse erregen." Doch anklopfen wollte er, wie sich Schwerlich dazu stellte. Er klopfte vorsichtig an: „Mancher, der vor derselben Pleite steht, hat ganz einfach einen billigeren Ausweg gesucht. Ich meine zum Beispiel den Stübel!"
Schwerlich lächelte ingrimmig: „Reden Sie nicht von dem, der weiß auch noch nicht, wo er eigentlich hingehört. Der Stübel hängt seine Fahne heut so und morgen so aus..."
Herr Kleinemann lächelte. „Ja, er hängt sie aus, wie gerade der Wind geht... Jajajaja...!"
„Morgen, wenn diese rote Geschichte schief geht", sagte der Bäcker, „hängt er sie wieder andersrum..."
„Natürlich hängt er sie wieder andersrum...", bestätigte Herr Kleinemann und spuckte aus.
„Also", verabschiedete sich Herr Schwerlich dankbar, „jeder anständige Mensch sieht gern wieder eine vernünftige Ordnung einkehren."
„Jeder anständige Mensch!" sagte Herr Kleinemann. Jeder ging nach seiner Richtung. „Jeder anständige Mensch", redete Herr Kleinemann für sich weiter, „sieht zu, dass er, gleich wie, aus diesem Bankrott wieder rauskommt." Sein Entschluss stand felsenfest: „Ein Kleinemann lässt sich von keinem noch so schlauen Fuchs aufs Glatteis führen. Den Gauner Stübel habe ich auf den ersten Blick durchschaut. Aber einen Kleinemann führt der nicht aufs Glatteis!" Er beschloss, die guten Beziehungen zu den befreundeten Bauern noch zu verstärken. Diese Quelle hatte er vor dem Bäcker mit keinem Wort erwähnt. Das war seine ureigene Angelegenheit...
Als er sich seinem Laden näherte, sah er die Kumpels, die aus der Morgenschicht gekommen waren, in kleinen Gruppen vor den Häusern hocken. Er blieb bei der nächsten Schar einen Augenblick stehen... „Ja, wir sind also wieder zu Haus", sagte er, „aber was trifft man hier an? Nun, man braucht es euch nicht zu erzählen. Jeder spürt es ja am eigenen Leibe."
„Das spürt jeder von uns, ja", lachte der große Zermack, „nicht jeder wird heut mit Täubchen gefüttert!" fügte er boshaft hinzu.
„Jajajajaja...", seufzte der Krämer und beobachtete genau jedes Gesicht. „Und man sieht noch gar nicht, wie die Dinge weiterlaufen?"
Es war ein behutsamer Tastversuch, aber er merkte, dass sich diese mageren, ausgedorrten Gesichter in plötzlicher Wut und in Hohn verzogen.
„Wir hätten die Spitzbuben nicht so sanft anfassen sollen", brummte der viereckige alte Koschewa, und er kaute heftiger an seinem Priem. „Wir hätten sie nacheinander einsperren und nicht mehr herauslassen sollen! Aber es ist noch nicht aller Tage Abend."
Der andere, es war der Stamm, ein ebenso harter, knochiger Mann, schwieg.
Der Krämer fühlte diese Unterhaltung unangenehm... „Jajajaja", brummte auch er also, um nicht den Anschein zu erwecken, er sei einer anderen Meinung.
„Aber es ist tatsächlich noch nicht aller Tage Abend", wiederholte Koschewa, und an seiner gefurchten Zapfennase konnte Herr Kleinemann feststellen, dass dieser eine mit sich schon sicher nicht handeln lassen würde.
In dieser hungrigen, immer wut- und hasserfüllten Umgebung hatte Herr Kleinemann oft dieselben Anwandlungen gehabt gegen die Herren von den Zechen; denn von denen hatte es ja immer abgehangen, ob er die vielen Schuldenlatten bezahlt bekam, oder ob diese Hungerleider gezwungen würden, weiter ankreiden zu lassen. Er glaubte, hier kein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen. Und weil ihm wiederum das verlorene Geld einfiel, musste er einmal seinem Herzen Luft verschaffen... „Jajaja... alles war ein verdammter Betrug, und unsereins konnte darauf hereinfallen. Man hätte mit den Gaunern wirklich anders verfahren müssen - ich hätte da an der Spitze sein dürfen..."
„Sei still", brummte der Zermack und sah ihn an, „du warst ja auch einer von denen, die für den Sieg waren. Da, jetzt hängen uns allen die Fetzen vom Hintern. Und beguck dir deinen Laden..."
„Jajajaja...", grollte der Krämer, „ausgeplündert, wie leergefegt. Jaja, man hätte mit den Spitzbuben anders verfahren sollen."
Er ging und redete für sich in wachsender Wut: „Die Gauner, alle können getrost wieder hinterher rennen, ich werde mir künftighin erst jeden Schwindler genau ansehn... Das werde ich bei Gott tun... Vom Krieg her hängen noch die Kreidelatten, die werden wohl niemals mehr bezahlt werden!"
Voller Gift betrat er seinen Laden, der ihn still und leer wie ein Grab empfing.

 

Zweites Kapitel

Franz Kreusat ging seit einer Woche mit einer roten Armbinde und einem Gewehr auf der Straße. Er war gleich wieder ernüchtert worden und schwankte, ob er nicht einen falschen Schritt getan hätte.
Im Arbeiter- und Soldatenrat bekämpften sich die Parteien in erbitterter Feindschaft, und auch die Wehr drohte, durch diese Gegensätze gespalten, allmählich auseinanderzurennen. Raup und Kahlstein hielten die Kumpels mit Mühe beisammen und versuchten die Lücken wieder zu stopfen. So eine Lücke musste Franz Kreusat jetzt ausfüllen. Er fühlte sich in diesem Zwiespalt selber wie auseinander gerissen, denn außer seiner Abneigung gegen die Kasernen und die Schinder wusste er von den politischen Dingen, die sich abspielten, soviel wie gar nichts. Zum Glück war der Hermann Kahlstein da, und seine Festigkeit blieb unerschüttert. Auch die anderen Kulis, es waren ihrer noch ein halbes Dutzend, waren gute Burschen, und sie schienen zu wissen, worum es ging. Es sei vernünftig, dass er komme, sagten sie. „Die Jungen müssen die Karre wieder flott machen. Die Alten fressen sich auf!"
Schließlich traf er noch eine Anzahl anderer Bekannter, den Renteleit, den er vom Schacht her kannte, und den Wirrwa; beide wohnten in der neuen Zechenkolonie auf dem Salkenberg. Auch auf den großen schwarzen Zermack stieß er einmal im Arbeiter- und Soldatenrat; Zermack war vor dem Kriege sein Rutschenältester gewesen. Zermack und Raup gehörten der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei an, der sich noch verschiedene der anderen jüngeren Wehrleute angeschlossen hatten. Sie hielten enger zusammen, und sie beherrschten auch den Ton in den sehr widerspruchsvollen, ja oft stürmischen Versammlungen.
Franz Kreusat ging öfters mit dem jungen Christian Wolny oder mit dem schweigsamen Kramm Patrouille. Christian Wolny war in seinem Alter. Sein rundes, gutes Gesicht und seine hellen Knabenaugen hatten Franz Kreusat gleich gewonnen. Vielleicht wurden sie darum so schnell Freunde, weil in beiden noch viele verborgene Wünsche und Hoffnungen träumten. Und doch waren sie im Charakter ganz verschieden; Franz Kreusat schwankte immerfort und fühlte sich an manchen Tagen düster wie eine Grubennacht; er schleppte an seinen schweren Erinnerungen wie an Bergen.
Christian dagegen war immer leicht und unternehmend und nannte Franz „Grübler" und „Griesgram", wenn dieser alles schwärzer sah. „Mensch, schau doch nicht so verdrossen darein", stieß er ihn aus seinem Grübeln, wir werden bald neue Stürme erleben. Mensch, ich lass' die Hoffnung nie fahren. Erst muss sich der Schlamm legen, verstehst du, damit man das Gute von dem Unrat unterscheiden kann."
Kramm war gröber, und er neigte weniger zu Phantastereien und Träumen. Auch ihm war nie ein Stück Brot geschenkt worden. Seine Hände waren groß und schwer vom Kohleschaufeln, und sein Gesicht trug, obwohl er noch keine dreißig Jahre zählte, schon die blauen Narben der „ewigen Bergleute". Deshalb seine Liebe für Spartakus, deshalb seine Wut, wenn die Dummköpfe auf der Wache von dem verrückten Stübel, den man merkwürdigerweise zum Wachhabenden gemacht hatte, alarmiert, mit den Maschinengewehren und Handgranaten hinaushetzten. Stübel, der sich immer - wenigstens auf der Wache - sehr radikal aufführte, hatte es verstanden, sich dieses Postens während der Verwirrung zu bemächtigen, anscheinend mit Unterstützung der „Mäßigen" im Arbeiter- und Soldatenrat.
Die meisten der anderen Wachleute waren gleichgültige und abgestumpfte Schlepper; auch einige kleine Geschäftsleute, durch Stübel angezogen, waren darunter. Sie drehten sich heut nach dieser und morgen nach jener Parteirichtung, wie die Ereignisse gerade für die eine oder andere günstiger erschienen. Heute verdammten sie Noske als Kaisersozialisten und am nächsten Tage die Unabhängigen als schlapp und wankelmütig, und nächstens die Spartakisten, weil diese keine Ruhe gäben. Diese Sozialisten wirkten wie vielbeinige Insekten, die sich nach allen Seiten zugleich zu bewegen versuchten. Dieser Zustand verwirrte Franz Kreusat, und wenn er nicht an den Unabhängigen einen stärkeren Halt gefunden hätte, dann hätte er das Gewehr schon am ersten Tag wieder abgegeben.
Auch die alten „Mehrheitler" zogen ihn nicht sonderlich an, obwohl Franz Kreusat durch sein Buch ebenfalls Mehrheitssozialist geworden war. Es waren ihrer wohl an die zehn; einige waren vom Schacht und die anderen aus den umliegenden Werken. Franz Kreusat schien es, als lebten diese Genossen nur ihren vergangenen Erfahrungen, und er hatte den Eindruck, als wären sie auf dem halben Wege, rückwärts schauend, stehengeblieben. Nur sobald es ihnen einer der Jüngeren vorhielt, dann fuhren sie wild auf: „Und ihr Grünschnäbel? Ihr rast mit eurem Wahnsinnstreiben in den offenen Abgrund! Es lässt sich nichts im Handumdrehen ändern. Auch die Politik verlangt Geduld und ruhigere Überlegung !"
Diese „Geduld und ruhigere Überlegung" empfanden die Jungen wie einen unbequemen Strick, an dem man sie immer zurückhielt, wenn sie sich eiliger vorwärtsbewegen wollten.
Zwischen Raup und Tauten tobte jeden Tag der Streit. Tauten, ein rundlicher, älterer Mann mit einem Spitzbart, war Mitglied der Mehrheitssozialdemokratischen Partei und Ortsvorsitzender des Alten Bergarbeiterverbandes.
„Ihr seid Sklaven eurer Geduld", warf Raup Tauten vor. „Noske lässt in Berlin die Arbeiter abschlachten, ihr predigt aber noch weiter Geduld und ruhige Überlegung! Ihr überlegt euch noch zu Tode, und uns mit!"
„Noske!" knurrte der spitzbärtige Tauten. „Die Notwendigkeit zwingt ihn manchmal zu scheinbar ungerechten Maßnahmen. Übt Geduld und Vernunft, es lässt sich nichts übers Knie brechen."
Kramm antwortete: „Noske beordert die alten Schlächter mit dem Schutz der Republik... Das ist der Tod der Revolution."
„Es stimmt nicht! Noske und Scheidemann geben das Heft nicht aus der Hand!" erwiderte Tauten brummig. „Treibt nicht zu solchen Auseinandersetzungen wie in Berlin, dann brauchen die neuen Opfer nicht zu sein ... Jedes, auch ein neues Staatsgefüge braucht seine Ordnung, und eure Unzufriedenheit stört diese Ordnung immerfort."
„Ach, was hat das noch für einen Sinn, mit dir zu streiten!" erregte sich Kramm. „Ihr habt euch nun einmal mit eurem Noske festgerannt und kommt aus der falschen Bahn nicht mehr raus."
Tauten beharrte auf seinem Standpunkt: „Noske und Scheidemann sind Sozialisten und Genossen, sie werden schon wissen, was notwendig ist."
„Euer Paktieren mit den Reaktionären ist unser Untergang! Siehst du denn das nicht!" schrie Raup.
„Ja, es ist tatsächlich der Untergang", erwiderte ihm Tauten vorwurfsvoll, „weil ihr niemals vernünftig denkt. Unsereiner hat seine Erfahrung..."
Franz ging mit Kramm durch die einsame nächtliche Straße.
Frauen mit Säcken bebürdet huschten an ihnen scheu vorbei; sie kehrten von ihren weiten Hamsterfahrten zurück und keuchten abgehetzt. Sie sahen die Wehrleute als ihre Feinde an, weil eine Patrouille einigen die Säckchen mit den Kartoffeln abgenommen hatte. Stübel hatte es angeordnet, bei Nacht jedermann anzuhalten; das Diebeswesen nähme überhand.
Franz Kreusat glaubte, die gemurmelten Flüche der verängstigten Frauen zu hören: „Tagediebe! Canaillen!"
Ja, man hielt sie für Tagediebe. Die Mutter berichtete ihm jeden Tag, was die Leute sich über sie erzählten. Wozu die jungen Faulenzer noch mit dem Gewehr auf der Straße herumtrotten, frage man; alle vernünftigen Mannsleute seien wieder an ihre normale Arbeit zurückgekehrt, nur die letzten spinnen noch weiter von Revolution. Auch sie sollten sich endlich bequemen und in die Grube gehen und nicht Wächter spielen, wo nichts zu bewachen sei.
Franz schrie sie an: „Lass mich mit diesem Geschwätz in Ruh!" Er nahm sein Gewehr und lief wieder wütend fort.
Frau Kreusat zitterte vor Erschrecken. „Der rast sich jetzt wirklich verrückt!" klagte sie.
„Lass ihn gewähren!" schrie plötzlich auch der Alte in Zorn. „Er ist kein Kind. Was willst du immer von ihm? Er muss doch selbst wissen, was er macht!"
Sie schwieg und tupfte mit der Schürze ihre Augen ab.
Mehrere Male wandelte Franz wieder das Verlangen an, das Gewehr abzugeben und lieber seine Arbeit im Schacht wiederaufzunehmen; aber Christian Wolny wurde böse: „Jetzt, wo wir jede einzelne Hand brauchen, willst du das Gewehr hinschmeißen? In Berlin fließt Arbeiterblut, unsere Genossen stehen dort ganz allein! Die Meute ist hinter ihnen her. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg müssen sich vor den Mördern verborgen halten. Geh also, wenn du kein Gewissen hast!"
Franz Kreusat blieb.
„Mensch, Franz", sagte an manchen Tagen Christian, „weißt du, ich möcht' für mein Leben gern jetzt in Russland sein. Dort haben sie einen Kerenski zum Teufel gejagt, und die Herren Generale müssen rennen. Mensch, ich versteh' nicht", trauerte er, „dass es bei uns nicht vorwärts gehen will, verdammt. Ich sag' dir, hier fehlt ein Lenin! Die russischen Arbeiter haben ihren Lenin, verstehst du, das ist es!"
Lenin! Franz Kreusat hörte jetzt öfters diesen Namen... Lenin! Er wusste nicht, wer es sei, aber dieser Mann musste eine Art Zauberer und Wundertäter sein. Christian erzählte, dass die russischen Arbeiter und Bauern zu diesem Lenin wie zu einem neuen Heiland aufschauen, aber zu einem Heiland, der ihnen predigt: „Genossen, gebt die Gewehre nicht aus den Händen! Traut keinem Schuft von General oder den sanften Burschuas, sondern kämpft, bis die konterrevolutionäre Brut sich in die Mäuselöcher verkriecht; und auch da werden wir sie noch rausholen und heraustreiben. Glaubt nicht den salbungsvollen Worten der Heuchler, denn sie sind gefährlicher als Gift. Werdet nicht weich, wenn die weichen Hände der Burschuas eure plumpen Soldaten- und Bauernhände streicheln, denn sie sind gefährliche Bestienkrallen, die euer Tod sind, wenn sie sich um eure Kehle legen. Traut keinem Zarenknecht, keinem, der euch sagt: Die Armut hat sich immer unterzuordnen'. Arbeiter und Bauern, haltet eure Gewehre, kämpft, hetzt die Mörder aus dem letzten Winkel Russlands, und dann seid ihr von dieser Geißel für immer erlöst. Eure Befreiung kann nur durch euch selber kommen..."
„Das ist Lenin, ja!" erzählte Christian. „Die russischen Bauern und Arbeiter hätten sich lieber zerreißen und kreuzigen lassen, ehe sie auf ihren Lenin verzichtet oder ihn gar den Mördern preisgegeben hätten. Nur unsere Masse lässt sich verwirren und gibt Karl und Rosa den Canaillen preis", trauert Christian. „Sechs Wochen nach der Revolution müssen sie sich vor der Soldateska versteckt halten, verstehst du? Und wir trotten hier wie Idioten in den Straßen, und in Berlin warten die Genossen vergebens auf Hilfe..."
Fritz Raup sagte an einem Nachmittag zu Franz: „Komm mit, wir haben heute eine Sitzung des Arbeiter - und Soldatenrats, werden dich da vielleicht brauchen." Franz Kreusat nahm sein Gewehr und ging mit. Er wohnte einer solchen Sitzung zum ersten Mal bei. Die Redner der beiden Arbeiterparteien waren die Parteisekretäre Schigalski und Teichmann. Schigalski, ein mittelgroßer, dicklicher Mann mit immer mürrischem, schon faltigem Gesicht, verteidigte in seiner Rede die „Zentralen Beschlüsse und Entscheidungen", um die es in dieser Sitzung ging, und bekämpfte jeden selbständigen Vorschlag der „Linken", die er offensichtlich hasste und als dauernde Unruhestifter behandelte.
Teichmann, ein großer, zur Fülle neigender Mann mit einem weichen, rosigen Gesicht, pflegte jedes Mal mit der Redensart zu beginnen: „Wir von der Linken müssen dagegen opponieren..." Aber nach einer langen Rede, in der er noch mehrere Male seine Opposition gegen die „Zentralen Beschlüsse" zum Ausdruck brachte, wandte er sich an die schweigenden Unabhängigen mit dem versöhnlichen Ratschlag: „Ich denke, ich habe auch in eurem Sinne gesprochen, Genossen. Aber damit die Genossen von der Rechten nicht denken, dass wir eine eigene Geschichte betreiben wollen, bin ich dafür, dass wir die oben gefassten Beschlüsse - ich betone: mit Vorbehalt - anerkennen!"
Der größere Teil der Unabhängigen nickte zu Teichmanns Vorschlag, und nur eine Minderheit, das waren Zermack, Fritz Raup und einige Genossen von den Zollvereinschächten, wandten sich gegen die Zustimmung. Miller, der Vorsitzende des Soldatenrats, der mit angestrengt arbeitendem Gesicht dasaß, schien noch unentschieden zu sein.
Zermack meldete sich zu Wort. Er war groß, hager und von jener Ruhe, bei der man nie erraten konnte, ob sie nicht in der nächsten Minute zu einem gefürchteten Sturm umschlug. „Wer sind denn die Leute, die diese zentralen Anordnungen treffen?" fragte er, und in seinen stark überbuschten Augen war all seine Abneigung gegen diegedrechselten Reden" zu sehen. „Der Zentrale Arbeiter- und Soldatenrat ist ein Sammelsurium von gefügigen Dummköpfen und eingeschlichenen Saboteuren, Offizieren und Feldwebeln", sagte er, „die von den reaktionären Stäben in die rückkehrenden Regimenter eingeschmuggelt wurden. Das ist der Inhalt des Zentralen Arbeiter- und Soldatenrats. Jawohl! Und Noske bedient sich jetzt seiner gegen die Revolution. Was sind das denn für revolutionäre Beschlüsse, sich selber preiszugeben", fragte der große Mann grollend, „wie der Beschluss auf der letzten Vollkonferenz in Berlin, in der man der Reaktion wieder das Recht lässt, ihre Vertreter in die Nationalversammlung zu schicken?"
Schigalski unterbrach ihn empört: „Fang doch nicht wieder mit den alten Geschichten an! Wir können unmöglich hier die Moskauer Zustände einführen. Dagegen wehrt sich das ganze Volk."
„Ihr fragt ja das Volk nicht mehr nach seiner Meinung", antwortete ihm Zermack, „ihr hört nur noch auf die Meinung eines Stinnes und. Krupp und schaut närrisch nach euerm Hindenburg, der euch die Generale Gröner und Lüttwitz als Berater und Beschützer der Republik bereitstellt, aber die Meinung der Arbeiter bedeutet euch allen nichts. Der Zentrale Arbeiter- und Soldatenrat ist nicht mehr unsere maßgebliche Instanz", fuhr der Häuer fort, „er hat sich durch seine Abhängigkeit und Preisgabe der Revolution selbst gerichtet. Und ich rede im Interesse der Arbeiterklasse, wenn wir diesen reaktionären Arbeiter- und Soldatenrat und seine Beschlüsse und Anordnungen ablehnen. Wir verlangen eine radikale Säuberung der Arbeiter- und Soldatenräte und Wiederherstellung der im November erkämpften Rechte. Nicht die Reaktionäre und Banditen sollen uns Wahlen und Gesetze vorschreiben, sondern wir selber werden vorschreiben, was den Arbeitern hilft."
Teichmann wandte ein: „Ich muss dir in einigen Dingen widersprechen, Genosse Zermack. Es stimmt, dass sich manche unfähige und unsaubere Elemente in die Arbeiter- und Soldatenräte eingeschmuggelt haben, aber um so mehr ist es unsere Aufgabe, jetzt nicht auf eine weitere Zersplitterung hinzuarbeiten. Lass es dir versichert sein, dass sich unsere Unabhängige Partei über alle Maßnahmen, die oben getroffen werden, die Kontrolle vorbehält, und wir sind nicht so rasch zu verdrängen oder durch einige Wirrköpfe zu täuschen, das weißt du..."
„Ihr werdet nicht nur getäuscht, ihr täuscht euch längst selber und rennt auf den Abweg wie alle, die sich zu Fürsprechern dieser Blutordnung gemacht haben", warf Fritz Raup ein.
„Ihr habt euch einfach in eure Wahnwitzideen verrannt und kommt davon nicht mehr los", knurrte Schigalski. „Wir müssen zu einem Ende kommen", sagte er aufgeregt und sah Miller an, der den Vorsitz führte. „Die Abstimmung soll zeigen, ob man für eine verständige Politik oder für ein weiteres Unglück ist. Wer sich eigensinnig von der Mehrheit entfernt, der soll dann nicht klagen, wenn die Mehrheit ihre Ordnung nach ihrem Ermessen sichern wird. Ich verlange die Abstimmung", wandte er sich noch einmal an Miller.
Teichmann nickte zustimmend. Miller blickte verdrossen die kleine Schar der Opposition an. Er ließ abstimmen.
Die überwiegende Mehrheit war, wie schon immer in der letzten Zeit, für die Anerkennung der „Zentralen Beschlüsse".
Auch Teichmann hatte für die Beschlüsse seine Hand erhoben und fragte Miller: „Warum enthältst du dich der Stimme?"
Miller, der weder dafür noch dagegen gestimmt hatte, antwortete: „Ich kann nicht so eilig für das eine sein, ohne das andere gründlich zu überlegen."
Schigalski ging zufrieden weg. Er hatte wieder gesiegt und lief eilig in die Stadt in sein Büro, wo ihn eine neue Sitzung erwartete.
Teichmann rechtfertigte vor Zermack und Fritz Raup seine Stellungnahme: „Genossen, ihr müsst verstehen, dass unsere Partei es nicht leicht hat, sich gegen alle Anfeindungen jederzeit zu behaupten, und wir müssen auch mal zuweilen ja sagen, wo unser Herz dagegen ist. Wir wollen auch bei den bevorstehenden Wahlen nicht hintenan bleiben, was geschehen kann, wenn wir uns zu sehr von der Masse absondern... versteht es!"
Zermack sagte: „Ich bin gegen alles Komödienspiel. Die Masse geht mit uns, wenn wir nicht auch noch den Betrug mit ihr treiben. Diese Zentralen Beschlüsse und die Rechte, die ihr unseren Feinden einräumt, sind der Tod unserer Revolution..."
Sie verließen das Rathaus, Miller blieb verdrossen.
„Warum hast du uns diesmal nicht unterstützt?" fragte ihn Zermack mit einem Vorwurf.
„Warum?" erwiderte Miller unwillig, „weil ich die Zerrissenheit sehe und sie nicht auch noch fördern will. Es ist unser Unglück, dass wir als Sozialisten immer weiter auseinanderstreben..."
„Es ist nicht unsere Schuld", warf Zermack ergrimmt ein. „Die Schuld tragen Noske und Scheidemann, die mit den Mördern zusammensitzen und unsere Mühe verhöhnen. Und unsere Unabhängigen wissen sich auch nicht zu entscheiden, wozu sie gehören, und machen diese verderbliche Politik mit. Wenn wir hier unten nachgeben, dann haben wir uns selbst das Grab geschaufelt..."
Millers Gesicht wurde düsterer. Er schwieg.
Franz Kreusat war, von all dem Gehörten noch ganz verwirrt, wieder nach der Wache gegangen. Er fühlte sich selber wie auseinander gerissen.
In den „Zentralen Beschlüssen" war auch die Absicht der Konterrevolutionäre zu erkennen, die Entwaffnung der Soldatenwehren fortzusetzen und den Arbeitern nach und nach alle Waffen abzunehmen. Die Rote Matrosendivision, die im November in Berlin zur Unterstützung der Beauftragten-Regierung zusammengestellt worden war, sollte auf Hindenburgs Ratschlag durch die III. Gardeschützendivision abgelöst und ersetzt werden. Noske war damit einverstanden.
Die Berliner Arbeiter und die Matrosen hatten sich gegen diese Entwaffnung erhoben, und der Kampf gegen die III. Gardeschützendivision und gegen die konterrevolutionären Bürgerwehren tobte schon seit mehreren Wochen.
Franz Kreusat, der anfangs glaubte, mit dem Beitritt in die Wehr sich nur der erdrückenden Einsamkeit zu entziehen und als Freund Kahlstein einen Gefallen zu erweisen, strudelte plötzlich mitten in diesem Strom von neuen Aufregungen und Gegensätzlichkeiten und Meinungskämpfen, und weil er noch völlig ohne eigene Meinung dazwischen schwamm, geriet er jeden Tag mit sich in immer neue Widersprüche. Jetzt waren ihm Zermack und Fritz ein starker Halt, wie sie es vielen waren, die dieselben Widersprüche mit sich durchzukämpfen hatten.
Fritz Raup merkte Franz den Zwiespalt an. „Du darfst nicht gleich wieder allen Mut verlieren", sagte er ihm, als sie in einer Nacht gemeinsam einen Wachegang machten. „Die Revolution ist kein loses Spiel, das unsre Klassenfeinde und die Noske-Genossen aus ihr machen wollen. Es gehört ein klarer und fester Wille dazu", erklärte er ihm, während sie langsam die Straße hinaufgingen. „Hör nicht auf Schigalskis Reden, aber hör mit ebensolchem Misstrauen Teichmann zu. Der hat sich nur äußerlich von der Sozialdemokratischen Partei gelöst, aber innerlich hängt er noch mit allen Stricken daran. Auch die Teichmanns sind mit dem trägen Gang und dem Verrat einverstanden, auch wenn sie ihre Opposition hundertmal betonen in ihren Reden. Wenn sie gute Genossen wären, dann würden sie Karl Liebknechts Warnungen beachten, der wieder von allen Hunden gehetzt wird. Lerne aus den Geschehnissen, Junge", sagte der Häuer, „wir müssen immerfort lernen. Wir müssen uns, wenn sie uns zum Verderben werden wollen, von solchen Genossen wie Teichmann trennen, denn sie sind mit ihren öligen und schlüpfrigen Zungen ebenso gefährlich wie Schigalski mit seiner Sturheit und Bequemlichkeit. Aber es ist nicht mehr Bequemlichkeit oder Sturheit bei Schigalski", fügte er nachdenklich hinzu, „es ist offener Abfall, offener Verrat an sich selber und an uns allen..."
„Warum duldet ihr eigentlich solche Leute in der Wehr, wie Stübel?" fragte Franz, der sich an den zweideutigen Mann erinnerte. „Wenn ich meine eigene Meinung sagen soll, dann muss ich gestehen, dass dieser Mann es nicht aufrichtig mit unserer Sache meint."
„ja, das ist auch so ein Wolf, der rasch ein Schafsfell angezogen hat", nickte Fritz Raup. „Aber diese kleinen Spekulanten werden von Schigalski und Teichmann gehalten. Heute gehen sie mit einer großen roten Tuchkokarde umher und können nicht schnell genug alle großen Gauner umbringen, aber morgen bieten sie sich wieder diesen großen Gaunern bereitwillig gegen uns an, und man wird ihre Dienste gern annehmen, denn sie sind noch hündischer ergeben als vorher. Du siehst", sagte der Häuer, „dass wir mit tausend Widerwärtigkeiten zu kämpfen haben. Wir dürfen unsern Mut nicht verlieren. Um so teurer soll uns deshalb das begonnene Werk sein", sagte er, du siehst: es fällt uns nichts als Geschenk in den Schoß, jeder Tag, jede Stunde kosten Sorgen und Opfer und Kämpfe gegen alle Niedertracht..."
Fritz Raup schwieg eine Weile im Nachdenken.
Die Nacht war von einer lauernden Stille, und Franz glaubte, das laute Schlagen seines Herzens zu hören. Er begriff immer mehr, dass er mit dem Gewehr eine neue, schwere Pflicht übernommen hatte. Doch er nahm diese Pflicht lieber auf sich, als jene sinnlose Pflicht, die ihn nach Flandern und Verdun geführt und seine Jugendträume vernichtet hatte.
Stübel hatte eines Tages sein Amt als Wachthabender abgegeben. Er trat aus der Wehr aus. Weil sein Geschäft ihn brauche, hatte er erklärt. An seiner Stelle teilte jetzt Herr Loew, der dagebliebene Wachtmeister der alten Blauen Polizei, den Wachdienst ein. Herr Loew hatte eine Anzahl auf der Wache umherliegender Gewehre wegholen lassen, niemand wusste zu welchem Zweck. Loew sagte, es sei eine Anordnung von oben. Niemand konnte auch dieses „Oben" kontrollieren.
Kramm riet den Kulis, die noch umherhängenden Gewehre und das Maschinengewehr beiseite zu schaffen, bevor man auch diese weghole.
Franz, den sie ins Vertrauen zogen, zögerte; er wollte sich nicht in irgendeine gefährliche Geschichte verwickelt wissen; aber Kramm wurde wütend: „Willst du, dass sie uns eines Tages mit diesen Knarren den Rest geben?"
Franz half, noch widerstrebend, das Dutzend Gewehre während der Nacht wegzuschleppen.
Kramm und Christian Wolny hatten sie in Verwahrung genommen. Bei den beiden waren die Dinger sicher.
Herr Loew kam jeden Morgen mit dem gleichen undurchdringlichen Dienstgesicht. Er redete sie alle immer mit „Meine Herren" an und hielt sich strikt mit einer eigenen Meinung aus den Debatten fern; doch wer ein gutes Gefühl hatte, der spürte, dass Herr Loew die „Roten" wie die Pest hasste und sie in alle Höllen wünschte.
Herr Loew begann eines Morgens mit einem „Meine Herren, ich muss es tun; es ist mir anbefohlen worden", die Nummern der anderen Gewehre zu notieren! Am Nachmittag wurde von Loew und einigen anderen Männern nochmals eine Anzahl der noch herumstehenden Gewehre abgeholt.
„Siehst es?" machte Kramm Franz aufmerksam. „Die Knarren, die wir weggeschafft haben, wären jetzt auch verloren gewesen, denn ich glaube beileibe nicht, dass die anderen in gute Hände gekommen sind! Es ist unsere Entwaffnung und Vorbereitung noch anderer Überraschungen."
Kramm fragte Herrn Loew, wer das mit dem Notieren und dem Wegholen der „überflüssigen" Gewehre angeordnet hätte.
Herr Loew sagte: „Ich habe den Auftrag vom Arbeiter- und Soldatenrat."
Als sich Kramm bei Fritz Raup und Zermack erkundigte, wer Loew diesen merkwürdigen Auftrag gegeben habe, die Waffen wegschaffen zu lassen, antworteten beide, sie wüssten von einem solchen Auftrag nichts.
„Das ist mindestens wieder der Schigalski gewesen", brummte Zermack verdrossen. „Unser guter Genosse Miller lässt sich auch von den Reaktionären und Reformisten plattreden. Der Teufel hole diese ganze Gesellschaft", grollte der große, grobe Mann, „sie geben keine Ruhe und hören nicht eher mit ihrem Gestöhne und Pendeln auf, bis die ganze Geschichte wieder verfahren ist!"
Sie begaben sich zu Miller - er war ein noch junger, mittelgroßer Mann mit einem immer mürrischen, strengen Gesicht, das einschüchternd wirkte, wenn es sich einem der vielen Fragenden zuwandte.
Miller antwortete, als Zermack nach den Auftraggebern fragte, fahrig: „Was wollt ihr denn hier mit dem vielen nutzlosen Kram anfangen? Wir haben die Gewehre an den Zentralrat abgeliefert, der wird sie besser verwenden können als wir in unserem Nest!"
„Du lässt dich immer mehr von der reaktionären Bande einwickeln", warf Zermack dem Obmann erzürnt vor. „Du solltest besser achtgeben, dass sie uns nicht wieder in den Sack stecken."
Miller antwortete ungehalten: „Ich will nicht immer mit den anderen um jedes Ding tagelang rumstreiten. Ihr könntet auch einen Teil der Verantwortung übernehmen und nicht immer erst ankommen, wenn etwas schon beschlossen ist!"
Miller war Unabhängiger, aber er war immer mit sich im Widerspruch.
Die Wehrleute um Kramm wollten wissen, wo die weggeholten Gewehre geblieben waren. Sie verlangten, dass sie zurückgeholt werden sollten.
Die Arbeiter- und Soldatenwehr hält eine Versammlung ab. Die Arbeiter- und Soldatenräte reden vor den Belegschaften gegeneinander. Kein einigender Beschluss kommt zustande. Die einen verlangen die Gewehre und Hilfe für Berlin. Tauten fordert Vernunft. Sie kämpfen bis zur Erschöpfung, einer gegen den anderen, und reden von Spaltung, verfluchen die unglückselige Zerrissenheit.
Tauten grollt: „Übt doch um Gottes willen Vernunft. Was wollt ihr denn mit den vielen Gewehren? Was wollt ihr in Berlin? Greift doch nicht wieder den Geschehnissen vor..."
Der Betriebsratsobmann Heise redet erstickt: „Einigen wir uns doch endlich, lassen wir den sinnlosen Kampf untereinander ruhen. Überlassen wir es doch der Regierung, wieder Ordnung zu schaffen..."
„Du hast sie ja! Deine verfluchte Ordnung!" schrie Kramm. „Was willst du denn noch? Die Genossen verrecken doch täglich in dieser Ordnung!"
Miller spricht heiser vor Anstrengung: „Unser Untergang wird durch die Zwietracht besiegelt. Ihr redet von Ordnung, und wir können uns hier unter uns wenigen nicht einig werden, was wir tun wollen."
„Bestien müssen an die Kette gelegt werden", schrie Kramm. „Eine Ordnung, wie sie in unserem Sinne steht, kann nur durch uns selber geschaffen werden."
Miller sieht übernächtigt aus, fast grau in dem noch jungen Gesicht; er ist kaum älter als Kramm. Wenn Miller spricht, wird es im Saal etwas ruhiger - man hört ihm zu. Geht er wieder, ist man unzufrieden; auch er zeigt niemals einen klaren Weg. Und tritt ein anderer auf, gehen die Wogen von neuem hoch.
Eine fahle, qualmende, dichtgepackte Menge horcht finster und voller Argwohn zu. Sie schreit im Protest auf: „Absägen und zum Teufel jagen und bessere an die Stelle der Faulenzer setzen!"-„Fressen sollen uns die Herrschaften besorgen und nicht in Trägheit verfaulen wie die frühere faule Gesellschaft."
„Die frühere Gesellschaft - die frühere Gesellschaft ist ja noch da; das ist das Unglück!"
„Ruhe, die Sozialisierung marschiert..."
Heulendes Gelächter.
„Auch Miller marschiert jetzt mit Schigalski und Tauten. Die Sozialisierung marschiert. Sie marschiert sich tot, wie wir uns totmarschiert haben..."
Die Versammlung löst sich auf wie ein großer Schwarm grauer, abgehetzter Vögel.
Die nächste Versammlung ist nicht besser. Sie endet nicht anders. Der Wutschrei nach Fraß übertönt das Geknatter der Todessalven in Berlin.
Auch Raup und Zermack rennen von einer Konferenz zur anderen, wie Miller. Zermack ist ein ruhiger, gelassener Mensch, und sein Wort hat Gewicht, wenn er in die widerspruchsvollen Debatten hineinruft: „Schlagt euch nicht gegenseitig die Zähne ein, bewahrt sie euch lieber für die Büttel. Auch du", sagt er zu Tauten, „wirst ihre Klauen spüren, wenn du nicht bald zu Verstand kommst."
Tauten schaut ihn nur wütend an. „Belehre mich nicht, ich weiß, was ich zu tun habe. Ihr könnt mir nur dankbar sein, dass ich nicht allen Wahnsinn billige und für eine normale Politik eintrete. Ihr sollt euch auch besser mit Miller verständigen, der langsam wieder zur Besinnung kommt. So wie bisher können wir nicht weiterfahren", knurrte der alte Verbändler, Zermacks Drängen missbilligend.
Zermack lachte wütend: „Ihr habt euch wahrhaftig alle verschworen; alles, was wir unter blutigen Mühen gewonnen haben, wieder willenlos den Reaktionären zu überlassen..."
Er ging missmutig.
In einer solchen Versammlung hatte Franz Kreusat Edy Koschewa getroffen, der mit Bruno Freising gekommen war. Die beiden arbeiteten wieder in der Grube. Der Krieg hatte, obwohl sich alle drei mühten, das frühere Verhältnis wieder aufleben zu lassen, doch eine unsichtbare Mauer zwischen sie gestellt. Edy Koschewa und Bruno Freising waren schon früher phlegmatische Naturen und gingen lieber irgendwo zum Tanz oder in eine Kneipe, um dort ganze Nachmittage am Kartentisch zu sitzen. Franz, der schon immer ein ernster Mensch war, spürte die Entfremdung jetzt um so mehr, da die beiden Freunde wenig Interesse an den erschütternden Ereignissen zeigten. Sie gingen nach der Versammlung in die Schenke, saßen dort, nur wenig miteinander redend, beisammen. Es wollte und wollte nichts mehr von dem alten guten Verhältnis ihrer Jugend zwischen ihnen aufkommen.
„Was treibt ihr so in eurer freien Zeit?" fragte er sie, „man sieht euch nirgends mehr. Ihr schlaft wohl den ganzen Tag nach der Schicht. Wär' das nicht besser, ihr regtet euch auch mal etwas für unsere gemeinsame Sache?"
Der dunkeläugige Bruno Freising gähnte und brummte: „Mensch, lass mich in Ruh. Man kann ja nirgends mehr raus. Ein Anzug fehlt, verflucht, man kann sich in diesen Fetzen nicht auch sonntags sehe lassen."
„Und ich will heiraten", sagte der blonde, schmächtige Edy, „aber man weiß nicht, wie man das machen soll. Vielleicht muss man in den Kanonierstiefeln und in dieser Feldjoppe zum Standesamt gehen. Man hat auch nicht einmal einen eigenen Strohsack, auf den man sich langstrecken kann. Und den Alten noch einen neuen oder noch mehrere Fresser aufzuladen und den kleinen Raum noch enger zu machen, das werden sie nicht wollen. Ach!" schrie er, „die ganze Gesellschaft soll mir zum Teufel gehen."
Bruno Freising lachte böse: „Man schuftet und schuftet und kommt keinen Schritt vorwärts. Das ist jetzt das Leben nach dem Krieg. Mensch, wie schön war es doch damals, als wir noch so ohne Sorgen an der Ecke rumstanden, du weißt es, Fränzchen; Mensch, war das 'ne Zeit. Jetzt hat man 'nen Bart, bist 'n Alter und hast noch nicht mal eine ganze Hose. Verflucht, das ganze Leben ist fürwahr einen Dreck wert !" sagte er wutlachend und trank sein Bier.
Franz trank sein Bier aus und ging mit ihnen nach Hause. Unterwegs schwiegen sie eine Zeitlang. Bruno Freising sagte, während Franz verdrießlich grübelte: „Und du, du willst wohl gar nicht mehr an die Hacke? Das Rumstrolchen auf der Straße gefällt dir wohl gut. Aber du merkst wohl nicht, dass auch die Kumpels euch schon alle schief anschauen. Ich würde das Ding abgeben und wieder in die Grube kriechen, dort bist du am besten vor allen diesen Wolfsblicken geborgen!"
Sie standen wieder einen Augenblick an ihrer Ecke, wie früher. Und doch nicht wie früher. Edy stieß Franz gegen die Brust, lachte gezwungen: „Na Fränzchen, was grübelst du? Mensch, gottverdammt", fluchte er, „da steht man hier, und alles ist einem so fremd geworden. Dieser verfluchte Krieg, Mensch, dieses Elend." Er schauerte: „Kalt wird's. Kommt, wir gehen nach Hause. Das Leben ist, verflucht, nicht mehr schön!"
Die beiden gingen. Franz war an der Ecke stehengeblieben, als wollte er da noch etwas von der Erinnerung an früher festhalten. Er wurde die Bitterkeit nicht los, dass ihre Kindheit verloren blieb, dass sie, wie vieles Schöne, in der schrecklichen Kriegszeit zerbrochen und versunken war. Er schüttelte den Kopf. Er ermannte sich nach längerem Grübeln und ging nach oben.
Sie dürfen sich nicht verlieren, grübelte er, während er die Treppe hinaufstieg. Sie müssen mit, und wenn ich sie mit Gewalt mitschleppen müsste. Auch ich habe gezögert, aber der Hermann hat mich auf diesen neuen Weg gestoßen. Wir müssen alle mit, oder dieses neue Elend frisst uns auf! Er verbrachte diesen Nachmittag unter neuen Zweifeln und in einem heftigen Zwiespalt. Die Jugend, ihre Jugend war hin. Verdorben und erdrosselt durch die Kriegsjahre.
Ein Verlangen erfasste ihn, diese Alpdrücke loszuwerden. Irgendwo hinauszustürmen, sich irgendwo auf die Erde hinzuwerfen und hineinzukrallen, zu schreien: „Und ich lasse mich nicht erdrücken. Ich bin nicht mehr der Hund, der Schlepper, ich wehre mich!"
Es war Abend, und er ging allein seine Straße entlang. Er ging wieder den Salkenberg hinauf und weiter bis nach Frillendorf und weiter, weiter, bis er die letzten Häuser verließ. Er sah rechts vor sich den Flammenschein des gewaltigen Krupp-Werkes, und wo er hinblickte, sah er die Brände der Kokereien und hörte die Signale von den Schächten. Er begegnete kleineren Scharen von Bergleuten und sah wieder die lange Karawane dieser ewigen Schlepper. Und noch einmal wallte es in ihm hoch: „Und ich bin doch auf dem richtigen Weg. Ich bleibe hier. Es ist Heimat. Unsere verfluchte, elende Heimat. Unser Kohlenpott, unser jammervoller. Und doch kann ich und werde ich hier nicht weichen. Man hängt dran wie festgebunden. Was ist das nur, das einen hier so festhält? Hat man denn noch Hoffnungen? Hoffnungen, ja, immer Hoffnungen, dass sich einmal alles ändert! Auch hier ändert."
Er stand im freien Land und sah herum. Sein Ruhrland, seine ihm erst jetzt bewusstgewordene große Liebe. Nein, ich lass' euch nicht, ihr müsst mit, Edy und Bruno. Ihr müsst!
Er ging zurück und sann nach.
Er war wieder in Stoppenberg und ging seine Straße hinauf. An der Hoffrone-Wirtschaft blieb er stehen. Er hörte drinnen Musik. Tanzmusik. Er zögerte einen Augenblick, dann begab er sich hinein.
In dem halb dunklen, kleinen Saal drehten sich einige Dutzend Paare Mädel und Jungen, alle dem wilden leidenschaftlichen Tanz hingegeben, eng umschlungen, umklammert: Schlepper und Lehrhäuer aus seiner Grube und die Brückenschlepperinnen; auch jene, die den Eltern erst abends heimlich entschlüpfen konnten. Auf der kleinen Bühne saßen zwei Bandoneonspieler und ein kleiner, schwarzlockiger Mann, der die Trommel schlug. Die Tanzenden sangen zu der Musik: Auf der Reeperbahn -nachts um halb eins..."
Taumel, Taumel. Langsam wurde auch Franz Kreusat von dieser merkwürdigen Stimmung ergriffen. Er stand noch immer an der Tür und sah dem Wirbel dieser Freude zu und konnte sich nicht davon trennen.
So standen noch andere Jungen und Mädel und schauten zu; andere saßen an den unbedeckten Tischen umarmt und ergaben sich hier der Liebe, die ihnen draußen verwehrt wurde. So fand er sie bei seinen Nachtgängen oft im Dunkel der Hausflure und in den Toreinfahrten und in den dunklen Winkeln der Straße. Liebe, Liebe suchen alle diese Jungen. Freude, Taumel, austoben nach dem langen Schrecken, nach der verfluchten Verzweiflung und Einsamkeit und der Angst auf den blutigen Schlachtfeldern. Freude, Freude, Taumel! Es packte auch ihn. Er sah sich um. Da stand ein starkes Mädel einige Schritte vor ihm und wartete wohl auf den Tänzer. Er ging auf das Mädel zu. „Komm!" Er nahm sie bei der Hand, und auch er tanzte. Franz Kreusat tanzte, bis der Schweiß auf der Stirn sickerte. Tanzen, tanzen! Als er das Mädel zu einem Tisch führte - er hielt sie noch bei der Hand -, sah er sie an und fragte: „Wie heißt du?"
Das Mädel sagte lächelnd, rot von dem Tanz und mit einem Blick in sein Gesicht: „Therese!"
Er tanzte mit Therese bis zum Morgen.
Als sie auseinander gingen, fragte er sie: „Sehen wir uns wieder?"
Therese sagte: „Wenn du willst, meinetwegen!"
So begann seine Liebe zu Therese Tauten.
Franz schloss sich enger an Christian Wolny an. In dem jungen Kuli glaubte er etwas von der verlorenen Jugend wieder gefunden zu haben.
Christian redete ihm auch gleich wieder alle Sorgen über Edy Koschewa und Bruno Freising aus. „Die werden wir uns noch holen!" beruhigte er ihn. „Wir werden sie uns bei Gelegenheit vornehmen. Und der Teufel holt sie, wenn sie jetzt schon Greise spielen wollen. Nein, mein Lieber, die werden schon mitgenommen, verlass dich darauf!"
Auch Christian Wolny ging gern tanzen. Er war eben der Christian, und er ließ keine Freude aus.
„Was, die Therese hast du dir angeschafft?" staunte er eines Abends, als Franz Kreusat ihm sein Mädel vorstellte. „Der Alte wird sich wundern. Mit dem wirst du noch deine Last kriegen! Und sie scheint auch Haare auf den Zähnen zu haben. Nimm dich in acht, mein Lieber!"
Therese hatte Haare auf den Zähnen, und nicht nur dies, sie war Tautens Tochter. Sie war eigensinnig, und sie lief ganz in des Vaters Spuren. Sie hatte nach den wenigen Tagen ihrer Bekanntschaft Franz gerngewonnen, aber sie begann auch sofort mit ihm über sein Mitrennen bei der Soldatenwehr zu streiten. Es schien, als wollte auch Tauten ihn auf eine andere Bahn zurückführen, und schon die nächsten Abende begannen mit Auseinandersetzungen. Franz wich diesen Debatten nach Möglichkeit aus, denn er wollte wenigstens die Abendstunden ruhig verbringen. Er wollte sein Mädel und nicht den Tauten um sich herum haben.
Wenn sie tanzten, war auch Therese ganz Hingabe und friedlich. Sie war ein hübsches, starkes Mädel, war eitel und schien ihm beim Tanz ganz zugetan.
Eines Abends war Franz Kreusat nach der Salkenberg-Kolonie zu Christian Wolny bestellt worden. Er traf dort außer Renteleit auch Hermann Kahlstein und Kramm und noch ein Dutzend anderer Genossen an.
Christian unterhielt mit Renteleit die Beziehungen zu den Zechenkumpels, die sich der neuen Ordnung noch nicht unterworfen hatten. Sie hatten festgestellt, dass die von Loew fortgeschafften Gewehre heimlich der Zechenverwaltung zugeführt worden waren. Steiger Schulte - ein Mehrheitssozialist seit November - wollte eine eigene Zechenwache aufstellen und, wie man in Erfahrung gebracht hatte, den Arbeiter- und Soldatenrat und auch die Revolutionäre Wehr mit Gewalt absetzen.
Kramm erklärte den Versammelten kurz: „Wir müssen die Gewehre wieder holen, ehe es zum Blutvergießen unter den Kumpels kommt. Schulte ist kein Sozialist, er hat sich nur in den Arbeiter- und Soldatenrat hineingeschmuggelt, wie so viele andere dieser Spitzbuben unter unsere Wehr, um diese zu zersetzen. Also müssen wir schnell handeln; wenn ihr einverstanden seid, schon heute!"
Renteleit, der bärenstark war, sagte in seiner knappen, schwerfälligen Art: „Gut, wenn ihr wollt, hol' ich sie allein!"
Die anderen verrieten Bedenken. „Und wenn es schief geht?" wandte der etwas scheue Wirrwa ein. „Dann sitzen wir alle drin. Oder es kommt ganz gewiss zu Schießereien !"
„Es kommt zu nichts!" beruhigte Kramm, „nachts schlafen die Herrschaften alle. Sie fühlen sich, scheint's, vor uns sicher. Und der Pförtner wird schon das Maul halten. Kurz und gut, wir gehen heute los!"
Franz Kreusat, der keinen Einwand zu machen wagte, ging unter einem Herzdruck nach Hause. „Verdammt, verdammt! Jetzt wird es Ernst!"
Aber bald hatte er sich wieder gesammelt und sagte sich: „Wenn die anderen mitmachen, dann muss ich auch mit, selbstverständlich!" Ja, etwas wie Freude ergriff ihn, da es jetzt Ernst wurde. Der Novembertag fiel ihm wieder ein, an dem sie unter den wehenden roten Fahnen marschiert, nein, geeilt waren nach der Kaserne und nach dem Zuchthaus, um die Gefangenen zu befreien.
Unterwegs fiel ihm ein, dass der nächste Abend der Weihnachtsabend sei; eine Weile beschäftigten ihn die Erinnerungen an seine Knabenzeit, wie er sich an diesem Tag an Kuchen und Nüssen satt stopfte. Dafür sparte die Mutter monatelang, um die Feiertage schön zu machen. Ein Bäumchen müsste man diesmal wieder haben, dachte er. Dann besann er sich aber auf die Leere, auf den Hunger, der hinter jeder Tür heulte; er wusste, dass auch seine Mutter diesmal kaum die Kartoffeln beschaffen konnte. Geheul und Zähneknirschen wird es morgen geben, dachte er. Ein Baum...? Er sah flammende Krater aufbrechen. Soldaten, dreckig und kaum noch Menschen, wühlten sich in Todesangst in die bebende Erde - tiefer, tiefer, Mensch... und der verfluchte Himmel spie Granaten und Gas und schleuderte zerrissene Muschkotenglieder im blutigen Hagel herunter. Weihnachten - Verdun. Und es gab keinen Herrgott mehr, der diesen verfluchten Himmel beschwichtigte, der diese Hölle Himmel in Frieden verwandelte... Ein Bäumchen... brennende Kerzen... Geschenke, frohe, lachende Kinder, das gibt es nicht mehr. Nicht mehr. Doch, alles kommt, es kommt! Wir müssen die Gewehre wegschaffen. Es kann nicht zu Ende sein. Es geht weiter... Weiter...!
Er stand an seiner alten Ecke.
Raup hatte ihm schon einige Male gesagt, er solle sein Büchlein mitbringen, damit er es umschreiben lassen kann. Das Buch lag, nur mit einer Marke, in der Kommode, wo er es am ersten Tage hineingeworfen hatte. Er hatte sich die ganze Zeit nicht darum gekümmert, jetzt sagte er sich: Ich muss es morgen mitnehmen.
In der Nacht gingen sie mit einem Dutzend Genossen nach der Zeche. Renteleit schob den Pförtner, der sie aufhalten wollte, beiseite und ging ins Verwaltungsgebäude, wo sie in einem Raum die zwanzig Gewehre fanden. Er reichte die Gewehre und die Munition den anderen: „Wenn sich einer herwagt und Lärm macht, dann haltet ihm eine Knarre vor die Nase; es kann höchstens ein Feind oder ein Dummkopf sein!" sagte er.
Der Pförtner stand scheu und verwirrt in seiner Bude, während die Kumpels die Gewehre abschleppten. „Aber Leute, ich darf das doch nicht zulassen. Ihr bringt mich ja um mein Brot, Leute. Wenn das der Kranzmann erfährt, bin ich ein verlorener Mann!"
„Das bist du schon immer gewesen!" antwortete Renteleit knurrend, „du warst stets ihr stummer Knecht!"
Als Franz auf dem Nachhauseweg an Herrn Kleinemanns Wohnung vorbeikam, schimmerten durch die Ritzen der Fensterläden die Lichter eines Weihnachtsbaumes. Es interessierte ihn aber diesmal wenig, er war noch immer mit der Sorge beschäftigt, es müsse nach ihrem Streich jeden Augenblick die Sirene brüllen oder sich sonst was regen. Es regte sich aber nichts; und auch die ganze Nacht über nicht, die er schlaflos verbrachte.
An diesem Abend hatte Therese vergeblich auf ihn gewartet.
Herr Kleinemann hatte für den Weihnachtsabend einen Baum beschafft. Es kostete Geld, aber ein Weihnachtsabend ohne ein Bäumchen war kein Weihnachtsabend. Sie hatten auch in der schlimmen Zeit im Kriegsgefangenenlager als Wachmannschaft jedes Mal einen Baum gehabt und auch Kerzen unter der Hand besorgt. Der nötige Trunk wurde ebenfalls herangeschafft und ein Stück Kuchen. Weihnachten müssen nach Weihnachten aussehen.
Der freche Bengel hatte es zwar nicht verdient, dass man sich darum abschund, aber an so einem Tag vergisst man es und hält Frieden. Herr Kleinemann hatte eine Fahrt zu den befreundeten Bauern gemacht, und er brachte wieder einige Kisten mit Eiern und auch Speck mit. Ein Teil der Sachen ging in die Beamtenkolonie, weil man auch die anderen Tage leben wollte. Ohne Geld gab es keine Ware. Ein Teil blieb im Haus - ein Weihnachtsabend muss nach Weihnachtsabend aussehen.
Damit das Licht nicht nach außen drang, machte Herr Kleinemann die Fensterläden zu. Er wollte nicht den Neid der Hungrigen erregen - Neid ist ein schreckliches Übel. „Die Läden sind zu, also können wir jetzt essen", sagte er zu der apathisch umhergehenden Frau. Ihr Gesicht allein konnte ihm die gute Stimmung verderben. Doch wollte er sich am heutigen Tage nicht ärgern, also übersah Herr Kleinemann die böse Miene seiner Frau. Oft schien ihr apathisches Gesicht boshaft zu lachen, und er glaubte zu wissen, was sie sich dabei dachte: Beschwindle dich nur selber weiter, dachte sie bestimmt, das dicke Ende kommt doch nach! Ja, das dachte sie. Nun, mochte sie lachen und denken, was sie wollte. „Wenn es nicht auf normalem Wege geht, sich wieder aufzukratzen, dann geht es eben auf anderem Wege", sagte er sich. „Jeder, der sich retten will, der schaut heut nicht auf Anständigkeit, er schaut, wie er sich wieder aus dem Dreck herausbuddeln kann. Ich tue nichts anderes, als was jeder kluge Geschäftsmann tut." „Bring das Essen, Mutter!" Mutter! sagte er an diesem Abend sogar, was er seit mehreren Jahren nicht mehr gesagt hatte, seit sie dieses Gesicht angenommen hatte, das ihn jedes Mal, wenn er es ansah, aufregen konnte.
Sie kam mit dem Essen. Herr Kleinemann prüfte ihre Miene. Sie hasste ihn, das spürte er; warum sie ihn hasste, das wusste er sich nicht zu sagen, aber der Blick, mit dem sie die Teller hinstellte, ließ es ihn fühlen - das Weib verachtete ihn.
„Kommt der Bengel nicht?" fragte er, nur noch mit halber Freude.
„Der ist schon da!" meldete sich der Sohn und kam aus der guten Stube hervor. Herr Kleinemann blickte ihn missmutig an; gegen seinen Willen packte ihn wieder die Wut. Die beiden glichen sich wie ein Ei dem anderen. Auch der Bengel hatte dieses heimtückische Lachen an sich.
„Nun, hast dich wieder mal schön durchgewunden?" bemerkte der Sohn, als er das gute Futter betrachtet hatte. Kein Dank; Frechheit, das war alles.
Herr Kleinemann hatte früher immer vorher beten lassen, heute ließ er es sein. Er spürte Galle im Mund, und mit dieser Stimmung machte er sich über das Essen.
Der Baum wurde nach dem Essen angezündet. Früher hatte ihm so ein brennender Baum Freude gemacht, heute blieb alles nüchtern. In jedem Winkel der Stube schien ein Gespenst zu atmen. „Das sind nun Weihnachten", sagte der Krämer bitter. „Da jagt man und schafft man das Zeug unter Gefahren ran, und dann hört man kein Wort einer Anerkennung oder eines Dankes. Wahrhaftig, man sollte einfach den leeren Laden anstarren!"
Mutter und Sohn sahen sich an. Herr Kleinemann glaubte wieder den gehassten Blick aufgefangen zu haben, mit dem sich die beiden immer verständigten. Er stand auf und zog den Rock an. „Ich will noch auf einen Sprung zu Werners. Hier bleibt ja alles kalt und nüchtern."
Er ging.
Die Kirchenglocken läuteten. Herr Kleinemann fühlte, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er wischte sie nicht ab. Er wünschte sich jetzt, andere würden es sehen, dass er noch ein anständiger Mensch war. Nur anständige Menschen haben solche Gefühle, wenn die Weihnachtsglocken läuten.
Er erinnerte sich, dass er an solchen Tagen im Lager manchmal vergaß, dass die Kriegsgefangenen Feinde waren, und er hatte dem und jenem an der Tür lungernden und bettelnden Kerl eine Scheibe Brot oder einen Zigarrenstummel hinausgereicht. Ein anständiger Deutscher tat so was nicht, aber es war Weihnacht, und man drückte schon ein Auge zu.
Herr Kleinemann fühlte seine Rührung weichen. Er sah zwei Männer mit Gewehren auf der Straße daherkommen.
Sie steigen noch immer umher, dachte er ingrimmig. Man hatte dem Soldatenrat zugetragen, dass er die Beamtenhäuser mit Schwarzware versorge, und einige dieser Wächter der Revolution hatten in seinem Laden umhergesucht. Als sie an ihm vorbeikamen, grüßte er zwar höflich: „Na, kein Weihnachtsabend heut? Nicht daheim?" Aber als sie hinter ihm waren, spuckte er das aufgesammelte Gift aus: „Erschießen soll man euch alle!"
Bei Werner war Licht, und Herr Kleinemann ging hinein.
Als der Krämer die Schenke betrat, hörte er im oberen Zimmer eine Frau singen... „Ave Maria - Jungfrau mild..." Eine schöne Stimme war es, die jemand auf einem Klavier begleitete. - Ave Maria...
„Das ist von Schubert", sagte die graue Frau Werner. „Meine Tochter singt!"
„Schubert...", nickte Herr Kleinemann, der wieder die Rührung hinunterschluckte. Er wusste nicht, wer dieser Schubert war, aber er nickte. Einen Schubert hatte es auch im Lager gegeben; es war ein Metzger gewesen, dem war aber so was nicht zuzutrauen. Herr Kleinemann nickte. Er hatte einen Blick in das dicke Gesicht des jungen Werner geworfen. Er wusste, dass ihn dieser Kerl für ein dummes Schwein hielt, und darum war ihm auch dieses Gesicht unangenehm.
Herr Kleinemann trank seinen Schnaps aus und bestellte noch einen frischen. Die Tochter der Wirtin sang wieder. Herr Kleinemann schielte nach dem dicken Willi. Seine Galle wollte an diesem Abend nicht weichen. Er trank den Schnaps und sagte: „Ich geh', ich hab' daheim ein Bäumchen, und die Frau wartet mit dem Jungen." Er ging. „Der dicke Kerl grinst. Ich werde euch noch allen beweisen, wer Kleinemann ist", murmelte er in einer furchtbaren Wut gegen das eingebildete Pack.
Da kamen wieder die beiden von der Soldatenwehr. Er wandte sich diesmal ab. Man sollte sie alle erschießen, auch den grinsenden Kerl da drin. Er ging eilig, die Glocken schlugen wieder an und begannen laut zu läuten. Herr Kleinemann drohte zurück: „Ich zeig' euch noch einmal allen, wer Kleinemann ist... Allen!"
Tauten war in den letzten Tagen zugänglicher geworden. Es schien, als fühle er sich in irgendeiner Schuld. „Ich weiß nicht", hörte man ihn zuweilen brummen, „man findet sich bald nicht mehr ein und aus."
An einem Morgen - es war der 15. Januar — stieß Franz Kreusat auf der Wache auf ein beklemmendes Schweigen. Die Kulis saßen wie versteint. Kramm schien geheult zu haben.
Franz fragte erschrocken: „Was ist denn los mit euch!"
„Die Noske-Offiziere haben Karl und Rosa erschlagen", erzählte ihm Christian Wolny unter Tränen.
„Mensch, Mensch!" heulte auch er. „Verflucht, und wir sitzen hier und lassen uns von jedem Spekulanten leithammeln!"
Tauten schwieg.
Herr Loew kam, er war nur wieder dienstlich, er sagte nichts, aber Franz sah in das volle, graue Mönchsgesicht und wusste, dass der Wachtmeister sich heimlich freute. Und es freuten sich viele seiner Art. „Der Tod der beiden in Berlin lässt sie hoffen, dass bald ein anderer Wind weht, dass der Novemberschrecken für sie zu Ende ist, dass wir bald nicht mehr zu fürchten sind!" lachte Kramm bitter. „Aber sie täuschen sich!" sagte er mit einem Hassblick auf Loew.
Herr Loew behielt sein gemessenes Dienstgesicht. Er sagte, als hätte er Kramms Blick gemerkt: „Ich mische mich in keine Politik, ich führe nur meine Pflicht aus." Er fügte hinzu: „Übrigens sollen nächstens die Berichte über Ihre Wachgänge ins Wachbuch eingetragen werden."
Franz kramte zu Hause das lange begrabene Büchlein aus der Kommode hervor und begab sich zu Fritz Raup. Er legte es ihm auf den Tisch. „Hier hast es. Schreibe mich um."

 

Drittes Kapitel

Sie hatten demonstriert. Die Stadt war voll von roten Fahnen und Arbeiterzügen. Es schien wieder ein Novembertag zu sein. Hoffnung - Hoffnung! „Wacht auf, Verdammte dieser Erde...!"
Franz sang, schrie; er brannte, berauscht von dem Schrei der vielen. Aber sie hatten nicht die Geier und Wölfe aus ihren Höhlen und Schlupfwinkeln geholt; die Tausende gingen friedlich nach Hause.
In Berlin wurden die Spartakusleute gehetzt. Die Söldner hatten freie Hand, jeden, der eine rote Kokarde trug, festzunehmen und totzuschlagen.
Der Schrei der mächtigen Demonstration hatte sich wieder in die alltägliche, eintönige Jammermelodie verwandelt: „Brot! - Brot! - Kartoffeln! - Fett! - Wärmere Lumpen!" -
Die Wehrleute fühlen überall Feindseligkeit. Die heimlichen Feinde nagen an dem Vertrauen der Menge. Überall, auf der Zeche, auf der Straße und in den Schenken verlangen die Kumpels Abtreten des Arbeiter- und Soldatenrats und fluchen auf die „Faulenzer", womit sie die Soldatenwehr meinen. Herr Loew kommt mit höher erhobener Stirn. „Meine Herren, die Einwohner beschweren sich, dass sich unsere Wachleute zu wenig um ihre Ställe bekümmern. Es sind wieder Kaninchen gestohlen worden...!"
Die lange verachtete Grube zieht Franz mit einemmal wieder an. Die schwarze Hölle, in der er sich jetzt wohler zu fühlen glaubte, als in dem ausgeglühten Schlackenhaufen. Auch Kramm und Raup meinen: „Es ist vielleicht besser. Wir müssen wieder unten anfangen !**
Aber nein, es wäre ein beschämender, ein demütigender Abschied und keineswegs richtig, dass auch sie jetzt wegrannten. Er musste bleiben.
Er geht mit dem Gewehr auf der Straße. Schulte hatte über das Verschwinden der Gewehre aus dem Verwaltungsgebäude noch kein Wort verlauten lassen. Aber die heimliche Hetze unter der Belegschaft wirkte lähmend. Die Blicke der von der Schicht heimkehrenden Bergleute waren finsterer. „Na", schrie manchmal einer, „wollt ihr nicht bald die Flinte ablegen und die Kohlenhacke in die Hand nehmen! Es wär' bald an der Zeit. Der Faulenzer haben wir wohl genug mitzufüttern!"
Es war gegen Ende Januar. Die Wahl zu der Nationalversammlung hatte stattgefunden.
Im Saal der Hoffroneschen Wirtschaft saßen die Männer der Stoppenberger Arbeiter- und Soldatenwehr. Sie waren mit ihren Gewehren gekommen.
Die Ursache dieser Versammlung bei Hoffrone war ein Vorschlag der Bürgermeistereivertretung, die Soldatenwehr mit einer angemessenen Entschädigung zu einer freiwilligen Auflösung zu bewegen. Man wollte den Familienvätern und den aus ihrer gewohnten Berufsarbeit ausgespannten Bergleuten die Gelegenheit geben, „sorgenlos" an ihre alte Arbeit zurückkehren zu können.
Es war ein sehr klug eingeleitetes Manöver und von den Parteien der Rechten, auch von der Sozialdemokratischen Fraktion, unterstützter Beschluss, der den Wehrleuten mit überzeugenden Begründungen dargelegt wurde. Die Bürgermeisterei könne auf die Dauer keine solchen Ausgaben tragen, der Säckel sei leer, und bei den obwaltenden Verhältnissen bestehe fast keine Aussicht, an eine Anleihe oder sonstige Hilfe auch nur zu denken. Dagegen würde mit der Einstellung einer normalen Polizei, natürlich in weit geringerer Zahl, die Stadtverwaltung sich vielleicht zu einem gewissen Zuschuss entschließen... und so weiter und so fort.
Zu Anfang der Versammlung hatte unter den Männern der Wehr eine fast drückende Stille geherrscht. Den Worten des Bürgermeisters folgte noch immer die Stille. Man hatte ihn wieder vorgeschickt, weil man hoffte, dass er „väterlich" und als Respektsperson vielleicht etwas mehr erreichen würde, und weil er schon öfters solche peinlichen Beschlüsse ohne große Stürme durchzusetzen verstanden hatte.
Der alte Mann bat, sich den Vorschlag in aller Ruhe und Vernunft zu überlegen.
Der zweite Redner, Steiger Schulte, sprach. Ein solcher Entschluss würde auch die Zustimmung der verängstigten Frauen finden, sagte er vermittelnd. Und auch die Einwohner würden eine solche Entscheidung und Änderung der untragbaren Zustände begrüßen...
Die Stille wich einem Murren. „Die Weiber... natürlich, man versorgt sie ja stündlich mit allen infamen Gerüchten", erhoben sich protestierende Stimmen im Saal. „Selbstredend heulen die Weiber einem die Ohren voll, man soll das Gewehr hinschmeißen und eine vernünftige Arbeit aufnehmen, aber wer kriegt dann die Gewehre in die Hände? Unsere Leute nicht!"
Den Einwohnern wurden täglich blutige Spartakistengeschichten erzählt. Natürlich wünschte deshalb mancher die Soldatenwehr zum Teufel. Das spürte und wusste man selber, aber einer solchen neuen Polizei, wie sie sich diese Herren dachten, freiwillig zu weichen, dafür hatte man im November nicht sein Leben eingesetzt.
„Genossen!" sprach der Parteisekretär Schigalski, der Redner der Sozialdemokratischen Fraktion, und man merkte dem dicken Mann mit dem faltigen, mürrischen Gesicht die Wut gegen „den murrenden Unverstand" an. „Lasst uns doch vernünftig denken. Wir können doch nicht ewig mit den Gewehren auf der Straße rumziehen. Alles hat seinen Anfang und sein Ende, und auch dieser Zustand muss einmal ein Ende haben. Wir können doch nicht immer von Revolution träumen, während dem übrigen Volk eine Last nach der anderen aufgebürdet wird. Wir müssen es einsehn, dass wir nicht auch noch eine solche Last werden."
Da schrie Kramm: „Hör mit deinen salbungsvollen Reden auf! Ihr habt unseren Kampf in Berlin erwürgt und wollt jetzt auch uns hier erwürgen. Geh hin, wo du hergekommen bist."
Ein Tumult erhob sich: „Hör mit deinen guten Ratschlägen auf! Du hast den wenigsten Grund, dich über den heutigen Zustand aufzuregen. Ihr habt die Revolution dem General Lüttwitz und Noske-Söldnern überlassen und wollt auch uns anderen das Grab schaufeln." „Wahnsinnig seid ihr!" schrie Schigalski außer sich. Er starrte noch eine Minute in den Tumult und ging mit empörtem Gesicht auf seinen Platz zurück. „Mit diesen Wahnsinnigen kann doch kein Mensch reden."
Der Bürgermeister schien zusammengeschrumpft. Er saß mit geneigtem Kopf. Steiger Schulte lächelte.
Der Bürgermeister bimmelte mit der Schelle. Im Saal tobte das Für und Wider. Die Schwankenden und schon immer hin und her Erwägenden, ältere Leute zumeist, empörten sich gegen den Lärm der Widersetzlichen. „Nu lasst sie doch reden. Einiges ist schon daran wahr, das Volk schaut uns schon lange mit schiefen Blicken an. Und auch die Weiber sehen vielleicht besser als unsereiner... Lasst sie doch oben ausreden."
Der Bürgermeister bimmelte mit der Schelle. Niemand hörte darauf. Unten in der Menge tobte die lange verhaltene Wut. Mehrere der aufgeregten Männer gingen nacheinander auf die kleine Bühne, um zu vermitteln, um irgendeinen anderen Vorschlag zu machen. Niemand hörte auf sie, niemand auf die zeternd bimmelnde Schelle. Sie stolperten verwirrt und betäubt wieder herunter.
„Jetzt fehlt tatsächlich eine handfeste Polizei", sagte Steiger Schulte voller Verachtung zu Schigalski. Er hatte den Vorschlag in der Bürgermeistereisitzung eingebrachter hatte ihn von der Direktion erhalten, die auf einer beschleunigten Entwaffnung bestand. Schigalski nickte in dem gleichen Zorn. Es hieß, von neuem beraten, bei den willfährigen Parteien anzuregen, den Beschluss einfach gegen den Willen der Wehrleute durchzuführen. Aus der Mitte des mit Tabakrauch vollgequalmten Saales kam mit schwerem Schritt Zermack in seinem abgewetzten Kanonieranzug.
„Der Zermack!"
„Still, der Zermack will sprechen!" schrien mehrere in den Lärm. Und es wurde dieses Mal plötzlich wieder still.
„Der Jupp Zermack..."
Der Bürgermeister bimmelte dieses Mal nicht mit der Schelle. Er drehte den weißen Kopf mit dem müden Gesicht, das so alt und überlebt wirkte wie seine Zeit. Er sagte zu dem böse dareinstarrenden Schulte: „Der Plan ist gescheitert. Wenn der Zermack dagegenredet, dann können wir uns jede weitere Mühe sparen."
Zermack bestieg die Bühne. Er sah erst eine Weile auf die Vertreter der Bürgermeisterei-Versammlung und warf einen Blick des Unmuts auf den schweigsam und mit gesenktem Kopf dabeisitzenden Miller. Er sagte zu dem noch empörten Schigalski: „Du hörst die Meinung der Kumpels und kannst sie deiner Partei mitteilen. Ihr verursacht den Zwiespalt." Und er sah Schulte an, der, um seinen Hass zu verbergen, die Augen einen Moment niederschlug.
„Wir wissen, Genosse Schulte, wo Sie diesen Vorschlag herhaben. Aber sagen Sie den guten Herren, die auf die Entwaffnung drängen, wir gehen nicht auf solche Vorschläge ein. Wir haben die Gewehre nicht von den Herrschaften geschenkt bekommen." Darauf drehte er sich nach den Kumpels um, die atemlos still dasaßen, und sagte: „Die Herren wittern wieder Morgenluft. Wir haben zwar eine Republik, und man spricht von Demokratie, aber Hindenburg sitzt wieder oben, und Krupp ist auch schön dageblieben. Auch Herr Stinnes ist geblieben." Er drehte sich zu Schigalski um: „Eure Beauftragten-Regierung duldet es, dass die Schinder alle bleiben. Aber wir sind mit ihnen noch nicht fertig - deshalb behalten wir die Gewehre. Wir behalten sie, und wenn man uns mit noch schöneren Reden kommt." Er sagte zu den Wehrleuten: „Wir gehen."
Die meisten Wehrleute erhoben sich, ergriffen ihre Gewehre und gingen aus dem Saal. - „Gott sei Dank!" „Die können sich ihren Beschluss an den Hut stecken!" „Der Zermack hat wieder die Situation gerettet!" „Auf den Miller ist kein Verlass, der schwankt auch immer hin und her!"
Miller hatte sich in der Versammlung nicht gemeldet. Der Grund seines Schweigens war sein Zugeständnis, das er halb und halb den anderen Bürgermeisterei-Vertretern - unter der Bedingung der Auszahlung einer angemessenen Abfindung - gegeben hatte. Ein Teil der USPD-Fraktion war geneigt, der Auflösung zuzustimmen, und Miller, der in letzter Zeit mit sich merklich verfahren und durch den Wahlsieg der bürgerlichen Parteien anscheinend entmutigt war, neigte immer wieder zu Verhandlungen auch mit Schigalski.
Am nächsten Tag kam Miller auf die Wache. Er war mit dem Ausgang der Versammlung und mit Zermacks Aufforderung, die Gewehre zu behalten, unzufrieden. „Was macht ihr für unsinnige Geschichten!" warf er Zermack streng vor. „Gestern hatten die Leute noch die gute Chance, mit der angebotenen Entschädigung abzugehen, jetzt werden sie wohl ohne Geld gehen müssen, oder es kostet uns wieder neue Reden und Kämpfe, dass man das Geld auszahlt. Ich wollte euch nur", sagte er verdrossen, „auf euern unsinnigen Widerstand aufmerksam machen, denn es ist eine oben fest beschlossene Tatsache, dass ein Teil der Leute gehen muss. Das wollte ich euch nur sagen und euch ermahnen, euern Widerstand aufzugeben!"
„Zum Teufel", schrie Kramm, der dieser Unterhaltung beigewohnt hatte, „die sind jetzt alle irrsinnig geworden."
Auch die anderen Kulis saßen verstimmt und ratlos
da. „Das ist das Ende!"
Der Arbeiter- und Soldatenrat hatte wieder eine lange Sitzung abgehalten. Nach langwierigem Widerstreit war, gegen Zermacks und Raups Stimmen, der Beschluss gefasst worden, die Hälfte der Wehr an ihre alte Arbeit zu schicken. Unter diesen Entlassenen waren auch Franz Kreusat, Kramm und Christian Wolny. Raup und Kahlstein erklärten missmutig, sie gingen auch. Es war wie ein Trauertag, als sie das letzte Mal die Wache verließen.
„Aus!" sagte sogar Kramm.
„Es ist noch nichts aus!" beruhigte Raup. „Ich denke, wir müssen uns tatsächlich einmal wieder in der Grube umsehn!" sagte er. „Die Kumpels brauchen Hilfe, oder sie verfallen ganz der Hetze." Sie schwiegen. Ein Trauertag. Franz Kreusat begab sich nach der Zeche, um sich für die Arbeit zu melden. Er traf Zermack, der im Betriebsrat war. „Nun lasst jetzt nicht gleich alle die Köpfe hängen", sagte Zermack, „wir haben mit der Wehr noch nichts aufgegeben. Lasst euch nicht niederdrücken, wir werden der Gesellschaft schon wieder unseren Willen zeigen. Geh, hol dir deine Lampe und sorge unten vor, dass die Feindseligkeiten nicht die Kumpels anfressen. Diese Schultes nagen hier wie die Ratten."
Franz Kreusat fuhr nach fast vier Jahren wieder in die Grube. Hier unten hatte er sechzehnjährig als Pferdetreiber angefangen, Gedingeschlepper war er, als er in den Krieg ging. Jetzt fuhr er als Lehrhauer in die ihm fremdgewordene Nachtwelt ein. Würde er sich wieder hineinweben in diese Kohlenfinsternis, oder warf er schon nach der ersten Schicht wieder die Hacke hin?
„He, da kommt er!" begrüßte ihn einer spöttisch.
„Komm nur mit runter!" rief ein anderer. „Hier wirst du mal wieder zurechtgesotten! Wir müssen wieder gehörig Staub machen."
Edy Koschewa und Bruno Freising kamen: „Mensch, gut, dass du wieder da bist! Hier muss vieles eingerenkt werden."
Sie waren jetzt wieder viel freundlicher.
Er hörte noch mehr solcher Willkommensgrüße. Nein, es war nichts zu Ende. Hier begann seine neue Arbeit.
Als sie im Förderkorb hockten, erzählte ihm Christian Wolny: „Ich hab' noch ein Gewehr mitgenommen!" und fragte: „Du hast wohl deins abgegeben?"
Franz nickte.
„Dummkopf!" schalt Christian. „Man hätte es brauchen können! Mensch! Mensch!"
Eine halbe Stunde später knieten beide in den niedrigen Rutschenfeldern.
Franz Kreusats erste Hackenschläge waren ungeschickt und unsicher. Nach wenigen Minuten strömte an ihm der Schweiß herunter. Er erschrak vor dem Knallen der Kohlenlagen und dem Donner der Sprengschüsse. Aber nach und nach gewöhnte er sich wieder an den kleinen Lichtschein und an die Qualmwolken, an den Schweiß und die Schreie, die aus dem Dunkel des langen Feldes zu ihm drangen. Er schlug und schaufelte sicherer: er war wieder Bergmann, Kohlenhauer.
Ü ber ihm arbeitete der Heinrich Gutschnick, ein immer düsterer, schweigsamer Mensch. Gutschnick hatte draußen seinen Hauptmann erschossen, „einen Schinder", wie er Franz während der kurzen Pausen in seiner Wortkargheit erzählte. „Einen Hund, der sich hervortun wollte und die Kumpels immerzu in das Totenfeld hinausjagte, wo schon die halbe Kompanie faulte." Das Kriegsgericht hatte Gutschnick zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Es reichte nicht zum Todesurteil, weil nicht genügend Beweise für eine „vorsätzliche Tat" vorlagen. Aber er hatte es bewusst getan. Das war neunzehnhundertsechzehn geschehen, aber man hatte ihn vergessen und erst zwei Monate nach der Revolution entlassen; deshalb hasste Gutschnick alles, was jetzt wieder oben saß. Wie gesagt, sie kamen nur selten miteinander ins Gespräch, die meiste Zeit brütete Gutschnick dumpf und in einem stillen Hass für sich. Gelegentlich hörte Franz ihn in seinem Ort allein reden: „Man hätte sie alle totschlagen oder binden und dahin verfrachten sollen, wo ich gesessen habe, dann wären wir sie jetzt los" - und er schlug heftiger in die Kohle: „Schinder, verfluchte!"
Gutschnick war in der USPD, er war aber noch voller Argwohn, „ob da drin auch die richtigen Geister bestimmten".
Er beobachtete trotz seiner Verschlossenheit alles mit Argusaugen und sah manches, was anderen entging; er sah auch den dauernden Zwiespalt unter den Unabhängigen. „Ich seh' doch", sagte er, „ich hab' meine Augen. Der Miller scheint noch nicht zu wissen, wo er hinsteuern will. Er hört zuviel auf den wankelmütigen Teichmann, den sie auch lieber ganz woanders hätten hinsetzen sollen, aber nicht als Sekretär einer solchen Partei. Diese Leute leben ja nur halb mit der Revolution. Wenn man sich der Schinder nicht mit Gewalt entledigt, dann werden sie uns allen wieder rücksichtslos das Joch umhängen! Wir müssen uns in der eigenen Partei einigen, dann können wir von den anderen eine Einigkeit erwarten! Wenn sich die Unabhängigen verzetteln, dann haben die neuen Schinder oben ihre Freude dran. Ich bin hineingegangen", meinte er, „weil ich mir sage, dass man hier helfen müsse, damit sich nicht auch darunter das Geröll mischt. Und ich hab' auch noch eine Rechnung mit den Schindern zu begleichen."
Während der Pause lag, er in der Förderstrecke auf einigen Hölzern und starrte nachdenklich und mit düsterem Blick nach der Decke. „Weißt du", begann er dann nach längerem Grübeln, „ich frag' mich manchmal: Was ist doch der Mensch für ein merkwürdiges Geschöpf. Da trägt einer dasselbe Gesicht wie du und ich und ist doch nichts wie eine Bestie. Alle werden doch nicht gleich als Canaille geboren, sondern als Menschen; da macht das bessere Bett oder das abgelumpte oder seidene Hemd der Mutter nichts aus. Sie müssen sich alle gleich quälen; das Kleine kommt wie jeder andere Mensch nackt und dumm, es schreit wie alle nach Fraß und unterscheidet noch gar nicht, ob es ein Herr Krupp oder ein armer Teufel ist, ob es später von anderen gepeinigt werden soll oder selbst peinigen wird. Aber dann kommt die Zweiteilung, eben der Herr Krupp und der Lump und Schlepper Kreusat, der Herr Hauptmann von und zu oder der Muschkot Gutschnick. Dem einen fällt alles zu, dem anderen nichts, der eine frisst gut und kommandiert, der andere hungert und schleppt und muss für den Herrn Krupp und Von und Zu verrecken, weil es eben eine solche Ordnung ist. Und hat sich daran etwas geändert? Nein! Siehst du, wir hatten eine Revolution, aber ich musste trotzdem noch monatelang in der Zelle sitzen. Ja, so ist es. Und jeder will ein Mensch sein - wirklich merkwürdig!"
So philosophierte der schwerfällige Mensch jede Schicht; aber Franz hörte ihm gerne zu, denn Gutschnick war ein gerader, wahrhafter Mensch, der sich mit keiner oberflächlichen Redensart zufrieden gab, und der immer, wenn es ihm noch so viel Qualen machte, tief auf den Grund des verdammten Lebens zu dringen versuchte und alles untersuchen und erkennen wollte.
Die anderen Hauer waren weniger mitteilsam oder Gutschnick zu leichtfertig und geschwätzig.
Aber in den letzten Tagen gingen die Wogen der Erregung im Schacht wieder hoch. Die Debatten drehten sich um die Sechsstundenschicht, die den Bergleuten versprochen worden war.
„Es gibt wieder neue Stürme!" hoffte Christian glücklich. Er hoffte immer. „Die reaktionäre Gesellschaft hat zwar bei den Wahlen gesiegt, weil ihr alle, auch unsere Sozialdemokraten, die Schafe zugetrieben haben, aber wir haben die stärkeren Fäuste und den Mut, um unser Leben zu kämpfen", redete er eifrig. „Das Geröll sondert sich jetzt ab, das unter uns geschwemmt wurde und uns gelähmt und behindert hatte. Unsere guten Kumpels stehen fest. Wir haben Hoffnung, Fränzchen!"
Es ist Februar.
Der Schacht ruht. Die Bergleute streiken. Sie verlangen die versprochene Sechsstundenschicht. Die Verbandsführer verhandeln mit der Regierung, mit den gebliebenen Zechenbesitzern.
Sie verhandeln wieder.
In den Versammlungen tobt man und schreit: Verrat! Man verhandelt und verkauft uns mit Haut und Haar!"
Verbandsbücher werden zerrissen, die Union der Kopf- und Handarbeiter wird gegründet.
Auch Franz und Christian wurden von dem neuen Sturmwind mitgerissen; sie traten der Union bei und schrien jedem radikalen Redner Beifall. Sie stellten sich freiwillig als Streikposten hin oder jagten mit den Flugblättern der Union in die Häuser.
Franz wunderte sich nur - bei Miller verstand er es -, dass auch Raup plötzlich gegen diesen neuen Wechsel war. „Warum machst du nicht mit?" fragte er Fritz Raup enttäuscht. „Du warst doch sonst immer gegen die Politik der Verbandsführer und hast auf die Verräter geschimpft, und jetzt hältst du dich zurück..."
„Das verstehst du nicht", antwortete Raup. „Es ist doch purer Unsinn, der jetzt angestellt wird. Wir können uns doch nicht völlig zerreißen. Die Gründung dieser neuen Gewerkschaft ist ein Unglück."
„Ach, du Unglücksprophet!" wehrte sich Franz gegen diese Redensarten, die er in diesen Tagen öfters hörte. „Was wollt ihr denn noch mit euerm alten, vermoderten Verband, wir kommen ja gar nicht mehr von der Stelle!" Fritz Raup antwortete: „Es ist Unsinn! Es ist ein Unglück! Mit zersplitterten Kräften kommen wir erst recht keinen Schritt vorwärts."
Raup hatte Franz mit seinen Einwänden wieder verwirrt. Er überlegte, ob er sich nicht verrannt habe; er schwankte, Raup wisse doch gewiss etwas mehr als er. Raup war seit zwanzig Jahren Verbändler, er war Unabhängiger, er war nie für Kompromisse gewesen, nie für Verständigung, wo Verständigung nicht angebracht war; und hier wurde wieder gehandelt, verhandelt mit der abtrünnigen Regierung, mit Krupp, mit Stinnes, mit den gebliebenen Schindern und Mördern. Franz begriff nicht, warum der Kumpel dieses Mal nicht mitmachte.
Er stieß, während er wieder Flugblätter der Union verteilte, mit Miller zusammen. Im ersten Moment schlug Franz vor Millers Blick die Augen nieder.
„Du entwickelst dich schön!" sagte Miller vorwurfsvoll. „Früher konnte man dich kaum zu etwas bewegen, und jetzt geht es dir nicht eilig genug." Franz sah ihn an. Voller Groll stand Miller da, voller Verachtung. „Wirrköpfe", sagte er. „Und von diesem neuen Haufen Elend erhofft ihr etwas? Jetzt geht die Spaltung immer weiter, und wir können die letzte Hoffnung begraben!"
„Ich glaube, noch nicht!" verteidigte sich Franz und fand es sinnlos. „Ich versteh nicht, warum ihr so dagegen seid, fast alle anderen sind dafür."
„Weil sie verrückt geredet wurden!" entgegnete Miller streng. „Weil sie alle nicht mehr nachdenken."
Er ließ Franz in seiner Verwirrung stehen und ging.
Franz wusste nicht, ob er die Flugblätter weiter verteilen sollte, und stand längere Zeit ohne Entschluss vor dem Haus.
Mit dem Streik schienen aber Miller und Raup einverstanden zu sein, denn in den Versammlungen sprachen sie wie alle Redner für die Einführung der Sechsstundenschicht, und das gab Franz wieder Mut. Er sagte sich: „Ich bin schon auf dem richtigen Wege!"
Miller und Fritz Raup blieben weiterhin bei ihrer Ablehnung der Union. Auch Zermack ging in diesen Tagen düsterer umher. Er sagte öfters: „Ich weiß nicht, ob man mit der Zersplitterung nicht voreilig gehandelt hat." Weil er aber befürchtete, dass die plötzlich wieder radikal gewordene Menge zu sehr sich selbst und neuen Feinden überlassen blieb, darum hatte auch er seinen Übertritt vollzogen. Man hatte ihn gleich in der nächsten Versammlung zum Obmann der neuen Union gewählt, und diese Wahl beruhigte auch Fritz Raup wieder etwas.
Der Streik hatte sich in Eile auf alle Schächte ausgedehnt. Die Agitatoren der Union sprachen überall an den Straßenecken, in den Kneipen, und in jeder Versammlung: Man sei die alten Hindernisse losgeworden, der Kampf der Arbeiterklasse sei in ein neues Stadium getreten! Und es schien in der Tat eine Wendung eingetreten zu sein. Die Müdigkeit war von den meisten gefallen, auch die Augen der älteren Leute sahen hoffnungsvoller darein, und in die Union strömten immerfort neue Mitglieder. Aber gerade diesen eiligen Anmeldungen misstrauten Miller und Raup. „Es ist nicht alles von Wert, was in eure Union hineinrennt!" ernüchterte Raup Franz wieder, wenn er sich auf diesen Mitgliederzuwachs berufen wollte. „So ist jetzt allem feindlichen Volk Tür und Tor geöffnet", zürnte * er, „das wird noch der Tummelplatz aller gelben Geister, und man wird noch einmal froh sein, wenn uns diese Geschichte nicht ganz über den Kopf wächst, dass wir Älteren den jahrzehntelang erprobten Verband nicht beiseite geworfen haben."
Die Regierung hatte den Sozialdemokraten Karl Severing als Verhandlungskommissar ins Ruhrgebiet geschickt. Und um die Ruhe und Ordnung zu sichern, rückten Aufgebote der Reichswehr in die Städte.
Auch in Essen sah man in den nächsten Tagen überall die Söldner mit dem Stahlhelm stehen. Es waren gut-gefütterte junge Bauernburschen und Abenteurer aus dem Baltikum und vom Grenzschutz.
Franz Kreusat ging mit Christian umher, und sie sahen sich die Soldaten an. Die waren sich ihrer Sache nicht sicher und standen unruhig und immer mit der Hand am Karabiner oder an der Handgranate. „Man müsste ihnen die Dinger wegnehmen", sagte Christian jedes Mal in einer stillen Wut. „Das müsste man tun", sagten andere und standen weiter da, ohne den Wunsch auszuführen. „Man müsste ihnen die Dinger tatsächlich abnehmen."
„Verflucht, keiner wagt es!"
„Niemand hat den Mut!"
Sie zogen wieder nach Hause, unzufrieden, weil keiner den Mut aufbrachte, sich den Söldnern zu nähern und ihnen die Gewehre abzunehmen. Jeder schien dasselbe zu denken: Stürzt man sich über einen her und nimmt man ihm die Knarre ab, dann knallen gleich die anderen Knarren. Und wenn Franz Kreusat aufrichtig sein wollte, trotz allem Hass und dem Wunsch, sich auf den nächsten der Söldner zu stürzen und ihn zu entwaffnen, er konnte nicht eine Minute lang die heimliche, eisige Angst loswerden, die ihn beim Anblick der drohend vorgehaltenen Gewehrläufe lähmte - ein kleiner Zug mit dem Finger und es war aus mit allen Träumen. Nein, er brachte den Sprung nicht fertig.
Auch Christian wagte diesen Sprung nicht.
Sie knirschten und fluchten, alle knirschten und wüteten, aber nicht einer griff zu, nicht eine Hand regte sich. Verflucht! Verflucht! Und früher waren sie auf einen Pfiff in den Tod gerannt - auf einen Wink.
Sie demonstrierten. Massen, Hunderttausende. Die Söldner standen, bleich und mit merkbarer Angst, aber sie standen. Und die Werk- und Bergleute zogen vorbei, sie schrien und brüllten: „Mörder! Bluthunde!" Sie schrien und zogen vorbei. Die Söldner sahen grau aus vor Angst, sie hielten den Finger am Abzug. - Die Masse schrie: „Mörder!" - und zog vorbei. Tausende, Zehntausende schrien vor Wut und Hass, und zogen doch nur wieder vorbei.
Franz Kreusat ging jedes Mal mit neuen Hoffnungen, mit tausend, mit zehntausenden Hoffnungen mit - und ging geschlagen zurück. Auch Christian sprach kein Wort mehr, wenn sie wieder nach Hause zogen.
Eines Tages flog eine Handgranate. Keiner hatte nach dem Söldner gegriffen, keiner hatte etwas unternommen, sie hatten rund um den Söldner gestanden und hatten ihn angesehen. Jemand hatte dann gefragt: „Warum stehst du hier? Wär's nicht besser, du gingst nach Hause? Hierher kommst du, wo wir alle nichts zu fressen haben, wo sich die Menschen schinden! -Warum gehst du nicht zu Krupp oder Stinnes, und warum hältst du nicht diesen deine Knarre auf die Brust?" Und da warf der Söldner in Todesangst die Handgranate. Blut und Gehirn klebten an der Wand des Hauses. Der Söldner lief, er hatte das Gewehr weggeworfen. - „Lasst mich, ich wollt' es nicht! Man hat mich hergeschickt..." Er heulte und rief: „Ich wollt' es nicht..." Er hatte ein Gesicht wie jeder Mensch, wie die Grubenschlepper; man hatte ihn nicht gegriffen, nicht zerrissen, er lief wie wahnsinnig davon. „Ich weiß nicht, man hat mich hergeschickt!" ------
Keiner griff ihn und schlug ihn tot. Den ganzen Tag zogen Tausende an dem Haus vorbei, an dem das Blut schreckte. „Man muss jetzt ein Ende machen!" knirschten alle, die vorbeigingen.
Die Söldner waren mit einemmal aus den Straßen verschwunden. Die Regierung hatte sie zurückziehen lassen, besorgt, die Menge könnte die Geduld verlieren. Auch in anderen Städten waren Handgranaten geworfen worden, es hatte Tote gegeben, und die Regierung ließ die Reichswehr wieder abziehen.
In diesen Tagen war sich Franz Kreusat über eins klar geworden: Du darfst keine Angst haben, wenn solche Söldner wieder einen Lauf gegen deine Brust richten. Du darfst vor der Handgranate keine Angst haben. Du bist früher auf einen Pfiff in den Tod gerannt, auf den Wink eines kleinen Schinders, und wusstest nicht, weshalb du rennst. In diesem Falle hättest du dir selbst, allen anderen einen Wink geben müssen. Einer hätte dem anderen den Wink geben müssen. Einer - wie Lenin! -
Die Schächte fördern wieder. Die Bergleute fahren nur sechs Stunden an. Ein Sieg; aber die Steiger versuchen jetzt in den sechs Stunden das Soll herauszuhetzen, das die Kumpels bisher in der längeren Schichtzeit herausgeholt hatten.
Kalles abgehetztes Gesicht - es war der Reviersteiger - tauchte jetzt noch öfters zwischen den Hölzern auf. „Nun habt ihr die Sechsstundenschicht, das heißt aber nicht, dass wir jetzt die Schippe gänzlich auf die Seite legen. Die Wirtschaft braucht Kohle. Auch die Alliierten wollen Kohle, oder sie rücken ein. Wir können uns jetzt nicht einfach hinlegen, fördert also Kohle..." Und wieder hören die Kumpels ihn jeden Tag und überall: „Die Wirtschaft geht zugrunde. Schafft Kohle -Kohle muss kommen... Kohle!"
Das Gefängnis „Leben" scheint dunkler, enger zu werden als vor dem November. Franz Kreusat geht mit Therese öfters nach dem Hoffrone-Saal, um zu tanzen. Eine Nacht tobt er durch, dann folgt wieder ein Tag, den er verflucht, denn dieser Tag ist wie alle anderen Tage: Schlepparbeit, Groll der Kumpels, närrische Debatten von Niederlage, bis er aufbrüllt: „Klagt doch nicht, Schwächlinge, verflucht! Wer hat euch denn dieses neue Joch aufgelegt? Habt ihr nicht selber dabei geholfen?"
Der Himmel bleibt grau. Die Werksirenen heulen wie hungrige Tiger. Die Schachtklöppel dröhnen in seinem Schlaf. Die Rutsche rappelt noch während er liegt in seinen Knochen.
Schlotternd und zähneklappernd kriechen die Kumpels aus den triefenden Schachtkörben. Das „dicke Hemd" fehlt, durch die Hosenlöcher bleckt die welke Haut. Sie schreien, um zu schreien, um sich selber wieder zu hören. Alle sind taub von dem Bohrhämmerkrach und dem Rutschengerappel. Es soll Kartoffeln geben. Jeder redet von den Kartoffeln.
„Ha, Kartoffeln! Das gibt wieder mal Pfannekuchen! Dann wird sich noch ein Schweinchen dazugelegt, das gibt einen Schmaus!"
„Vielleicht läuft dir 'ne Katze in den Weg, die sich in das gewünschte Ferkel verwandelt!"
„Ein leckerer Dachhase ist auch nicht zu verachten. Unsre Alten hatten sie oftmals als Schweinebraten genossen und haben ein Dutzend Athleten wie uns in die Welt gesetzt!"
„Ho, was unsre Alten konnten, das können wir auch!" Sie prahlten und schrien, als wäre jeder ein wohlausgefüttertes Zuchttier: der krumme Kosek, der immer betrunkene Labisch und der langnasige Metze, den der Wind aus den Fetzen bläst. Labisch ist vom Grenzschutz zurück. Er geht jeden Lohntag nach Hoffrones Kneipe und spielt Siebzehn und Vier, bis er sein Geld völlig verspielt hat. Er redet jetzt, dass er sich zu der neuen „grünen" Polizei melden wolle; es ist die neue Polizeigarde, die zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung aufgestellt werden soll.
Metze und Kosek sind Mitglieder des Kyffhäuserbundes, der den alten gelben Werkverein abgelöst hatte. Die beiden reden von „Täubchen", die sie auf Reisen schicken, von Kaninchenbraten, die sie nur in ihren Wünschen auskosten. Ihre Adamsäpfel hopsen wie Teufelszeiger an ihren dürren Hälsen. „So ein Kaninchenbraten... ha!" „Ein saftiges Lendenstück... ha!" „Dass einem das Fett am Maule herunterströmt... ha!
„Lieber ein Rindsstück... ho!"
„Einen fetten Schweinekopp... hoho !"
„Mir würde ein fettes Stück Hinterteil genügen... ha!"
„Dann aber, Alte, hastenichgesehn... ho!"
„Wenn ihr doch einmal mit dem sündhaften Reden aufhören wolltet!" klagt der Sabbatist Janke.
„Pass auf deine Alte auf, du heiliger Apostel, sie holt sich heimlich den Steiger herein. Siehst ja vor lauter Bibel nicht, dass sich dein Weibchen mit anderen paart!"
„Hohohoho!" heult die Kaue.
„Es gibt Kartoffeln..."
„Kartoffeln gibt es..."
„Kartoffeln..."
„Die Herren Betriebsräte haben sich endlich angestrengt !"
„Es wird Zeit, sonst wächst ihnen der Arsch an dem Verhandlungstisch fest..."
„Es gibt Kartöffelchen!"
„Kartöffelchen!"
Der Betriebsobmann Heise, den sie schon dreimal abgesetzt und wieder gewählt haben, verhandelt nur noch die ganzen Tage und halbe Nächte mit der Direktion wegen Kartoffeln, um die nach Fraß Brüllenden zu besänftigen. Man schindet ihn, als hätte er das Elend verursacht und nicht die Herren Geldsäcke. Man macht ihm das Leben so sauer wie nur möglich. Franz hat manchmal das Bedürfnis, mit den Fäusten dazwischenzuhauen: „So lasst ihm doch etwas Atem, Narren verfluchte, seht ihr denn nicht, dass ihr ihn zuschanden hetzt!"
„Ich geh' hier weg", sagte ein Junge neben ihm mit dem vergrämten Gesicht eines alten Menschen, „ich melde mich zur Fremdenlegion. Das hier ist doch kein Leben mehr."
„Gewiss, Junge, es ist gegenseitiger Mord."
Der Junge ist Heises Sohn, ein Sohn, der den Vater hasst, weil er für alle den lächerlichen Hanswurst spielt. „Spei den Idioten doch in die Fresse", schreit er den grauen Mann an, der auf der Bank steht und stammelt, dass die Kartoffeln noch nicht herangeschafft werden können, weil es an Transportmöglichkeiten fehle, während die wilde Gesellschaft ihn voller Wut anheult: „Ihr seid alle aus demselben Holz geschnitzt!" - „Ihr taugt alle keinen Schuss Pulver!" - „Auch dir ist der Arsch an den Sessel festgewachsen!"
Der Junge sagt mit Bitterkeit: „Ich seh mir dieses Theater nicht mehr lange an. Ich melde mich, ganz gleich wo, und wenn es mein Krepieren ist.4'
Es ist ein bleiches Knabengesicht; es erinnert Franz an viele gleichen Gesichter aus seiner Kindheit. „Wenn es heut noch möglich wäre, auf See zu kommen", sagt der Junge, „als blinder Passagier meinetwegen, ich würde ohne Zögern ziehen!"
Franz sagt: „So habe auch ich geträumt. Es hat keinen Zweck! Alles Fallen, Wolfsgruben. Wir müssen hier kämpfen!"
„Hier kämpfen. Kämpf doch", sagt der Junge böse, „du siehst doch, was sie treiben. Ich hab' mir wirklich alles anders gedacht. Jetzt fressen sie sich wieder."
Franz schwieg.
„Es kann sich wieder über Nacht ändern, wart', Junge!" tröstete er ihn und auch sich. Ja, er hoffte, dass über Nacht etwas anderes kommen müsste, kommen würde!
Das war seine heimlich fortlebende Hoffnung. Sie stieg auch in Christian Wolnys Träumen wie ein Schiff mit vollen, roten Segeln aus dem Dunkel der Hoffnungslosigkeit.
Sie winkte aus dem goldroten Morgen, aus den grell auflohenden Bränden des Werkes, die wie flammende Fahnen den rauchdunklen Himmel erleuchteten. Sie regte sich in ihm, wenn er die Hasserfüllten Mienen der Schlepper nachdenklicher, ernsthafter, menschlicher bemerkte, wenn einer murmelte: „Hoffentlich kommt ein Tag, wo der Mensch wieder den anderen Menschen versteht"; wenn ein zweiter den gehetzten Heise reuig anrief: „Albert, hetz dich nicht so...", ein dritter ihn beim Arm fasste: „Genosse Albert..."; wenn der Knabe Heise ruhiger und mit verträumtem Blick neben ihm ging: „Franz, glaubst du, dass die Menschen sich noch einmal rühren? Weißt du, ich lief damals immer vorn bei der Fahne. Ich musste alles sehen und hören. Wenn es noch mal losgeht, dann heul' ich vor Freude!"
Seine hingeworfenen Worte: „Wenn es noch mal losgeht", beschäftigten Franz den ganzen Weg. Seine Kraft wuchs: „Nein, es kann noch nicht alles zu Ende sein!"
Sie schlagen Berge von Kohle; sie steigen jeden Tag in den Rachen der Hölle; alle wissen, dass es ihr Tod ist, wenn sie unter dem brechenden Gestein schuften. Was macht es ihnen leichter, ihre Todesangst zu überwinden, was gibt ihnen die Kraft, den Gang in die Achthundertmeter-Tiefe immer wieder zu wagen? Weil sie wissen, dass der andere in der Nähe ist und ohne Zögern zu Hilfe eilt, wenn einem Gefahr droht. Kleinsucht, Groll, Zwiespalt sind wie weggeweht. - Der Kumpel ist in Not! und jeder wird Mensch, Kumpel, Genosse und steht dem Unglücklichen bei.
„Es wird wieder anders", suchte sich Franz zu beruhigen, er hatte ja schon mehrere Male ihre furchtbare Kraft erlebt, beim Sturm auf die Kasernen, bei Dutzenden von Demonstrationen. Nur klüger, überlegener mussten sie handeln, nicht zwiespältig, nicht der eine hott, der andere hü; zusammen und mit den gleichen Gedanken.
Franz ging nach der Schicht mit Edy Koschewa und Bruno Freising, die in anderen Revieren arbeiteten, nach Hause. Sie waren wieder die alten Freunde. Die fremde Mauer war nach und nach gewichen, Franz hatte sie beide in die USPD aufgenommen, und er bekam sie zuweilen auch in die Versammlungen mit. Trotz der zeitweiligen „schwarzen Tage" lief er sehr viel umher, für die Union und für die Partei, mit Flugblättern und mit Genossenschaftsscheinen für das „Ruhrecho", die Zeitung der Partei. Er wagte auch manchmal schon, in einer Versammlung zu sprechen. Es war aber noch zu sehr Verlegenheit und Gestammel, und er beneidete oft Raup und den großen Zermack, die gut reden konnten, ohne dass sie den Zusammenhang verloren.
Zu Zermack sah er direkt auf. Zermack war wie ein Berg, an den sich alle Schwankenden klammerten. Er leitete die Union, und seit er diese Funktion übernommen hatte, arbeiteten die Genossen in den beiden Organisationen gemeinschaftlicher. Auch Miller war wieder etwas ausgesöhnt, obwohl er die Spaltung nach wie vor ein Unglück nannte.
Rutschen rappeln, Sprengschüsse donnern. Franz schaufelt Steine und Renteleit schaufelt Kohle in die Rutsche. Unterhalb Renteleits Ort hockt Fritz Raup und knarrt mit dem Bohrhammer in die Kohle.
Christian Wolny hockt in einem gleichen, kaum einen Meter hohen Rutschenfeld, und Kramm in einem anderen. Aber nach der Schicht treffen sie am Schacht zusammen und hocken noch eine Weile schweigsam nebeneinander, bis ihr Förderkorb kommt.
Alle waren wieder Bergleute, und es schien jedem, als sei es nie anders gewesen. Nur einige frische Schrammen und Narben waren zu den alten hinzugekommen.
Christians rote Bäckchen waren verblüht, und sein Gesicht war magerer und männlicher geworden. Sein ganzes Sinnen und Trachten war, seinen „Schatz", das bei ihm verborgene Maschinengewehr, vor Spionenaugen zu behüten und es für schwierigere Tage in Ordnung zu halten.
„Hast es noch nicht ins Pfandhaus geschleppt?" spaßte Kramm.
„Du, da kommt keiner dran", schwor Christian entrüstet. „Eher lass' ich mir Striemen aus dem Fell schneiden!"
Kramm streichelte Christians wirren Mähnenkopf.
„Ich weiß es, Christian. Der Teufel hol' uns, wenn wir eins der Dinger verkommen lassen!"
Die Verbände hatten mit den Herren der Zechen wieder zweimal in der Woche eine anderthalbe Schicht zusammengehandelt. Dafür gab es die Kartoffeln und einige Pfund Brotzulage. Auch die Union machte dabei notgedrungen mit, damit ihre Kumpels ihren Anteil Kartoffeln und Brot nicht verlieren sollten, aber diese anderthalben waren eine neue Falle, die ihnen die Zechengesellschaft gestellt hatte. Der Direktor sagte zu Heise : „Die verlangten Kartoffeln und das Brot können wir nur für Kohle einhandeln. Wenn wir die Wirtschaft ganz lahm legen, muss unser Volk hungern. Sie als Sozialisten wollen dies sicher nicht, es geht auch gegen Ihre politischen Grundsätze..."
Und Tauten, der wieder im Betriebsrat saß, nickte. Auch Miller entgegnete nichts. Zermack hätte am liebsten „nein" gesagt, aber der Hunger heulte in den Buden,
und er sagte sich: Wir werden uns vorläufig dareinschicken müssen. Er schickte sich, wie Miller und Raup, nur diesem Zwang. Sie mussten neue Kräfte sammeln, und der Hunger zersetzte diese Kräfte. Auch die Union fuhr die Anderthalbe an.
Der Steiger kriecht in Franz Kreusats Loch und sieht zu, wie er in der Kohle wühlt. Es ist ein Zahlengesicht. In dem kahlen, schweißigen Kopf rollen in einem fort Kohlenzüge, die stumpfen Augen glänzen nur dann wie im Fieber auf, wenn Kohle in die Rutsche fliegt, wenn die Lagen brechen und der Mann an der Kohle sich wie ein Bagger bewegt. „Schöpp - schöpp", nennen sie ihn, denn wo ein Hauer einen Atemzug lang ausruht, ruft Kalle in das Loch: „Was ist denn hier los? Weiter, schöpp, schöpp!"
Der Mensch ist dreckig und abgejagt, er besteht nur noch aus Ziffern, er rechnet und notiert, während er das bisschen Futter zu sich nimmt, in Eile, wie alle seine Regungen und Bewegungen nur Hast und Eile sind. Er rechnet und notiert während des Schlafens, er rechnet, während er neben der wartenden Frau liegt. - „Heut wieder zu wenig Kohle. Der Alte wird mich fressen!" -„Schöpp doch, schöpp..." Er sieht wie ein hohläugiges, böses und drohendes Gespenst aus, in zwanzig Jahren seines Steigerberufes zu einem „Kohle! Kohle!" zeternden, heulenden, angstschlotternden, lächerlichen Narren herabgesunken.
„Die Wirtschaft muss wieder flottwerden! Die Wirtschaft ist krank, die Wirtschaft muss wieder hoch, die Wirtschaft - die Wirtschaft."
„Du bist ein vernünftiger, ein ruhiger Mensch", lobt Steiger Kalle Franz. Er sieht wie eine Kralle aus. „Es hat doch keinen Sinn, dass der Mensch sich gegen etwas stemmt, was immer bestimmt hat. - Immer bestimmt. Die obere Schicht hat immer bestimmt. Es ist zwecklos, absolut zwecklos, wirklich zwecklos, sich dagegen zu wehren."
„Schmeiß Kohle - schöpp!" Er kriecht gehetzt weiter. „Es ist zwecklos."
Franz Kreusat bohrt.
Der Schießmann Kosma kriecht heran, eine tote Seele: katholisch geboren, evangelisch geheiratet, nach den ersten vier Kindern Sabbatist, nach den nächsten fünf Apostolischer; ein graues Wrack heute, und wieder katholisch morgen, übermorgen wieder protestantisch. „Wie viel Patronen?" lispelt er.
„Gib vier!"
„Nein, drei! Wir müssen sparen. Hast ja 'ne Hacke."
„Sparen. Für Herrn Stinnes!"
„Ganz gleich!"
„Es stinkt nach Wetter!" Vielleicht diesmal das Ende.
„Brennt!" Staubwolken, Sprengschwaden, Würgen. Holz knallt. Das Feld haucht.
Katholisch, protestantisch, sabbatistisch, apostolisch, atheistisch. Franz Kreusat, Raup und Renteleit knien und schaufeln um ihr Leben. „Schöpp - schöpp -schöpp!" wie in Flandern, wie vor Verdun, bei Ypern, röcheln sie in Hast. Der Schwarze knirscht, flüstert, knickt, nagt, drückt. Peng! Das neue Holz bricht. Knack! Der Sargdeckel rutscht tiefer. Sozialdemokrat - Unabhängiger - Spartakus -, katholisch, protestantisch, atheistisch, sabbatistisch: „Baue, baue! Schöpp - schöpp!"
„Kohle! Kohle!" schreit es von unten. Kalle!
„Die Wirtschaft! Die kranke Wirtschaft...! Die kranke... krank - krank... alles krank!"
„Die Sozialisierung marschiert!" kreischt ein schwarzer Teufel.
Mai, Juni, Juli. Neunzehnhundertneunzehn!
Jeden Tag begegnete Franz Kreusat dem „letzten" mit der roten Armbinde. Die bewachten jetzt nur noch die Kaninchenställe. Steiger Schulte forderte, anscheinend im höheren Auftrag, im Bürgermeistereirat die Entlassung auch dieser Invaliden. Die blaue Polizei müsse wieder voll ihren Sicherheitsdienst aufnehmen. Die anderen Bürger stimmten ihm dankbar zu: Ja, man müsse endlich „befähigte" Leute einstellen, damit das Volk aus dem dauernden Angstzustand herauskomme. Jedermann sehne sich nach Ruhe und nach Rückkehr geordneter Zustände. Die Sozialisten spalteten sich in ihrer Meinung -und der Beschluss kam zustande, den Rest der Novemberleute abzubauen, „natürlich mit einer Entschädigung". - Und wieder waren siebzig Gewehre den Händen der Masse entwunden. Die bürgerlichen Herren im Bürgermeistereirat versicherten, sie seien Republikaner und Demokraten, sie warfen in die Debatte: die kranke Wirtschaft brauche jede Arbeitshand, sie müsse wieder neu angekurbelt werden, wenn man leben wolle.
So zerfiel der Arbeiter- und Soldatenrat und die einst so hoffnungsvolle revolutionäre Garde.
Franz Kreusat, der Therese - die in der Stadt in einer Lampenfabrik schaffte - öfters von ihrer Arbeit nach Hause begleitete, hatte schon mehrere Zusammenstöße mit Tauten zu bestehen gehabt.
„Du siehst ja, wie es die Masse begreift. Diese Herde muss mit Verstand geleitet werden", versuchte ihm Tauten begreiflich zu machen. „Man kann nichts mit Gewalt ändern. Jede Entwicklung braucht ihre Zeit. Und auch die Revolution, der Sozialismus ist keine Lösung von heut auf morgen. Wir haben heute das freie Wahlrecht, und wenn wir die Mehrheit in den Parlamenten haben, dann wird sich manches von selbst ändern."
Franz Kreusat widersprach nicht wegen Therese, aber Tauten reizte so lange, bis er einmal erregt antwortete: „Du betrügst dich ja selber. Du verteidigst Noske, und Noske hält von Hindenburg und dem Rat eines Stinnes mehr, als von dir und deinesgleichen."
Tauten erwiderte ihm streitsüchtig: Du brauchst mir nicht zu sagen, was ich zu verteidigen habe. Ich stehe jetzt seit dreißig Jahren in der Arbeiterbewegung und werde wohl wissen, was ich verteidige! Was haben deine Leute bisher mit ihren Krawallen erreicht? Gar nichts! Während sich unsereins müht", knurrte er, „wieder den Frieden und die Ordnung herzustellen, schürt ihr neue Unruhe und gefährdet das wenige Erreichte."
„Lasst doch wenigstens zu Hause das Politisieren!" wandte sich Therese ärgerlich gegen beide. „Mein Gott, man kommt von der Arbeit und kann noch nicht mal ein eigenes Wort reden."
Franz Kreusat war mit Thereses Gleichgültigkeit gegen das, was ihn bewegte, nicht zufrieden. Es schien ihm sogar, dass sie bei den Auseinandersetzungen stets mehr zu ihrem Vater als zu ihm stand. Denn manchmal sagte sie in bestimmtem Ton: „Wenn wir erst verheiratet sind, dann wird er" - das hieß, er, Franz - „wieder zur Besinnung kommen."
„Ja, bring' ihn nur zur Besinnung", antwortete Tauten gewöhnlich darauf und schien stolz auf seine vernünftige Tochter zu sein.
Mehrere Male schon war Franz geneigt, dieses widerspruchsvolle Verhältnis wieder aufzulösen, aber sobald er sich Therese einige Abende fernhielt, dann erschien sie selber und ließ ihn herunterholen, oder die Mutter, die in das „fleißige" Mädel vergafft war, fragte ihn, was mit ihnen los sei und warum er nicht hinginge.
Und schließlich war Therese ja auch eine Frau, die einen Mann binden konnte. Es gab Abende, die ruhig und schön waren. Und Franz Kreusat war noch jung. Jung und voll Verlangen nach Leben, nach Liebe, nach Freude.
Er ging trotz seines Zwiespalts wieder zu Tauten. Und Tauten fing nach einigen halb freundlichen Worten wieder an, warum er die alte Partei verlassen habe. Mit dem Springen sei nichts. Er solle sich nur ja wieder besinnen und umkehren. „Lies dir doch mal eure Zeitung durch! Da steht nur eine Hetze nach der anderen gegen die Sozialdemokratie, während sich deine jetzigen Genossen selber Sozialisten nennen. - Man kann sich nicht einfach über die Tatsachen hinwegsetzen und gewaltsam ändern wollen, was sich nicht so schnell ändern lässt. Lass den Unsinn und renne nicht den Wahnsinnigen nach..."
„Das treib' ich ihm noch aus", versprach die Tochter ärgerlich, und sie sagte es so sicher, dass Franz Kreusat nicht gleich eine Antwort darauf fand.
„Ja, treib ihm die Grillen nur aus!" sagte Tauten.
Auch Frau Tauten, die in allen Zügen ihrem Mann auffallend ähnlich war, und ihm immer dasselbe nachzureden pflegte, sagte: „Ja, treib es ihm nur aus, Kind!" Sie war im übrigen ihrem Mann ganz untergeordnet. Sobald sie wagte, ihm, wenn er über seine Politik redete, mit anderen Fragen zu kommen, fuhr er sie an: „Du weißt dir auch keinen besseren Moment auszusuchen als den, wenn ich gerade mit mir beschäftigt bin!"
Die Wohnung war unter ihren Händen ungefähr da geworden, was der Spruch auf dem einen Wandtuch über dem Ledersofa besagte:
„Allezeit Frieden und Zufriedenheit."
Die Mutter hatte Franz schon einige Male vorsichtig gefragt, wie lange sie noch so zusammen rennen wollen. Er hatte die Achseln gezuckt: „Ich weiß nicht!"
„Ihr könntet eine unserer beiden Kammern nehmen." Er antwortete ihr darauf nicht, er konnte sich noch nicht entscheiden. Wenn die Mutter weiter in ihn drang, nahm er seine Mütze und ging weg, zu Christian oder zu Hermann Kahlstein. Bei diesen konnte er sich wieder von all dem Hin und Her erholen.
„Du, Mensch, es gibt bald wieder Stürme!" bemerkte Christian Wolny, wenn sie in seinem grüngetünchten Kämmerchen saßen. „Dieser Zustand wird nicht lange anhalten. Gut, Mensch, dass wir die Knarren weggeschafft haben, wir werden sie bald wieder brauchen. In Russland geht es weiter. Die Rote Armee schlägt die Banditengenerale, dass die Fetzen fliegen", plauderte der kleine Kuli wie früher. „Und hier wird es auch noch anders kommen."
„Ja, es muss wieder anders kommen", sagte Franz Kreusat grübelnd. Er fühlte sich bei Christian wohl. Er wurde selber wieder lebendig. Sie gingen in die Stadt. Die Kruppleute kamen gerade aus ihrer Morgenschicht. In langen Scharen zogen sie durch die Straßen - ihre Menschen, ihr Elend, ihre Ruhr. Werk- und Schachtsirenen brüllten. Straßenbahnen bimmelten. Glocken dröhnten. Es roch nach Flammen und Rauch, nach Arbeit und Schweiß. Krupp-Essen, die Kanonenstadt Essen, ewige Tretmühle - eine Pulvermine. Die Glut im Kraterherde. Christian plauderte erregt von der Revolution in Russland, von Lenin, dessen Wundertaten ihn Tag und Nacht erfüllten. „Fränzchen, blas keine Trübsal, wir müssen uns nur in Trab setzen und organisieren. Unsere Menschen müssen wieder aufgerüttelt werden. Wir werden uns nicht dauernd an die Kette legen lassen. Auch wir kommen wieder vorwärts." -
Gelegentlich ging Franz Kreusat - er wusste nicht, was ihn da hineinzog - in die Wernersche Wirtschaft hinein. Er traf dort unter der Stammtischrunde an verschiedenen Abenden auch den Stübel, der jetzt wieder Gemüsehändler war und als Geschäftsmann anscheinend nur wieder den geschäftlichen Dingen lebte, denn er debattierte nur über Gemüsebeschaffung und Kartoffellieferungen. Die Zechenverwaltung hatte ihn als ihren Unterhändler bei den Bauern und Landräten mit der Beschaffung der Kartoffeln für die Belegschaft betraut, wobei er allem Anschein nach selber nicht zu kurz kam. Stübel redete nicht mehr radikal, er hatte sein Fell gewechselt und sprach jetzt nur von „wiederkehrenden, geordneten Verhältnissen" und „gesunden Maßnahmen" der Regierung und dergleichen. Unter der Stammtischrunde saß zuweilen auch Tauten mit seinem unzufriedenen Gesicht. Er war im Bürgermeistereirat und ging nach den reichlich hitzigen Debatten, die sich immerfort noch um den leeren Gemeindesäckel und Entlastungen bewegten, hierher sein Bier trinken. Eine dieser Entlastungen war die endgültige Auflösung der „Kaninchenwache", zu der die ehemalige stolze revolutionäre Arbeiter- und Soldatenwehr herabgesunken war. Auch Tauten hatte seine Zustimmung dazu gegeben.
„Sie sind doch sicherlich ebenso froh, dass alles wieder in eine geordnete Bahn kommt?" fragte ihn die graue Wirtin, die mit einer Strickarbeit dabeisaß.
„Ja, es war Zeit, dass sich die Menschheit wieder auf die Vernunft besann", warf Stübel ein. Solche Einwürfe regten Franz Kreusat gleich immer auf, und er entgegnete einmal jähzornig: „Man verlangt immer von den einfachen Menschen Vernunft, warum nicht von den anderen?"
„Sie geben doch zu, dass die Novembergeschichte für alle ein Unglück war", wollte Stübel seine Rede fortsetzen, aber die Wirtin mischte sich ein: „Lassen Sie doch einmal die Politik sein, und erzählen wir was anderes."
Tauten blickte den Schwiegersohn vorwurfsvoll an, als wollte er sagen: „Störe hier nicht!"
Herr Loew, der sich mit dem weißhaarigen, aber noch kräftigen und undurchsichtigen Heumisch, der den polizeilichen Innendienst versah, der Runde beigesellte, wechselte mit diesem einen Blick. Franz Kreusat merkte aus diesem Blick der beiden Polizeileute, dass sie sich wieder völlig sicher fühlten. Ein Gefühl der Ohnmacht beschlich ihn, da er auch von Tautens Seite keine Unterstützung erwarten konnte. Die Herren unterhielten sich ungeniert weiter über ihre Ordnung und zeigten Zufriedenheit, dass die neue Sicherheitspolizei aufgestellt werden und den Ordnungsdienst in den Städten aufnehmen sollte. Auch gegen die Aufstellung dieser Grünen Polizei machte Tauten keine Einwände. Er war von seiner Abneigung gegen die Unabhängigen und gegen die Unionisten so besessen, dass er anscheinend die tatsächliche Gefahr verkannte und sie als Rettung seiner „Novembererrungenschaften" willkommen hieß.
Als Tauten aufstand, wandte er sich an den an der Theke stehenden Franz. „Nun! Kommst du noch eine Weile mit?"
Franz Kreusat trank sein Bier aus und ging mit. Unterwegs sagte Tauten: „Du musst dich einmal mit den Tatsachen abfinden. Wenn wir hier mit der Zwietracht nicht zu Ende kommen, dann werden die Alliierten die Ordnung selbst in die Hand nehmen, und dann steht es noch schlimmer um uns. Wir können uns in Deutschland keine russischen Zustände erlauben. Unsere Menschen denken anders. Also geben wir uns mit dem zufrieden, was wir erreicht haben."
„Also geben wir uns wieder ganz auf!" warf Franz missmutig ein.
„Nein, wir geben nichts auf", stritt Tauten. „Wir wollen nur dem nutzlosen Kampf ein Ende machen, das verlangt unser Verstand."
Franz Kreusat lachte aufgeregt: „Das heißt: uns, die Arbeiter, entwaffnen und dieser neuen Polizei die Gewehre überlassen, damit sie uns damit gelegentlich zusammenknallt."
„Quatsch!" entrüstete sich Tauten. „Diese Polizei wird vorher genau geprüft, und sie wird auch auf die Verfassung vereidigt. Es werden ihr schon die Grenzen vorgeschrieben, verlas dich darauf!"
„Von wem werden ihr die Grenzen vorgeschrieben?" fragte Franz und blieb stehen.
„Von wem?" brummte Tauten. „Fragen! Es gibt Gesetze, nach denen sich auch diese Polizei richten muss."
„Du glaubst es", erwiderte Franz. „Ich glaub' es aber noch nicht. Auch eure Reichswehr ist auf die Verfassung vereidigt, und wir erlebten sie im Februar ganz anders. Sie sind alle nicht unsere Freunde."
Tauten knurrte: „Gewiss, es hätte besser sein können, aber unsere Leute haben den Augenblick, da sie es hätten besser machen können, verpasst. Natürlich ist jetzt auch diese Geschichte unglücklich und verfahren..." Er brummte noch eine Weile von Zersplitterung und „unglückseliger Geschichte" und schwieg endlich missgestimmt.
Herrn Kleinemanns Geschäft ging wieder halbwegs. Natürlich das heimliche Geschäft. Die Soldatenwehr, sein Alpdruck, war nicht mehr da, und er konnte seine Schwarzware jetzt sicherer an den Mann bringen. Er ging öfters nach der Wernerschen Schenke, wo er seine Kundschaft traf, zu der auch Loew gehörte und - wenn auch „durch dritte Hand" - seinen Anteil an Speck und Butter in Empfang nahm. Willi Werner hatte seinen Ton geändert, er verdiente ja auch seinen Teil daran, und Herr Kleinemann war in diesem Fall keineswegs engherzig. Er hatte sich mit Willis Hilfe einen ziemlich großen Kundenkreis gesichert, und es durfte ihm nur jetzt keine neue Novembergeschichte dazwischenkommen. Deshalb trat er hundertprozentig für die neue Polizei ein, von der er sich nur Nutzen versprach, Nutzen für sich und Nutzen für den Staat. Vor den Leuten, die in seinen Laden kamen, sprach Herr Kleinemann selbstredend nur über die notwendige Ordnung, die der Staat brauche, und nicht über seine eigenen Geschäftssorgen. Die Hungerer hätten doch nur wieder unnützen Lärm geschlagen, dass er dies und jenes sei und weiß Gott, was sonst noch. Sein Prinzip war: „Über alle Dinge, die du mit dir allein abzumachen hast, vor der Öffentlichkeit Grabesschweigen bewahren."
Eines Tages fasste ihn Willi Werner in der Schenke beim Rockknopf und sah ihn prüfend an: „Krämer, kann man dir Vertrauen schenken? Nu, starr mich nicht so blöd an!"
„Mir? Warum nicht!" antwortete Herr Kleinemann beleidigt. „Hast du denn plötzlich vor mir Geheimnisse?" Er schüttelte gekränkt den Kopf. „Seltsam!"
„Du kannst doch mit einer Flinte umgehn, Krämer?" fragte Willi mit einer neuen misstrauischen Prüfung.
„Mit einem Gewehr umgehn? Warum solche Frage? Natürlich kann ich damit umgehn. Ich bin doch Soldat gewesen!" erwiderte Herr Kleinemann unsicher, denn er wusste noch immer nicht, worum es ging.
Willi Werner erklärte: „In Essen stellen unsere Leute eine Einwohnerwehr auf. Auch wir haben hier den Auftrag bekommen, eine Schar tüchtiger Männer zusammenzuholen. Gewehre haben wir", vertraute er ihm an, „und auch im übrigen alle Unterstützung. Also, was denkst du?"
„Sooo!" antwortete Herr Kleinemann, um die Antwort möglichst lange überlegen zu können. Er war kein großer Held und nie gern da, wo geschossen wurde. Er hatte ja auch alles getan, um dem Schützengraben zu entgehen, und den Ärzten alle Gebrechen vorgemimt. Aber dieser Kerl setzte ihm sozusagen die Pistole auf die Brust mit seinem: „Was denkst du!" Er musste, um die Kundschaft nicht wieder zu verlieren, notgedrungen mit den Wölfen heulen. Nach einigem Hin und Her sagte er also: „Wenn es durchaus sein muss, bin ich nicht dagegen!" Er erkundigte sich aber im gleichen Atemzuge: „Und wer ist denn noch dabei? Auch der Schwerlich?"
„Der ist dabei!" sagte Willi.
„Und wer noch?" fragte Herr Kleinemann. „Auch der Stübel?"
„Der ist auch dabei!" beruhigte Willi. „Wir haben schon alle beim Schlawittchen, die vielleicht glauben, sich drücken zu können. Übrigens, es besteht vorläufig keine Gefahr, dass es zu irgendwelchen schweren Geschichten kommen könnte. Die Grüne Polizei ist fertig aufgestellt, und wir bilden im Falle eines Falles nur die Reserve. Also überlege nicht lange; du bist dabei und Schluss!" beschloss er die Verhandlung, weil inzwischen noch andere Gäste hereingekommen waren.
An dem Stammtisch saß an diesem Abend der Kranzmann. Es war der Grubeninspektor Hansemann, ein stattlicher Vierziger mit einem flachsblonden, militärischen Schnurrbart und scharfem, hellem Jagdblick. Herr Hansemann war einer der heimlichen Organisatoren der Feindseligkeiten gegen die Arbeiter- und Soldatenräte und gegen die revolutionären Sicherheitswehren, obwohl er niemals selber offen hervorzutreten pflegte und seine Pläne durch Schulte und andere ihm willfährige Leute in die Beratungen schmuggelte und in den meisten Fällen auch durchsetzte. Man nannte ihn „Kranzmann", weil er unten die vollen Wagen noch mit großen Kohlenstücken hoch zu umkränzen verlangte; „eine Selbsterziehungsmethode", wie er sagte, „die er sich in den eigenen Schlepper- und Häuerjahren angeeignet hätte, und die ihn vom kleinen Bauernsohn bis zu seiner heutigen Stellung als Betriebsinspektor emporgebracht habe".
Herr Hansemann tat, als interessiere ihn die Unterhaltung zwischen dem Wirtssohn und dem Krämer gar nicht, doch schien er, steif und unbeteiligt dasitzend, sogar mit den gesenkten, kaum zwinkernden Augenwimpern allem zuzuhören.
Er setzte sein Gespräch mit der grauen Frau Werner fort: „Ja, unsereiner hat es tatsächlich nicht leicht gehabt... Ich hatte als junger Bursche oftmals im Heu schlafen müssen, weil der gute Vater in vielem ganz streng und unerbittlich war. Sein Grundsatz war: Willst du leben, musst du streben...!"
Dem Krämer schmeckte dieses Mal der Schnaps schlecht.
Er stellte sich, während er an dem Glas nippte, einen Zusammenstoß mit den Arbeitern vor, die, wie er wusste, nicht spaßten, wenn sie in Wut waren. Er hatte das im Februar erlebt und dachte sich jetzt selber mit einem Gewehr dazwischen. Nein, er wünschte sich dann lieber, wieder Wachmann im Krieg zu sein. Aber der Kerl hatte ihn einfach mit seinem Gerede festgenagelt. „Ein ekelhafter Schnaps", brummte er laut und zahlte. Er spitzte giftig die Ohren.
Oben spielte wieder die Tochter auf dem Flügel. Der Alte hat sich auch was zusammengeschoben, dachte der Krämer. Sogar einen Flügel haben sie sich anschaffen können. Spitzbubenvolk!
Die graue Frau Werner, die wieder mit ihrem Strickzeug hervorkam und sich hinter dem runden Tisch an der braungetafelten Wand niederließ, bedeutete ihm lächelnd: „Es ist Brahms!"
Herr Kleinemann machte eine Miene, als wünsche er alle diese Gauner in die Hölle. „Der Hundskerl hat mich reingelegt! Vielleicht gelingt es mir noch, mich ohne Schaden aus der verdammten Geschichte herauszuwinden." Er trank den Rest Schnaps und ging mit einem neuen Alpdruck nach Hause. Natürlich war er für Ordnung, für eine strenge Ordnung, aber das war Sache der Polizei und nicht seine Sache. So disputierte er mit sich noch im Bett: „Eine verdammte Zeit. Man sitzt immerfort wie in Zangen. Entschlüpfst du mit Mühen der einen, sitzt du gleich wieder in einer anderen...

 

Viertes Kapitel

Es war wieder Winter.
Äußerlich hatte sich an der Ruhrwelt nichts geändert. Die Feuer brannten, die Schächte dröhnten in Förderung und die Rauchkarawanen schleppten sich unter dem grauen Himmel.
Die Kumpels zogen morgens und mittags in dem gewohnten Trott zu ihrer Schicht. Am Sonntag hockten sie trotz der Kälte auf den Häusertreppen und führten ihre Debatten. Diese drehten sich immer noch um die fehlende Nahrung und Kleidung. Die Steiger wurden verflucht, bei dem Wort „Regierung" spuckte man aus: „Die? Die soll sich begraben lassen!" Dann zankten die Altverbändler mit den Unionisten und die Sozialdemokraten mit den Unabhängigen. Dann verfluchten alle wieder das reiche Gesindel, dem die Not der Schlepper keine Sorgen verursachte. Und dann stand der eine, von dem Widerstreit ermüdet, auf: „Eck goh op den Strohsack, utschlopen für morgen!" Und der andere und der dritte dröselten auf der Treppe ein. Äußerlich schien es, als hätten diese schläfrigen, wracken Menschen nie einen November, nie tobende Kämpfe erlebt, als hätten diese müde verstummten Münder niemals den mächtigen Donnerschrei: „Revolution! Freiheit!" mit Hunderttausenden geschrien.
„Gehn wir schlafen!" sagte der breite, spitzbärtige Stamm und schwankte wie ein leckes Schiff in das Dunkel seiner Sorgenkammer. -
Aber es sah nur so aus. Unten in der Grube schwelte die Glut weiter! In den Schlägen der Hauen und Hämmer tobte der alte Hass gegen die Antreibergesellschaft. In dem Knirschen, in den Flüchen und Schreien, die den Rutschenlärm übertönten: „Verfluchte Antreiber, die Hölle soll sie alle fressen. Man sollte die Hackenstiele nehmen und das ganze Herrenpack zum Lande hinausjagen!"
Es ging zum Ende Februar.
Franz Kreusat, der jetzt öfters mit Zermack in die Stadt zu einer Versammlung der Union oder mit Raup in eine Parteiversammlung ging, fand inmitten der Hunderte von Genossen seine Festigkeit wieder. Nein, es war noch nichts zu Ende, nichts tot. In diesen Versammlungen erfuhr er von dem gewaltigen Aderwerk der Partei, durch welches das pulsierende Feuerblut des revolutionären Widerstandes weiterströmte. In dreihundert Schächten und den kochenden Eisenwerken organisierten die Partei und die Union die neuen Kämpfe, denn diese Kämpfe würden kommen: Die aus dem Baltikum zurückgekehrten Söldnerbrigaden wurden nicht entwaffnet, sie waren um Berlin herum gelagert worden, und die Regierung unternahm nichts, um diese abenteuernden Truppen aufzulösen und nach Hause zu schicken. Eine andere Ursache zu den häufigen Versammlungen der Partei und der Union waren die „Grünen", die schon den Patrouillendienst in den Städten übernommen hatten. Es waren ausgesuchte Leute, meistens Offiziere und Unteroffiziere der alten Armee, in schmissigen, grünen Uniformen und Jägertschakos und mit Karabinern bewaffnet. Welch eine Veränderung in einem Jahr! Die Soldaten und Arbeiter mit den roten Armbinden und Tuchkokarden waren von den Straßen verschwunden. Und diese neue Polizeigarde hielt jetzt die Ordnung aufrecht. Welche Ordnung? Die Ruhe und die Ordnung, auf die auch der verblendete Tauten stolz war.
Franz Kreusat litt unter dem Anblick dieser stumpfen, herausfordernden Gesichter. Er hörte Kramm neben sich knirschen. „So weit sind wir gekommen!" Manchmal blieb der breitschultrige Kuli, der noch immer seine Matrosenbluse und -mütze trug, stehen und starrte die eisigen Polizeigesichter an. Franz zog ihn nur mit Mühe weiter: „Komm, mach keinen Unsinn!"
Zermack sagte: „Genossen, wir müssen die Masse organisieren. Wenn wir nur allein die Faust ballen, werden wir diese Gendarmen nie wieder los. Redet unten darüber. Sagt den Kumpels, dass sich das neue Unglück wieder zusammenbraut. Wir werden bald etwas Neues erleben!"
Dieses „Neue" kroch gespenstisch und fühlbar heran. Berlin oder hier? Oder wo? Niemand konnte voraussagen, was sich in den nächsten Tagen ereignen würde. Aber dieses Neue, dieses Gespenstische rückte näher. Waren diese Jäger mit den Karabinern schon ein Anzeichen, schon ein Teil davon? Sie waren es, trotz ihrem Eid auf die Verfassung. Auch die Reichswehr war auf die Verfassung vereidigt, aber General Lüttwitz war der Mörder der Berliner roten Matrosen. Auch General Lüttwitz schwor auf die Verfassung.
Franz war es jetzt oft eine Pein, Therese aufzusuchen. Die schon immer gespannte Stimmung zwischen ihm und Tauten war eine nahezu feindliche geworden. Sie sprachen fast nicht mehr miteinander. Und wenn sie ein paar Worte wechselten, dann war es kaum verhaltener Hass. „Geh in die Stadt, da stehn sie schon, eure neuen Ordnungshüter!" sagte eines Abends Franz.
„Lass sie stehen!" antwortete Tauten. „Dir schaden sie doch nichts!"
„Nein, aber gelegentlich kriegst du zum Dank für deine Zustimmung auch noch eine Kugel aus diesen Karabinern ab!"
„Ich stell' mich nicht vor die Karabiner hin!" brummte Tauten. „Wenn ihr die Leute aber reizt, dann werden sie sich das natürlich nicht gefallen lassen!"
„Wofür sind sie überhaupt da! Wer hat sie denn hergeholt", fragte Franz. „Wir brauchen ihre Bewachung nicht, wir können uns selbst bewachen!"
„Das habt ihr nach dem November bewiesen", sagte Tauten, „Mord und Totschlag hat es gegeben!"
Franz lachte bitter. „Mord und Totschlag. Und wir sind nach deiner Meinung daran schuld."
„Zum Teil, ja", sagte Tauten. „Hättet ihr mehr Vernunft gezeigt, dann wäre alles dies nicht gekommen."
„Lasst doch den ewigen Zank!" mischte sich Therese ein. „Mein Gott, geht es denn nie ohne Streit ab! Ich denke, du kommst, um unsere Sachen zu besprechen, und da fängst du gleich wieder an zu streiten."
Frau Tauten sagte, mit einem scheuen Blick auf ihren Mann, zu Franz: „Ich sag' auch, du solltest lieber an euch beide denken. Ich möchte es nicht haben, dass diese unangenehme Zwietracht auch in eure Ehe hineingetragen wird!"
Franz Kreusat saß empört und grübelnd da. Alle waren gegen ihn. Auch Therese. Er hoffte, vielleicht änderte sich Therese, wenn er heiraten und sie zu seinen Eltern nehmen würde. Vielleicht, aber sie war noch zu sehr Tautens Tochter.
Als Tauten schlafengegangen war, entschloss er sich, mit Therese, die noch verstimmt schwieg, darüber zu sprechen. Ihr Zorn verlor sich, und es wurde wieder ein guter, ein friedlicher Abend. Ja, sie war mit einer baldigen Heirat einverstanden.
„Ist es dir wirklich Ernst?" fragte er sie noch einmal. „Natürlich Ernst", sagte sie, fast unter Tränen. „Wir müssen doch."
„Wir müssen...?" Er sah sie an.
„Ja!" sagte sie. „Ich konnte es dir nur nicht sagen. Ihr streitet euch ja immer, und ich komme gar nicht dazu, mit dir darüber zu reden."
Als er nach Hause zurückkehrte, ging er eine längere Zeit in der Küche unruhig hin und her. Die Mütter, die auf ihn gewartet hatte - sie konnte nie früher einschlafen, bis sie ihn sicher im Haus wusste -, forschte ängstlich in seinem Gesicht. Schließlich sagte sie: Du kommst nie mehr zur Ruhe. Ist denn wieder etwas passiert?"
„Ich muss heiraten!" sagte er zögernd und wandte den Blick von ihr ab.
Sie sagte: „Ich rate dir doch schon längst dazu! Tu es doch. Die Kammer kannst du nehmen."
Er nickte nur. Er wagte nicht, ihr alles zu sagen. Als er im Bett lag, überlegte er diese neue, unerwartete Schwierigkeit. Sicher freute er sich; aber wenn andere Geschehnisse dazwischenkamen? Man konnte sich in dieser Zeit nicht zur Ruhe setzen und nur um sich besorgt sein. Er war nicht mehr das spielende „Fränzchen", er war der Genosse Franz Kreusat, von dem mehr verlangt wurde. Vielleicht klopften in den nächsten Stunden schon Kahlstein oder Fritz Raup an die Tür: „Zieh dich rasch an und komm, es ist eilig!" Und er würde nicht liegen bleiben, auch wenn Therese neben ihm läge, er würde ohne Zögern aufstehen und sich anziehen und mit den Genossen gehen. Und was würde Therese sagen? Bleibe! Geh nicht! Der Alte würde es ihr gewiss einprägen: Lass ihn nicht mehr herumrennen, halt ihn zu Hause! Und er quälte sich immerfort mit diesen Gedanken: Soll ich heiraten, oder soll ich es noch eine Zeitlang hinausschieben, bis sich die Zeit etwas geändert hat, oder was soll ich tun?
Aber die neuen Ereignisse warteten schon vor der Tür.
Franz verkehrte nur wenig mit den Leuten in seinem Haus. Das Haus glich einem Pferch, es war mit Familien bis unters Dach vollgestopft, aber die meisten der Männer und Frauen waren teilnahmslos und gehetzt, und es war nicht leicht, mit ihnen über die politischen Ereignisse zu sprechen. Nur die Naumannsche, die eine Treppe tiefer wohnte und das „Ruhrecho" austrug, erschien gelegentlich in der Tür und schimpfte mit ihrer lauten Stimme: „Das Volk verfault lieber in seinem Dreckhaufen von Not und Elend, als dass es etwas dagegen unternimmt. Man kann sich wegen einer Zeitungsbestellung das Maul wundreden. Kein Geld, kein Geld! Aber den ,Kleinen Anzeiger' und die ,Allgemeine', die feindlichen Blätter, findet man auch da, wo man nach Brot schreit, auf jedem Tisch. - Und mein fauler Kerl ist auch nicht besser", schalt die zornige Frau. „Auch er möchte sich am liebsten immer hinter den Ofen verkriechen und mir alles allein überlassen. Wenn ich nur nicht das halbe Dutzend elender Krabben hätte, ich würde tatsächlich keine Stunde in der stickigen Bude verbringen..."
Hoch unter dem Dach wohnten die Kaminskis. Franz hatte sich schon einige Male mit dem Martin, der die Zeitung bestellt hatte, unterhalten. Einundzwanzig Jahre war Martin; er war ein stiller, in sich verschlossener Junge, der meistens für sich allein saß und in der Zeitung oder in einem Buch las. Martin saß barfuss und mit offenem Hemd in der einen Kammer, wo sie allem Anschein nach mit einem halben Dutzend schliefen, als Franz ihn wieder einmal aufsuchte.
„Na, was bringst du?" fragte er mit einem knappen Blick in Franz' Gesicht.
„Eigentlich nichts. Ich wollte nur gucken, was du machst."
„Was mach' ich?" lächelte der Junge, „in der Bude sitzen. Man hat ja keine ganzen Schuhe mehr, um rauszugehen. Und man ist nach der Schicht wie gerädert. Ich lese hier ein Buch, es ist aber lauter Unsinn. Indianer. Wir sind ja selber solche armseligen Indianer, die jeder Hund jagen kann!"
Er sprach vernünftig, und Franz musste zu seiner Beschämung eingestehen, dass Martin manches mehr wusste.
Martin sah nach der Stadt: „Dieses Kanonenwerk, weißt du, dürfte der Kerl von Krupp eigentlich nicht mehr haben", sagte er, „das haben sie ihm wieder zugeschustert. Die Banditen erschleichen sich alles wieder. Wir hätten es damals besetzen und nicht mehr aus den Händen geben sollen. Was haben unsere Dummköpfe vom Soldatenrat gemacht? Die Gewehre haben sie abgegeben. Das Werk hätten wir besetzen sollen. Und die Gruben auch. Es wird immer geredet und geredet. Ich sag' mir so in meinem dummen Verstand: Wir haben uns selber wieder hereingeritten. Wenn ich sprechen könnte, ich würde das mal in einer Versammlung sagen..."
Franz sagte: „Du solltest dich für die Partei entschließen."
„Partei. Daran hab' ich noch nicht gedacht, in eine Partei zu gehn!" antwortete Martin nachdenklich. „Es ist auch noch keiner hergekommen. In unsere Feckeln (Anm.: Dachkammer) verläuft sich nur alles, was Geld haben will, aber niemand, mit dem man sich aussprechen kann."
„Natürlich", sagte er, „du hast recht, man döst einsam umher. Mensch, man ist einundzwanzig Jahre, vier davon hat man in der Grube hinter den Förderwagen verbracht, zwei draußen im Schlamm. Und wie es mit den früheren Jahren ausgesehen hat, das weißt du selber. Da soll der Mensch an Freude denken. Ja, du hast recht, man müsste etwas anderes tun und nicht immer hier hocken."
„Ich bringe morgen einen Schein und nehm' dich in die Partei auf", meinte Franz Kreusat. „Ich bin auch lange wie ein verlorenes Schaf rumgependelt, bis mich dann der eine Kuli beim Kragen packte!"
Franz Kreusat erzählte Martin seine Geschichte mit dem Kuli, der ihm am 9. November das Büchlein für die Mehrheitspartei ausgeschrieben hatte, und dass er es lange in der Kommode liegen ließ, bis er es dann im Januar wieder hervorkramte, als er Kramm heulen sah, weil die Noske-Offiziere seine Heiligen, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, ermordet hatten.
In der Küche klapperte Frau Kaminski mit dem Geschirr. Ein kleines, verschmutztes und schreiendes Kind kroch über die Schwelle in die Kammer. Martin nahm es auf sein Knie und wischte ihm die Tränen weg und putzte ihm die Nase. Es war sein jüngster Bruder.
„Ich komme mal mit dem Schein", sagte Franz.
„Meinetwegen!" sagte Martin.
Sie saßen seither oft zusammen und gingen auch ab und zu mit Hermann Kahlstein nach dem Salkenberg zu Christian, der ihnen - auch er fasste gleich zu dem ernsten Martin Vertrauen - von seinem immer sauber gehaltenen Schatz" erzählte. Auch Edy Koschewa und Bruno Freising kamen gelegentlich mit, und bisweilen wurde die Kammer wieder zu einer lebhaften Versammlungsstätte; das waren für Franz immer schöne Stunden. „Stunden der Erbauung!" nannte Christian sie scherzend.
Kramm führte die kleine Gruppe der Kommunisten im Ort, der auch Christian und Kahlstein als Mitglieder angehörten und der Miller irgendwie abgeneigt war. Miller schien, trotz seinem strengen, ja oftmals herrschsüchtigen Charakter, niemals ganz ausgeglichen. In manchen Versammlungen neigte Miller mit seinen Einwänden und Ratschlägen mehr nach Tauten und Heise hin, als zu seinen Genossen Zermack und Raup; aber dies schien ein Widerspruch in der gesamten Unabhängigen Partei zu sein, den Franz aus den heftigen Diskussionen während der Parteiversammlungen in der Stadt herausfühlen konnte.
Auf alle Fälle waren ihm Kramm und Christian näher als Miller, der sich auch zur Stunde wieder in einer Krise befand und sich in den Belegschaftsversammlungen nur wenig oder gar nicht meldete. Zermack und Raup dagegen blieben immer die gleichen beharrlichen und die Übelstände in der Grube angreifenden Redner, und den beiden war zu verdanken, dass die Kumpels wieder lebendiger wurden und unten andere Reden führten. Sie stiegen langsam wieder aus der Niederlagenstimmung heraus, die ihn selber lange Zeit gelähmt hatte.
Es war ein Märzmorgen. Martin Kaminski, der Franz in den letzten Monaten ein neuer, unerwarteter Freund geworden war, hatte ihn früher als sonst aus dem Schlaf geklopft.
„Zieh dich schnell an", rief er hinter der Tür. Als ihn Franz hereinließ, erzählte Martin: „In Berlin sind die Baltikumer eingerückt! Es kann sein, dass sie auch hier einrücken. Komm, eil dich, wir müssen schnell nach der Zeche!"
Franz zog sich in aller Eile an, während die Mutter ihm entsetzt zusah. „Mein Gott, was ist denn jetzt wieder?" stammelte sie, „man kommt ja nicht mehr aus den Schrecken heraus!"
Martin erzählte, dass die Regierung ausgerückt sei und dass ein Landschaftsdirektor Kapp und ein General Lüttwitz in Berlin säßen. Franz schämte sich, dass Martin ihm jetzt mit vielen Dingen immer mehr voraus war. Er beruhigte die Mutter: „Sorg dich nicht, es wird halb so schlimm sein!" und lief hinaus.
„Vergiss doch nicht den Kaffee und dein Brot!" rief die alte Frau ihm jammernd auf der Treppe nach. Er nahm das Brot und die Pulle um die Schulter und rannte.
Martin sagte unterwegs: „Wir haben so lange gezögert und geträumt, bis wir sie endlich in Berlin sitzen haben. Das gibt jetzt ein Blutvergießen."
Franz hatte über diese neue Gefahr schon öfters reden gehört, und die Genossen waren darauf vorbereitet, aber es kroch ihn wieder das würgende Angstgefühl an, das er schon überwunden zu haben glaubte. Er kämpfte mit Gewalt die Angst hinunter und gab sich Mühe, ruhig und mutiger zu erscheinen. Martin war merkwürdigerweise ruhig, ja, er schien heute sogar der Überlegenere zu sein. „Wenn wir jetzt nicht gleich wieder durcheinander geraten", sagte er nachdenklich, „dann ist noch nichts verloren."
„Nein!"
Sie stießen auf andere Kumpels, die auch schon von der Geschichte in Berlin erfahren hatten. Man redete voller Wut und verfluchte den Zwiespalt und die Dummheit. „Das gibt wieder Blutvergießen", orakelten die Ängstlichen.
„Wenn so ein Herr General oben sitzt, dann hat für uns die Glocke ausgeschlagen. Da ist kaum noch was zu machen!"
„Halt doch deinen verfluchten Rachen", schrie den Schwarzseher ein anderer an. „Natürlich muss man was dagegen tun."
„Die Schachträder dürfen sich nicht mehr drehn", hörte man Hermann Kahlstein reden. „Ich sagte ja immer", fuhr der Kuli aufgeregt fort, „die Regierung wackelte schon die ganze Zeit, aber keiner wollte es wissen. Nun haben wir die neue Gesellschaft und gleich mit einem Haufen Büttel und Kanonen. Kein Gott hilft uns jetzt, wenn wir uns nicht selbst helfen. Ich sag': die Räder dürfen sich nicht eine Minute mehr bewegen, oder der Teufel hol' uns."
„Natürlich. Wir müssen den Pütt absaufen lassen!"
„Knarren brauchen wir", schrie ein anderer. „Warum haben wir damals die Knarren überhaupt abgegeben. Jetzt braucht man sie vielleicht und man hat sie nicht mehr!"
„Knarren, wir haben sie!" erinnerte sich Franz. Wie gut war es, dass sie die Gewehre aufgehoben hatten. Er sah jetzt ein, wie klug Kramin und die anderen Genossen damals gehandelt hatten. Ja, sie standen jetzt nicht so ganz schutzlos da.
Die Schachthämmer schlugen, und ein Schrecken durchfuhr ihn. Auch die anderen wurden einen Moment still und horchten. „Sie fahren an!"
„Ja, die fahren an, verflucht!" Miller kam von der Kolonie. Mehrere riefen ihn an.
„Miller, was tun wir?"
„Verliert nicht gleich den Kopf", sagte er heiser und zornig. „Da sind sie schon wieder kopflos!" Er sah finster und unnahbar darein, und keiner wagte weiter zu fragen. Miller lief anscheinend nach der Stadt. Er war Vorsitzender der Parteigruppe der Unabhängigen. Franz fand sich in Miller nie zurecht, man konnte niemals erraten, was Miller dachte, was er in solchen Stunden vorhatte. „Verliert nicht gleich den Kopf!" Das war alles, was er ihnen zu sagen hatte. Die Herren wollten fördern. Die Schachthämmer schlugen wieder.
„Herrgott, die verfluchten Hunde fahren an!"
„Ruhig", rief Kahlstein, „wenn sie angefahren sind, die Dummköppe, dann werden sie wieder rausmüssen!"
„Das glaubst du?"
„Das werde ich selber tun, oder sie können drinnen absaufen!" drohte Kahlstein, zu allem entschlossen.
Vor dem Zechentor reckte eine Menge die Hälse. Die Männer lasen einen Aushang. Von weitem sah Franz Christian darunter.
„Christian!"
„Komm", rief Christian, „wir haben heut Arbeit! Da hängt schon unser Todesurteil!" zeigte er wütend auf das Dekret.
„Wo sind die Betriebsräte?" fragte Kahlstein.
„Sie beraten anscheinend erst wieder!"
„Was beraten sie denn wieder? Immer beraten sie, wenn uns das Messer an der Kehle sitzt!" schrien welche aus der Menge. „Sitzung... Sitzungen..." , „Auch Miller lässt sich heute wieder beschwatzen!" „Miller ist nach der Stadt gerannt!" sagte Franz.
Die Scharen zogen streitend und über die „Sitzenden" lästernd nach der Waschkaue. „Sind wohl auch schon gekauft, der Zermack und der Miller." -
In der Kaue traf Franz den Renteleit. „Wo sind Raup und Zermack?" fragte ihn Franz. Noch andere fragten nach Zermack und Raup.
Renteleit antwortete: „Die werden sich heut wohl nicht drücken! Sie sind mit Tauten zu einer Besprechung." Kramm trat zu Franz. Der Kuli lachte aufgeregt. „Hast du dir das durchgelesen, was da draußen ausgehängt ist?" fragte er. „Todesstrafe kündigen sie uns an, wenn wir uns hier rühren."
Er ging nach einigem Brüten wieder hinaus und riss mit einem Fluch das Dekret ab. „Und wenn sie mich auf der Stelle erschießen, aber dieser Dreck soll hier nicht wieder hängen."
Auch Jupp Zermack war von Fritz Raup früher geweckt worden. Sie waren beide unter den erschreckten Augen der Frau weggegangen, und Frau Zermack bereitete sich aus Gewohnheit auf schwere Tage vor. „Mein Gott, wann nimmt dieses Rennen ein Ende!" sagte sie dieses Mal verzagter. Sie dachte nicht ans Weiterschlafen, sie stand auf und begann zu ganz früher Stunde mit ihrem Tagewerk. Sie war eine starke, eine standhafte Frau.
Nie hatte sie ihm dazwischengeredet, wenn er seiner Sache nachging. „Es muss sein!" so hatte sie sich jedes Mal abgefunden. Er tat ja nichts Unrechtes. Aber diese ständige Gefahr, in die er rannte, die ständige Angst um ihn! Selten eine Stunde ruhiger, menschlicher Freude erlebte man. „Diese schreckliche Zeit, nichts bringt sie einem ein als graue Haare, nichts als Angst und wieder Angst!"
„Mutter!" meldete sich der zwölfjährige Josef. Der
Junge war auch schon wach geworden. „Wenn der
Raup so früh kommt, dann werden sie wieder streiken!"
„Schlaf doch weiter, Kind", ermahnte Frau Zermack.
„Fang du nicht auch schon an wie der Vater!"
„Gestern wurde erzählt", sagte der Junge, „dass in Berlin etwas im Gange ist. Vielleicht ist da etwas passiert."
Sie schwieg und ging, ohne etwas zu tun, zum Herd, sie ging zum Fenster und schob die Gardine zurück. Die Schachtsirene heulte.
Frau Zermack schrak zusammen, obwohl es der täglich gehörte gleiche Ruf der Sirene war. Heute fuhr sie unter diesem Ruf zusammen. „Sie werden wohl anfahren!" sagte sie.
„Ich glaub' es nicht", antwortete der Junge. „Wenn Onkel Raup so früh kommt, dann ist was passiert!" —
Zermack ging mit Raup eilig nach der Zeche. Beide schwiegen. Raup beobachtete besorgt den Kumpel. Die elende Zeit mürbt uns alle an, dachte er. Man ist immer wieder am Anfang, sagte er sich unter einem Angstdruck. Immer am Anfang.
Zermack erwachte aus seinem Grübeln. „Immer hängt alles an einem! Immer steckt nur unsereiner seine Hände ins Feuer!"
„Ja, immer steckt man allein die Hände ins Feuer", ging Raup voller Zorn darauf ein. „Immer heißt es: macht alles allein und schaut, wie ihr fertig werdet!"
„Aber, was willst du; wer macht es sonst?" -
„Tauten und Heise werden es nicht tun. Und die Kumpels werden auch heut wieder auf dein Wort warten." Zermack ging still geworden und düster weiter. Sie liefen dieses Mal die Viertelstundenstrecke in wenigen Minuten. Die Menge stand noch am Tor und sprach über das Dekret. Als sie näher kamen, spürten sie die Gedrücktheit, die über allen lag, wie einen kalten, auch sie anschleichenden Alp.
„Was wollt ihr tun?" fragten mehrere Zermack und Raup. Zermack antwortete ausweichend: „Wir wollen Miller hören, was er zu tun gedenkt."
„Wir können uns jetzt nicht auf Miller verlassen", erwiderte Raup. Er hatte Sorge, auch Zermack schrecke vor der angedrohten Strafe zurück. „Und auf Tauten ist schon gar nicht zu bauen. Wir müssen es allein wagen."
Zermack zauderte. Die Ungewissheit lähmte auch ihn, was folgen würde, wenn sie hier den Anfang machten und die anderen nicht nachkämen. Dieses Zagen dauerte aber kaum eine Minute. Er sammelte sich wieder und sagte zu den wartenden Leuten: „Lasst euch durch das Blatt nicht schrecken!"
Heise kam. Der Obmann war vollends durcheinander. „Eine elende Geschichte", sagte er verstört, „aber wir müssen, denke ich, der vernünftigere Teil bleiben!" Er sah Zermack an, der mit sich kämpfte. „Wir können nicht vorgreifen, hörst du! Die Gewerkschaften haben auch noch ihr Wort dazu zu sagen!"
Zermack antwortete mit einem bösen Lachen: „Das hätten sie sich früher überlegen sollen. Aber sie werden auch jetzt kaum was unternehmen."
„Zermack, gottverflucht!" schrie Kramm, der aus der Kaue zurückkam, „alles wartet. Was wollen wir tun?"
„Vorläufig gar nichts!" wies ihn Tauten, der hinzugekommen war, erzürnt ab. „Wir wollen doch nicht wie Wahnsinnige in unser Verderben rennen!" Er zog Zermack weiter. „Komm, wir wollen hier keinen Auflauf machen. Die Leute sollen anfahren. Die Gewerkschaften, denk' ich, werden sich bald melden. Komm, wir wollen in unserer Bude sprechen."
„Sitzung!" grollte Kramm und spuckte aus. „Sie bremsen wieder. Der Teufel hole alles !" fluchte er und sah sich um. „Die oben werden sitzen, hier werden sie wieder sitzen, und indessen setzt man uns das Messer an die Kehle, gottverflucht!"
Die Menge stand still und gedrückt umher. Hier und dort spie einer aus und murrte: „Es gibt wieder nichts, die verfaulen lieber, aber sie unternehmen nichts."
Die Klöppel schlugen oben am Schacht.
„Zermack!" ermahnte Raup. „Wir müssen den Leuten was sagen!"
„Zerreißt mich doch nicht!" erwiderte der große Mann. „Soll ich denn allein für alle den Kopf hinhalten?" Raup wurde rot, er starrte den Kumpel an. „Mensch", stammelte er, „bist du denn heut ganz aus dem Rahmen?"
Zermack ging düster und unentschlossen neben Tauten und Heise nach der Betriebsratsbude. Tauten redete noch immer auf ihn ein. „Wir müssen alles mit vernünftigen Augen sehn. Wir können doch nicht aus der Reihe tanzen und die Gefahr noch größer werden lassen."
„Ich weiß nicht", antwortete Zermack erregt, „ob wir richtig handeln, wenn wir warten."
„Die Kumpels verfluchen uns!" zürnte Raup. „Wir enttäuschen sie. Und wir handeln nicht richtig."
Zermack sah sich um: Die Kumpels zogen missmutig nach der Umkleidekaue. Er kämpfte einen Moment wieder mit sich und sagte schließlich: „Du hast recht, das ganze Reden ist unsinnig, wir müssen gleich etwas tun!" Gott sei Dank!" sagte Raup erlöst.
In der Kaue tobte Lärm.
„Alle verraten und verkaufen uns!" - „Alles Lumpen und Verräter!" - Man grollte: „Allen ist der Hintern an die Sessel festgewachsen - dick und faul werden alle vom Nichtstun." -
Kahlstein hatte mit Franz, Christian und einigen anderen Genossen die Kumpels von der Anfahrt zurückgehalten. „Bleibt doch", schrie er, „Zermack wird gleich kommen und reden!"
Die Kumpels warteten in Angst und Unruhe. „Greifen wir nicht zu früh vor?" „Haltet doch die verfluchten Mäuler! Zu früh! Morgen können sie schon hier stehen!"
„Was wollen wir denn gegen ihre Kanonen ausrichten?"
„Die schießen uns einfach zusammen, wenn wir einen Muck sagen! Euer ewiges Streiken!"
„Wollt ihr denn wieder wie die Hunde in den Pütt kriechen?" schrie Kahlstein. „Wartet noch!"
Da erschien Zermack in der Kaue. „Zermack kommt!" schrien einige der Jungen an der Tür und liefen vor dem Hauer her, „es gibt Streik!"
Tauten, der mit Zermack kam, protestierte: „Du siehst, dass wir in einer unseligen Lage stecken, und willst die Leute festhalten. Ich will das nicht verantworten!"
„Das verantworte ich!" entgegnete ihm Zermack voller Eigenwillen.
Tauten protestierte warnend: „Ich halt' es für wahnsinnig. Wir sollen warten, bis sich die Regierung und die Verbände melden!"
Zermack war auf die Bank gestiegen. Es wurde gleich ruhig. „Kumpels, wir werden nicht anfahren!" sagte er. „Wir lassen uns nicht von einem General drohen. Geht und holt die anderen, die schon angefahren sind, wieder heraus!" befahl er.
„Gott sei Dank!" stöhnte Kahlstein.
Christian schrie erfreut: „Kommt! Wir holen sie aus dem Schacht!"
Franz rannte hinter Christian und Kramm. „Ich sage", stammelte Tauten, „es ist doch sinnloses Beginnen. Du hättest das nicht tun sollen. Jetzt geht das Unglück erst recht los."
„Jetzt!" lachte Zermack ergrimmt. „Erst jetzt? Du wirst warten, bis sie dir den Strick um den Hals legen. Man hätte früher vorbeugen sollen." Er zog Raup hinaus. „Gott sei Dank, endlich!" atmete Raup, von einer Last befreit, auf. „Endlich hast du dich besonnen." Die Kumpels kamen von der Hängebank zurück. Steiger Schulte kam Zermack und Raup aufgeregt entgegen. „Es hat doch keinen Sinn, ein Lahmlegen der Arbeit ist nur unser eigener Schaden. Auch muss sich erst unsere Regierung melden!" protestierte er. „Ein Vorgreifen halte ich für Unverstand!"
„Wir wollen nicht warten, bis nichts mehr zu retten ist!" antwortete ihm Zermack.
In der Kaue kreischten die Rollen und die Kleiderbündel tanzten herunter. Die Leute zogen sich wieder um.
Der Kranzmann kam aus dem Büro. Er blickte eine Weile auf das zerfetzte Todesdekret.
Ein Gesicht, hart und grau und höhnisch verzogen. „Sie wissen wohl nicht", sagte er zu Zermack, „was Sie sich mit Ihrer Eile einbrocken! Alles kommt auf Ihr Konto. Ich halte alles für voreilig. Sie hätten warten sollen, bis sich die Regierung meldet!"
Zermack antwortete ihm, wie er Schulte geantwortet hatte: „Wir können nicht warten, bis sich die davongelaufene Regierung zu etwas entschließt!"
Der Betriebsinspektor warf ihm einen feindlichen Blick zu. „Sie werden sich festfahren, Sie werden's sehen!"
Zermack zuckte die Schultern.
Der Klöppelschlag im Schacht schwieg. Sie zogen nach Hause. Weit aus dem Werk erhob sich lang und laut das Geheul der Sirenen.
„Die kommen auch!" sagte Christian froh zu Kramm. „Die kommen auch!" rief Franz Kreusat in einer anderen Schar, die mit Zermack und Raup ging. „Es sind zehntausend!" meinte Raup. „Zehntausend! Die kommen auch!"
Die Sonne stieg höher. Die graue Erde erschien jünger. Die schwarzen Sorgenberge waren gewichen. Die Sonne freute Franz, das Trillern der steigenden Lerchen freute ihn, das junge Grün, die kleinen, gelben Märzblumen an den Grabenrändern, alles war Hoffnung und freute ihn.
Tauten ging mit Zermack. Er war noch immer gekränkt, dass man seine Vernunftsgründe nicht beachtet hatte.
„Jemand musste den Anfang machen", sagte Zermack.
„Ihr habt die Geschichte angezettelt, und ihr müsst auch die Folgen verantworten!" protestierte Tauten. „Ich halt' es nach wie vor für Wahnsinn!"
„Einer musste den Anfang machen", sagte auch Raup. „Und wir haben ihn nicht allein gemacht, du siehst ja, auch die aus dem Werk kommen."
Eine Sirene erhob ihre heisere Stimme von einem der Nachbarschächte.
„Es ist Zollverein!" sagte Franz.
„Auch die anderen Kumpels kommen!" sagte jemand.
„Auch sie kommen", sagte Franz Kreusat und lauschte, ob nicht noch mehr dieser Schreie ertönten, denn sie gehörten zu diesem Tag wie das Brot zum Leben.

 

Fünftes Kapitel

Es ist der 16. März.
Die Werke und Schächte im ganzen Ruhrland liegen still. Die Gewerkschaften und die nach Stuttgart geflüchtete Regierung hatten zum Generalstreik aufgerufen. Die „Grüne Polizei" hatte sich neutral erklärt, auch General Watter, der Kommandierende der in Münster stationierten Reichswehrtruppen, sprach von Neutralität. Aber Watter hatte erklärt, dass er einrücken würde, wenn Ruhe und Ordnung gefährdet seien. Das bedeutete, dass er seine Truppen jederzeit einmarschieren lassen konnte; aber er schien noch abzuwägen, ob er sich zu der alten oder zu der Kapp-Lüttwitz-Regierung schlagen solle. Die Lage war jedenfalls so, dass es jeden Tag zu schweren Kämpfen kommen konnte.
Im Haus Nr. 35, wo die Kreusats wohnten, hallte das gleichmäßige... Hub... hub... hub... hub... des auf-und abschlenkernden Schwengels einer Waschmaschine, den Frau Naumann mit ihren unermüdlichen Händen hin- und herschwang.
Ein Berg besserer Wäsche, die nicht ihre war, und ein zweiter Berg Arbeitswäsche, Bettzeug, Windeln und sonstigen Krams lag vor dem dampfenden Waschfass getürmt. In dem Wäscheberg rollte der jüngste Naumann, ein Bengel von vielleicht einem Jahr; er riss die eilig schaffende Mutter am Rock und plapperte in seiner
Sprache, die nur die Mutter verstehen konnte. „Ja, mein Junge, spiel nur", sagte sie im Takt ihrer Arbeit -„die Mama hat keine Zeit..." - und riss den Schwengel ohne Unterbrechung hin und her, dass es bis zum Dachboden dröhnte.
Im Hofe knallten Axtschläge, Naumann zerkleinerte dort die Holzabfälle, die er unter dem Rock von der Zeche mitgebracht hatte.
Die vierzehnjährige Liese kam mit einer Schürze voll Holz herauf.
„Der Vadder haut fürs ganze Jahr", sagte das Mädel.
„Wir können's brauchen, Kind", meinte die Mutter. „Die grusligen Buden sind ja kaum warm zu kriegen. Durch alle Wände pfeift der Wind. Herrgott, unsre vielen Träume", seufzte sie und schwenkte eiliger den Hebel, während sich die Falten auf ihrer Stirn um einige vermehrten.
Ihre vier Buben von sechs bis zwölf Jahren stürmten aufgeregt und schreiend herauf. „Wir haben in der Stadt die Grünen gesehn! Huh, wie die Stiere guckten sie uns an!" erzählte der älteste, der sich schon ganz männlich gebärdete.
„Ihr sollt nicht immer in die Stadt rennen!" schimpfte Frau Naumann. „Da sind jetzt alle Teufel los!"
„Die Grünen haben die Straßen mit Spanischen Reitern abgesperrt. Dahinter lauern sie, huh! mit welchem Blick!" erzählte der Junge.
„Geht jetzt rein und ins Bett!" schrie die Frau, über den Haufen noch wartender Arbeit ergrimmt, und schlug mit dem nassen Wäschestück auf die davonjagende Rotte ein.
„Gibt's was zu essen?"
„Rüben!"
„Huh, wieder Rüben!"
„Geht, fresst was da ist", schrie die Frau, ich kann mir nichts Besseres aus den Rippen schneiden!"
Auf der Treppe klapperten Naumanns Holzschuhe. „Lasst die verfressene Gesellschaft warten, bis alle zusammen sind", hörte sie ihn murren. „Sonst, wenn sie sich gleich mit den Mäulern drüberherstürzen, dann bleibt für die letzten gar nichts übrig."
„Mühlsteine!" brummte der kleine, magere Mann, während er mit einem größeren Holzvorrat auf dem Treppenabsatz stehen blieb. „Komm auch du", sagte er zu der arbeitenden Frau, „lass den Kram eine Weile liegen. Er läuft nicht weg."
„Er läuft nicht weg, aber es kommt auch kein anderer und wäscht ihn zu Ende", antwortete die Frau aufseufzend. Sie trocknete die Stirn mit der Schürze ab und staute einen neuen Haufen Wäsche in das Fass. Naumann murrte: „Dann schind dich weiter", und ging mit dem Holz in die Wohnung, wo Liese die Suppe verteilte und mit den Ermahnungen einer Erwachsenen den um die Nahrung neu ausbrechenden Streit zu schlichten versuchte.
„Na, schlagt euch doch nicht gleich die Köpfe ein, seid doch nicht so gierig. Denkt an die Mutter, die muss auch ihren Teil haben."
„Entsetzliche Gesellschaft", seufzte die kleine Mutter, wie die große, denn sie hatte trotz ihrer Jugend bereits einen gewichtigen Anteil der häuslichen Sorgen mitzutragen.
Naumann, ein von der Grubenarbeit ausgedorrter Mensch von vielleicht fünfundvierzig Jahren, schlang die Suppe. Er schlug, mit seinen Gedanken immer in der Grube, da und dort noch ein fehlendes Holz unter den bröckelnden Stein. Der Tod lauerte noch in allen diesen Löchern, er knirschte und kaute mit seinen steinernen Kinnladen über den Leibern der Männer, die sich an der Kohle hetzten, um wenigstens das Stück Brot und diese Rübensuppe auf den Tisch zu bringen. Dem alten Kohlenhauer war diese plötzliche Stille ungewohnt, und er lauschte immer hinaus, ob der Signalhammer am Schacht nicht gleich wieder schlüge. Er war nicht mit den anderen Männern in die Versammlung gegangen. Er beteiligte sich auch sonst an nichts; er war das Gegenteil von seiner Frau, die gewiss auch in diese Versammlung gerannt wäre, wenn sie die Wäsche nicht gehabt hätte.
„Du Faulenzer!" schrie sie draußen, „du sitzt zu Hause, während die anderen auch für dich rumrennen müssen."
Er brummte: „Was willst du, ich streik' doch, genügt dir das nicht?"
„Oh, du verdammter Kerl!" schrie sie, „ich muss mich wirklich für dich schämen."
„Ich streik' doch, was will sie noch!" knurrte er und schlang weiter seine Suppe.
„Ich will noch vor Nachteinbruch aufhängen, sonst werde ich mit der übrigen Arbeit heut nicht mehr fertig", trieb sich draußen die Frau selber an. Aber sie wusste: war der eine Berg der Arbeit bewältigt, lag ein anderer Berg Arbeit wieder vor ihr. So war es einst der Bauernmagd Marie ergangen, die nur harte, hoffnungslose Arbeit gekannt, nur Sorge um andere, während sie ihre eigenen Sorgen und Wünsche stets auf morgen verschob, und so erging es heut der Bergarbeiterfrau Marie Naumann: Steigerwäsche, Krämerwäsche, Bürgerwäsche, Dämchenwäsche... „Bitte, Frau Naumann, achten sie ja darauf, dass Sie in die teuren Sachen keine Löcher reißen." „Gute Frau, achten Sie bitte darauf, dass die Wäsche keine Rostflecke bekommt, hängen Sie sie ja behutsam auf." Behutsam, sorgsam, es ist fremde, es ist gute, feine Wäsche... Hub... hub... hub...
Es wurde dunkel. Sie hörte die Männer aus der Versammlung kommen und schalt wieder: „Du hättest auch hingehen sollen. Die anderen müssen ja auch in die Kälte hinaus."
Naumann war still. „Nächstens muss ich doch hingehen, das Weib gibt ja keine Ruh!" brummte er und schrie die Kinder an: „Macht doch nicht solchen Lärm, man kann ja nichts hören!" Er war zornig und wusste nicht, ob auf die Frau oder auf die streitenden Plagen oder auf diese ungewohnte Ruhe. Franz Kreusat kam herauf.
„Na, was wird es geben?" fragte Frau Naumann, die ihre Arbeit unterbrach.
„Die Grünen gehen in der Stadt mit Handgranaten umher, das bedeutet keinen Frieden!" antwortete Franz.
„Ach, die verfluchten Hunde!" schrie sie. „Wann geben sie uns armen Menschen endlich Ruhe! Ei, Gott! Gott!"
... Hub... hub... hub... rappelte der Schwengel wuchtiger. „Und morgen früh wieder mit der Zeitung", sagte die schuftende Frau.
„Die Zeitung", rief die alte Kreusatsche ärgerlich von oben, „ich bestell die Zeitung bald ab. Die Kerle werden nur verrückt, weil sie diese Zeitung lesen."
„Du bestellst nichts ab", antwortete ihr der Junge. „Nichts bestellst du ab, die Zeitung wird gebracht." Er ging hinauf, groß, mager und düster. „Wir haben die Zeitung mit Groschen zusammengebracht, niemand bestellt sie ab."
„Ach Gott, man kommt aus den Sorgen nie raus!" schalt die alte Frau. „Bleibst jeden Tag länger aus."
„Ich hab' zu tun!" sagte er.
Die Mutter setzte ihm die Bratkartoffeln hin, mit einem ergatterten Stück Blutwurst, das sie angeröstet hatte. „Nun sei still und iss erst. Der Vater hat auch wieder seinen schlechten Tag. Wann gibt es überhaupt noch einen guten Tag für unsersgleichen?" seufzte sie und trippelte, noch erregt, zum Herd und zurück zum Tisch, an dem der Sohn über den Teller geneigt saß. „Der Doktor sagt ihm, er braucht gutes Essen und bessere Luft. Schaff' ein Mensch heut das gute Essen ran. Eier soll er essen und gute Brühe trinken."
„Chae... chae... chae...", hüstelte Kreusat in der anderen Kammer. „Wie Zement sitzt es auf der Brust. Die mit ihren guten Ratschlägen." Er schwankte, groß und hager, aus der Kammer, mit galligem Gesicht und Blicken, in denen Zorn, Kränkung und die letzte Auflehnung eines einmal sehr starken Menschen gegen den Tod zu sehen waren. „Die binden einen an die elende Bude. Ich sag', ich kann noch etwas tun. Nein, sagt der Doktor, ich sei mit der Grube fertig. Ich mit der Grube fertig - wenn man fünfunddreißig Jahre dringesteckt hat, ist man damit nie fertig. Liegen soll ich, sagt er. Eier solltest du beschaffen, sagt er. Und wenn sie mich im Bett festbinden, ich werde auch nächstens rausgehn." Der Alte hatte sich brummend an dem warmen Herd hingehockt. Er sah nach dem Jungen. „Nicht, dass ihr euch wieder festrennt", sagte er. „Oder glaubst du, dass die Oberen gegen die Stillegung des Schachtes nichts unternehmen werden? Täuscht euch nur nicht."
„Es steht ja nicht nur unser Schacht allein still", antwortete der Sohn. „Alle Arbeit liegt still, überall."
„Alle Arbeit?" Der alte Kohlenhauer starrte den Sohn an. „Alle Arbeit?"
Ja, alles ruht: die Schächte, die Werke, die Eisenbahn, alles."
Kreusat hüstelte. Nach einigen Minuten Grübelns stand er auf, schwankte zum Fenster und blickte nach der Stadt. Der gewohnte Flammenschein war nicht zu sehen. Er schien noch eine Weile zu horchen - alles war still. Er schüttelte den Kopf und schwankte zu seiner Herdbank zurück.
Ja, es geschieht ihnen recht", sagte er nach einem Nachdenken in Groll. „Sie pressen auch den Menschen so aus, dass er zusammenbrechen oder sich zur Wehr setzen muss." Er sah den Sohn an. „Wenn ihr diesmal so begonnen habt, dann bleibt auch dabei und lasst euch nicht wieder kleinkriegen! Einmal muss sich der arme Mensch behaupten!" Er ging wieder zum Fenster und sah hinaus. „Alles liegt still. Ich gönn' es der Gesellschaft. Sie sollen wissen, dass auch unsereins noch Mensch ist."
„Jetzt fängst auch du an?" sagte die Frau vorwurfsvoll.
Kreusat wandte sich um: „Was willst du? Sei still. Die Menschen haben recht, wenn sie sich wehren! Unsereins hat alles geduldig hingenommen, und darum haben sie einem jede Last aufgepackt. Der Junge hat recht, wenn er anders denkt und sich nicht wieder totjagen will."
Franz fiel eine Last vom Herzen. Er hatte sich gesorgt, der Vater würde es nicht verstehen. Sie waren sich eins. Er sah den alten Mann dankbar an.
Er griff nach der Jacke und nach seinem Wollschal. „Wo geht es wieder hin?" schrie die Mutter ängstlich.
„Ich muss noch weg!" sagte er.
„Jeden Abend weg!" jammerte sie. „Wo musst du denn wieder hinrennen?"
Er fasste nach ihrem ergrauten Kopf, zog ihn an sich, streichelte ihr zum Weinen verzogenes Gesicht. „Ich muss weg. Frag nicht!"
Franz ging zu Raup hinüber. Er traf den Kumpel in Aufregung an. „Nun, was ist mit dir?" fragte er.
„Ach, die Weibsbilder heulen einem immer was vor!" Raup sah nach seiner Frau, die den drei Kindern das Essen aufschöpfte. „Geh, lass dich nur umbringen", schalt sie wieder. „Jetzt zieht es ihn schon nachts hinaus!"
Raup lachte ärgerlich. „Es ist doch nicht das erste Mal, dass ich hinausgehe, Weib. Sei doch vernünftig." -„Geh, aber pass mir ja auf, dass du wieder heil zurückkommst. Immer muss er mit seiner Nase vornean sein. Können denn das nicht die Jüngeren tun, die noch nichts zu versorgen haben?"
„Das ist nicht nur eine Sache der Jüngeren", entgegnete er unwillig, „es trifft alle. Schick die Kinder ins Bett und leg auch du dich hin." -
„Gut, geh", sagte sie noch einmal. „Aber ich werde warten, bis du kommst."
Sie gingen zu Hoffrone. Miller hatte sie hinbestellt. Als sie in den kleinen, noch fast dunklen Saal eintraten, sahen sie drinnen schon an die fünfzig Genossen sitzen. Sie sprachen wenig. Über allen lag die Spannung einer ungewöhnlichen Stunde.
Wenn einer hinzukam, fragte er unter einem Zwang leise: „Was gibt das?"
Auch Fritz Raup und Franz Kreusat fragten, als sie sich hingesetzt hatten, den Zermack: „Was gibt das?" Zermack sagte: „Der Miller ist nach dem Parteibüro, er muss bald kommen."
Sie saßen wohl noch eine halbe Stunde lang schweigsam. Aber jeder brannte vor Ungeduld, und auf manchem der nachdenklichen Gesichter war die heimliche Angst zu lesen, die solche Ungewissen Stunden mit sich bringen. Auch Franz Kreusat konnte sich dieses Gefühls nicht ganz erwehren. „Verdammt", sagte auch er, „wenn der Mensch doch bald käme!"
Endlich kam Miller. Er erklärte stehend: „Geht nach Hause und benachrichtigt die anderen, wir werden diese Nacht wohl aufbleiben müssen. Wer ein Gewehr hat, der bringe es mit. Aber seid vorsichtig, es könnte sein, dass die Polizei Haussuchungen vornehmen wird. Bleibt nach Möglichkeit zusammen", ordnete er weiter an, „wenn wir von Essen mehr hören, werde ich euch gleich Nachricht schicken."
Miller hatte wohl wieder einen schweren Kampf mit sich durchgerungen, denn er sagte alles, als hätte ein anderer diese Anweisungen gegeben.
„Gewehre? Wer hat Gewehre?" meldeten sich mehrere aufgeregt.
Franz Kreusat fragte: „Warum sind die anderen nicht hier, der Kramm und der Christian Wolny?"
Miller hörte nicht darauf. Er befahl noch einmal: „Geht jetzt nach Hause und haltet euch bereit, wenn man euch rufen muss!"
Sie gingen in Abständen.
Franz Kreusat fragte auf dem Heimwege Zermack: „Warum hat Miller die anderen nicht gerufen?"
Zermack antwortete ärgerlich: „Weil er jetzt wieder alles allein machen möchte. Es ist der Eigensinn, der manchen unserer Genossen noch innewohnt. Ich bin auch der Meinung, dass wir jetzt alle zusammengehören. Sonst scheitern wir."
„Ich werde Kramm benachrichtigen!" erbot sich Franz Kreusat und lief gleich querfeld nach der Salkenberg-Kolonie. Kramm war zu Hause. „Ich weiß schon!" empfing er ihn. „Wir haben schon alle Vorkehrungen getroffen", sagte er, „dass sie uns nicht nachts die Dinger herausholen. Sie stöbern überall in der Stadt umher. Seid auch ihr auf der Hut." Sie drückten sich die Hände.
Franz Kreusat ging rasch noch zu Christian. Der umarmte ihn: „Franz, verdammt, jetzt sagen wir uns: Glückauf! Karl und Rosa, weißt du, ich vergess' es den Canaillen nicht! Und du bleibst bei mir, verstehst du?"
„Wir bleiben zusammen", versprach Franz. Und Miller wollte sie nicht dabei haben! dachte er erzürnt. Er saß noch eine Weile bei Christian, der wieder ganz der Kieler Kuli war und alle früheren, großen, schönen Geschichten von seinem Kasten auskramte. „Weißt du, dieses Mal werden wir die Gewehre nicht wieder so schnell abgeben", schwor er, „wir werden uns jetzt nicht mehr so rasch beugen. Jetzt haben wir doch wohl Erfahrungen genug. Mensch, ich würde wahnsinnig, wenn sich jetzt noch mal jemand fände, der uns wieder verkauft - das wär' das Furchtbarste für mich. - Nein, wir werden diesmal stärker sein!"
Franz Kreusat zog es heute zu Therese. Er hatte nachmittags Tauten getroffen, der mit überheblichem Ton die Macht der Gewerkschaften lobte. Und Franz spürte diese gewaltige Gemeinsamkeit selber - ihm war, als hätte eine mächtige Hand alles in diese fast feierliche Ruhe versetzt. Tauten hatte ihm noch, versöhnlicher, nachgerufen: „Lass dich wieder sehen. Ich glaub', das Mädel wartet!" -
Therese wartete.
Aber Zermack ermahnte, sie müssten zusammenbleiben. „Benachrichtige unsere Unionisten", befahl er ihm, sie sollen in ihren Wohnungen beisammenbleiben."
Franz holte Edy Koschewa, Kahlstein und Bruno Freising und lief noch zu einer Anzahl anderer Kumpels. Dann begab er sich zu Fritz Raup. Sie saßen mit etwa zehn in der Küche mit der gleichen gespannten Erwartung wie vorher bei Hoffrone.
„Was gibt es denn?" fragte Edy Koschewa. Franz Kreusat hatte ihn aus dem Schlaf geholt, und Edy war verdrießlich.
Auch Bruno Freising sagte: „Leute, ihr tut so geheimnisvoll. Ohne Licht, und alles schweigsam! Was soll das denn geben?"
Zermack sagte: „Seid nicht ungeduldig. Es kann sein, dass wir noch manche Nächte opfern müssen. Oder wollt ihr, dass sie uns einzeln aus den Betten holen und totschlagen?"
Die Murrenden schwiegen.
Franz Kreusat wurde zu Miller geschickt, um dort zu hören, was sich an Neuem ereignet habe.
Miller saß da, ganz angezogen, und wachte. „Komm, setz dich", sagte er freundlicher. - „Es sind jetzt keine leichten Tage!" erklärte er nachdenklich, „und wir müssen uns aufeinander verlassen können. - Es geht heute um die Entscheidung", sagte er wieder nach einer Weile, „wenn jetzt der Zwiespalt nicht behoben wird, dann können wir uns auf schwere Tage vorbereiten."
„Warum willst du die anderen nicht mit hinzuziehen?" warf Franz ein. „Kramm hat die Kumpels oben in der Kolonie zusammengeholt, er erwartet, dass wir einander helfen."
Miller furchte unwillig die Stirn. Dann sagte er: „Gut, wir werden auch mit Kramm sprechen."
„Bestell Zermack", sagte er, „unsere Kumpels haben in Wetter die Reichswehr entwaffnet, und es kann vielleicht morgen schon auch hier losgehen!"
„Die Reichswehr entwaffnet!" Franz wollte gleich losstürmen. „Warte", sagte Miller, „habt ihr Gewehre?"
Franz Kreusat zögerte erst einen Moment, dann sagte er: „Einige haben wir. Aber der Kramm hat eine größere Anzahl, und Christian Wolny hat ein Maschinengewehr aufgehoben 1"
Miller blickte auf. „So, und ich weiß nichts davon?"
Franz Kreusat antwortete zögernd: „Weil du dich nie dafür interessiert hattest."
Miller senkte den Blick. „Gut, ich seh' es ein, ich habe mich bislang wenig um diese Kumpels gekümmert. Das kommt davon, dass man oft mit sich selbst nicht ganz fertig wird. Geh, sag den Genossen, dass wir einander unterstützen müssen."
Franz Kreusat lief wieder eilig querfeld nach dem Salkenberg und klopfte bei Christian an. Frau Wolny machte auf und erkannte ihn. „Ich dachte, die andere Gesellschaft ist wieder da", sagte sie noch erschrocken. „Vor einer Stunde waren sie hier und haben im Stall gesucht. Christian muss irgendwo draußen sein."
Da kam Christian aus dem Dunkel: „Komm, Franz, hier wird es heiß. Wir sitzen bei Gutschnick", sagte er voller Eifer und zog ihn mit sich.
Mehrere Männer, darunter auch Renteleit, lagen in ihren Mänteln in Gutschnicks Küche. Kramm drückte Franz die Hand. „Wisst ihr schon von Wetter? Den Lichtschlag haben Unsere entwaffnet!" Es war ein Handdruck und ein Blick aus diesen wilden, guten, immer grimmigen Augen, dass Franz Kreusat eine Wärme durchströmte. „Ich möchte am liebsten bei euch bleiben", sagte er, „aber die anderen warten."
„Sag ihnen, dass wir hier wach sind", sagte Kramm. „Und wenn es euch da unten zu einsam wird, dann kommt her, hier ist alles Notwendige!"
Auf dem Heimwege sah Franz auf der Straße die Blauen. Sie gingen mit mehreren. Einige andere Nichtuniformierte kamen hinterher. Er erkannte den Heumisch. Franz hatte diesen „verhüllten" Mann schon einige Male nach den Versammlungen in ihrer Nähe bemerkt. Der Kerl spionierte sicherlich. Und auch die Blauen hatten anscheinend den Auftrag, die Wohnungen der Bergleute zu überwachen.
Diese Nacht verlief aber, ohne dass sich etwas Besonderes ereignete. Die Genossen trennten sich gegen Morgen. Sie hatten die Gewehre in sicheren Verstecken untergebracht und gingen in ihre Wohnungen zu den ängstlich wartenden Frauen.
Franz Kreusat streckte sich eine Stunde aus. „Ich hätte zu Therese gehen müssen", sagte er sich; doch gleich beschäftigte ihn die Geschichte in Wetter. Die Kumpels hätten dort das Korps Lichtschlag entwaffnet, und das war das Signal, dass der offene Kampf begonnen hatte. Er schlief eine Weile, aber als die Naumannsche gegen die Tür pochte, sprang er wieder auf. Er war noch angezogen. Frau Kreusat jammerte: „Nu, schlaf doch aus. Renn nicht wieder los!"
„Dortmund haben Unsere!" berichtete Frau Naumann. „Gott sei Dank!" schrie sie. „Der Teufel soll die Gendarmen alle holen! Man kommt doch in der Stadt nicht mehr durch. Alles haben sie jetzt abgesperrt und drohen gleich mit dem Gewehr, wenn man wegen der Zeitung durch will!" Während sie noch redete, kam auch Martin Kaminski. „Die Kumpels von Wetter und Hagen haben Dortmund besetzt und die Polizei entwaffnet!" erzählte auch er. „Wir müssen uns jetzt vorsehn, denn die Grünen bereiten sich auf etwas vor", sagte er besorgt. Er war schon ganz früh in der Stadt gewesen und hatte gesehen, dass die Grünen in der Stadt sich verschanzt hatten.
Franz Kreusat aß eilig das Stück Brot und rannte zu Raup. Zermack stand in der Küche. „Wir müssen uns bereithalten", sagte Zermack. „Am besten ist, wir suchen uns einige Unterkünfte, wo wir ungestörter sind. Wir werden die nächsten Nächte bestimmt durchwachen müssen. Auf jeden Fall müssen noch mehr Kumpels benachrichtigt werden, damit wir im Notfalle nicht allein dastehen."
Franz Kreusat zog es nach der Stadt. Trotz der Gefahr, dass die Grünen schossen oder Handgranaten warfen, zogen immerfort Scharen hin, um sich die Polizisten in ihren Verschanzungen anzusehen. Die „Neutralität" der Grünen hatte sich in einen offenen Kriegszustand verwandelt. Der Jägeruniformen waren mehr geworden. Man hatte aus den umliegenden Städten Verstärkungen herangezogen, und auch die Einwohnerwehr war mobilisiert worden.
Franz Kreusat und Kahlstein kamen nur bis zum Viehhofer Platz. Dort standen die ersten Grünen mit Karabinern und Handgranaten. Die Menge wurde mit Drohungen zurückgejagt und staute sich in den Eingangsstraßen. Frauen schrien empört: „Wir müssen doch einkaufen gehen!"
„Was ist das für eine Art. Wir haben doch keinen Krieg mehr. Geht zum Teufel, wir müssen in die Stadt!"
„Zurück! Hier kommt keiner durch!" Die Karabiner erhoben sich drohend.
Franz Kreusat erblickte Miller, der übernächtigt in der Menge stand. „Ich muss unbedingt zum Parteibüro!" sagte er. „Komm, wir müssen einen Durchschlupf suchen!" Sie suchten durch Nebenstraßen das Parteibüro zu erreichen, sie stießen aber wieder auf neue Sperren der Grünen und mussten umkehren. Wieder auf dem Viehhofer Platz angekommen, hörten sie die Knalle mehrerer krepierender Handgranaten und Schreie in einer der Querstraßen, die in die Kettwiger Straße führte. Eine zurückflüchtende Menge riss sie mit. „Sie schlagen ja die Menschen tot!" schrien mehrere der Männer. „Man sollte die Gewehre holen", sagte Kahlstein.
Miller zog ihn und Franz mit. „Kommt nach Hause. Rennt jetzt nicht in das Feuer, es hat keinen Zweck. Es kostet nur unnütze Opfer."
Kahlstein ging nur widerstrebend zurück. „Verflucht, sie haben wieder unsere Menschen totgeschlagen. Diese neuen Söldner unterscheiden sich in nichts von den Ehrhardt-Banditen im Februar."
Miller war wieder merklich still geworden. Hatte ihn der Anblick der schreienden und flüchtenden Menge erschreckt? Er schüttelte den Kopf und sagte in Bedenken: „Ich weiß nicht, ob wir gegen diese gutbewaffnete Polizei mit unseren wenigen Gewehren etwas ausrichten werden. Ich sehe ziemlich schwarz."
Es wurde wieder Nachmittag und Abend. Quälende Stunden. Franz Kreusat hielt sich in Millers Wohnung in der Ernestinenstraße auf. Es war ein kleines, altes Haus. Seine Frau, eine junge, stille Person, lebte wie Frau Tauten anscheinend nur ihrer Häuslichkeit. Die Wohnung, die aus einer Küche und einer Stube bestand, sah sauber und behaglich aus. In der Stube standen ein Plüschsofa und eine hohe Standuhr, und überall hingen Wandtücher mit Sprüchen und lagen gehäkelte Deckchen. Auf dem Vertiko standen Figürchen und Bücher, und an dem Fenster hingen lange Gardinen. So werden wir uns auch später einrichten, dachte Franz und beschäftigte sich wieder mit Therese. Er fühlte jetzt, da er sie weniger sah, dass er sie sehr gern hatte. Er war fest entschlossen, wenn diese schweren Tage wieder vorbei waren, mit ihr gleich nach dem Standesamt zu gehen. Die Mutter sollte die Kammer einrichten.
Miller lag in voller Kleidung auf dem Sofa. Mehrere Male kamen Genossen vom Zollverein und aus der Mittelstraße und berieten mit ihm.
Es war ungefähr zehn Uhr geworden, da pochte es an Millers Fensterläden.
Miller stand auf und sah hinaus. Ein fremder Mann stand draußen. Aber Miller schien ihn zu kennen, denn er sagte: „Gott sei Dank! Komm rein!" Es war ein Bote der Parteileitung.
„Es war verdammt schwer", sagte der Bote, als er sich setzte. „Die Parteileitung hat sich ein anderes Quartier suchen müssen, weil die Grünen viele in der Stadt verhaften."
„Es wäre vielleicht besser, du suchtest dir auch ein sicheres Haus", bemerkte der Genosse, „draußen traf ich einige Kerle, die mir nicht gefielen."
„Ja, man müsste hier weg", besann sich Miller und horchte hinaus. Es waren noch zwei andere Männer hinzugekommen: der Siebert, ein breiter, rotgesichtiger Genosse aus der Grabenstraße, und der Heinrich Buskühl aus der Mittelstraße. Miller wollte sie über Nacht bei sich behalten. Beide waren Genossen aus der Soldatenwehr und Betriebsräte von den Zollvereingruben. Nach den Informationen des Essener Genossen kämpften die Hagener und Dortmunder Arbeiter weiter und bewegten sich nach Bochum zu, und jede Stunde konnte auch hier der Kampf losgehen.
Während sie noch berieten, pochte es wieder gegen die Fensterläden. Miller zögerte, er ging dann aber hinaus und öffnete. Heumisch stand draußen mit mehreren Blauen und Zivilisten. Sie drängten sich gleich in die Wohnung.
„Ich bedaure", sagte Heumisch, während er sich umsah, „ich habe den Auftrag, Sie zu verhaften."
Franz Kreusat stand wie erstarrt. Miller schüttelte den Kopf und sah den Essener Genossen und die beiden anderen an. Aber Heumisch und die fremden Männer hatten die Revolver bereit. Ein Widerstand war nicht möglich.
Miller schüttelte ergrimmt den Kopf: „Spione!"
Frau Miller, die auf der Schwelle erschien, stieß einen Schrei aus: „Mein Gott, was ist denn los?" Sie starrte entsetzt auf die Polizisten, die Miller, Franz und die anderen abtasteten und hinausschoben...
Als Zermack, einer dumpfen Ahnung folgend, nachsehen wollte, warum Franz nicht wieder zurückkam, hielt ihn in der Nähe der Hoffrone-Kneipe der dort im Dunkeln stehende Gaida an, ein Genosse vom Zollvereinschacht. „Wo willst du hin, zu Miller? Lass dich da lieber nicht sehen", warnte Gaida, „sie sind gerade von der Polizei weggeholt worden."
Zermack trat in die Hauseinfahrt. Er konnte im Augenblick kein Wort hervorbringen. Er dachte nur: Was tun wir jetzt? Was jetzt?
Gaida, ein großer Mann in dem gleichen Kanonierrock wie ihn Zermack trug, erzählte ihm, man habe wohl ihre Versammlung überwacht und sei über die Zusammenkunft ihrer Gruppe unterrichtet gewesen. Noch vorsichtiger müsse man sein.
Was jetzt? fragte sich Zermack noch einmal.
Gaida sagte: „Es bleibt wohl nichts übrig, als die Leute zusammenzuhalten. Man kann uns jetzt unmöglich im Ungewissen lassen. Ich denke, die Partei muss sich noch mal melden."
Nach langem Schwanken sagte Zermack: „Dann geh' und sag' es deinen Leuten, und ich werde auch unsere warnen lassen." Er ging eilig zurück. Die Nacht schien noch dunkler geworden zu sein, und er fröstelte. Er sah zu seiner Wohnung hinauf, da war noch Licht. Alles andere lag im Dunkel.
Jeder einzelne Schritt in dieser Nacht ließ ihn zusammenschrecken. Die Mörder waren ihnen nahe, ganz nahe.
Er ging in Raups Haus und klopfte an seine Tür. Die Frau machte auf und sagte zu ihm: „Er ist draußen irgendwo."
Zermack ging wieder durch die Dunkelheit. Eine furchtbare, eine einsame Nacht, man wusste nicht, wie viel der. Jagdhunde sich schon im Ort aufhielten. Das Ende? Sie hatten noch kaum angefangen.
Die schwarzen Schatten der grauen Zechenhäuser schienen alles begraben zu haben.
Aus einer der langen, scheunenartigen Bauten tönte Musik. Dort wohnte der Labisch; Zermack wusste, dass sich dort die Diebe und Schleichhändler, die mit Labisch vom Grenzschutz zurückgekommen waren, trafen und soffen. Man tanzte dort.
Zermack murmelte erbost: „Wir kämpfen um unser Leben, und sie tanzen! Uns sitzt die Schlinge am Hals, und diese Lumpen helfen, sie noch enger zu ziehen."
Er traf eine Gruppe in einem der dunklen Hausflure. Die Leute wurden ungeduldig. Mehrere fragten, ob sie die ganze Nacht draußen herumliegen sollten. Dieses Ungewisse Warten war voller Schrecken.
Die Frauen bringen sich vor Angst um. Wir müssen etwas unternehmen, oder wir gehen wieder heim."
„Was ist mit Miller? Warum lässt er uns hier warten? Er sitzt wohl schön zu Hause, und wir verbringen hier die Nacht schlaflos mit dem sinnlosen Warten."
Zermack sagte: „Miller und Franz sind verhaftet. Wir können die Geschichte jetzt nicht aufgeben. Wir müssen abwarten. Geh in die Kolonie und sag das den anderen!" befahl er Kahlstein, „vielleicht stehen wir in den nächsten Stunden schon in einem schweren Kampf."
Hermann Kahlstein machte sich wortlos auf den Weg nach der Kolonie. Die ganze Geschichte ist wieder zu Ende, dachte er bedrückt, alles ist wieder aus!
Als er Kramm von Millers und Franz' Verhaftung erzählte und seine Bedenken aussprach, sagte Kramm: „Es ist noch nichts aus. Wir müssen jetzt erst recht die Stadt bekommen, wenn wir nicht wollen, dass es uns auch so ergeht." Er befahl seinen Leuten, sich draußen vor die Kolonie in die Brüche zu legen. Am Abend hatten die Grünen bereits den vor der Stadt nach Stoppenberg hinaus Hegenden Viehhof besetzt und sich dort verschanzt. Kramm sagte zu Kahlstein: „Sag dem Zermack und Raup, sie sollen ja nicht schlafen gehn, ich befürchte, dass sich da im Viehhof was vorbereitet."
Kahlstein lief zurück. Zermack hatte Posten ausgestellt, damit sie von den Blauen nicht überrumpelt werden konnten, und machte selber mit Fritz Raup und einigen der Jüngeren einen Rundgang durch den unheimlich stillen Ort.
Er kam zurück und erklärte: „Sie haben sich jetzt in ihre Löcher verkrochen. Aber es wird dabei nicht bleiben, drüben in der Stadt scheint allerhand im Gange zu sein. Dort sind schon Schüsse gefallen."
Als Kahlstein abgehetzt in Raups Wohnung trat, sah er drinnen einen Katernberger Genossen sitzen.
Raup erklärte ihm: „Die Hagener und Dortmunder haben die Bochumer Polizei entwaffnet und ziehen nach Gelsenkirchen."
Kahlstein umarmte fast heulend den fremden Kumpel. „Gott sei Dank! Dann müssen wir auch hier sofort losschlagen", bestürmte er Zermack und Raup.
Zermack sagte: „Wir müssen uns noch eine Weile gedulden. Behaltet ruhige Köpfe, wir werden nicht sinnlos drauflosrasen. Wir warten, bis wir hier mehr sind! Es geht diesmal um vieles!"
Kahlstein schickte sich nur unwillig darein. „Warten! Warten! Inzwischen haben sie die verhafteten Genossen umgebracht!" protestierte er wütend. „Aber dann erleben die verfluchten Jäger etwas!"
Franz fiel, als sie zur Wache schritten, die Mutter ein.
Wenn die von meiner Verhaftung erfährt, wird sie sich umbringen! dachte er besorgt. Er glaubte nicht gleich das Schlimmste, aber als er sich heimlich umsah, fühlte er seine Hoffnung sinken. Die Polizeigesichter versprachen nichts Gutes. Einmal kam ihm der Gedanke: Sie werden uns vielleicht erschießen!
„Sie knallen uns ab!" flüsterte auch der Buskühl. „Dass man sich nicht besser vorsah!"
Auch Franz dachte jetzt: Dass man sich nicht besser vorgesehen hatte!
„Wie konnten Sie so dumm sein!" versuchte sich ein Blauer vor Miller zu entschuldigen. „Meinen Sie, uns ist es recht, bekannte Kumpels einzusperren?"
Miller blieb still.
Heumisch wandte sich um. Er sagte jetzt mit unverhülltem Hass: „Ja, Herr Miller, wenn Sie gescheit gewesen wären, dann hätten Sie sich's wohl überlegt. Wir hielten Sie zumindest für einen klügeren Mann."
„Glauben Sie nicht, dass Sie mit unserer Verhaftung etwas gewonnen haben!" regte sich Miller endlich. „Es kann sich schon in wenigen Stunden vieles ändern!"
Heumisch schwieg darauf.
Auf der Wache wurden sie nochmals durchsucht. Heumisch ging zum Telephon.
„Was habt ihr mit uns vor?" fragte Miller einen der Blauen. Der Polizist zuckte mit den Schultern, ohne zu antworten.
„Er spricht mit dem Präsidium!" sagte der Essener Genosse leise zu Miller. Millers Gesicht erstarrte. Nach einer Weile Schweigens sagte er gepresst: „Habt keine Angst. Sie werden sich noch besinnen."
Heumisch hängte den Hörer auf und sagte zu den Blauen: „Die Verhafteten werden nach Essen abgeholt!"
Er verließ die Wachstube.
„Sie hätten sich in acht nehmen sollen", wandte sich der Wachthabende aufgeregt an Miller. „Es ist heute gefährlich, solche Geschichten zu machen, von wegen Viehhof stürmen und so was!"
Da raffte sich der Essener Genosse auf. Er sagte: „Es ist noch gefährlicher, in dieser Zeit Arbeiter zu verhaften!"
Der Wachthabende antwortete verlegen: „Das liegt nicht an uns! Befehl ist Befehl! Wir können auch nicht so, wie wir möchten!"
„Ü berlegt's euch", sagte der Essener Genosse noch einmal. „Das Blatt kann sich schon morgen gewendet haben!"
„Verdammte Sauerei!" fluchte einer der Blauen. „Man sollte einfach die Brocken hinschmeißen."
Franz hoffte, die Genossen kämen und würden sie in letzter Minute noch befreien.
Es kam niemand.
Es war eine qualvolle halbe Stunde. Die Blauen atmeten sichtlich auf, als eine Abteilung Einwohnerwehr ankam.
Der Wachthabende sah an den Verhafteten vorbei. „Ich kann nichts dran ändern, Leute", entschuldigte er sich.
Sie mussten zu zweien vorgehen. Acht Mann Einwohnerwehr folgten mit Gewehren. Franz Kreusat grübelte vor sich hin. Er glaubte noch immer, dass er träume. Er hoffte, dass sie unterwegs auf Genossen stießen, und die schreckliche Geschichte wende sich noch zum Guten. Er durchdrang mit seinen Augen das Dunkel. Hier und da huschten Schatten, aber niemand kam ihnen zu Hilfe. Niemand!
Schon hatten sie die Stadtgrenze erreicht. Essen! Die Henker! Gespenstisch erschienen die Häuserreihen in der Dunkelheit. Nur am Bahnübergang brannten Lampen. Blechschilder klapperten im Wind. Weiter, zwischen den Schienensträngen, die sich nach der Schachtanlage „Königin Elisabeth" zogen, hüpfte ein winziges rotes Licht. Rechts von der Straße lag wie ein großes, schlafendes Tier die Freistein-Ziegelei. Wie beschwörend reckte sie ihren schlanken, brüchigen Steinkamin in den wolkigen Horizont. Irgendwo schrie die Sirene einer Lokomotive. Sie erschreckte die stumm gehenden Männer aus den quälenden Gedanken. Sie zögerten und sahen sich verzweifelt an.
„Los, weiter!"
Franz Kreusat stieß einen Seufzer aus. Er schüttelte den hämmernden Kopf.
Sie waren in der Stadt. Franz hoffte nicht mehr. Sie sahen nur Uniformen und die scheuen oder neugierigen Gesichter der Einwohnerwehr. Als sie einen Teil der Viehhofer Straße durchschritten hatten, tauchte im Fahllicht des Mondes das Rathaus auf. Auf der hohen, breiten Treppe standen Uniformierte. Andere liefen in die angrenzenden Straßen. Alle waren schwerbewaffnet.
„Aaah!"
„Was sind das für Galgenvögel?"
„In Stoppenberg festgenommen!"
„Bewaffnet?"
„Jawoll!"
„Los, rein!"
Unter Stößen stolperten die Verhafteten die Treppe hinauf. „Hände hoch! Wollt ihr die Knochen heben!" Im Korridor standen die Grünen Spalier, mit Gummischläuchen und Knüppeln.
„Marsch!"
Die Gummischläuche sausten auf Franz' Kopf, auf seinen geduckten Rücken, auf die zum Schutz vorgehaltenen Hände und Arme.
„Willst du laufen, du rotes Schwein!" - Und wieder Schläge.
Miller ging fast aufrecht hindurch. Sein Gesicht blutete.
Er ging trotzdem nicht schneller. Die Grünen brüllten: „Willst du laufen?"
Miller taumelte, er lief aber nicht. „Ruhig, Genossen", sagte er zu den anderen, „wenn wir Angst zeigen, werden sie uns totschlagen."
Auch Franz Kreusat richtete sich wieder auf. In seine Augen floss das Blut von dem zerschlagenen Kopf: „Ruhig, ruhig, Franz", ermahnte er sich selber. „Einmal muss es ein Ende haben!"
Er hatte sich bei dem letzten Schlage die Zunge zerbissen. Die lag dick in seinem Mund, der sich mit Blut füllte.
Er spuckte das Blut aus.
Der Grüne schlug ihn wieder ins Gesicht. Das Blut tropfte auf seinen Rock. Er wurde in einen Raum wie in eine Zelle hineingetreten. In einer Ecke stöhnte Buskühl. Auch Miller stand da. „Ich bin schuld", sagte er. „Ich habe den Schergen noch Menschlichkeit zugetraut."
Durch die finstere Essener Straße gingen Jupp Zermack, Raup und einige andere. Sie bogen nach dem Salkenberg ein, wo Kramm mit seinen Leuten wartete. Raup und Zermack hatten durch die Katernberger die Nachricht bekommen, dass die Hagener mit den Dortmunder und Bochumer Kumpels auf Gelsenkirchen marschierten.
In der Mühlenkuhle - einem Brachland - hatten sich etwa fünfzig Mann versammelt. Schon von weitem drang das Gemurmel der Ungeduldigen herüber. Ein Posten hielt die Kommenden an.
„Ich bin es, Zermack!"
„Na, habt ihr euch zu etwas entschieden?" empfing ihn Kramm.
Zermack erzählte, was ihm von den Katernbergern berichtet worden war, und befahl: „Verteilt euch mit den Gewehren am Bahndamm und lasst keinen der Blauen oder andere Spione mehr auf den Salkenberg kommen." Er ließ an der Brücke, die über die Ernestinenstraße führte, und an der Straßenkreuzung nach Frillendorf Wachen aufstellen. Christian Wolny legte sich mit seinem Maschinengewehr und einigen Leuten in eine Grube, aus der er die Essener Straße überschauen konnte.
Zermack ging darauf mit Raup auf Umwegen nach der Mittelstraße, wo die Zollvereiner warteten, und gab auch denen Anweisungen, alles, was sie erreichten, zu alarmieren.
Die Katernberger wollten gleich wieder einen Kurier schicken, wenn Neues zu melden war.
„Merkst du nicht", bemerkte Zermack, als er mit Raup querfeld nach der Grabenstraße ging, „die Blauen lassen sich heute merkwürdigerweise nicht sehen!"
„Die haben ein schlechtes Gewissen!" lachte Raup ergrimmt. „Sie ahnen, dass es jetzt Ernst wird, und spielen wieder die Lämmer!"
Es begann schon wieder zu dämmern. Zermack besann sich, dass die Kreusats noch nichts von der Verhaftung ihres Jungen wussten, und er entschloss sich, wenn auch schwer, dieses den beiden alten Leuten zu sagen.
Mutter Kreusat wartete. Jeden Augenblick lag sie im Fenster und spähte hinaus. Bei jedem Aufknarren der Treppe lief sie mit der Petroleumlampe raus, in der Meinung, dass Franz käme. So ging es bis in den grauen Morgen hinein. Da konnte sie die Sorge nicht mehr mit sich allein schleppen. Sie trat an ihres Mannes Bett und rüttelte ihn: „Hörst du, Martin! Der Junge ist noch nicht hier! Es ist schon Morgen, was mag mit ihm los sein?"
Kreusat sah sie wach an.
„Der Franz ist noch nicht zu Haus!" weinte sie. Er brummte: „Er wird schon noch kommen, er ist alt genug, um nach Haus zu finden!" Er legte sich auf die andere Seite.
„Dass du so gleichgültig bist", jammerte sie, „du schläfst, und ich zerbreche mir den Kopf, wo er steckt." Sie ging seufzend in die Küche. Kreusat hatte nicht geschlafen. Auch er hatte die ganze Zeit mit der Sorge gekämpft, wo der Junge so lange blieb. Er stand auf, zog sich an und ging in die Küche.
Da kam Zermack. Als Mutter Kreusat begriff, dass Franz verhaftet sei, fing sie an, laut zu jammern: „Dann lebt er nicht mehr. Ich ahne, dann lebt er nicht mehr!"
„Sei ruhig!" sagte der alte Mann, dem selber das Erschrecken im Gesicht stand, „er wird schon wiederkommen. Und wenn's schlimmer ist", sagte er schwer, „dann müssen wir uns auch damit abfinden, wir haben uns ja auch abfinden müssen, als sie ihn dir in den Krieg holten. Aber ich hoffe noch, dass er kommt!"
„Er kommt wieder, seid ruhig!" beruhigte auch Zermack die alte Frau. „Und wenn wir die Verhafteten mit den Gewehren herausholen müssen, wir werden euch den Jungen wiederbringen!"
„Und ich werde, wenn's sein muss, auch noch mitgehn", sagte Kreusat grollend. „Ja, ich alter Mann werde mitkommen und meinen Sohn wiederholen!"
Zermack drückte ihm die Hand. „Das lass unsre Sorge sein, Martin. Der Junge ist uns ebensoviel wert wie dir. Vielleicht haben wir ihn schon heute oder schon morgen wieder frei, verlasst euch darauf!"
Zermack hatte sich der schweren Pflicht entledigt und ging wieder zu Fritz Raup. Er horchte draußen auf. Aus der Richtung von Gelsenkirchen fielen mehrere Schüsse. Er ging eiliger, um mit Raup die wartenden Kumpels zu verständigen, dass ihre Stunde heranrückte.
Die Wanduhr in der Wachstube schlug siebenmal. Die Verhafteten waren steif und todmatt von dem Stehen und Auf-die-Wand-Stieren. Es war eine furchtbare Nacht. Dieses Hinhören nach der Stadt, dieses Warten. Worauf? Man wusste es nicht. Wenn diese Ungewissheit noch länger so anhielt, musste man wahnsinnig werden. Sie waren noch mehrere Male in der Nacht geschlagen worden; die Grünen wollten durchaus erfahren, was sie in dieser Nacht vorgehabt hatten. Weil keiner von ihnen etwas verriet, war ihnen Erschießen in Aussicht gestellt worden.
Franz Kreusat sah schräg nach Miller. Der stand mit geschwollenem, fremdem Gesicht starr und still, als schliefe er mit offenen Augen. Bewegte sich Franz, war der wütende Schmerz wieder da. Nur einen Tropfen Wasser! Der Wunsch quälte ihn seit Stunden.
Auch die anderen Gefangenen plagte der Durst. Franz hörte Buskühl reden. „Ich ersticke!"
Franz Kreusat hatte einmal einen der Grünen um Wasser gebeten. „Das gibt es nicht!" schrie der Grüne. „Wasser kriegste, wenn du sagst, was ihr die Nacht vorhattet!"
Der andere Zollvereiner hustete trocken. Er blickte zu den anderen hin. „Eine Ewigkeit dauert's! Ich falle bald um - verflucht!"
Die Grünen passten trotz ihrer Schläfrigkeit auf. Der Essener Genosse taumelte im Halbschlaf hin und her.
Er mühte sich, nicht umzufallen. Auch der Buskühl stöhnte.
Der Essener Genosse war ein schmaler, blasser Mann mit den ausdrucksvollen Zügen eines Gelehrten. Die Grubenluft hatte früh die Farbe der Jugend aus seinem Gesicht gesogen. In den müden Augen, die sich zuweilen ermutigend Miller oder Franz zuwandten, brannte Fieber.
Einer von den Grünen gähnte krächzend und machte die Blendladen auf. Grau-trübes Licht kroch in den dunstigen Raum. Der kalte Luftzug berührte die brennenden Gesichter, kühlte die aufgeschlagenen Wunden. Der Morgen weckte sie aus der Erstarrung.
„Es ist Tag!" sagte sich Franz. „Was kommt jetzt?" Der Morgen -, ging es wohl auch durch die Gedanken der anderen Genossen.
„Na, ausgeschlafen?" - Ein Stoß traf Franz Kreusats Rücken. Es stieg heiß in seinen Kopf. „Das Ende!"
„Kehrt!" Sie drehten sich schwerfällig herum. Zwinkerten, da ihre Augen das plötzliche Licht nicht vertragen konnten. Auf der Pritsche wälzten sich die verschlafenen Grünen. Sie gähnten und sahen feindselig nach den Gefangenen.
„Wegen euch, ihr Schweine, muss man sich hier herumdrücken!" -„Wartet! Die Kugel ist euch sicher!" sagte einer. Sie holten frisches Wasser herein und tranken. Das Wasser floss ihnen die Mundwinkel herab, tropfte auf den schmutzigen Fußboden. Franz hätte gern die Tropfen aufgesogen, die da herabfielen. Buskühl bat um einen Schluck.
„In die Fresse kannste eine kriegen!" sagte der Grüne, der zuletzt getrunken hatte, und wollte ihm den Krug wütend ins Gesicht schlagen.
„Na, gib ihm schon was!" sagte ein anderer. Buskühl griff nach dem Krug.
„Nein!" schrie der erste: „Sie sollen reden, was sie diese Nacht vorhatten!" Er stellte den Krug fort. Der andere Polizist zuckte mit den Schultern und machte den Gefangenen eine verstohlene Gebärde; es sollte wohl heißen: „Ich trage keine Schuld!"
Der Wachthabende sah nach Miller. Der war einen Schein blasser, doch noch ebenso ruhig wie vor Stunden. „Noch immer nicht überlegt?" fragte der Grüne.
„Ich habe nichts zu überlegen!" erwiderte Miller.
„Sie könnten freikommen!" Miller gab keine Antwort.
„Hat keinen Zweck!" brummte ein anderer Grüner. „Wenn sie das Maul nicht aufmachen, kriegen sie eine gebrannt!"
„Dann müsst ihr euch beeilen, dass euch nicht andere zuvorkommen!" sagte Miller. Er war merklich verwandelt und fand selbst in der furchtbaren Lage den Mut, den Grünen öfters in dieser Weise zu antworten.
Die anderen stöhnten nicht mehr. Sie standen mit aufeinandergebissenen Zähnen da. Mag kommen, was will! Franz Kreusat beschäftigte sich mit dem Gedanken, dass er sterben müsste. Er dachte ganz ernsthaft, dass man sie erschießen würde. Es wird wohl unser Ende sein. Hatte er es sich nicht oft im Felde, in den irrsinnig geführten Offensiven gewünscht, als er hoffnungslos inmitten der zerrissenen toten und ächzenden, sterbenden Soldaten lag? Als die Schützengrabengongs wimmerten: Gasalarm! - und er mit seiner undichten Maske an den Leichen herumkroch, um eine gute zu finden?
Ja, da erschien ihm oft der Tod wie eine Erlösung. Der Tod konnte nicht entsetzlicher sein als das unendliche Grauen des Krieges. Damals dachte Franz, trotz seiner Jugend, recht ernsthaft an den Tod. Sterben - Sterben? Nein! Nein! Therese, die Mutter - nein!
Er hörte zum Fenster hin. Hart knallten die nagelbeschlagenen Stiefel der um das Rathaus postierten Polizisten auf den Steinen. Harte, befehlende Stimmen, ein „Jawoll" oder Hackenklappen. Sonst nichts. Keine frohen, gesprächigen Menschen, kein sorgloser Gruß oder Mädchenlachen. Belagerungszustand! Schweigen - warten! Ein schreckliches, unheimliches Warten!
Einige der Polizisten kamen herein, flüsterten untereinander. Ihre Gesichter waren nicht mehr so zuversichtlich. Sie schienen besorgt zu sein. Franz Kreusats Ohren nahmen Wortfetzen auf: „Dortmunder" - „Auch aus Bochum" - „Polizei entwaffnet".
„Idiotie! Parolen!" sagte einer der Grünen und stieß ein gedrücktes Lachen aus.
„Nein", sagte der von draußen. - „Es soll wahr sein!" Miller stieß Franz Kreusat an: „Hast du verstanden?" Franz nickte.
„Bitte keine Unterhaltung, Herrschaften!" drohte der Wachthabende. An seiner Stimme merkten sie Unruhe. Da kam wieder ein Grüner herein: „Komm mal mit!" winkte er Franz Kreusat. Franz sah Miller bestürzt an und ging vor dem Grünen hinaus. Es ging durch den halbdunklen Korridor, dann rechts in einen anderen Raum.
„Hier ist einer der Stoppenberger, Herr Leutnant!" meldete der Polizist in strammer Haltung an der Tür und stieß Franz nach vorn. Es war der Offizier mit dem Monokelgesicht, der ihn schon einmal während der Nacht verhört hatte. Er sah bleich und nicht gerade mutig aus.
„Was planten Sie in der vergangenen Nacht?"
„Nichts!"
„Schwindle nicht, mein Junge!" Das spitze Gesicht zuckte nervös. Die schmalen Hände spielten mit einem Lineal. „Sage die Wahrheit!"
Franz Kreusat antwortete nicht mehr. Der Offizier stand auf und warf einen Blick zum Fenster. Draußen ratterte ein Motorrad. Franz Kreusat hörte aufgeregte Stimmen und Flüche. Er strengte sich an, den Wortwechsel zu verstehen. Er hörte: „Sie ziehen nach Gelsenkirchen - zum Flugplatz!"
Eine Ordonnanz stürzte ins Zimmer. „Herr Leutnant... !" Der Offizier schnitt ihm das Wort mit einer Handbewegung ab. „Nicht hier!"
Sie gingen auf den Korridor hinaus. Franz hörte aufgeregtes Sprechen. Der Grüne an der Tür merkte, dass Franz zuhörte, und schrie ihn an: „Pass auf, du Schwein! Ich horch'dir bald!"
Dann kam der Leutnant wieder herein. Er war blass und schien verwirrt. Um den dünnen Mund zuckte es. Er gab dem wartenden Grünen einen Wink: „Ab! Die Gefangenen sofort abtransportieren!"
Der Grüne sah ihn erstaunt an.
„Los, blöden Sie nicht!" schrie ihn der Leutnant an. „Los, weg!"
Der Grüne lief mit Franz wieder in den anderen Raum. Auch hier herrschte unter den Grünen steigende Unruhe. Sie machten sich marschfertig. Ihr ganzes Verhalten verriet Unsicherheit.
„Freut euch nur nicht!" drohte der Wachthabende den Gefangenen. „Wir sind noch nicht soweit! Die Ladung ist euch trotzdem sicher. Wenn ihr hier heil wegkommt, fress' ich einen Besen."
Franz Kreusat hatte aus den wirren Gesprächen erraten können: Die Arbeiter marschieren auf Essen zu und entwaffnen überall die Polizei!
Buskühl sagte erstickt: „Jetzt kriegen wir eine Kugel!"
Der Essener Genosse antwortete irgendwie sicher: „Jetzt nicht mehr."
Mehrere Grüne kamen und stießen sie hinaus. Wie bei der Einlieferung: überall das grüne Spalier. „Los! Eilig!" Wieder Schläge. Auf die zerschlagenen Knochen wieder Schläge und nochmals Schläge.
Hinter Franz Kreusat schrie Buskühl. Ein Grüner hatte ihn mit dem Gewehrkolben die Treppe hinabgestoßen.
„Los, auf! Hände hoch! Marsch!"
Ein Lastkraftwagen wurde angehalten. „Los, hinein!" Die Gefangenen wurden hineingestoßen. Die Grünen stiegen mit auf.
„Los, kniet euch hin!" befahl der Führer. Die Gefangenen mussten sich ducken. In den Straßen, durch die sie fuhren, wohnten anscheinend Arbeiter. Die Grünen wollten wohl nicht, dass die Gefangenen gesehen wurden. Sie hatten Angst vor den stillen Häusern.
Vollgepackte Lastwagen rasten nach dem Stadtinnern. Oben auf dem Führerkasten standen Maschinengewehre. Abteilungen der Grünen marschierten wie bei einer Mobilmachung. Die stumpfen, roten Gesichter verrieten Angst.
Oben in Rüttenscheid, an der Klarastraße, mussten sie aussteigen. Der Führer der Abteilung machte eine Handbewegung nach rechts. Die frische Märzluft belebte sie. Es war wie ein wohltuendes Bad nach harten, schmutzigen Stunden. Es durchströmte die steifen Glieder. Ganz tief, wie ein zitternder schwacher Funke, glomm auch in Franz Kreusat neue Hoffnung. Die Straßen waren breit und mit Bäumen bepflanzt, von hohen vornehmen Villen spaliert, an deren Haustüren weiße und messingne Schildchen hingen. Die Dächer waren bekuppelt und betürmt. Weiter im Vordergrund der Straße erhob sich das große Gerichtsgebäude, graue Quadern, ernst, hart und wuchtig.
In den Kupferteilen der Bedachung spiegelte sich die Märzsonne.
Ein wenig seitwärts stand ein gleichförmiges Ziegelgebäude mit Gitterfenstern, von der Außenwelt durch eine hohe Mauer mit eisernen Toren getrennt: das Untersuchungsgefängnis ! „Der Haumannshof!" sagte Miller. „Ihr kommt vor das Kriegsgericht!" drohte der sie begleitende Offizier voller Hass und zerschlug die winzige Hoffnung in den Gefangenen.
„Ruhig, wir kommen noch raus!" hoffte der Essener Genosse, als sie durch das knarrende Tor und den kalten, lichtlosen Gefängnishof gingen. Dann - Franz hörte irgendwo eine Sirene, lang und laut - schloss sich die dicke Tür einer Zelle hinter ihm.

 

Sechstes Kapitel

Es war gegen acht Uhr morgens.
Von Katernberg kamen eilige Radfahrer und riefen den Männern, die vor den Häusern standen, zu: „Besorgt euch schnell was in die Hände und besetzt die Straßen, die Grünen müssen aufgehalten werden, wenn sie kommen sollten. Unsere haben den Gelsenkirchener Flugplatz angegriffen!"
Ein Teil der Bergmänner ging in die Häuser und zog sich rasch ganz an. Die Frauen schrien: „Rennt doch jetzt nicht raus! Die Grünen können herkommen und euch totschießen!"
Zermack und Raup liefen, der eine nach der Salkenbergkolonie, der andere nach der Mittelstraße, mit einigen Gruppen jüngerer Kumpels, während andere auf ihre Räder sprangen und eilig nach dem Flugplatz jagten, um noch einige Gewehre und Munition zu holen.
Die Zermacksche hatte sich zu der Raupschen gemacht, mit der sie gewöhnlich all ihre Sorgen besprach. Sie hatten öfters im gleichen Hause gewohnt und hatten sich mit den Jahren eng miteinander befreundet. Beide waren wohl in demselben Alter und von der Derbheit immer schwer arbeitender Frauen. Die Zermacksche war die Ruhigere; sie hatte sich schon mit dem vielen Rennen ihres Mannes allmählich abgefunden, während die Raupsche noch immer aus der Fassung geraten konnte, wenn ihrer sich in solche Gefahren begab, wie sie dieser Tag wieder ankündigte.
„Mein Gott", empfing die kleinere Frau Raup, deren Kopf schon langsam ergraute, die Zermacksche, „die sind wieder unterwegs. Wenn das nur heute gut ausgeht!" Sie jagte den ältesten Jungen mit der Brotkarte zu Kleinemanns, um noch schnell etwas Brot ins Haus zu schaffen, weil man nicht wusste, ob man in der nächsten Stunde noch hinaus konnte.
„Sie sollen dir das ganze Brot geben", rief sie dem Jungen erbost nach, „oder ich komme dem Kerl, der bei unsereins immer knausert, selber hin!" Sie wandte sich wieder zu der Zermackschen um.
„Was tun wir nur, Menschenskind, wenn den Kerlen etwas zustößt! Der Miller sitzt schon seit gestern, und auch die alte Kreusatsche heult um ihren! Jesus, Jesus, diese verfluchte Zeit!"
Frau Zermack beruhigte sie, obwohl sie mit der gleichen Besorgnis gekommen war. „Nu, denk nicht gleich alles Schlimme. Unsere Männer sind doch nicht so leichtfertig, dass sie in das Feuer rennen. Ich wollte nur nachschauen, was du machst. Ich weiß ja, dass du gleich aus dem Rahmen gerätst, wenn deiner wieder loszieht. Mir ist es ja auch nicht recht, wenn meiner so ins Ungewisse hinausrennt; man kann aber doch die Männer nicht daheim festbinden, wenn alle hinaus müssen!"
Draußen rollten ein paar schwere Wagen. Frau Zermack sah durch das Gardinchen und erschrak: „Die Grünen!" sagte sie.
Frau Raup ging rasch an das Fenster. Mehrere Wagen, mit der Grünen Polizei vollbesetzt, rasten den ersten nach. „Jesus, Jesus", schrie sie, „und die Männer sind hinaus!"
Der Junge kam ohne Brot zurück. Er erzählte aufgeregt und fast erfreut: „Die Grünen fuhren vorbei, und an der Kirche schießen sie schon. Es sind Unsere!"
Frau Raup jammerte: „Warum hast du kein Brot mitgebracht? Der verdammte Kerl von Krämer will uns wohl jetzt verhungern lassen!"
„Der Laden ist zu", sagte der Junge. „Der Kleinemann ist wohl in der Stadt bei der Einwohnerwehr", fügte er hinzu. „Sein Gymnasiast hat damit herumgeprahlt. Es würde uns Fetzen schlecht ergehen."
Frau Zermack ging mit neuen Sorgen in ihre Wohnung zurück.
Draußen bei der Kirche fielen immer häufiger die Schüsse, und auch Maschinengewehre begannen zu knattern. Der Kampf tobte anscheinend zwischen der Mittelstraße, die nach Katernberg führte, und dem Stoppenberg, wo die kleine uralte Kirche stand.
Fritz Raup war mit Kahlstein und einigen anderen Kumpels nach der Mittelstraße geeilt, wo die Zollvereiner lagen. Er kam gerade an, als die Meldung eintraf, die Grünen wollten zum Gelsenkirchener Flugplatz, um dort die eingeschlossenen Polizeikompanien zu entlasten. Die Kumpels hatten kaum Deckung gesucht, als die schweren Wagen heranrollten. „Schießt!" befahl Raup den Genossen. Das eine Maschinengewehr, das sie hatten, und die Dutzend Gewehre entluden sich gegen den ersten auftauchenden Wagen.
„Halt!" schrie der oben stehende Offizier und befahl erregt den Polizisten, abzusteigen und auszuschwärmen. Sie erkletterten den Kirchberg und fingen von dort an, in die Mittelstraße hineinzuschießen. Sie waren mit ihrem Feuer den wenigen Gewehren der Arbeiter überlegen, weil sie mehrere Maschinengewehre hatten. Hagel von
Kugeln überschütteten die Straße. Die Männer konnten sich kaum noch mit den Köpfen hervorwagen, und Fritz Raup hatte alle Mühe, die durch das heftige Feuer der Grünen eingeschüchterten Kumpels zu einer weiteren Verteidigung zu bewegen.
Aber plötzlich fielen auch hinter dem Kirchberg Schüsse. Ein Maschinengewehr begann etwas entfernt zu klopfen. Es schien aus der Richtung des Salkenbergs zu kommen.
„Gott sei Dank", sagte Fritz Raup erlöst, „das sind Jupp Zermack und Kramm. Die helfen uns!"
Das Feuer auf dem Kirchberg wurde schwächer. Eine Anzahl der Grünen hatte sich wohl den neuen Angreifern zuwenden müssen.
Fritz Raup fasste wieder Mut, und er hieß einige Leute auf ihre Räder steigen und nach Katernberg jagen, um Verstärkung zu holen. Inzwischen waren noch mehr Stoppenberger herbeigeeilt, und er verteilte sie auf die umliegenden Gärten und Höfe. „Sieh zu", sagte er zu Kahlstein, „ob du nicht in die Salkenberg-Kolonie gelangen kannst, und schau mal, wie es Zermack und Kramm geht. Ich denke, die anderen müssen bald hier sein, und dann werden wir wohl weiter vorstoßen. Sag Zermack, dass wir uns nicht gegenseitig ins Feuer kommen."
Kahlstein übernahm jetzt den schweren Kurierdienst und lief und kroch die beschwerliche Strecke mehrere Male zum Salkenberg zurück.
Die Grünen hatten mit einer größeren, von dem Kirchberg abgezogenen Gruppe das Haus des Arztes Kondring besetzt und schossen gegen den Salkenberg und den Bahndamm, hinter dem Kramms Leute und Zermack lagen.
Der einfache Soldat Fritz Raup war an diesem Tage der Kommandant von fast einer Bataillonsschar seiner Bergleute geworden. Die nach dem Flugplatz weggeschickten Leute hatten noch einige dreißig Gewehre und ein zweites Maschinengewehr und die Nachricht mitgebracht, dass alsbald Verstärkung käme. Weil zu erwarten war, dass auch die Grünen Verstärkung erhalten würden, schickte Fritz Raup eine größere Schar mit dem zweiten Maschinengewehr auf Umwegen nach dem Nölle-Werk, von wo aus sie die von Essen herabsteigende Hauptstraße unter Feuer nehmen und ein Anrücken weiterer Polizeitruppen aufhalten sollten. Auch dort begannen jetzt die Gewehre zu knallen.
Es ging schon in die zehnte Stunde, aber der Feuerkampf tobte weiter. Katernberger Kuriere brachten Nachrichten, dass die auf dem Flugplatz eingeschlossenen Grünen den Kampf aufgegeben hätten, und Kuriere aus anderen Vororten Essens kamen mit der Botschaft, dass ihre Werkleute den Viehhof angreifen wollten.
Der Tag war gerettet.
Fritz Raup saß borstig und erschöpft auf einer Haustreppe und erteilte von dort seine Befehle. Die Kumpels, etwas entspannt, folgten ihm jetzt willig und verließen ihre Deckungen nicht mehr, wie am Morgen, wo noch verschiedene vor dem rasenden Feuer der Grünen immerzu entsetzt weggerannt waren.
Endlich kamen die ersten Scharen von Katernberg. Andere folgten. Fritz Raup beriet mit den leitenden Leuten. Sie beschlossen, den Kirchberg zu stürmen.
Die Scharen zogen sich auseinander und gingen vor. Mehrere Gruppen drangen die Essener Straße hinauf. Die Grünen verließen unter dem Feuer den Kirchberg und zogen sich gegen Essen zurück.
Um das Haus des Arztes entspann sich noch ein langwieriger Kampf. Die Grünen, die dort eingeschlossen waren, warfen Handgranaten. Anscheinend hatten sie dort die ganze Reservemunition abgeladen.
Um die elfte Stunde entschloss sich Kramm, das Haus mit seinen Kumpels zu stürmen. Da sie viele Handgranaten von den vom Kirchberg geflüchteten Grünen erbeutet hatten, begann jetzt ein furchtbarer Kampf mit den Granaten. Mehrere der Koloniekumpels liefen blutend aus dem Feuer. Einige blieben vor dem Haus liegen.
Die Grünen hofften anscheinend auf Hilfe und Entlastung und richteten sich drinnen auf eine längere Verteidigung ein.
Während Kramm mit seinen Leuten um das Arzthaus kämpfte und andere, aus der Mittelstraße heraneilende Kumpels das Feuer gegen die nach Essen zurückweichenden Grünen aufnahmen, gingen Fritz Raup und Zermack mit Wirrwa und einigen älteren Leuten zurück: „Wir wollen uns auf der Wache umsehen", sagte Zermack. „Es muss sofort etwas Ordnung in das Durcheinander gebracht werden. Und einige Küchen werden wir wohl auch einrichten müssen." Sie fanden die Wachstube verlassen. Die Blauen, auch Herr Loew, waren an diesem Morgen nicht zu ihrem Dienst erschienen.
„Wir werden die Herrschaften holen", entschloss sich Zermack. „Sie sollen uns erzählen, wo sie Miller und die anderen Genossen gelassen haben."
Herr Loew, der im Nebenhause wohnte, wurde geholt. Er knöpfte sich unterwegs den Rock zu: „Meine Herren, Sie werden entschuldigen, aber ich habe immer nur meine Pflicht getan und habe mich um die politischen Geschichten nie gekümmert", entschuldigte er sich immerfort.
Fritz Raup antwortete ihm voller Ingrimm: „Sie haben sich schon immer darum gekümmert, wie Sie uns loswerden könnten. Und Miller und die anderen sind auch nicht ohne Ihr Zutun verhaftet worden."
„Ich schwöre", stammelte Herr Loew, „ich weiß nichts von dieser Verhaftung."
Da schrie Fritz Raup empört: „Sei still, verfluchter alter Heuchler, wir kennen dich!"
Herr Loew wurde still und knöpfte wieder an seinem Rock. Er fragte nach einigen Seufzern: „Wird - man mich erschießen?"
„Wir werden uns an Ihresgleichen nicht die Hände besudeln!" antwortete Fritz Raup, Und er fügte böse hinzu: „Wie erbärmlich seid ihr doch, wenn ihr Menschen sein sollt - wie jämmerlich!"
Der Kommissar saß dösend in der Wachstube. Endlich fragte er Zermack, der ebenso düster wie Raup umherging: „Was geschieht jetzt mit uns?"
Zermack fragte ihn: „Wo sind die Verhafteten? Ihr habt es doch sicherlich angezettelt! Wenn wir nicht erfahren, wo ihr sie hingebracht habt, dann sperren wir euch alle ein!"
Herr Loew gestand nun: „Die sind nach Essen transportiert worden. Aber", fügte er hinzu, „ich hatte mit dieser Angelegenheit nichts zu tun!" „Wer hat es getan?" fragte Zermack.
Herr Loew zögerte erst, dann sagte er: „Herr Heumisch hatte den Auftrag gehabt!"
„Den Auftrag!" lachte Zermack, und seine Stirn wurde rot. „Auftrag! Wenn den Genossen ein Leid angetan worden ist, dann holt euch alle der Satan!" versprach er. „Lasst ihn wieder nach Hause gehn. Wir brauchen ihn hier nicht!" sagte er zu Raup und Wirrwa.
Herr Loew ging, er knöpfte noch immer an seinem Rock.
Zermack und Raup suchten das Haus ab, ob nicht irgendwo Gewehre lagen, denn die Blauen hatten in den letzten Tagen welche getragen. Sie fanden nichts.
„Die werden sie wohl alle weggeschafft haben, die Halunken", sagte Zermack. „Man macht es immer falsch, man lässt sich immer noch rühren, anstatt sie festzuhalten oder zu erschießen."
Sie ließen den alten Henke, einen zuverlässigen Genossen, mit einigen anderen auf der Wache zurück und gingen wieder nach der Essener Straße.
Die Grünen hatten sich am Bahnhof und auf dem Sportplatz, in der Nähe des Bahnübergangs, festgesetzt, wo sie hinter einem Abhang Schutz fanden, und beschossen von dort die Essener Straße und den Bahndamm vor dem Salkenberg.
Die Grünen hatten im Verlaufe des Nachmittags Verstärkung bekommen, und es blieb vorerst nur bei dem Feuerkampf, der zeitweise abflaute, aber nach einigen Minuten wieder heftiger anstieg.
Mehrere Tote und Verwundete waren schon weggetragen worden. Unter den Toten lag auch Hermann Kahlstein, den an dem Arzthaus eine Kugel getroffen hatte.
Zermack und Fritz Raup gingen zu den kämpfenden Gruppen, die sich jetzt rund um die Ortschaft festgesetzt hatten. Seit dem Mittag waren immer neue Scharen aus Katernberg und Rotthausen zugestoßen, und man wartete noch auf die angekündigten „Hagener", die nach den Berichten schon eine kleine Armee darstellen mussten. Man fragte auch Zermack und Raup überall ungeduldig, ob „die Hagener" nicht bald ankämen.
„Die werden wohl erst noch Gelsenkirchen und die anderen Löcher frei machen müssen", antwortete Zermack, „sonst wären sie bestimmt schon hier. Sie wissen, dass wir auf ihre Hilfe warten."
„Dann sorgt dafür, dass sie bald kommen", drängte Bruno Freising, der an dem Nölle-Werk lag. „Die Grünen scheinen etwas vorzuhaben!"
Die beiden hatten von Kahlsteins Tod vernommen, und Fritz Raup zog, als sie wieder in den Ort zurückgingen, Zermack in den kleinen Hoffrone-Saal, wo die Toten lagen. Sie erkannten Hermann Kahlstein an seiner Matrosenbluse, die er an diesem Morgen wieder angezogen hatte. Das bärtige, blasse Gesicht schien trotz der harten Falten, die der Kampf um das Arzthaus auf seiner Stirn zurückgelassen hatte, zufrieden zu lächeln. „Guter Junge!" sagte Zermack und streichelte die schwere Hand.
Unter den anderen lag noch ein großer, schwerer Mann mit düsterem, herbem Gesicht. „Der Gutschnick!" sagte Fritz Raup.
„Gutschnick!" Zermack dachte an Gutschnicks Gram und Hass. „Du konntest den erhofften Tag deiner Freude nicht mehr erleben, Gutschnick!" seufzte der große Mann.
Die anderen Toten waren fremde Männer.
Fremd? Heute war ihnen keiner fremd, alle waren ein Teil ihrer selbst, waren Genossen.
Zermack strich auch dem toten Gutschnick über die benarbte Hand und murmelte: „Und wir sind erst am Anfang..."
Sie gingen.
Fitz Raup entriss sich draußen dem lähmenden Druck, der sich bei dem Erkennen der ungeheuren Schwere ihres Kampfes auf seine Seele gelegt hatte. „Wir dürfen uns jetzt nicht entmutigen lassen", sagte er mit plötzlicher Härte, „wir müssen vorwärts!"
Es war mittlerweile wieder Abend geworden. Fritz Raup war, während Zermack wieder nach der Wache zurückging, auf einen Sprung nach Hause gegangen, wo er Zermacks Schar mit der seinen versammelt vorfand.
„Mein Gott, da kommt er endlich!" schrie Frau Raup und griff nach seiner Hand. „Was haben wir diesen Tag ausgestanden! Du bleibst doch jetzt hier!"
Er schüttelte den Kopf. „Ich muss wieder weg!" „Warum musst du denn wieder weg?" begann sie zu weinen.
„Sei still, ich muss raus!" sagte er fast zornig.
Frau Zermack fragte: „Wo ist meiner?"
Er sagte, dass Zermack auf der Wache sei. „Ist ihm nichts geschehen?" fragte sie besorgt. „Nein!" sagte Raup. „Er ist wohlauf!" Er hieß den Frauen, nicht rumzusitzen, sondern mit den Kindern zu Bett zu gehen. Heut nacht wird es wohl zu nichts kommen. Er wusste, dass er nicht die Wahrheit sagte, denn jede Stunde konnte eine Änderung eintreten, aber die Angst der Frauen war eine Fessel, und weder er noch Zermack durften jetzt Müdigkeit oder Missmut zeigen.
Er aß etwas und ging wieder eilig weg. Er traf auf der Wache Tauten an, den er in den letzten Tagen nur wenig gesehen hatte. Tauten hatte die Nachricht gebracht, dass Kapp und Lüttwitz wieder abgedankt hätten und dass die alte Regierung und die Gewerkschaften bald zum Abbruch des Generalstreiks aufrufen würden.
Zermack raste. „Ihr seid wahnsinnig. Kapp und Lüttwitz gehen, aber sie lassen ihre Söldner zurück, die gleich wieder als Schergen auftreten, wenn wir jetzt den Kampf aufgeben."
„Aber Leute", wandte Tauten ein, „wenn Kapp und Lüttwitz wieder gehen, dann wird auch die Polizei zurückgerufen werden. Der unselige Kampf wird gewiss abgebrochen. Wir können damit ganz sicher rechnen. Seid doch nicht so halsstarrig!"
„Du kannst den Kampf jetzt nicht mehr abbrechen", antwortete Zermack noch in Groll. „Da ist der Hass schon zu hoch gestiegen. Geh zu den Kumpels, die schon geblutet haben, ob sie sich aufgeben wollen; sie werden dich davonjagen. Und die feindliche Gesellschaft drüben denkt gar nicht daran, sich deiner Regierung zu fügen; die Mörder verhöhnen eure Einfalt. Da, hör sie draußen. Ihre Maschinengewehre schießen weiter."
Tauten brummte: „Ich denke, es hängt von beiden Seiten ab, ob der Frieden wiederhergestellt wird."
Zermack antwortete ihm. nur mit einem bedauernden Blick.
Er wandte sich einigen Kumpels zu, die mit erschöpften Gesichtern hereinkamen. Kramm war mitgekommen. Er sagte heiser: „Ich glaube, die Grünen planen etwas. Sie sind vom Sportplatz verschwunden, aber der Viehhof scheint stärker besetzt worden zu sein, und in der Stadt bereiten sie, wie die Freisteiner erzählen, allem Anschein nach einen neuen Angriff vor. Wir müssen noch mehr Verstärkung heranziehen."
Tauten hörte dem Bericht missmutig zu und sagte wieder: „Leute, übertreibt's doch nicht. Ihr seht alle Gespenster. Ich sage: Morgen wird die ganze Geschichte vielleicht zu Ende sein."
Zermack hörte nicht auf ihn, er sagte zu Raup: „Schicke noch mal einige Leute nach Katernberg, sie sollen mehr Hilfe heranschaffen. Ich glaube auch, dass wir die Nacht etwas zu erwarten haben." Er wandte sich zu Tauten und sagte ihm: „Es wäre besser, du gäbst deine Gläubigkeit auf. Helf lieber hier mit. Setz dich mit deiner Fraktion zusammen und dränge den Bürgermeister, dass für unsere Leute einige Küchen eingerichtet und Lebensmittel beschafft werden. Es kann hier morgen schon ganz anders aussehen!"
Tauten zuckte die Schultern. „Ich habe gesagt, was ich euch zu sagen hatte. In eure Geschichten mische ich mich nicht hinein, denn kein Mensch weiß, wie es noch ausarten wird, wenn ihr auf dem Weiterkampf beharrt. Ich geh' jetzt nach Hause und kümmre mich nicht mehr um eure Dinge. Wenn die Gewerkschaften den Abbruch des Streiks beschließen, ist es für mich zu Ende", sagte er, sich noch einmal in der Tür umwendend.
Fritz Raup sagte nach einigem Schweigen zu Zermack: „Lass ihn laufen. Er wird noch zu sich kommen!"
Zermack schüttelte wieder den Kopf. „Wenn ihm einer neunzehnhundertfünf oder -zwölf gesagt hätte, was er heute selber redet, den hätte er als seinen Todfeind angesehn. Hoffentlich kommt er wieder einmal zu sich!"
Es wurde Nacht und frostig. Die Wache war jetzt ständig voller Leute, die sich entweder ein Gewehr holen wollten oder aus den Nachbarorten angerückt kamen. Auch die Kuriere von den verschiedenen Kampfstellen kamen mit Meldungen oder nach Brot, denn die meisten der auswärtigen Kumpels hatten seit vierundzwanzig Stunden nur von dem Wenigen gezehrt, was sie sich in Eile von Hause mitgenommen hatten.
Fritz Raup entschloss sich, den Bürgermeister zu wecken, damit dieser Anweisungen herausgab, das Brot zu beschaffen.
Herr Claus kam erst nach mehrmaligem Klopfen heraus. Als er Raups Vorschlag angehört hatte, sagte der alte Herr: „Aber, liebe Leute, ich kann das doch nicht allein anordnen. Das muss erst die Bürgermeistereivertretung beschließen. Übrigens", wandte er ein, „woher sollen wir denn jetzt das Mehl bekommen?"
Raup erwiderte: „Das ist Ihre Sache. Es gibt mehrere große Bauern am Ort, die auf den vollen Säcken sitzen. Lassen Sie dieses Mehl hergeben, und wir haben Brot genug!"
Der Alte wand sich noch, aber er sah die düsteren Männer mit den Gewehren dastehen und lenkte ein: „Also, ich will tun, was ich kann. Aber", fügte er mürrisch hinzu, „ich werde es dann wieder vor der Bürgermeistereivertretung zu verantworten haben."
„Wir brauchen das Brot sofort", sagte Fritz Raup nachdrücklich, und die Männer gingen.
Sie bekamen das Brot noch in der Nacht.
„So ein Gewehr spricht doch oft besser als die beste Zunge!" sagte der alte Henke, als die noch warmen Brote auf der Wache abgeladen wurden; er sah aus wie ein Stück alten Eisens, ruppig und rostig. Henke hatte ungefähr an die dreißig Jahre an den Öfen im Kruppwerk verbracht.
Zermack war mit Raup wieder in den Ort hinausgegangen. Sie waren auf dem Wege zu dem Nöllewerk, als plötzlich mehrere Knalle von Handgranaten dröhnten. Die mussten in der Nähe des Rathauses und der Wache gefallen sein, denn dort setzte gleich ein rasendes Gewehrfeuer ein. Gleichzeitig hub allerwärts das Schießen an. Es schien, als wären die Grünen in größeren Abteilungen und von mehreren Stellen aus vorgedrungen.
Da ist etwas geschehen", sagte Zermack voller Bedenken.
„Es hört sich an, als kämpften sie an der Kirche oder am Rathaus", sagte Raup. Aber der Ort ist doch von den Grünen frei, und die Straße ist über den Salkenberg nach Frillendorf durch unsere Leute gesichert!"
Und doch tobte mitten im Ort ein Kampf. Vom Salkenberg und um die große Kirche krachten in einem fort Salven und hämmerten Maschinengewehre.
Zermack gab der Gruppe, bei der sie standen, die Anweisung, die Hauptstraße im Auge zu behalten, und falls sich da die Grünen sehen ließen, die Straße sofort unter Feuer zu nehmen. Sie gingen eilig zurück. Sie stießen in der Mittelstraße auf Scharen völlig durcheinander geratener Leute. Die Grünen waren in der Dunkelheit von Frillendorf gekommen; sie hatten die Posten der Salkenberger am Kreuzberg überrumpelt und erschlagen. Dann sind sie weiter - anscheinend eine besondere Stoßabteilung - bis zum Rathaus und an die Essener Straße vorgedrungen und hatten dort die in einem Schulraum untergebrachten Sanitäter und Verwundeten totgeschlagen.
Die Grünen hatten in das Haus, in dem die Wache lag, Handgranaten geworfen, und sie waren nur durch das sofort aufgenommene Feuer einer draußenliegenden Gruppe vorläufig aufgehalten worden.
„Nun seid doch ruhig", schalt Fritz Raup die Ängstlichen aus. „Wo sind denn unsere anderen Leute hingerannt?"
„Die liegen überall in den Häusern und treiben die Grünen zurück", erklärte Henke. „Und wir wollen auch von hier wieder gegen die Wache und das Rathaus vorgehn, um sie dort herauszutreiben."
Zermack und Raup halfen, das Durcheinander wieder zu ordnen, und sie übernahmen jeder eine der vorrückenden Abteilungen.
Die Grünen saßen noch in der Schwanhildenschule an der Essener Straße und in den Straßen um das Rathaus. Doch von mehreren Seiten zugleich bestürmt und unter heftiges Feuer genommen, verließen sie, indem sie noch mehrere Handgranaten warfen, die unsicher gewordenen Positionen und rannten den Weg, den sie gekommen waren, wieder zurück. Fritz Raup folgte mit seiner Schar den fliehenden Grünen bis über den Salkenberg hinaus, wo sie die toten Kumpels noch auf der Straße liegend vorfanden.
Der eine war ein älterer Mann und ein Unionist von ihrem Schacht, der andere schien kein Stoppenberger zu sein; er war wohl am Nachmittag mit den Schönebeckern angekommen, die sich den Kolonisten angeschlossen hatten.
Zu den Toten im Hoffrone-Saal waren wieder mehrere in dieser Nacht gefallene Kumpels gebettet worden. Eine Anzahl Verwundeter wurde in einem anderen Raum in der Mittelstraße von den Frauen, die sich für diesen Dienst gemeldet hatten, verbunden. Unter diesen Frauen war seit dem Nachmittag auch Therese Tauten zu sehen, die nach einem heftigen Streit mit Tauten die Wohnung verlassen und sich nach der Wache begeben hatte, um ihre Hilfe anzubieten. Sie vermochte in diesen Stunden nicht allein zu Hause zu sitzen, zumal Tauten dem angebrochenen Kampf immerfort Unglück und Verderben prophezeite! Im Grunde ihres Herzens war sie, trotz ihrer Widerreden, schon früher gegen seine langweilige Geduldspolitik gewesen, die auch ihre eigenen Entschlüsse lähmte. Sie spürte, dass Franz, wenn auch jünger, trotzdem entschlossener war, und dass seine Jugend diese Hemmnisse durchbrach und eigene Wege ging. Und jetzt, da Franz für seine Rechtlichkeit auch noch verhaftet und weiß Gott wo hingeschleppt worden war, war sie völlig schwankend geworden. Tauten, der die Absicht der Tochter erriet, wollte sie am Weggehen hindern und drohte, wenn sie gegen seinen Willen handelte, sich von ihr zu lösen; aber sie antwortete ihm mit plötzlich erwachtem Eigenwillen:
„Entschuldige, Vater, wenn ich dir dieses Mal nicht folge, aber weil du draußen nicht helfen willst, geh' ich." Und sie war trotz seiner Drohungen gegangen. Es war keine leichte Aufgabe, die sie übernommen hatte, und wenn wieder diese bleichen, blutüberströmten Männer hereingebracht wurden, kostete es sie jedes Mal alle Kraft, nicht, wie bei den ersten, in Tränen auszubrechen. Grausig war dieser Kampf, und die Nacht machte ihn noch entsetzlicher. Sie grollte dem Vater, der zu Hause saß und nichts anderes zu tun wusste, als nur Reden über Zerwürfnis und, Zwiespalt zu halten.
Man brachte auch die tote Sanitäterin, die die Männer unter den erschlagenen Verwundeten in der Schule gefunden hatten, und bei dem Anblick des von den Misshandlungen entstellten Gesichtes der Frau brach Therese in lautes Weinen aus.
Zermack, der Therese in diesem hilflosen Zustande antraf, strich ihr, selber erschüttert, väterlich über den Kopf. „Bleib stark, Mädel, wir müssen es alle sein. Die Jäger drüben sind rücksichtslos, du siehst es!"
Therese wäre jetzt, trotz aller Schrecken, nicht mehr zu bewegen gewesen, ihre freiwillig übernommene schwere Pflicht wieder aufzugeben. Sie entschloss sich, zu bleiben. Sie dachte auch an Franz, von dem sie nicht wusste, ob er noch lebte, oder ob er nicht auch schon irgendwo so still lag. Franz! Franz! Der Gedanke an ihn hatte sie in diesen plötzlichen Widerspruch mit dem Vater gebracht, hatte sie hierher getrieben. Franz sollte nicht denken, dass sie in solchen Stunden sich nicht als das Arbeitermädel fühlte. Sie schämte sich jetzt der Behaglichkeit daheim, während sie die verwundeten Männer, die trotz großer Familien mitgezogen waren, verband. Ja, sie schämte sich der Widersprüche des Vaters, der jetzt zu Hause grollte - wem? Nicht den rasenden Teufeln drüben in Essen, die wieder schossen, sondern den Männern hier, seinen Arbeitsgenossen grollte er. Sie erinnerte sich jetzt auch öfters Schigalskis, der einen großen Teil Schuld an dem Zwiespalt des Vaters trug und der ihm die Nachricht von Kapps und Lüttwitz' Abdankung und dem voraussichtlichen Abbruch des Generalstreiks ins Haus gebracht hatte. Schigalski hatte vom „Sieg" gesprochen, während die Grünen von Essen heranrollten und diese Abdankung gleich in eine Schlacht gegen die Arbeiter verwandelten. Therese sah jetzt alles klarer: Der Parteisekretär Schigalski hasste diesen Widerstand, diese Auflehnung der Hungerleider gegen seine zweifelhafte Ordnung, deren Ohnmacht und Zusammenbruch sie erst vor wenigen Tagen erlebt hatten.
So setzte sich das Mädel seit Stunden mit ihren eigenen und den Widersprüchen ihres Vaters auseinander, während sie sich, nach einem angelegten Notverband, von dem einen zu dem anderen der Verwundeten wandte. Wenn Franz hier wäre, dann wäre es mir nicht so schwer, dachte sie, aber was ist mit ihm geschehen? Franz! Franz!
Die Grünen waren bei dem nächtlichen Vorstoß bis zu der Wache vorgedrungen; der Hausflur war von einer Handgranate aufgerissen worden. Mehrere Handgranaten waren draußen krepiert. Henkes Leute hatten wieder die Wache besetzt, nachdem die Straße zum Schacht und bis Frillendorf mit stärkeren Scharen gesichert worden war. Am Nöllewerk und von der parallel mit der Hauptstraße laufenden Feldstraße, die an der Freisteinziegelei nach Essen führte, dauerte das Gewehrfeuer noch weiter an. Auch dort waren die Grünen in mehreren Schwarmlinien vorgestoßen; sie hatten aber, durch das Kreuzfeuer behindert, den Angriff wieder aufgeben müssen. Still und gespenstisch, wie sie gekommen, waren sie wieder verschwunden; dafür beschossen sie jetzt aus dem Viehhof mit mehreren Maschinengewehren die Straßen und die Ziegelei, wo die Arbeiter aus der Feldstraße vorgerückt waren.
Der Tag dämmerte schon wieder, aber nichts deutete darauf, dass die Grünen an einen Abbruch des blutigen Kampfes dachten.
Tauten, der die Tochter suchte, erschien gegen Morgen noch einmal auf der Wache. Er hatte die inzwischen angekommenen neuen Scharen der Dortmunder und Bochumer in den Straßen lagern gesehen, und er sah daraus, dass sich die vielleicht schon zu Tausenden anmarschierte Menge zu einem Sturm auf die Stadt vorbereitete. Brot und Munition wurden ausgeteilt, und die Gruppenführer brachten Informationen, wie die verschiedenen Abteilungen vorzugehen hatten.
Tauten, der auch auf der Wache diesem Treiben begegnete, geriet in einen neuen Zwiespalt; er wagte dieses Mal nicht, seine Einwände vorzubringen. Er sah eine Zeitlang verdrossen dem vielen Hin und Her zu und blickte Fritz Raup oder Zermack, die die Anweisungen an die Männer erteilten oder Meldungen entgegennahmen, vorwurfsvoll an. Der Anblick der vielen bewaffneten Leute machte ihn in seinem Entschluss schwankend, Schigalskis Auftrag laut werden zu lassen und zur Arbeitsaufnahme aufzufordern. Als er wieder gehen wollte, hielt ihn der fünfzigjährige Stamm an: „Was ist mit dir los, Jakob? Willst du nicht auch ein Gewehr nehmen, oder schläfst du noch. Du siehst, dass ich mich auch dazu bequemt habe."
Tauten sagte aufgeregt: „Du weißt, dass unsere Partei diesen unsinnigen Kampf nicht billigt!"
Da schrie Stamm: „Ob es die Partei billigt oder nicht, ich bin dabei. Es gibt heute keinen Unterschied. Ich bleibe bei meinesgleichen, auch wenn es der Partei gegen den Strich geht."
Tauten blieb stehen und sah den Genossen an. Er wand sich noch und sagte: „Eben war wieder der Schigalski da und sagte, dass die Regierung und die Gewerkschaften den Kampf als beendet betrachten und dass wir wieder anfahren werden. Was soll man denn machen?"
Stamm lachte wütend: „Das wage mal jetzt den Leuten zu sagen; dann hast du sie alle gegen dich. Nicht wir haben angefangen, sondern Watter hat seine Garden nach Dortmund geschickt, und die haben mit dem Mord begonnen. Geh, sag das den Kumpels, sie sollen jetzt aufhören sich zu wehren, und du wirst auf aller Widerstand stoßen. Höre mir endlich mit eurer Versöhnung mit den Spekulanten auf und bemühe dich lieber darum, hier als Genosse mitzuhelfen, dann tust du recht daran. Sonst sind wir geschiedene Leute."
Der kleine, breite Mann zitterte vor Aufregung und starrte den wieder stumm gewordenen Tauten zornig an. Tauten schwankte. Er blickte auf die Männer, die dem Gespräch zugehört hatten, und schien unentschlossen, ob er wieder nach Hause gehen oder dableiben solle. Schließlich wandte er sich noch einmal an Stamm und brummte: „Tatsächlich, man wird förmlich auseinander gerissen. Der eine will dahin, der andere dorthin, wahrlich, unglückselige Tage!" Er schüttelte den Kopf.
Stamm hatte nach einem an der Wand stehenden Gewehr gegriffen und reichte es Tauten hin: Da! Du kannst es ebenso tun wie die anderen und wie ich. Wir sind noch nicht zu alt, um den Kumpels nicht beizustehen. Lass die anderen zum Teufel laufen, die dir die Ohren von Arbeitsaufnahme und Aussöhnung mit den Spitzbuben vollblasen!“
Tauten sah ihn noch mit Unwillen an und nahm zögernd das Gewehr: „Ich sage aber, es ist nicht nach dem Willen der Partei. Und der Schigalski, wenn er sieht, dass auch wir hier mit dem Gewehr herumrennen, der wird es sofort an höherer Stelle melden, und dann sind erst alle Teufel los!"
Stamm wiederholte: „Hier sind wir keine zehn Parteien mehr, hier sind wir alle Genossen, die von den Henkern bedroht werden. Und wenn der Schigalski das nicht verstehen will, dann soll er mit den Spekulanten rennen!"
Tauten saß mit dem Gewehr da und wusste anscheinend nicht, was er damit anfangen sollte. Einer der Jüngeren reichte ihm noch Patronen hin, die er ebenso unwillig entgegennahm, aber sie doch nahm und in seine Taschen steckte.
Stamm setzte sich zu ihm hin und sagte wieder versöhnlich: „Siehste, so bist du doch wieder der alte Genosse. Man soll uns nicht scheel angucken und uns nachreden, dass wir unsere Menschen in der Not im Stich lassen. Der Zwiespalt muss endlich einmal aufhören, siehst du das nicht ein? Der Fritz Raup und der Zermack haben auch Familien und opfern sich auf. Denk doch daran, Jakob, was uns unsere Lehrmeister gesagt haben: ,Wir haben nichts mehr zu verlieren als unser Elend, als die verdammten Ketten, die sie auch jetzt wieder für uns bereithalten.' Nun murre nicht mehr, sondern helfen wir den Genossen, die draußen um ihr Leben kämpfen. Morgen werden wir die Fraktion zusammenholen und werden mit dem Bürgermeister und den anderen ein ernstes Wort reden. Sie sollen einmal aus ihrer reaktionären Haut heraus, diese Duckmäuser."
Jakob Tauten war in zwei Jakob Tautens gespalten. Der eine beschäftigte sich immer noch grollend mit Schigalskis Auftrag, und der andere Jakob Tauten beobachtete immer mehr erstaunt das Auf und Ab der Bewaffneten auf der Wache und schien schon mehr geneigt, Stamms Ratschlägen zu folgen. In diesem anderen Jakob war der frühere Sozialist und Treppauf-Treppab-Funktionär seines alten Verbandes erwacht, der den Kapitalisten und Ausbeutern einmal Hass und unerbittlichen Kampf geschworen hatte. Sein altes, volles Gesicht war nicht mehr so düster, es war eher nachdenklich geworden, während er von Zeit zu Zeit das Gewehr betrachtete oder den eifrigen und leidenschaftlichen Debatten der Kumpels zuhörte. Vielleicht haben diese Menschen hier doch das Richtige gewählt, dachte er einen Moment lang, und Schigalski und ich befanden uns die ganze Zeit in einem Irrtum. Aber - der Stamm wird von diesen Menschen weniger bedrängt und hat selbständiger entscheiden können, zog er wieder einen Unterschied zwischen sich und dem Genossen.
Und er grollte noch einmal, diesmal Schigalski und den führenden Leuten seiner Partei: Wie die Klötze hängen sie an einem, tatsächlich, und lassen einem keinen eigenen Willen mehr. Sie sollten sich hier mal mit dem Volk auseinandersetzen, vielleicht würden auch sie dann ihre Meinung ändern. Er dachte nicht mehr daran, von der Wiederaufnahme der Arbeit zu reden, und beschäftigte sich nur noch mit der Tochter, die sich im Streit von ihm getrennt hatte. In Sorge um das Mädel dachte er: Wenn sie nur nicht irgendwo draußen herumrennt und sich der Gefahr aussetzt. Sie ist jetzt tatsächlich das genaue Gegenteil von mir geworden. Vielleicht ist es meine Strafe, dass ich das Mädel immer von allen diesen Geschichten ferngehalten habe!
Die Entlastung, die von den Grünen vom Viehhof und von Frillendorf her für die noch in dem Arzthaus eingeschlossene Abteilung geplant war, war durch das schnelle Eingreifen der Arbeiter gescheitert. Die Kumpels am Nöllewerk und die Hunderte, die sich inzwischen oben in der Feldstraße angesammelt hatten, gingen zu einem Gegenangriff über und drangen über die Freisteinziegelei hinaus, wo sie sich verschanzten. Damit war den Grünen ein neuer Vorstoß unmöglich gemacht. In der Nacht stießen immer neue Abteilungen Arbeiter von Katernberg, Rotthausen und Gelsenkirchen hinzu und verstärkten die in Stoppenberg lagernden Scharen.
Um die zweite Stunde begann ein neuer, rasender Kampf um das Arzthaus, wo die eingeschlossenen Grünen - man wusste nicht woher - anscheinend immerfort neue Befehle zum Ausharren bekamen. Sie verfügten noch über große Mengen an Munition und Handgranaten. Hier hatten schon mehrere der stürmenden Kumpels ihren Tod gefunden, und immer wieder kamen Verwundete in den Raum an der Mittelstraße, um sich von Therese verbinden zu lassen.
Therese hatte ihren ersten Schrecken und ihre Empfindsamkeit überwunden und verrichtete ihre schwere Pflicht geduldig und umsichtig. Auch sie dachte gelegentlich noch an zu Haus und mit Bitterkeit an den Vater, der sie mit Gewalt hindern wollte, diesen Menschen hier zu helfen, die ihr Achtung abrangen mit ihrem Mut und ihrer Beharrlichkeit, und die trotz des sie bedrohenden Todes ihren Platz nicht zu verlassen gedachten. Einige Male war sie schon selber im Dorf gewesen und war unter den Männern, die hinter den Häuserecken und an Mauern gedeckt, immer den Geschossen der Grünen ausgesetzt, die Nacht verbrachten, herumgegangen.
Nein, sie war nicht mehr die gestrige Therese; sie hatte ihren Sinn völlig gewandelt, und der Vater hätte sie wohl nicht wieder erkannt, wenn er ihr begegnet wäre. Sie versprach den Männern, die in ihrer mangelhaften Kleidung froren: „Ich werde sorgen, dass man euch hier schnell etwas Essen und etwas Warmes zu trinken herschafft. Lasst euch nur nicht schrecken und haltet aus, wir werden bald Hilfe bekommen, und dann könnt ihr euch vielleicht etwas ausruhen!" Und sie lief mit laut pochendem Herzen wieder zurück. Sie ging zur Wache, um mit Fritz Raup und Zermack über die Versorgung der Leute zu sprechen. Da traf sie einmal ihren Vater. Sie war bestürzt, und auch Tauten war mit entsetztem Blick aufgestanden. „Aber Kind", sagte er erzürnt, „wo treibst du dich denn die ganze Nacht herum. Keiner weiß, wo du plötzlich geblieben bist, und die Mutter wird voller Angst sein, dass dir was geschehen ist. Sie sorgt sich doch immer so!"
Therese, die das Gewehr in seiner Hand erblickte, sagte: „Ich konnte nicht mehr zu Hause sitzen, seit ich sah, dass es hier ums Leben geht. Und ich sehe, du bist auch anderen Sinnes geworden!"
Sie strich ihm über das grämliche Gesicht: „Sei nicht bös, Vater. Ich bin ja kein Kind mehr, und es sind auch noch andere Frauen, die mithelfen!"
Er sagte noch einmal warnend: „Geh nach Haus, sonst kommt die Mutter überhaupt nicht mehr aus der Angst heraus!"
Sie antwortete eigenwillig: „Nein, Vater, ich kann nicht, man braucht mich!" Und sie wandte sich, da Fritz Raup und Zermack wieder unterwegs waren, an den alten Henke mit ihrem Anliegen, den draußenliegenden Männern sofort Brot und etwas Trinkbares zu schicken.
Stamm zog die Stirn kraus: „Das hätte man schon seit Stunden machen müssen, aber die verdammte Gesellschaft im Rathaus drückt sich noch herum. Komm, Jakob", sagte er zu Tauten, „lasst uns noch einmal zu dem Alten hingehen. Wir wollen ihm mal die Hölle heiß machen, dass er sofort alles in Bewegung bringt, damit wir warmes Essen für die Leute bekommen. Diese Herrschaften sollen nicht ruhig schlafen, wenn wir uns hier mühen, die Grüne Mordgesellschaft loszuwerden. Komm, nimm dein Gewehr, das gibt mehr Nachdruck."
Tauten zögerte einen Augenblick und wandte ein: „Ich weiß nicht, ob wir sowas auf eigene Faust unternehmen können. Ich denke, die Fraktion der Partei müsste die Maßnahmen beraten."
Aber Stamm wurde wieder böse: „Komm, komm, wir beide sind Fraktion genug. Und wenn sich die Herren weigern, dann werden wir sie einfach einsperren. Aber sie werden sich nicht weigern, denn sie wissen, dass Tausende im Ort liegen, die man nicht mit leeren Reden abspeisen kann!"
Tauten blickte die Tochter noch einmal vorwurfsvoll an und nahm sein Gewehr. Er schüttelte den Kopf und brummte: „Man gerät dazwischen, ohne dass man es will. Aber mir gleich, man soll mir nicht nachsagen, dass ich mich zurückhalten will..."
Und er ging Stamm nach.
In den ersten Morgenstunden kochten in verschiedenen Räumen die Frauen des Genossen Henke und einige andere, auch Frau Zermack und die schreiende Naumannsche, für die lagernden Leute das herbeigeschaffte Essen. Herr Claus zeigte offensichtliche Bestürzung, dass nun auch Tauten und Stamm mit Gewehren bei ihm erschienen. Er hatte einen vorsichtigen Einwand getan, ob auch sie schon von ihren bisherigen Grundsätzen abgewichen seien. Und ob sie sich nicht doch lieber vorerst mit der gesamten Fraktion ihrer Partei verständigen wollten. Doch Stamm antwortete ihm: „Wir können nicht bis morgen warten. Und wir sind jetzt alle eine Fraktion. Es gibt keine Unterschiede mehr zwischen uns, wenn man unsere Leute totschießt!"
Der Bürgermeister hatte wohl noch auf ihre Hilfe gerechnet, aber als er sah, dass er vergeblich hoffte, gab er noch in der Nacht die Anweisungen heraus, für die „roten Truppen" Lebensmittel zu stellen. Er schien gewusst zu haben, wo sie steckten, denn die Lebensmittel konnten plötzlich aus dem Werk-Konsum und noch von anderen Lagern der Zollvereinschächte und der Gemeinden geholt werden.
„Sieh", sagte Stamm zu Tauten, „die spüren, dass heut das Volk kommandiert, das sie immer hintenangesetzt haben, und sie werden so fügsam wie die Lämmer. Aber trau ihnen nicht, das sind sie nur, solange sie unsere Gewehre sehen. Wenn es morgen schief geht, dann wechseln sie schnell wieder ihr Schafsfell und ihre zahme Seele, und wir sind für die nur wieder die verachteten Schlepper."
Zermack war mit Fritz Raup unterwegs. Sie liefen einmal nach der weiter entfernten Feldstraße und wieder zum Nöllewerk und querfeld nach der Salkenberg-Kolonie, wo sich die Abteilungen auf den Angriff gegen die Stadt vorbereiteten. Der ganze Ort war schon ein Heerlager geworden. Überall rannten Kuriere mit Meldungen und es schleppten junge und ältere Männer an Gewehren und Munitionskästen. An dem Arzthaus tobte ein neuer, wilder Kampf, und immer zahlreicher und heftiger dröhnten die Explosionen der hinüber- und herübergeschleuderten Handgranaten. Die Grünen hofften anscheinend noch immer auf Entlastung und weigerten sich, trotz aller Rufe, den Widerstand aufzugeben.
Kramm empfing die beiden Kumpels mit wuterstickter Stimme. „Die Gesellschaft drinnen will nicht herauskommen. Ich schleudere eine Dynamitladung hinein, ich bin es jetzt leid geworden. Ich lass' sie alle erschießen, wenn wir noch mehr Leben verlieren sollen. An die zehn Genossen liegen schon tot oder verwundet. Eigenhändig erschieß ich sie wie die Hunde!" - Und er schleuderte wieder mehrere Handgranaten gegen das Haus. Die eingeschlossenen Grünen antworteten mit einem heftigen Maschinengewehrfeuer. Zermack und Raup mussten sich mit hinwerfen, um nicht von den Kugeln getroffen zu werden.
„Man wird tatsächlich schon abergläubisch", sagte Kramm verzweifelt. „Es ist, als hätten sie unterirdische Gänge nach Essen, sonst würden sie doch nicht so lange diesen hoffnungslosen Kampf fortsetzen!"
Zermack fragte: „Habt ihr schon die Telefonleitung durchgeschnitten?"
Kramm kratzte sich am Kopf und lachte wütend: „Nein, verflucht, das haben wir noch nicht getan. Ja, das ist es, sie können immer noch Telefonieren. Verdammt, das wird sofort gemacht!" Und er rannte fort. -
Die Telefonleitung, die die Grünen in dem Arzthaus noch immer mit Essen verbunden hatte, war zerstört. Kramm selber war an einem der Maste hochgeklettert und hatte die Drähte durchgeschnitten. In dem Arzthaus schien jetzt eine Verwirrung eingetreten zu sein, denn das Feuer flaute gelegentlich ab, und die eingeschlossenen Polizisten schienen untereinander zu streiten und zu beraten.
Es war schon wieder heller Tag geworden. Zermack und Raup waren in die Salkenberg-Kolonie gegangen, wo sich um den ganzen Berg herum die Scharen der Arbeiter gelagert hatten. Die gegen die Stadt liegenden Gruppen beschossen aus den Maschinengewehren den Viehhof, der sichtbar vor ihnen lag. Hier tobte hinüber und herüber ein rasender Feuerkampf. Der mächtige, schwerfällige Renteleit lag in einem Loch mit einigen selbstfabrizierten Dynamitladungen bereit. Er wollte mit einer Gruppe vorkriechen und diese Ladungen an die Mauerstellen legen, wo die Grünen ihre Maschinengewehrnester eingebaut hatten. Der kleine Christian Wolny, der wie Kramm und Kahlstein seine Matrosenbluse und Mütze anhatte, erzählte leidenschaftlich wie immer von seinen Erlebnissen in Kiel und von der Revolution in Russland, von den mutigen und todesbereiten Arbeitern und Bauern Lenins. Er warf sich von Zeit zu Zeit hinter sein Maschinengewehr und schoss erglimmt nach dem Viehhof hinüber, wo er die grünen Uniformen herum springen sah: „Dass euch der Satan holen mag. Wir werden euch noch zeigen, dass wir von Kiel kommen. Einmal habt ihr uns auseinander gebracht, aber heute liegen wir hier wieder zusammen. Und wir werden euch die Stadt noch abnehmen, mag's kosten was es will!" Und er schoss wieder. Als Zermack und Raup herankamen, fragte er sie ungeduldig: „Wann werden wir denn endlich gegen die Stadt vorgehen? Regt euch ein bisschen besser da unten im Ort. Wir können hier sofort vorgehen. Schaut, wir haben hier schon bald ein ganzes Regiment zusammen. Die Kumpels sind ungehalten, hier immer nur herumzuliegen und sich totschießen zu lassen!"
Zermack antwortete ernst: „Ihr kriegt bald Bescheid, wann es losgeht. Ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern." Und er fügte besorgt und auf den Viehhof weisend hinzu: „Aber es wird kein leichtes Spiel sein, Genossen. Wir müssen damit rechnen, dass die Grünen alle Anstrengungen machen werden, uns das Vorgehen so schwer wie möglich zu machen, und es wird noch mancher von uns dran glauben müssen. Seid also auf alles vorbereitet."
Nach diesen Worten Zermacks wurde auch der kleine Kuli einen Moment still und nachdenklich.
Er legte sich schweigsam hinter sein Maschinengewehr, und während sein Gesicht immer strenger wurde, schoss er von neuem hinüber.
Es war gegen acht Uhr morgens, als der letzte rasende Kampf um das Arzthaus wieder begann. Kramm ließ noch einmal seine Leute vorgehen, und die Handgranaten krepierten donnernd. Die Grünen, die keine Verbindung mehr nach Essen hatten, steckten endlich ein weißes Tuch heraus. Kramm, der diesem Zeichen noch nicht traute, ging mit einigen der jüngeren Leute vor und rief hinein, die Grünen sollten herauskommen. Es fiel kein Schuss mehr. Er ging gegen die Tür und stieß sie auf. Die Polizisten standen bleich und mit erhobenen Händen in dem Korridor. „Kameraden", sagte einer stammelnd, „wir sind nicht schuld, wir mussten die Befehle ausführen!"
Kramm überlegte einen Augenblick. Er war geneigt, seinem rasenden Hass nachzugeben und erhob die Pistole. „Jetzt Kameraden? Ihr habt es tatsächlich nicht verdient, dass man euch ungeschoren lässt. Wer seid ihr? Wo kommt ihr her? Wer hat euch hergeschickt?" schrie er mit überschnappender Stimme. Der eine Grüne stammelte wieder: „Wir hatten Befehl..."
Kramm, der vor Wut nicht mehr sprechen konnte, winkte ihnen mit der Pistole, rauszukommen. „Schnell!" Die Grünen kamen mit erhobenen Händen und vor Angst erstarrt hervor. Einige stammelten wieder: „Kameraden!" Sie gingen durch die Reihen der verdreckten und erschöpften Arbeiter, scheu und plötzlich ergeben, und so gingen sie durch den ganzen Ort, begleitet von vielen, vielen grollenden und Hasserfüllten Blicken.
„Dass man sie so laufen lässt!"
„Man soll sie erschießen!"
Und viele der Männer erhoben den Gewehrlauf oder den Kolben. „Knechte! Erschießen soll man euch!"
„Wie die Hunde erschießen!"
Die Grünen zogen ergeben und mit erhobenen Händen mitten durch die lagernden Abteilungen der schon in die Tausende angewachsenen Menge. Ihr Mut war verschwunden, und sie waren nur zitternde Furcht. Sie hatten anscheinend an diese ihnen unbekannte Macht der verachteten Hungerleider nie glauben wollen. Jetzt lächelten sie ergeben und verzweifelt und baten immerfort um Gnade und murmelten: „Kameraden - Kameraden, schont uns!"
Der Sturm auf die Kanonenstadt war unter den Abteilungsführern nach längerer Beratung beschlossen worden. Die Scharen rückten vor, den Viehhof einkreisend, aus dem die Grünen mit allen Maschinengewehren und mit Minenwerfern die Angreifenden beschossen. Die Kugeln bohrten sich in die Häuserwände, und klirrend zerbrachen die Scheiben und Dachziegel.
Zermack und Raup gingen mit den Abteilungen aus der Essener Straße gegen den Bahnübergang vor. Es wurden schon wieder Verwundete vorbeigetragen, und auf dem offenen Gelände hinter dem Bahnübergang lagen die ersten Toten.
Zermack war beim Vorgehen mehrere Male in das Feuer der Maschinengewehre der Grünen geraten und kam in Gefahr, getroffen zu werden. Er suchte mit langen Sätzen eine Vertiefung. Seine Leute liefen und krochen hinter ihm her und warfen sich in seine Nähe.
Sie gruben sich rasch mit den Händen und dem Werkzeug, das sie bei sich trugen, ein, um sich vor dem Feuer zu schützen. Kramm rief: „Jupp, sei vorsichtig. Wir brauchen dich!"
Der große Mann sagte: „Ich bin schon vorsichtig, sorgt euch nicht. Aber wenn's nicht anders ist, dann müsst ihr auch ohne mich weiterkommen!" Sie krochen wieder vorwärts. Überall sprangen und krochen sie einzeln und in lang ausgeschwärmten Gruppen.
Das ganze Gelände war von liegenden und vorwärtsspringenden Gestalten wie besät, und zwischen ihnen staubten die kleinen Wölkchen der einschlagenden Geschosse hoch.
Zermack sah aus dem Liegen nach dem Salkenberg hinüber, auch dort krochen und liefen sie mit ausgeschwärmten Gruppen gegen den krachenden Viehhof. Er sah die Maschinengewehrgruppen über das offene Feld hasten. Christian Wolny lief mit Renteleit und einem Schwarm, ohne Schutz zu suchen, eine ganze Strecke vor. Zermack bangte um das Leben dieses eifrigen Jungen, da er wusste, dass er der einzige der verwitweten Mutter war. Und nicht dies allein: Christian war das schöne Bild eines jungen wertvollen Lebens, das in diesem Kampf nicht vernichtet werden durfte. Aber er sah überall diese jungen Gesichter mit dem gleichen Eifer und mit derselben Wut gegen die von Schüssen heulende Stadt starren, und sah diese jungen Hände die Gewehre abdrücken. Hass, Schrei und Tränen und Flüche richteten sich gegen diese Kruppstadt des ewigen, grauen Elends, und auch er knirschte: „Und wir werden euch heraustreiben, ihr Söldner, ihr Banditen, oder wir gehen alle in diesem Kampfe drauf, aber nachgeben werden wir nicht mehr!"
Er sprang wieder eine Strecke vorwärts, warf sich hin und winkte den anderen, eilig und vorsichtig nachzukommen.
„Du hättest eigentlich im Ort bleiben und da mit helfen sollen, dass die anderen nachkommen!" sagte Fritz Raup, der sich einen Augenblick neben dem Hauer hingeworfen hatte.
„Warum bleibst du denn nicht im Ort?" antwortete ihm Zermack, um das Leben des Genossen besorgt. „Du wirst da ebenso notwendig gebraucht. Sieh zu, dass du wieder zurückgehen kannst."
Sie stritten noch eine Weile, aber beide wollten nicht zurückbleiben, und so sprangen sie die nächste Strecke gemeinsam weiter. Sie lagen nur noch wenige hundert Meter von dem Viehhof entfernt, und die Kugeln schlugen immer dichter rund um die Liegenden ein. Aber der Ring der Stürmenden zog sich von allen Seiten immer enger und mächtiger um den Eingang der Stadt. Und der Kampf stieg immer heftiger an.
In den Wohnungen saßen die Familien entsetzt und gegen die schützenden Wände gedrückt. Schreie gellten zuweilen aus den Fenstern, und Jammern ertönte, wenn gelegentlich einige der Frauen hinaussahen, und wenn die Verwundeten oder Getöteten vorbeigetragen wurden.
Immer neue Abteilungen schwärmten aus und gingen zum Sturm vor. Die Sonne stieg schon hoch, und es versprach ein schöner Tag zu werden. Aber diese Märzsonne beschien einen Tag der Sorgen und eines blutigen Kampfes, sie schien auf Schmerzen und auf den Tod herab.
Die Salkenberger, der schwerfällige Renteleit mit einer Gruppe an der Spitze, waren springend und kriechend bis in die Nähe der Mauer des Viehhofes herangekommen, wo eins der andauernd feuernden Maschinengewehrnester stand. Renteleit kroch noch einige Meter weiter und richtete sich auf. Zermack und Raup sahen, wie er mit dem Arm ausholte und eine Ladung über die Mauer schleuderte. Eine furchtbare Detonation dröhnte, plötzlich schwiegen dort die Maschinengewehre.
Renteleit erhob sich wieder aus dem Liegen; er kroch einige zwanzig, dreißig Meter seitwärts, stand noch einmal auf und schleuderte eine zweite Ladung über die Mauer. Auch da verstummte das Maschinengewehr. Die Stürmenden eröffneten jetzt aus allen Gewehren und Maschinengewehren das Feuer, und auch aus der Häuserreihe vom Freistein begannen die Maschinengewehre zu klopfen, während die Schwarmlinien sich erhoben und vorwärts liefen.
Die Essener Straße, die Feldstraße und der Salkenberg füllten sich immer wieder mit neuen Zuzüglern aus Bochum, Dortmund und Hagen, und alles drängte gegen die Stadt. Der Widerstand der Grünen ließ endlich nach, und die Wellen der Arbeiter fluteten jetzt wie aus Dutzenden Kanälen immerfort vorwärts, vorwärts. Die Salkenberger und die aus der Essener Straße stürmenden Abteilungen hatten bereits die Mauern und Umzäunungen des Viehhofes erreicht, hinter denen die Grünen in voller Auflösung in die Stadt flüchteten. Renteleit und Christian Wolny überstiegen mit ihren Gruppen das Mauerwerk, während die Abteilungen vom Freistein von der anderen Seite hereindrangen. Einige Grüne wehrten sich noch verzweifelt und schossen, und es fielen noch einige Arbeiter. Christian Wolny warf sich sofort wieder hinter sein Maschinengewehr und schoss auf die letzten Nester, in denen sich die Grünen verschanzt hatten. Dann strömten von allen Seiten die Scharen der abgewetzten und erschöpften Berg- und Werkleute in die Festung, und die Welle der Menschen wälzte sich schreiend, fluchend, vor Freude lachend und heulend über den Viehhof und aus den Straßen in die graue Stadt hinein.
Zermack und Raup setzten sich einen Augenblick auf eine Haustreppe und sahen einander an.
„Jupp, wir sind drinnen. Aber es hat Blut und Angst gekostet", sagte Fritz Raup, der vom Staub und von der überstandenen, heimlichen Angst grau und alt aussah.
Er sagte ermahnend: „Jetzt wird es an der Zeit sein, dass wir wieder zurückgehn, denn man wird uns wirklich im Ort erwarten. Auch unsere Frauen wissen nicht, ob wir noch leben. Wir müssen uns sehen lassen und sie beruhigen."
Zermack trieb jetzt aber nur ein Gedanke: „Die verhafteten Genossen!" Er antwortete: „Wir müssen weiter. Vielleicht finden wir noch irgendwo Miller und unseren Franz lebend an. Komm, wir müssen in die Stadt!"
Fritz Raup widersprach dieses Mal nicht. Sie erhoben sich und eilten vorwärts in die Stadt, wo der Kampf mit den Grünen und auch anscheinend mit der Einwohnerwehr von neuem entbrannt war.
Auf der Straße blies ein Hornist die Internationale. Die Scharen, die vorwärts nach der Stadt drängten, sangen mit, junge und heisere Stimmen sangen es: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde..." Und in den Mienen dieser vorbeiziehenden Männer brannte der neue Mut und der Stolz, dass ihnen dieser Sieg nach den ungeheuren Mühen der vergangenen Tage gelungen war. Eine Abteilung der Grünen, die sich im Viehhof ergeben hatte, wurde vorbeigeführt. Man sah ihnen die Verwirrung und die Angst an, die Angst vor diesen Schleppern, die sie noch vor wenigen Minuten umbringen wollten. Aber jetzt erschraken sie vor dieser singend vorwärtsstrebenden Masse. Überall spürten sie die Abneigung und den Hass. Sie glaubten sicherlich, dass sie jetzt sterben müssten. Einige hundert Schritte weiter stießen Zermack und Raup auf eine zweite Abteilung Gefangener der Einwohnerwehr. Es waren dicke und behäbige Bürgergesichter; auch hier war nur Angst. Auch diese Kleinbürger glaubten an ihr Ende. Ihre Gesichter waren wie weiße Masken. Sie redeten immerfort mit den sie begleitenden Arbeitern. „Wir haben es nicht gewollt... wir sind unschuldig... Man hat uns gegen unseren Willen eingesetzt!"
Am Viehhofer Platz im Inneren der Stadt und oben im Turm der alten Gertrudiskirche hatten sich die Grünen mit Maschinengewehren festgesetzt und beschossen von dort aus die Straßen, in denen sich die Menge der stürmenden Arbeiter wieder staute. Jedes Haus musste einzeln genommen und auch die Kirche unter dem Feuer aus den verschiedenen Häusern gestürmt werden. Zermack und Raup hatten sich diesen vorwärtsdringenden Abteilungen angeschlossen und halfen, einige der umliegenden Häuser zu stürmen. Sie holten die in allen Winkeln und auf den Dachböden verborgenen Grünen heraus, und auch diese baten wie die vorherigen zitternd um Erbarmen. Bei diesem neuen Sturm waren wieder eine Anzahl Arbeiter gefallen und verwundet worden. Jeder Schritt dieses Sieges kostete Blut. Zermack stand plötzlich wie festgewurzelt und starrte auf einen Toten, der von Edy Koschewa und einigen jungen Leuten vorbeigetragen wurde. Er hatte eine Matrosenjacke an. Zermack trat hinzu und enthüllte das Gesicht des Toten, das die Kumpels mit einem Tuch bedeckt hatten. Ja, es war Kramm. Eine Kugel aus dem Kirchturm hatte ihn getötet. Kahlstein - Gutschnick - und jetzt auch der Genosse Kramm!
Zermack und Raup sahen noch lange diesem kleinen Trauerzuge nach. - „Unser Kramm! Unser guter Junge!" - Zermack fasste Fritz Raup beim Arm und sagte erstickt: „Komm, wir müssen weiter."
Er redete für sich: „Kahlstein, Gutschnick und Kramm, sie hätten leben können, wenn diese Söldner, die verfluchten, nicht da wären. Und Krupp und die anderen Schinder haben auch diesen Mord auf dem Gewissen!" Er ging hastiger, denn am Rathaus raste der Kampf weiter. Er griff einige Handgranaten auf, die von den Grünen in einem Hausflur liegengelassen wurden, und rannte vorwärts.
Die Arbeiter stürmten gerade das Rathaus und holten auch da wieder eine Abteilung der Polizisten heraus. Ein Offizier, der sich noch zu rechtfertigen suchte: „Ich habe nur meine Pflicht getan!" wurde von Hunderten Fäusten zusammengeschlagen und zu Boden gerissen. Zermack fühlte kein Mitleid, als auf den schreienden Offizier mehrere Kolben niederschlugen. „Das ist für Kahlstein und Gutschnick und Kramm", sagte er sich und wandte sich ab.
Die Menge drängte weiter. Der Hornist blies wieder die Internationale. Im Postgebäude und im Bahnhof und an dem sich quer hinziehenden großen Eisenbahndamm hatten sich die Grünen und die Einwohnerwehr neu festgesetzt und überschütteten die Straßen mit einem heftigen Feuer. Auch Zermack und Raup stürmten vorwärts.
Die Häuser und die Scheiben bebten und klirrten unter den dröhnenden Explosionen der Handgranaten. „Vor!" schrien einige der aufgeregten Männer.
„Seid nicht wahnsinnig, wir gehen alle drauf, wenn wir blind vorwärts rasen!" riefen andere empört.
„Vorwärts! Einige Abteilungen müssen die Häuser besetzen und den Postbau unter Maschinengewehrfeuer nehmen!"
Schreie und Kommandos. Verwundete taumelten blutend in die Häuser. Einige der in der Straße liegenden Männer standen nicht mehr auf. Das Feuer im Postgebäude setzte endlich einige Minuten aus. Jemand schrie: „Die hissen die weiße Fahne!" -und noch mehr Schreie ertönten: „Halt, nicht schießen, die hissen die weiße Fahne!" -
„Die haben sich ergeben!"
Doch als die Scharen in das Gebäude dringen wollten, da warfen die Grünen und die Einwohnerwehr wieder mehrere Handgranaten unter die Stürmenden und nahmen das Feuer von neuem auf. Schreie gellten. „Zurück !" - „Nicht mehr zurück!" - und die ersten drangen mit Handgranaten in den betürmten Ziegelbau.
Endlich verstummte das Feuer, und die Grünen und die Bürger, noch mit ihrer weißen Armbinde, kamen zitternd und bleich hervor. Wutschreie ertönten überall: „Schlagt die verfluchten Hunde tot!" In der Straße lagen wieder einige Sterbende und Tote. Sich drehend und um Erbarmen bettelnd zogen die Gefangenen unter dem Hass der Menge vorbei: „Gnade, Kameraden. Wir mussten nur die Befehle ausführen!" - „Gnade? Verrecken sollt ihr, da habt ihr wieder unsere armen Menschen umgebracht!" - und mehrere Male schlugen die Kolben nieder.
Aus dem Bahnhofsgebäude und vom Bahndamm prasselten die Salven aus Gewehren und Maschinengewehren der dort verschanzten Grünen Polizei und der Einwohnerwehr weiter den Stürmenden entgegen.
„Wir müssen zum Haumannshof kommen!" sagte Zermack zu Fritz Raup. „Ich hoffe, dass wir dort Miller und Franz finden!"
„Wenn sie noch leben!" antwortete Fritz Raup, der erschöpft in einem Hausflur an der Wand gelehnt stand und sein Gewehr neu lud.
„Hoffen wir es!" sagte Zermack.
Die Scharen in den Straßen bereiteten sich zu einem letzten Sturm vor. Man musste den Bahnhof umgehen und die Grünen und die Einwohnerwehr aus der Flanke und vom Rücken her angreifen, um ihren Widerstand zu brechen. Eine ganze Menge der Werkleute, die aus den Krupp-Kolonien und vom Segeroht zugestoßen waren, und ein Teil der von Stoppenberg gekommenen Scharen eilten über die Schützenbahn, die links vom Stadtinneren über den Bahnhof hinausging, um von dort anzugreifen. Und wieder tobte der Donner der Handgranaten und Maschinengewehre um diese letzten Verschanzungen des Feindes.
Durch die Straßen von Stoppenberg wälzte sich Zug an Zug, eine unübersehbare Menge von Männern mit Gewehren. Man sah Kuliblusen und -mützen und abgewetzte Feldröcke mit den wieder angesteckten roten Tuchkokarden, und Gruben- und Werkkleidung, verdreckt und grau von dem Staub der Straßen und der Felder, in denen die Männer tage- und nächtelang gelegen hatten. Man sah junge und alte zerfurchte Gesichter und von Übermüdung rotentzündete Augen. Die Männer griffen nach dem ihnen gereichten Stück Brot oder nach einem Becher mit Kaffee, den ihnen die Frauen unterwegs hinhielten, dankten mit rauer Stimme und zogen weiter. Der eine oder andere rief froh: „Die Stadt haben wir! Jetzt geht es weiter!"
Therese Tauten hatte ihren Sanitätsdienst in dem Raum an der Mittelstraße seit dem Beginn des Angriffs anderen herbeigeholten Frauen überlassen und war mit den Stürmenden mitgegangen. Mehrere Male hatte sie in dem Kugelregen im offenen Gelände die Verwundeten verbunden. Sie antwortete den Männern, die sie warnten, sie solle sich nicht zu sehr dem Feuer aussetzen, mutig: „Ihr müsst ja auch mitgehen, ihr braucht mich!" „Du bist doch eine Frau, und es wäre schade um dich!" wandten die Männer ein.
Sie antwortete wieder: „Ich habe keine Angst, auch wenn ich eine Frau bin. Sorgt euch nicht um mich, passt nur auf euch selber auf!" Und sie schloss sich immer wieder den Stürmenden an, um gleich bei der Hand zu sein, wenn man ihre Hilfe benötigte. Und man brauchte immerfort ihre Hilfe, immerfort.
Der Wunden waren viele, und oft stieß sie auf das bleiche, stille Gesicht eines jungen oder älteren Mannes, und sie erzitterte vor Erschrecken. Manchmal warf sie sich weinend hin: „Ich kann nicht mehr. Es ist furchtbar!" Aber als die Männer wieder vorwärtssprangen, und wenn sie wieder einen stürzen sah und stöhnen hörte, trocknete sie ihre Augen und lief mit ihrem Verbandkästchen weiter, um auch diesem Hilfe zu bringen.
Tauten war nicht mehr nach Hause gegangen. Er hatte sich durchgerungen und war auf der Wache geblieben. Er ging alle paar Stunden mit dem einen oder anderen der älteren Männer mit dem Gewehr und einer roten Binde hinaus, um draußen bei den Küchen nachzusehen oder neue Lebensmittel heranzuholen.
Herr Claus fügte sich scheinbar jetzt in alle Anordnungen dieser neuen, ihm fremden Verwaltung, aber er berief sich immer wieder auf die Mitverantwortung der Bürgermeistereivertretung und hoffte anscheinend noch immer, dass dieser Kampf durch Vermittlung von „oben" beigelegt würde. Er versuchte bei Gelegenheit, auch Tauten damit zu beeinflussen, aber Tauten hatte sich in den letzten Stunden sichtbar gewandelt, und auch er antwortete jetzt etwas selbstbewusster: „Wir können nicht warten, bis die ganze Bürgermeistereivertretung zusammengerufen wird, sondern müssen selbständig handeln. Die Stunde erfordert es, dass Sie jetzt unseren Menschen entgegenkommen und nicht entgegenhandeln!" Er sagte dies sogar sehr energisch, was den alten Herrn auch gegen ihn, den alten versöhnlichen Fraktionsredner der Sozialdemokraten, verstimmte. Herr Claus führte die Anordnungen scheinbar williger und eiliger aus, doch Stamm misstraute dieser Freundlichkeit und lachte oftmals ergrimmt, wenn sie wieder zurückgingen: „Der alte Fuchs ist in Wirklichkeit rasend, er wünscht uns allen den Henker. Glauben wir ja nicht dieser Bereitwilligkeit!"
Tauten hatte noch immer mit Zweifeln zu kämpfen. Schigalski war wieder bei ihm gewesen, was Tauten während eines kurzen Besuches zu Hause von seiner Frau erfuhr. Schigalski hatte vor der Frau getobt, dass er, Tauten, sich mit den Aufständischen eingelassen habe. Er hatte mit dem Ausschluss aus der Gewerkschaft und der Partei gedroht, und diese Drohung machte Tauten neue Sorgen. Schließlich war er eines der ältesten Mitglieder in der Partei und im Verband, und Schigalskis Reden erfüllten ihn mit Groll. Um seine Handlungsweise zu rechtfertigen, schalt er vor Stamm auf den Parteisekretär: Der Kerl kommt immer her und kommandiert nach seinem Willen und sieht in Wirklichkeit gar nicht, was vor sich geht. Unsereiner kann doch nicht mit dem Schädel gegen Mauern rennen. Wenn die Menschen nicht immerfort gehetzt und betrogen worden wären, dann hätten wir dieses unselige Blutvergießen nicht gehabt. Aber unsere Leute oben wissen oft selber nicht, was sie wollen. Es ist eine Plage, wahrhaftig!"
Stamm antwortete ihm: „Die wissen schon, was sie wollen, verlas dich drauf. Heut' weiß ich's, was sie schon seit dem November getrieben haben und wo sie hinauswollen, aber da wo sie hinwollen, da geh' ich nicht mehr mit. Ich nicht mehr!"
Tauten schwieg. Stamm konnte nicht erraten, was der Genosse in diesem Augenblick dachte. Vielleicht zog es ihn noch immer innerlich dorthin, wohin ihn Schigalski ziehen wollte, und er wusste, dass Tauten ein immer schwankender Mensch gewesen war.
Und Tauten wunderte sich seinerzeits, dass der sonst immer so friedliche und seiner Partei ergebene Stamm plötzlich so ein ganz anderer Mensch geworden war. Auch Stamm war eines der alten Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei und des Verbandes und war oft in den Versammlungen gegen die „Hitzköpfigkeit" Zermacks und Raups aufgestanden. Die Menschen wandeln sich über Nacht, wie er heute erfuhr, und auch er hatte sich, fast zu seinem Erschrecken, gegen alle seine frühere Einstellung gewandelt und geriet jetzt mit Schigalski in einen Widerstreit. Mit Schigalski! Der Gedanke an Schigalski hing ihm weiter wie ein Alpdruck an, und dieser Gedanke allein behinderte ihn, sich dieser neuen Geschichte ganz zu überlassen.
Herr Kleinemann, an den kein Mensch mehr gedacht hatte, befand sich seit dem gestrigen Tage in der Stadt. Willi Werner war mit einem Befehl gekommen, er müsse sofort mit, und hatte in diesem Befehl die Drohung durchblicken lassen, dass es um seine, Kleinemanns, Existenz gehe, wenn er sich vor der Pflicht etwa drücken wolle. Herr Kleinemann war mitgegangen und machte seit vierundzwanzig Stunden die Patrouillen und Wachen der Einwohnerwehr in der Stadt mit. Er tat es nicht mit Behagen, denn er war kein allzu großer Held, und er hätte lieber daheimgesessen. Aber diese verfluchten Befehle und diese Aufdringlichkeit der Werner-Gesellschaft und dieser elenden Einwohnerwehr hatten ihn eingeschüchtert. Und jetzt, einmal in der Stadt festgehangen, konnte er sich mit keinen billigen Ausreden mehr daraus retten.
Er trug ein Gewehr und Handgranaten und lag an diesem Morgen zitternd hinter dem Bahndamm. Er wusste, dass die Arbeiter bereits den Viehhof und den größten Teil der Stadt gestürmt hatten, und er überlegte rasend, ob er nicht das Gewehr einfach wegschmeißen und sich irgendwie noch still davondrücken könnte. Die Arbeiter hatten mit einem neuen unheimlichen Sturm begonnen. Das Krachen der Schüsse wollte schier die Enge der Häuser zerreißen. Der ungewöhnliche Feuerlärm betäubte ihn. Eisige Angst kroch ihn an, als sich der erste Tote neben ihm streckte. Aufgeregt sprang er auf und wollte wegrennen, aber er musste sich wieder hinwerfen, denn eine unsichtbare Macht pfiff mit Sensen und Peitschen um ihn herum. Er kroch fast in den Damm hinein, wenn sich Handgranaten brüllend in seiner Nähe entluden. Die Peitschenhiebe in der Luft zuckten schmerzhaft in seinem Kopf, und sein Gesicht nahm immer mehr die Leichenblässe aller an, die in dieser Schlachthölle verzweifelt schrien und rannten.
Als die fürchterliche Peitsche durchaus seinen Kopf treffen wollte, kam Herrn Kleinemann wieder der Gedanke: Laufen! Weglaufen! Aber dann dachte er wieder: Dann kommt mir die verfluchte Werner-Sippschaft auf den Hals. Ja, sie würden ihn boykottieren und noch ganz anderes tun, um ihn im Ort unmöglich zu machen.
Einer der Einwohnerwehrleute hatte ihm das Gewehr fast ins Gesicht geworfen und taumelte leichenblass davon. Herr Kleinemann schrie: „Wo rennen Sie hin?" Auch er hatte sein Gewehr weggeworfen und lief hinterher und schrie wieder: Wo rennen Sie denn hin?"
Er riss im Laufen die Binde herab und beseitigte eilig alle Spuren, die ihn als einen Einwohnerwehrmann verraten könnten, und stellte sich rasch in einen Hausflur. Und da kamen auch schon die Arbeiter herangestürmt, im Rücken des Bahnhofes. Herr Kleinemann betete fast: „Wenn ich aus dieser Hölle wirklich herauskomme, dann pfeif ich auf den Laden und auf die ganze Gesellschaft. Wenn ich nur wieder glücklich zu Hause wäre." Er lugte vorsichtig aus dem Haus und sah, dass eine große Anzahl der Einwohnerwehrleute bleich und mit erhobenen Händen vorbeigeführt wurden. Er seufzte noch einmal: „Das hätte auch mir passieren können. Ein Glück, dass ich noch früh genug weggerannt bin." Er machte sich mit einer gesetzten Miene auf Umwegen auf den Nachhauseweg. Man hielt ihn nicht an, und er gewann langsam sein Gleichgewicht wieder.
Ja, er blieb sogar einige Male stehen und sah zu, wie sich die Masse vorwärtswälzte, und sagte sich immer wieder: „Ich hab' verdammtes Glück gehabt. Und jetzt holt mich kein Teufel mehr aus der Bude!" schwor er sich.
Er blieb an einem Geschäft stehen, in das eine Menge eindrang. Einzelne liefen mit Uhren und anderen Gegenständen wieder heraus. Er konnte der Lockung nicht widerstehen und drängte sich auch hinein. Er griff ein paar herumliegende Uhren auf und musste mit einigen schreienden und miteinander kämpfenden Leuten erst einen heftigen Streit bestehen, bis er die Beute in seinen Taschen verbergen und sich wieder hinauszwängen konnte. Jetzt lief er eiliger unter der Last der Beute und auch der Angst, man könnte ihm den Raub der Kostbarkeiten im Gesicht absehen, ganz scheu und klein nach Hause.
Aber niemand hielt ihn an, niemand fragte ihn, wo er herkäme. Doch glaubte er immer noch, man entdecke sein Geheimnis und nehme ihm die Beute wieder ab, und führe ihn vielleicht zur Wache ab. Ich, Kleinemann, mein Gott, als Dieb verhaftet werden! Dieser Gedanke schuf ihm ein Entsetzen nach dem anderen, und ganz grau und fast gebeugt von der Last der Angst kam er endlich zu Hause an. Er verbarg die Uhren hastig in sicheren Verstecken, und er atmete erst jetzt etwas erlöst auf.
Seine Frau beobachtete ihn mit ihrem bösen Gesicht. Endlich sagte sie gallig: „Wo hast du dich die ganze Zeit herumgetrieben? Wenn das die Leute erfahren", drohte sie ihm an, „dann kommt dir hier kein Mensch mehr in den Laden hinein, und wer weiß, was dir dann noch geschieht!"
„Still, still, still!" sagte Herr Kleinemann erschrocken. „Natürlich, wenn du so laut schreist, dann können es die Leute hören, und dann ist der Teufel los. Du weißt, ich bin nicht gern hingegangen, aber diese verfluchte Sippschaft in der Wernerschen Kneipe ersinnt immer solche idiotischen Dinge. Sei still, ich bin jetzt wieder hier und will mich künftighin von allem fernhalten. Von allem! Mich legt die Sippschaft nicht mehr hinein."
„Heut gings wirklich auf Leben und Tod. Ja, auf Leben und Tod!" seufzte er und wischte sich den Schweiß der wiederaufsteigenden Schrecken aus dem zitternden Gesicht. An die Uhren wollte er nicht denken, das hatte noch Zeit. Hoffentlich kam man ihm nicht in die Stube hinein und suchte danach. Dieser Schreckensgedanke beherrschte ihn jetzt immerfort. Er versuchte, sich damit zu beruhigen, dass auch die anderen geräubert hätten, aber die Angst blieb. Und sobald er draußen Schritte hörte, erschrak er von neuem. Er lugte durch die Scheibe und lauschte ins Haus. Nein, es kam niemand, die Leute zogen vorbei. Langsam gewann er seine Sicherheit wieder. Ja, er war nur mit knapper Not dem Schlimmsten entgangen. Darum freute er sich jetzt seines wiedergewonnenen Lebens. Die Schwätzer bei Werner sollten ihm noch einmal mit solchen Einwohnerwehren und dergleichen Rattenfallen kommen!
Seine Frau hatte den Laden aufgeschlossen, und einige Frauen kamen herein. Herr Kleinemann beobachtete die Augen und die Mienen der Frauen, ob sie nicht etwa ahnten, dass er weggewesen sei. Nein, sie schienen nicht zu wissen, dass er in der Stadt gewesen war, Gott sei Dank. Er hörte von den Frauen, dass einige der Männer aus der Essener Straße und aus der Kolonie bei dem Kampf um Stoppenberg und um die Stadt gefallen seien und andere verwundet worden waren. Er fand sich sogleich bereit, den Frauen mit ein paar Kilo Kartoffeln und einigen Pfund Mehl zu helfen. „Schrecklich!" sagte er „dass die Oberen nicht einsehen wollen, was das hier für eine Not ist!" Seine eigene Rettung erfreute ihn jetzt noch mehr.
Alles, was in der Folge geschah, war für Herrn Kleinemann „unumstößlicher" Werdegang. Er hatte auch im November an einen solchen unumstößlichen Werdegang geglaubt, was er später aus der Erinnerung verloren hatte.
„Warum will man etwas durchaus aufhalten, was sich nicht aufhalten lässt!" Er sprach jetzt zu den Frauen, und ganz überzeugt, „dass man an diesem Werdegang gar nichts ändern könne!"
Aus der Hölle heraus, in der er ein paar Stunden unter Qualen verbracht und in der er sich bereits mehrere Male aufgegeben hatte, glaubte Herr Kleinemann nun mit vollem Blick erfasst zu haben, dass man den Boden der Tatsachen nie verlassen dürfe. Seine Miene drückte all seine innere Befriedigung über diese seine plötzliche Logik aus.
Herr Kleinemann wagte sich endlich langsam vor die Tür. Er bemerkte mit Erschauern, wie sich Kolonne auf Kolonne junger und graubärtiger Männer, in den eigenartigsten Uniformierungen, alle mit Gewehren bewaffnet, durch Stoppenberg wälzten. Ein strenger, drohender Mut erfüllte alle, so dass sich Herr Kleinemann mehrere Male sagte: „Und dagegen will man anrennen! Undenkbar!" Wie die Menschen winkten, aus den Fenstern, aus den Türen, aus allen Straßen winkten sie. Das war Optimismus. Es war nicht wegzuleugnen, diese elende Masse hatte die Gewalt in der Hand, daran konnte niemand mehr rütteln. Auch ihm winkten die Vorbeiziehenden. Nicht zurückwinken? Sie bestätigten ihm ja nur, dass er wieder sein Leben genoss. Auch er winkte.
Die Herren Werner und Herr Schwerlich und Heumisch, die saßen jetzt sicherlich in der Klemme. Wer wusste, ob sie überhaupt noch ausreißen konnten.
„Schadet manchem gar nichts", sagte sich Herr Kleinemann zufrieden, „wenn sie mal gehörig was auf das unglaubliche Maul kriegen." Er winkte. Er war ja aus dem Schlamassel heraus.
Auch sein Adolf schlich herein. Bleich wie ein Toter. Auch er war in der Stadt gewesen. Mit einem tückischen Blick auf die vorüberziehenden Scharen drohte der Gymnasiast: „Wartet, die Schlappe wird noch gerächt!"
Herr Kleinemann sagte verweisend: „Bist du wahnsinnig? Wem willst du drohen? Du siehst doch, wie sie ziehen. Und kann man nicht mit jedermann in Frieden auskommen? Man muss sich nur nicht der vernünftigen Abwicklung der Dinge absolut in den Weg stellen wollen!"
„Du balancierst ja schon wieder!" knurrte ihn der Bursche böse an.
„Was, zum Kuckuck, was balanciere ich denn; kann man sich denn den Tatsachen verschließen?" stammelte Herr Kleinemann empört.
Der Junge zischte: „Feigling!" und verschwand in der anderen Stube.
Herr Kleinemann stand wie versteinert. Eine unheimliche Wut ergriff ihn gegen den Burschen, der ihn feige nannte. Er wollte hinterher, aber da schrie seine Frau: „Ihr seid beide verrückt! Immer hab' ich es euch gesagt!"
„Halt das Maul!" befahl er ihr, noch zitternd. „Wenn einer wahrhaftig wahnsinnig wird, dann ist es dieser unverbesserliche Kerl da drinnen. Feige nennt er den Vater!"
Ja, auch der junge Kleinemann war in der Stadt gewesen. Die Gymnasiasten hatten das unter sich beschlossen gehabt, den Grünen und der Einwohnerwehr zu helfen. Sie fühlten sich als „ganze" Männer.
Er saß in der anderen Stube und starrte voller Hass auf die vorüberziehenden Kolonnen der Arbeiter. Er wünschte sich ein Gewehr, um hineinknallen zu können. Er hörte den „Alten", wie er Herrn Kleinemann nannte, mit der Mutter im Laden zanken und zischte: „Der feige Kerl."
Herr Kleinemann sammelte sich wieder etwas und trat vor die Tür. Der Zug der bewaffneten Arbeiter nahm kein Ende. Er winkte. Seine Angst, dass noch jemand von diesen Leuten in sein Haus kommen könnte, hatte sich gelegt. Er winkte. Er hörte, dass die Arbeiter die ganze Stadt hatten, und dass sie weiter zum Haumannshof marschierten, und tat so, als wäre es auch sein Sieg. „Ja", rief er den winkenden Frauen in den Fenstern zu: „So was haben wir wirklich noch nicht erlebt. Die ganze Stadt haben sie, und jetzt marschieren sie schon zum Gefängnis! Auch dieses werden sie sicher bekommen, mit diesen vielen Menschen. Ja, so etwas hat man noch nicht erlebt !"
Franz Kreusat unternahm sofort nach der Einlieferung eine Besichtigung der Zelle. Sie war klein und hatte ein hoch angebrachtes, stark vergittertes Fenster mit einem Kasten, so dass er nur den schwarzen Himmel sehen konnte. An der einen Wand war eine aufgeklappte Pritsche. Er suchte umher und fand unter dem kleinen Tisch einen Tonkrug.
Er griff hastig danach und trank. Das Wasser war abgestanden; doch er trank. Er trank lange und gierig. Als er genug hatte, hockte er sich auf den Schemel und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Wo er sich befand, wusste er. Sie sollten vor ein Kriegsgericht kommen, hatte der Grüne gesagt. Also die Gefahr war noch keineswegs zu Ende. Es war ihm trotzdem eine Wohltat, die Gesichter der Polizisten nicht mehr zu sehen.
„Was machen wohl die Genossen jetzt? Jupp Zermack? - Fritz Raup? - Was die Mutter?"
Die Mutter zermarterte sich bestimmt in Angst um ihn. Wenn sie ihn nur halb so lieb hätte. Er hörte immer ihre Ermahnung, gleich wo er hinging: „Junge, pass mir bloß ja auf!" So war es, als er das Gewehr wieder genommen, und so war es, als er die erste Schicht im Schacht wieder anfangen sollte. Sie hatte nichts essen können und saß untätig da, bis er wieder aus der Schicht nach Hause gekommen war. Mit Öl hatte sie ihm die ersten Narben und Schürfe bestrichen, die er sich in der Erde an Stein und Kohle gerissen hatte. Und als er in den Krieg musste: „Wenn sie dich nur nicht totschießen, mein Jung, mein armer Jung" - und immer wieder: „Junge, pass mir auf, pass mir ja auf!" Und als er zurückkam, war sie ihm fast fremd gewesen, so grau war sie geworden. Nur ihre Augen, die großen, angstvollen Augen waren die gleichen gewesen. In diesen Augen saßen der Schrecken und das Grauen der überstandenen Kriegsjahre. „Nun gehst du mir nicht mehr fort, mein Junge!" hatte sie gesagt; sie selber hatte ihm den Soldatenrock ausgezogen. Dann hatte sie sich die ersten Nächte an sein Bett geschlichen und gewacht, wie sie es früher getan hatte, als er noch in der Wiege lag.
Wenn sie gesehen hätte, wie sie ihn geschlagen hatten, sie wäre gestorben. Er sollte vor ein Kriegsgericht gestellt werden; wofür? Vielleicht würde man sie noch im letzten Augenblick erschießen oder totschlagen; warum?
Therese fiel ihm ein. Ja, Therese. Ich hätte doch noch hingehen sollen, wir haben uns im Streit getrennt. Was mag sie jetzt denken, und was tut sie jetzt? Er ging unruhig mit auf dem Rücken gekreuzten Armen, den Blick auf den braunen Fußboden der Zelle gerichtet, getrieben von stürmenden, quälenden Gedanken. Stunde um Stunde verging im gleichen Schweigen, in dem gleichen Hin und Her in der Zelle. Dann wurde er müde und nahm wieder auf dem Schemel Platz und grübelte vor sich hin. Sein Gesicht war eine Geschwulst und brannte fiebrig. Er wagte nicht, danach zu tasten. Einige Male in der Nacht versank er in einen tiefen Schlaf. Und so schlief er wieder einmal, bis ihn ein furchtbares Feuergetöse, der Donner von Handgranaten und Schüssen weckten.
Jemand schrie in einer anderen Zelle, und Fäuste donnerten gegen die Wände: „Unsere kommen, Unsere kommen!"
Franz erwachte aus der halben Ohnmacht: „Unsere!" Er stand in der Zelle noch immer in Zweifeln, ob es wahr sei, und horchte hinaus. Die Fäuste schlugen noch immer gegen die Wände, und er hörte wieder die Schreie: „Unsere, Unsere!"
Er hatte in der Nacht von einem der alten Gefangenen vernommen, dass noch eine ganze Anzahl anderer Genossen aus dem Segeroht und in der Stadt von den Grünen verhaftet worden waren, und dass sie hier im Untersuchungsgefängnis saßen. Wahrscheinlich waren es die Genossen, die da riefen. Er konnte es immer noch nicht glauben, aber die lauten Knalle der Handgranaten dröhnten immer näher, die Schüsse wurden lauter. Es schien in den umliegenden Straßen vor dem Polizeipräsidium und dem Gefängnis ein letzter, schwerer Kampf zu toben. Da kam der Wärter mit einem anderen Gefangenen herein, sie brachten ihm die braune Brühe. Er fragte den Wärter, ob es wahr sei, dass die Arbeiter heranrückten.
„Ich weiß nichts!" erwiderte der Wärter widerstrebend. Der Gefangene zwinkerte Franz bedeutungsvoll mit den Augen zu. Dann wurde die Tür wieder verschlossen. Franz besann sich, er stürzte zu der Tür und schlug mit den Fäusten dagegen, aber es kam niemand, um zu öffnen. Er nahm den Schemel und schlug gegen die Wände und die Tür und schrie, weil er auch die anderen schreien hörte: „Aufmachen!" Es machte niemand auf. Ratlos stand er da. Was jetzt? Draußen dröhnten die Handgranaten näher, und die Kugeln pfiffen und schlugen schon gegen die Mauern des Gefängnisses.
Hoffentlich kommen die Mörder nicht und knallen uns im letzten Augenblick hier in den Zellen tot! raste es in Franz. Er hob den Schemel, um sich sofort auf den nächsten, der hereinkäme, zu stürzen und sich bis zum letzten Atemzuge zu verteidigen. Endlich hörte er Schreie, viele Schreie und ein Scharren und Laufen vieler Menschen, dann wieder lautes, frohes Rufen, Namen und Geschrei. Seine Lippen begannen zu zittern. Er ermahnte sich: „Warte; warte, Franz: Werde nicht verrückt!"
Und dann war das Geschrei ganz nahe. Er hörte: „Sprengt das Tor mit Handgranaten!"
Mehrere Explosionen krachten, und dann hörte der Gefangene mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl, wie sich ein Menschenhaufen in den Gefängnishof wälzte. „Die ,Politischen' heraus!"-„Wo sind die ,Politischen'?" Aus den Fenstern schrien die Gefangenen: „Hier! Hier!" - und auch Franz kletterte auf den Schemel und schrie so laut er konnte: „Hier! Hier! Hier!"
Schläge donnerten gegen die Zellentüren. Franz ergriff wieder seinen Schemel und schlug gegen seine Tür und schrie sich heiser: „Hierher! Hierher!" Und plötzlich wurde auch seine Tür aufgeschlossen. Der Wärter war mit einer Menge der Kumpels gekommen. Jemand schrie: „Franz! Franz! Unser Fränzchen!" Noch einmal hörte er die bekannte Stimme: „Fränzchen!" Und Franz sank in Zermacks Arme. Er weinte, und auch Zermack fuhr, während er mit der einen Hand Franz über den Kopf strich, mit der anderen über seine Augen. „Gott sei Dank, du lebst!" Er wanderte aus den Armen des einen in die Arme des anderen, und auch Fritz Raup strich ihm zärtlich über das zerschlagene Gesicht: „Na, Gott sei Dank, wir haben dich lebend wieder, Junge!"
Sie hatten auch Miller herausgeholt. Miller hatten die letzten Stunden und die Zelle noch schweigsamer und strenger gemacht. Er nahm die Begrüßungen und die Händedrücke der Genossen stumm hin und sagte: „Kommt, wir müssen nach Stoppenberg, und da nach dem Rechten sehen!" Er sah noch einen Moment nach Franz hin, als wollte er sich überzeugen, ob ihn die Schrecken der Verhaftung nicht schwankend oder mürbe gemacht hätten, aber Franz drängte jetzt ebenso eilig nach Hause, er war bereit, sofort ein Gewehr zu nehmen und den Vormarschierenden nachzuziehen. Er wollte kämpfen.
Die Stadt war bis auf einen letzten Stützpunkt, den Essener Wasserturm, einen burgähnlichen Bau vor Frillendorf, in den Händen der Arbeiter. Aus diesem Wasserturm dröhnten noch die Schüsse und die Knalle der Handgranaten. Die anderen Scharen der Werk- und Bergarbeiter, die schon in die Zehntausende angewachsen waren, zogen, ohne auf größere Widerstände zu stoßen, gegen Mühlheim und Duisburg.
Zermack und Raup entschlossen sich, mit Miller nach Stoppenberg zurückzugehen, um dort eilig mehrere neue Kompanien zusammenzustellen. Sie begegneten unterwegs vielen anderen, die mit zwei oder drei umgehängten Gewehren ebenfalls in ihre Orte zurückkehrten. Sie erblickten auch verschiedene Leute, die mit Beutestücken aus den geplünderten Läden und prahlend nach Hause zogen. Millers Stirn wurde düster: „Warum hat man das nicht verhindert?" wandte er sich erzürnt an Zermack. „Man sollte die Plünderer auf der Stelle erschießen. Diese Diebereien setzen uns doch nur herab. Wir dürfen solche Verbrecher nicht unter uns dulden!" Aufgeregt trat er selber einigen, die mit der Beute ankamen, entgegen und sagte zu ihnen streng: „Wo habt ihr das Zeug gestohlen? Ihr bringt es sofort zurück!"
Einer der Burschen lachte verlegen: „Nun, Mensch, mach doch nicht soviel Theater daraus. Es ist Revolution, geh aus dem Weg!"
Ein anderer erwiderte ihm: „Wenn du alles wieder zusammenholen willst, was sich die anderen herausgeholt haben, dann hättest du was zu rennen, geh mal in die Stadt, da leeren sie noch überall die Läden aus!" Und alle lachten.
Miller war weiß geworden. Sein Gesicht zuckte vor Zorn: „Ihr bringt alles zurück!" befahl er noch einmal streng. Als die Leute zögerten, entriss er Zermack die Pistole, willens, den nächsten niederzuschießen.
Die Plünderer lachten wütend und zuckten mit den Schultern. Der erste junge Bursche brummte: „Der ist verrückt!" Aber sie gingen zurück. Miller rief eine Gruppe vorbeigehender Werkleute an und befahl diesen, mit den Plünderern mitzugehen und zu kontrollieren, ob sie die Sachen wieder abgeben würden.
„Man soll diese Diebe alle einsperren oder erschießen!" sagte auch der Leiter der Gruppe, ein älterer Mann, in dem gleichen Zorn. „Wir haben schon einige einsperren müssen, weil sie sich wie die Räuber betragen!" Die Gruppe ging den Plünderern nach.
Miller war sichtlich verstimmt. Er grübelte finster. „Wenn es so weiter zugeht", sagte er, „dann ist unsere Geschichte gleich wieder verloren. Solche Dinge dürfen nicht vorkommen." Auch Zermack war erbittert. „Unsere Menschen setzen ihr Leben ein, und diese Banditen nutzen die billige Gelegenheit aus, um zu stehlen und uns in den Augen der Bevölkerung herabzusetzen und uns den Kampf wieder zu erschweren", sagte er voller Hass. Er wandte sich an den stummen Raup. „Wir müssen im Ort sofort eine Sicherheitswehr hinstellen und jeden Plünderer gleich festnehmen!"
Während sie zurückgingen, begegneten sie neuen Kolonnen, die den ersten eilig nachrückten. Am Bahnübergang stampfte ein schwerer Ackergaul vor einer großen Kanone, auf deren Lauf und Protze mehrere kräftige Burschen in Matrosenblusen und Mützen saßen. Es waren junge und erwartungsvolle Gesichter. Einige riefen den Zurückkehrenden entgegen: „He, wie weit sind wir denn schon, wo sind denn Unsere? Sind sie schon in Mühlheim?"
Polternd rollte das Geschütz weiter, während die Kulis die Mützen schwenkten und ein Lied anstimmten, in das gleich die ganze hinterher ziehende Kolonne mit einfiel: „Wir fürchten nicht, ja nicht, den Donner der Kanonen", - und als der Refrain kam: „dem Karl Liebknecht haben wir geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand" - pflanzte sich das Lied brausend durch alle folgenden Kolonnen fort.
„Brave Jungens", sagte Zermack, dessen Blicke sich wieder erhellten, und fügte hinzu: „Wir müssen sofort alles tun, um den Genossen den schweren Kampf zu erleichtern. Wenn wir zu Haus sind, werden wir alle, die noch müßig daheim sitzen, sofort heraus treiben. Sie sollen alle mithelfen, denn es ist unser aller Kampf. Wenn wir diesmal vorzeitig müde werden, dann kommen die Mörder wieder, und dann werden wir sie nicht sobald wieder los!"
Miller ging erst nach Hause, um seine Frau zu beruhigen. Zermack sah ihm nach, Miller schien nach dem Zusammenstoß mit den plündernden Banden sichtlich durcheinander geraten zu sein. Aber seine Sorge wich wieder, als Miller nachmittags wieder auf der Wache erschien. Zermack sagte: „Ich dachte, die Geschichte mit der Diebesrotte hätte dich entmutigt."
Miller zuckte die Schultern: „So können wir nicht weiterfahren. So beginnt sofort unser Verderben!" Er blieb nachdenklich und einsilbig.
Wie in der Stadt und im Ort herrschte auch hier auf der Wache noch ein völliges Durcheinander. Der alte Henke und Stamm liefen schimpfend und fluchend umher, weil ihnen die Arbeit über den Kopf wuchs. Dauernd versperrten Nachzügler und allerlei Gestalten, die vorher bei dem Kampf nicht zu sehen gewesen waren, aber jetzt plötzlich mit Gewehren herumzogen, den Eingang in das Haus. Der Wachraum war immerfort voller Menschen und Geschrei. Man verlangte Munition und Brot und Armbinden und Reisescheine. „Aber, Leute!" schrie Stamm verzweifelt, „wir können doch jetzt noch keine Reisescheine ausstellen, seid doch vernünftig. Und Brot haben wir auch nicht mehr. Es muss neues beschafft werden. Und hier sind die Lager schon leergeplündert!" Flüche und neues Geschrei und Drohungen antworteten ihm: „Ja, ihr habt euch hier schön niedergelassen und könnt gut maulen. Wir aber müssen nach vorn. Wenn ihr kein Brot beschafft, dann hole euch der Teufel, dann schmeißen wir die Knarren einfach wieder hin!"
Miller drängte sich durch den Haufen Menschen und rief streng: „Ruhe! Wir sind hier keine randalierenden Banden!" Es wurde allmählich still. Sein hartes und zerschlagenes Gesicht wirkte auf die Leute einschüchternd. Er wandte sich an die Schar: „Ihr stellt euch sofort draußen zusammen!" befahl er ihnen, „und marschiert den anderen nach. Wer nicht mit will, der muss sein Gewehr abgeben!" Die Leute murrten: „Man soll hier eine bessere Ordnung schaffen", und andere wiederholten ihre Forderungen nach Brot und Munition und Binden und Reisescheinen. Einige Flüche grollten noch nach.
Miller befahl noch einmal: „Seid still, wenn nichts da ist, kann man euch nichts geben. Auch die anderen haben mit leeren Händen angefangen und haben nicht gemurrt." Er suchte einen großen Mann unter ihnen aus, der ein gutes und ruhiges Gesicht hatte, und sagte ihm: „Genosse, du gehst mit ihnen raus und stellst sie zu einer Abteilung zusammen und ziehst mit ihnen den anderen nach. Wenn einer darunter ist, der nicht dazugehört, dem nimm das Gewehr ab und jage ihn weg. Geh, Genosse!"
Der Kumpel nickte und wandte sich an die noch murrenden Leute: „Nun folgt jetzt und kommt heraus. Ihr seht, dass wir draußen nötiger sind, als hier herumzuschreien!" Die größere Anzahl der Männer folgte jetzt willig, während die anderen unschlüssig dastanden.
Millers Gesicht wurde wieder streng: „Was wollt ihr noch? Wollt ihr euch ausschließen? Dann gebt die Gewehre ab. Wir werden auch ohne euch fertig!" Darauf gingen auch die letzten.
Stamm ließ sich erschöpft auf einen Stuhl nieder und sagte missmutig: „So geht es schon seit den frühen Stunden zu. Man hat hier immer alle Hände voll zu tun, und überall muss man immer wieder gegen neue Schwierigkeiten kämpfen. Man könnte bald selbst die Geschichte hinschmeißen!"
Miller hatte sich anscheinend wieder gesammelt, denn er blieb auf der Wache und griff überall mit ein. Zermack, der draußen dem Kumpel geholfen hatte, die Abteilung der Einzelläufer zusammenzustellen, kam wieder herein und befahl Fritz Raup: „Wir werden jetzt sofort alle zurückgekommenen Genossen zusammenholen und überall unsere Posten ausstellen. Und wir setzen uns mit der Bürgermeistereivertretung und Claus zusammen, damit die nötigen Lebensmittel schnell herangeschafft werden. Unsere Menschen wollen leben." Er wandte sich zu Franz und Renteleit, die mitgekommen waren: „Und ihr holt eure Kumpels und stellt gleich eine neue Abteilung zusammen. Unsere kämpfen noch um den Wasserturm, und wir müssen ihnen Hilfe schicken."
Franz, der sich die ganze Zeit mit der Mutter und Therese beschäftigt hatte, sagte zögernd: „Ich möchte aber erst noch nach Hause, um die Eltern zu beruhigen!"
Zermack nickte. „Geh, sie warten sicher."
Franz eilte nach Hause; sein Herz schlug laut. Er wäre auch gerne gleich zu Therese gerannt, aber zuerst musste er die Mutter beruhigen. Unterwegs riefen ihn die Leute an: „Franz, du lebst! Gott sei Dank!"
Aus dem Fenster in der Essener Straße schrien Frauen: „Der Kreusat-Junge ist wieder da. Er lebt!" Seine alte Straße begrüßte ihn, den Totgeglaubten. Was wird der Vater sagen, was die Mutter? Er ging eilig die Treppe hinauf, die Mutter hatte ihn schon vom Fenster aus kommen sehen und wartete in der Tür. Die alte, zitternde Frau hing ihm weinend am Hals: „Mein Junge, mein Junge, was hab' ich ausgestanden!"
Martin Kreusat kam mit grauem Gesicht und hüstelnd aus der Kammer. „Er ist da! Der Junge ist da!"
Franz hatte im ersten Augenblick gar nicht bemerkt, dass auch Therese da war. Therese war in den letzten zwei Tagen mehrere Male zu den alten Leuten hinaufgegangen; sie hatte immer noch gehofft, Franz käme wieder. Doch jetzt, als sie ihn wieder sah, war es ihr, als träume sie. Sie stand da und sah ihn an. Auch Franz erkannte sie nicht gleich wieder. Sie erschien ihm so verändert.
„Was machst du?" fragte er.
„Was mach' ich", lächelte sie unter Tränen, „frag die Mutter, was ich mache."
„Sie ist auch die ganzen Nächte unterwegs", ermannte sich Frau Kreusat. „Das Kind fällt auch bald um. Ach Gott", klagte sie wieder, „was haben wir diese Tage nicht alles erlebt!" Sie begab sich zum Herd und stieß mit dem Feuerhaken in die Glut und stellte das kleine Pfännchen auf. „Du wirst doch Hunger haben. Wir haben noch paar Kartöffelchen da, aber ohne Fett. Ich will sie dir heiß machen!" Und sie ging immer wieder zu ihm hin und strich über sein wundes Gesicht und jammerte: „Mein Gott, wie siehst du aus. Wer hat dich denn so geschlagen?"
Martin Kreusat hatte sich wieder auf seine Herdbank hingehockt und hüstelte: „Sie haben ihn geschlagen", murmelte er. „Geschlagen...! Ja, so sind sie, wenn der Mensch einmal sein Recht verlangt."
Franz musste von der Mutter wieder genötigt werden, etwas zu essen. Sie kam immer wieder zu ihm hin und strich ihm über den Kopf. Sie sagte: „Jetzt bleibst du doch wohl zu Haus?"
Franz gab ihr nicht gleich Antwort. Er sah Therese an und fragte: „Was machst du?"
Therese antwortete: „Ich habe die Verwundeten verbunden. Es war schrecklich!" Und sie weinte wieder. Franz strich ihr über die Hand: „Es sind schwere Tage, Therese. Ich freue mich, dass du dich anders besonnen hast. Wenn das vorbei ist, dann werden wir auch an uns denken können! Die Mutter wird uns das Kämmerchen
einrichten. Es wird vorläufig ausreichen." Sie sprachen wie früher und redeten von ihrer künftigen kleinen Familie, während die beiden alten Leute zuhörten.
Draußen vor Mühlheim dröhnten wieder die Schüsse der Tausende und starben schon wieder andere ihresgleichen und schleppten sich wieder Gruppen Verwundeter zurück.
Der Kampf ging weiter. Um die Stadt Mühlheim und gegen das Reichswehrkorps Schulz, das sich auf dem Kaiserberg bei Duisburg verschanzt hatte.
Zermack und Fritz Raup, die ebenfalls auf einen Sprung nach Hause gegangen waren, trafen ihre Frauen nicht an. Die Kinder erzählten, die Mütter seien in der Küche. Sie kochten für die durchziehenden Leute Essen.
Frau Zermack hatte auch Frau Raup aus dem Hause geholt, und beide wirtschafteten mit der Naumannschen und einem Dutzend anderer Frauen in einer Schule in der Essener Straße, wo Stamm in aller Eile eine neue größere Küche hatte einrichten lassen.
Die Naumannsche hatte auch ihren faulen Kerl mitgenommen, der mit einem umgehängten Gewehr und mürrisch an der Wache Posten stand.
Die Schule war immerfort von Haufen hungriger Durchzügler umlagert. Die Suppen waren dürftig. Und auch die abgehetzten Frauen mussten sich manches empörte Geschrei und Murren anhören. Die wenigen Vorräte erschöpften sich schnell, und die Frauen saßen verzagt herum und warteten, bis die Männer wieder mit neuen Lebensmitteln ankamen, die sie unter Mühen den Bauern abkämpfen mussten. So traf Zermack seine Frau an. Auch sie fiel ihm völlig erschöpft und weinend um den Hals. „Ach Gott, wenigstens der eine Trost, du bist wieder lebend zurück. Wir werden hier ganz kopflos. Wir können den Menschen nichts mehr geben, und sie verfluchen uns. Schafft doch Rat. Die Raupsche heult auch immer und will nach Haus. Ich muss sie mit Gewalt festhalten. Jesus, Jesus, sind das Tage!"
Zermack beruhigte die Frauen, dass sie sich schon bemühten, dem Mangel abzuhelfen. Er wusste selber nicht, wo sie die nötige Nahrung herbekommen sollten, aber er versprach, sie würden gleich alles besorgen, nur damit die verzagten Frauen nicht auseinander liefen. Er ging eilig wieder nach der Wache.
Vor der Wache stand eine große Schar der in Essen gefangen genommenen Einwohnerwehr. Darunter befanden sich auch einige Offiziere der Grünen Polizei. Eine Menge der aus der Stadt zurückkehrenden Leute standen herum. Miller war noch unentschlossen, was mit den Gefangenen geschehen solle. Die meisten der Arbeiter protestierten, dass man sie nach dem Flugplatz schickte, wo nach verschiedenen Nachrichten - niemand wusste, durch wessen Eingriff - ein Teil der Gefangenen schon wieder „auf Ehrenwort" freigelassen worden war. Einige Kumpels bestanden darauf, dass man die Gefangenen im Ort einschließen solle, bis die Stadt genommen sei, und dann sollten sie einem Tribunal zur Aburteilung übergeben werden. Die Einwohnerwehrleute standen mit bleichen Angstgesichtern da. Auch die Offiziere verrieten diese Angst. Man konnte merken, dass sie ihre Wut und Verachtung gegen die verwirrten Bürger kaum verbergen konnten, die immerfort stammelten: „Wir sind Geschäftsleute und Beamte, und man hat uns einfach hineingezogen" - „Wir haben ja die Gewehre abgegeben, und wir versprechen, uns nicht mehr hineinzumischen!" und dergleichen Entschuldigungen.
Ein hagerer Oberleutnant, dem man an der runden Spur um das eine Auge den Monokelträger ansehen konnte, mit einigen Schmissen in dem mageren, weißen Gesicht, sagte zu Miller: „Wozu war das alles nötig gewesen! Wenn die Leute nicht geschossen hätten, dann hätte es Ruhe gegeben."
Der Heiduck, ein Häuer, der das Arzthaus mitgestürmt hatte und mit einem verbundenen Arm dastand, schrie: „Wozu alles nötig war? Wozu seid ihr hergekommen? Um uns totzuschlagen!" Er erhob die Faust: „Sag noch ein Wort, und ich schlag' sie dir in das Schandmaul!" Der Offizier sah sich in der Runde um. Er sah den Hass und schwieg jetzt.
Ein anderer der Offiziere, ein junger, schmaler Mensch, redete zu den Bergleuten: „Wir haben nur unsere Pflicht erfüllt. Wir hatten Befehl und mussten die Stadt verteidigen." Sein schmales Gesicht war bleich und feucht. „Eure Pflicht!" schrien mehrere Frauen wütend. „Eure Pflicht war wohl, unsere Männer totzuschießen! Schlägt uns noch nicht genug die Arbeit und die Not? Ihr... man soll euch prügeln wie die Hunde!"
Der Offizier wurde noch bleicher und trat einige Schritte zurück.
Miller, der von einigen älteren Leuten gedrängt wurde, die Gefangenen weiterzuschaffen, schrie zornig: „Nu zerreißt mich doch nicht. Wir müssen erst mit den anderen beraten. Ich kann nicht allein entscheiden, was wir mit den Gefangenen machen sollen."
„Sie haben doch die Gewehre abgegeben und sind nicht mehr gefährlich", sagte der graue Heise, der hinzugekommen war. „Am besten wär's, man lässt sie weiterbringen oder ganz und gar laufen." Miller schüttelte den Kopf und ging in die Wache zurück.
Die Grünen und die Einwohnerwehrleute schöpften merkbar wieder Hoffnung. Der Oberleutnant, der Millers Unschlüssigkeit gemerkt hatte, meldete sich noch einmal: „Meine Herren, Sie sehen ein, dass es ein Unsinn ist, uns hier festzuhalten; wir erklären Ihnen auf Ehrenwort, dass wir uns von dem weiteren Kampf fernhalten werden. Wir haben unsere Waffen abgegeben, und das muss Ihnen Garantie genug sein, dass wir es ernst meinen."
Während auch die anderen wieder ihre Entschuldigungen vorbrachten, die von der Menge immer wieder mit Gelächter und Wutausbrüchen unterbrochen wurden, kamen Schigalski und Tauten an.
Schigalski fragte: „Was ist hier lös? Warum schafft man die Leute nicht weiter?"
Eine Frau schrie: „Komm auch du noch und rede für sie, für die nichtsnutzigen Kerle. Unsere Männer haben sie totgeschossen, und du fragst noch, was wir von der verfluchten Gesellschaft wollen."
Schigalski wandte sich an die Menge und sagte aufgebracht : „Es ist nicht unsere Sache, die Gefangenen festzuhalten. Wir setzen uns nur in Unannehmlichkeiten!" „Du kommst wieder wie ein Apostel an und predigst Vergebung!" schrie einer der Männer aus der Menge. „Wenn wir sie loslassen, dann haben wir sie morgen wieder auf dem Hals. Und dann zahlen sie uns unser Mitleid doppelt!"
Man schrie nach Miller. Miller kam ärgerlich heraus. „Lasst mich doch endlich in Ruh, ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht." Er sah Schigalski an und sagte diesem: „Du hältst dich natürlich von allem fern und überlässt uns die Sorge um alles."
Schigalski sagte, was er schon zu den anderen gesagt hatte: „Halse dir nicht diese Verantwortung auf, lass die Gefangenen weiterschaffen. Wir können uns hier nicht als Richter über diese Leute setzen. Ich weiß, dass sich viele verpflichtet haben, nicht mehr mitzutun, und ich glaube auch den Beteuerungen dieser Leute hier. Wir wollen keine Schuld auf unser Gewissen laden. Lass sie da hinschaffen, wo die anderen hingekommen sind. Mag man sich da mit ihnen weiter beschäftigen."
Miller gab dem Vorschlag nach einigem Zögern statt. Er wandte sich an die älteren Leute, die mit ihren roten Armbinden dastanden, und befahl ihnen: „Schafft sie nach dem Flugplatz!"
Die Menge murrte. „Auch er wird schon verrückt!" rief einer erbost. „Er hat wohl schon die Prügel vergessen, die er von ihnen bekommen hat."
Ein anderer schrie: „Man soll alles hinschmeißen. Wenn man die Schinder so gnädig behandelt, dann ist schon die ganze Geschichte verloren!"
Henke brachte mit einigen anderen die Gefangenen, die sichtlich aufatmeten, weg. Die Menge verzog sich murrend und fluchend langsam wieder in ihre Straßen. „Unsere verfluchten Dummköpfe - Narren sind es!" „Wir haben eine Dummheit begangen", sagte Zermack, als Miller wieder in die Wache kam. „Der Schigalski scheint sich auch mehr um diese Gendarmen zu sorgen, als um unsere eigenen Leute, die in der Stadt bluten. Wir hätten wenigstens die Offiziere festhalten sollen", sagte er missmutig. „Die werden doch gleich jede neue Gelegenheit benutzen, um uns die Gnade wieder heimzuzahlen."
Miller brummte: „Ich will mir nicht jede Verantwortung aufbürden, ich hab' genug an den anderen Sorgen zu tragen!"
Zermack schüttelte den Kopf und schwieg.
Man hatte Miller gemeldet, dass die Grubenverwaltung wieder die Kessel eingeheizt und Leute in die Grube geschickt hätte.
„Der Streik geht weiter", sagte er dem Mann, der ihm die Nachricht gebracht hatte, und sein zerschlagenes Gesicht wurde rot vor Jähzorn. Seine Nachgiebigkeit bei den Gefangenen schien ihn jetzt selber zu wurmen. „Wenn die Direktion eigenmächtig handelt, dann lass' ich sie alle einsperren", drohte er aufgeregt. Er schickte Stamm mit einigen Leuten, die seine Anordnung dem Betriebsführer überbringen sollten, nach der Zeche.
Stamm zauderte erst einen Augenblick. „Warum wartest du noch", fragte Miller, „geh und führ es aus!"
Stamm zuckte die Schultern; er antwortete aber nicht und sagte zu den Leuten: „Kommt!"
Franz Kreusat kam zurück. Es hatte einen neuen Kampf zwischen ihm und der Mutter gegeben, als er wieder wegging. Sie wollte ihn durchaus im Haus festhalten, und es hatte ihn Mühe gekostet, sich ihr zu entwinden. „Ich muss zu den anderen, ich kann jetzt auf keinen Fall zu Hause sitzen, es geht nicht. Wir haben ja erst den Anfang getan!"
Therese war wieder in ihre Verbandstube gegangen, wo noch Verwundete lagen, die ihre Hilfe brauchten. Das Wiedersehen war kurz gewesen, und sie hätten sich so vieles sagen können, aber sie waren nicht dazu gekommen. Franz hatte auch von Tautens Wandlung gehört, aber er glaubte noch nicht ganz daran, dass es dabei bleiben würde. Er kämpfte auch gegen eine Sorge, denn Therese hatte durchblicken lassen, dass sie mit nach Mühlheim wollte. Er hatte ihr in dem ersten Schrecken abgeredet, aber sie hatte mit dem Kopf geschüttelt: „Wenn du gehst, dann gehe ich auch." Als er wieder auf der Wache erschien, griff er gleich nach einem der an der Wand stehenden Gewehre.
Zermack sagte zu ihm: „Nimm die hier herumliegenden Leute und ein Maschinengewehr mit und macht euch sofort nach dem Wasserturm auf!"
Franz, der eins der Maschinengewehre und einige Munitionskästen herausholen ließ und die aufgestandenen Leute mit Gewehren und Munition versah, dachte einen Augenblick an Christian Wolny. Wo mag der jetzt stecken? Vielleicht ist er auch schon gefallen? dachte er gegen Willen, und die Angst drückte plötzlich wie eine schwere Last sein Herz.
Christian Wolny war nicht zurückgekommen, er war mit den anderen nach Mühlheim gezogen. Der kleine Kuli erzählte unterwegs den erschöpften Genossen von seinen großen Erlebnissen in Kiel und erzählte ihnen leidenschaftlich wie immer von den revolutionären und todesmutigen Bauern und Arbeitern in Russland und von Lenin...
Er glaubte, Lenin habe dieses Mal mit seinem Finger auf diese ihre Stadt, auf ihren schwarzen Kohlenpott gezeigt: „Ihr müsst hier alle Feinde herausschlagen. Sie dürfen nicht mehr zur Ruhe kommen. Christian Wolny, du bist verpflichtet, den Genossen, wenn sie nicht mehr mitkönnen, immer wieder neuen Mut zu machen, dass sie weiterkämpfen, bis die Revolution gesiegt hat." Und der kleine Kuli erzählte, selber zu Tode erschöpft und mit heiserer Stimme. Und wenn der Hornist die Internationale blies, stimmte er zu Dutzenden Malen in den mächtigen Gesang ein, der ihn berauschte und ihm neue riesige Kräfte eingab. Und wir werden siegen, wir werden sie herausschlagen - und er sang immer wieder:
„Völker, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht, die Internationale erkämpft das Menschenrecht."
Nur ein bitterer Gedanke beschlich ihn von Zeit zu Zeit: Ob er Franz Kreusat noch einmal wieder sehen würde? Ob der Genosse Franz noch lebe, oder ob man ihn nicht mehr wieder gefunden habe? Und bei diesem Gedanken wurde das junge Gesicht noch bitterer und härter. Und so erging es vielen der Marschierenden, jeder dachte an einen oder an mehrere seiner Freunde, die während des Kampfes in der Stadt von ihnen getrennt wurden, jeder dachte dasselbe wie Christian Wolny: Lebt der Genosse noch? Leben sie alle noch?
Und weiter vorne am Kaiserberg, wo sie hinmarschierten, dröhnten immer lauter und heftiger die Schüsse; die Schlacht um Duisburg tobte und forderte neue Opfer. -
Franz Kreusat eilte mit seiner Schar und dem Maschinengewehr die Frillendorfer Straße hinauf und nach dem Wasserturm, um den seit Stunden schwer gekämpft wurde. In dem festen und dicken Gemäuer hatten sich die Grünen die ganze Zeit halten können. Aus den hohen, schmalen Fenstern flogen die Handgranaten gegen die Stürmenden und knatterten die Maschinengewehre. Mehrere Stürme der Arbeiter waren an den schweren Verschanzungen und den Eisentüren gescheitert. Man warf immer wieder die geballten Handgranatenladungen gegen diese Eisentür, aber sie brach nicht auf, und der Kampf tobte wieder.
Franz Kreusat nahm die Maschinengewehrgruppe mit und stieg auf den Dachboden eines Hauses und nahm von dort durch eins der Dachfenster den Wasserturm unter Feuer. Als er den ersten Gurt abschoss, hatte er das Gefühl, er läge wieder vor Verdun oder in Flandern.
Und alle damaligen Empfindungen, die Abneigung gegen den blutigen Kampf und ein wiederkehrendes Verlangen nach endlicher Ruhe, überkamen ihn. Manchmal vergaß er abzudrücken und grübelte über Therese, über sein Kämmerchen, über sein kleines Glück, das er sich schaffen wollte; es sollte schön und gemütlich sein. Er würde fleißig arbeiten gehen und Geld verdienen, und Therese würde in dem kleinen Heim als seine Frau schalten und walten. Wenn das Kleine ankäme, dann würde die Kammer voll der kindlichen Schreie sein und des Geplappers eines neuen kleinen Kreusat. Renteleit musste ihn zuweilen ermahnen, weiterzuschießen oder sich besser zu ducken; denn die Grünen schossen aus dem Turm gegen ihr Dachfenster. Und jeden Augenblick konnte einer von ihnen durch eine Kugel getroffen werden. Franz schoss wieder, er schoss voller Wut. Er erinnerte sich an die vergangenen Nächte, an die Schläge in sein Gesicht und an die Drohung der Polizisten mit Erschießen und mit Totschlagen, und er erinnerte sich an die schreckliche Zelle und an die Ungewissheit, und wie er drinnen auf seinen Tod gewartet hatte. Und drüben in dem flammenden und rauchumwallten Wasserturm saß dieser Tod, saßen die Feinde und zielten nach seinem Kopf. Sie wollten sein kaum wiedergewonnenes Leben auslöschen. Er griff nach einem neuen Gurt, zog diesen in das Maschinengewehr hinein und schoss wieder. Jetzt schoss er ruhiger und sicherer, und die Gedanken an sein kleines Heim kamen nicht wieder. Sie mussten den Tod in dem Wasserturm zum Schweigen bringen, der mit zischenden und kreischenden Sensen auf ihr Leben zielte. Unten in den Straßen gingen die Gruppen der Arbeiter zu einem neuen Sturm vor. Einige der Männer hatten sich unter den Kugeln der Grünen bis in die Nähe der starken Eisentür herangearbeitet und warfen eine neue geballte Ladung. Während der Donner dröhnte, rannten die Männer zurück. Einer stürzte hin und blieb liegen. Aus dem Turm flogen wieder Handgranaten heraus und krepierten dröhnend auf der Straße, und die vorwärtsstürmenden Scharen mussten wieder zurückflüchten.
Abermals stockte der Kampf, und das Feuer der Gewehre tobte hinüber und herüber. Aber die wagemutigen Männer krochen von neuem gegen den Turm, sprangen auf und warfen ihre Handgranaten gegen die schon verbogene Eisentür. Wieder stürzte einer von ihnen hin und stand nicht mehr auf. In den Nebenstraßen wurden immerfort Verwundete weggeschleppt. „Herrgott", schrien die Männer, „sie knallen uns einen nach dem anderen ab, und wir kommen keinen Schritt vorwärts. Man sollte den ganzen Turm in die Luft sprengen."
Renteleit, der finster grübelnd neben Franz Kreusat gelegen hatte, sagte plötzlich entschlossen: „Ich geh' hinunter!"
Franz Kreusat fragte erschrocken: „Was willst du tun?" und wollte ihn zurückhalten. Renteleit aber hatte schon mehrere Handgranaten zusammengebunden, er entwand sich Franzens Hand und rannte hinunter. Einige Minuten später dröhnte eine neue erschütternde Explosion. Der große, schwerfällige Renteleit war fast aufrecht über die Straße gerannt und hatte die Ladung gegen die Tür geschleudert, die jetzt ganz aufgebrochen war. Das Feuer im Turm verstummte für eine Weile, und in den Straßen brauste ein tausendstimmiger Lärm.
Franz Kreusat hörte Schreie: „Sie stecken die weiße Fahne heraus!" Er hörte eiliges Laufen, die Menge ging vor. Da krachten neue Detonationen. Die Grünen hatten in die vorstürmende Menge Handgranaten geworfen.
Franz überließ das Gewehr den anderen und rannte hinunter, um sich nach Renteleit umzusehen. Der taumelte ihm in der Tür entgegen und stöhnte: „Die Hunde, die verfluchten, die Mordbuben! Wie an der Post!" Sie zogen sich in das Haus zurück, denn die Grünen hatten gegen die Straßen und Häusereingänge wieder ein rasendes Feuer eröffnet.
Von neuem tobte der tödliche Feuerkampf. Auf der Straße lagen mehrere Tote, und wieder schleppte man in den Nebenstraßen verwundete Genossen ab. Ergrimmt und voller Hass starrten die Männer gegen den verdammten Bau, der sich in eine Hölle verwandelte. Und wieder ging eine Stunde dahin, ohne dass man einen Schritt vorwärts kam. Einmal trat eine kurze Pause bedrückenden Schweigens ein, und dann folgte wieder das Gebrüll des Todes. Die Straße zeigte schon viele Blutlachen, und überall tropfte Blut aus den vielen Wunden. Wieder krochen einige der Männer vor. Jetzt musste ein Ende gemacht werden. Und wenn sie selber daran zugrunde gingen. Sie standen auf und schleuderten in die Fenster und gegen die Tür ihre Handgranaten. Und wieder taumelten einige blutend zurück.
Da ertönte ein neues Geschrei: „Sie hissen wieder die weiße Fahne!"
„Nicht vorlaufen, abwarten! Sie sollen rauskommen!" warnten andere.
Die Grünen winkten mit der weißen Fahne. Einige der erschöpften Männer entschlossen sich, trotz der warnenden Schreie vorzugehen. Als sie in der Nähe des Turmes waren und hinaufriefen, die Grünen sollten herauskommen, da flogen wieder Handgranaten aus dem Turm heraus. Aber eine Gruppe schleuderte ihre Handgranaten in die Türöffnung und drang durch den Rauch hinein.
Endlich verstummte das Feuer.
Die Grünen kamen. Bleich, wie aus Stein, mit erhobenen Händen. „Gnade, Kameraden!" stammelten sie ängstlich.
Eine Flut von Menschenleibern strömte unter Schreien aus den Straßen, Fäuste und Gewehre erhoben sich und schlugen nieder: „Für die Toten! Wir geben euch Gnade!"
Franz Kreusat zog mit seiner Schar nach Stoppenberg zurück. Das Urteil der erregten Menge hatte ihn erschüttert. Sein Hass richtete sich gegen jenes Schloss „Villa Hügel", das da in den Ruhrbergen wohlgepflegt stand und machtstrotzend in das Tal hinein starrte. Die Burg des Herrn Krupp. Die Burg der Mörder. Die Söldner, die diese Macht stur verteidigt hatten, waren nur die blinden Werkzeuge dieser verfluchten Gesellschaft. Aber er überwand gleich wieder diese Mitleidsregung.
Er erinnerte sich an die eisigen, wilden Gesichter der Polizisten im Rathaus, von denen kein Mitleid zu erwarten war, und er erinnerte sich an die Worte seines Vaters, der am Morgen, nachdem er den schweren Kampf miterlebt hatte, sagte: „Wer dem Armen nach der Kehle greift, der soll sich nicht wundern, wenn sich der Arme auflehnt und seine Peiniger erwürgt, um nicht selbst erwürgt zu werden!"
Franz stieß auf viele heimkehrende, erschöpfte Männer, die noch aufgeregt über den Kampf sprachen. Renteleit, der durch einen Splitter am Kopf verwundet war, taumelte mit blutendem Gesicht neben ihm her. Seine Augen fielen zu, und er fistelte nur noch vor Müdigkeit. Auch diese gewaltige Kraft schien jetzt verbraucht zu sein. Renteleit röchelte: „Schlafen möchte ich jetzt, schlafen, schlafen, schlafen."
Aber sie konnten noch nicht zur Ruhe kommen. Auf der Wache erwartete sie schon wieder Zermack mit neuen Aufträgen. Die Arbeitertruppen hatten Mühlheim genommen und das Korps Schulz auf dem Kaiserberg nach einem schweren Kampf geschlagen. Die Reichswehr und die Reste der Grünen flüchteten in Richtung nach Dinslaken und Wesel.
„Wir müssen sofort Verstärkung nachschicken", empfing Zermack Franz und die anderen, die vom Wasserturm zurückkamen.
„Macht euch sofort dran und holt die Leute zusammen!" Er entsann sich seines Vorsatzes, Franz nach Möglichkeit aus dem Schlimmsten herauszuhalten, und sagte entschuldigend: „Wird es dir nicht zuviel? Ich denke grade daran: Kaum haben wir dich wieder raus, und schon setzt man dich neuer Gefahr aus?"
Franz schüttelte nur den Kopf. „Ich kann mich doch jetzt nicht ins Bett legen, wo jeder einzelne sein Leben einsetzen muss!"
Zermack drückte ihm stumm die Hand. In Stoppenberg war langsam wieder etwas Ruhe eingekehrt. Zermack und Raup hatten eine Ortswehr zusammengestellt, und auf den Straßen gingen jetzt die Patrouillen mit den Gewehren und den roten Binden. Von Zeit zu Zeit dröhnten schwere Lastwagen mit neuen und besser geordneten Abteilungen bewaffneter Arbeiter nach Essen, wo sie im Rathaus ihre Befehle entgegennahmen und dann weiter nach Mühlheim und Hamborn rollten.
Therese konnte jetzt einige Male nach Hause gehen. Sie traf einmal den Parteisekretär in der Küche. Sie ahnte sofort, dass Schigalski dem Vater zusetzte, sich aus der Geschichte wieder herauszuziehen, denn Tauten saß mit mürrischem und rotem Gesicht da. Auch die Mutter ging eingeschüchtert und still umher und sah die Tochter nur groß und ängstlich an.
Therese hörte der Auseinandersetzung des Parteisekretärs mit dem Vater abgewandt zu.
Schigalski drängte: „Überlege es dir, Jakob, und hol unsere Leute ja heraus. Die Regierung will Frieden. Sie hat schon die Verhandlungen mit Watter eingeleitet. Watter steht zu unserer Regierung und wird sicherlich auf unsere Vorschläge eingehen. Geh zu den Leuten hin und rede mit ihnen und sage ihnen, dass sie mit dem sinnlosen Kampf aufhören sollen."
Tauten zuckte mit den Schultern und antwortete nach einer Weile in demselben aufgeregten Ton: „Das stellst du dir so leicht vor. Du bist ja nicht dabei gewesen und kennst nicht den Willen dieser Menschen! Sie werden jetzt den Kampf nicht abbrechen, das weiß ich, nachdem sie so viele ihrer Leute geopfert haben. Jetzt bestimmt nicht mehr."
„Ich sag' ja", erwiderte ihm Schigalski, an seiner Wut kauend, „du hast dich auch anstecken lassen. Ein alter Kerl, der wissen müsste, was er zu tun hat, lässt sich betören und macht diese faule Geschichte mit." -
„Es ist keine faule Geschichte, red nicht so unsinnig!" erregte sich Tauten. „Auch ich habe zuerst so geredet, dann sah ich aber ein, dass die Menschen im Recht sind, wenn sie sich wehren. Und schließlich", sagte er, „bin ich selber Sozialist und kann mich nicht davon fernhalten, wenn alle Augen auf mich schauen. Ich habe später mit diesen Menschen zu tun und kann sie mir nicht zu Feinden machen. Wir haben schon genug Feindseligkeiten unter uns, Gott sei's geklagt, und man soll nicht die Zwietracht noch mehr schüren!"
Schigalski lachte. „Ich sag' ja, du hast alles vergessen, was du der Partei schuldig bist. Du hast Verpflichtungen als Genosse, oder du erkennst die Verpflichtungen nicht an und schließt dich von uns aus." Und er hob seine Stimme: „Die Partei fordert von uns, sag' ich dir noch einmal, und dies ist mein letztes Wort, dass der unsinnige Kampf abgebrochen werden muss. Und du hast den Auftrag, die Leute zur Wiederaufnahme der Arbeit aufzufordern. Für uns ist der Generalstreik zu Ende. Rufe eine Versammlung ein und sprich mit deinen Leuten!" befahl er ihm noch einmal im bestimmten Ton.
Tauten schüttelte den Kopf. Er wiederholte in einem Widerstreit mit sich: „Das kann ich nicht. Dann haben wir sie alle gleich gegen uns. Wenn du durchaus darauf bestehst, dann ruf du die Versammlung ein und rede selber, aber ich werde meine Finger nicht hineinstecken."
Sie standen sich gegenüber. Schigalski war rot vor Zorn. Er sagte: „Ich hab' dir den Auftrag übermittelt, und du weißt jetzt, was du zu tun hast. Und wenn du gegen den Willen der Partei handelst, dann kann ich dir nur sagen, dass du dich in Widerspruch gegen alle unsere Grundsätze stellst, und dann kann ich nicht dafür garantieren, dass du noch unser Mitglied bleiben kannst."
Tauten starrte ihn vergrämt an. Man sah, wie er zitterte. Wieder diese Drohung.
Therese konnte sich nicht mehr halten, sie trat vor Schigalski hin und schrie zornig: „Lasst ihn doch endlich in Ruh, was wollt ihr denn von ihm? Er muss doch einmal ein selbständiger Mensch werden und handeln, wie es ihm sein Verstand eingibt."
Tauten sagte erstickt: „Sei still, Kind, ich weiß schon, was ich zu tun habe. Und wenn man mich ausschließt, dann müssen sie es wissen, dass sie mich nicht für eine Schuld ausgeschlossen haben. Ich werde nach meinem Willen handeln." Er sah Schigalski mit allem seinem Groll an: „Ja, über meinen Willen verfüge ich noch selber. Ich lasse mir keine Maßnahmen aufreden, die sich mit meinem Gewissen nicht vertragen. Ich werde nicht für einen Abbruch des Kampfes reden. Und auch ihr würdet nichts abbrechen, wenn ihr mit der Masse einmal mitgehen würdet. Und sie bluten noch! Nein, ich bin nicht für einen Frieden, der uns nur zu einem neuen Strick wird."
Schigalski lächelte ingrimmig. Er sagte, nach seinem breitrandigen Hut greifend: „Ich sage dir, wir werden den Kampf abbrechen, und wenn wir ihn mit Gewalt abbrechen müssen. Und du, du wirst deine Unschlüssigkeit noch bereuen!" Er stülpte den Hut auf, nahm seinen Stock, schritt schwer und zornschnaubend hinaus.
Tauten sah ihm lange nach und setzte sich dann kopfschüttelnd wieder hin. „Wie die Alpdrücke hängen sie an einem, wirklich, wie Alpdrücke..."
Frau Tauten seufzte. Sie sagte ängstlich: „Der wird dir das nachtragen. Du weißt doch, wie der Mensch ist."
Da erhob sich Tauten und schrie mit hochrotem Gesicht: „Lass auch du dieses Gerede! Verdreht mich nicht alle. Ich weiß schon sowieso nicht, wo mir der Kopf steht. Der eine reißt mich hin und der andere her, und schließlich ist man gezweiteilt und weiß nicht, wem recht tun. Seid mir jetzt alle still", grollte er und suchte seine Pfeife, die er zitternd anzündete. Er ließ sich wieder auf den Stuhl nieder und redete für sich: „Und ich werde die Versammlung nicht einberufen. Wenn er das will, dann soll er das selbst tun..."
Die Frau schlich besorgt umher und wagte kaum zu atmen. Dem Willen des Mannes sich immer unterordnend, wiederholte sie mit seiner Miene: „Natürlich machst du die Geschichte nicht. Wenn er es haben will, dann soll er es selbst tun..."
Therese wusch sich und zog sich um. Sie spürte erst jetzt ihre ganze Erschöpfung und die zwei schlaflosen Nächte, in denen sie nur bei wenigen Gelegenheiten einige Minuten einnicken konnte. Sie wandte sich an den grübelnden Vater: „Mach dich von diesem Menschen frei", sagte sie, „er ist schuld, dass du nie einen eigenen Schritt wagst. Du hast dich zum ersten Mal anders entschieden, und bleibe jetzt auch dabei. Zermack und Raup und auch der Stamm sind dir bessere Genossen, und alle, die hier vorbeigezogen sind, sind deine Genossen. Denk an sie und lass dich nicht wieder zu einem falschen Schritt verleiten."
Tauten nickte. Er lauschte hinaus, draußen erscholl Gesang. Eine Abteilung fuhr vorbei, und er hörte: „Völker, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht..." Er bewegte die Lippen und horchte weiter hinaus, bis das Lied wieder verklungen war. Er sagte: „Und ich werde die Versammlung nicht einberufen. Und wenn sie den Kampf mit Gewalt abbrechen wollen, dann sollen sie es versuchen, aber dann werde auch ich mich dagegen zur Wehr setzen."
Er stand auf, zog seinen Rock an, nahm seinen Hut und das in eine Ecke angelehnte Gewehr; er hing es um und ging hinaus.
Auch Therese begab sich gleich wieder in den Ort. Sie wusste, dass Franz eine Abteilung zusammenstellte, und wollte ihn dieses Mal nicht allein ziehen lassen. Sie wollte mitkommen. Sie hatte hier im Ort nicht mehr viel zu tun, und draußen würde man ihre Hilfe brauchen. Ja, sie wollte mitfahren. Sie suchte Franz und traf ihn auf der Straße, knapp vor seinem Haus. Er kam aus Essen, wohin er einen Kurierdienst gemacht hatte; er sah ihr gleich den ihm schon bekannten Eigensinn am Gesicht ab. Sie sagte ihm ohne Umschweife: „Ich werde mitfahren." Er blieb stehen und starrte sie an. „Da draußen geht es auf Leben und Tod. Es ist nicht leicht, Therese", warnte er sie.
Sie sagte: „Ich weiß es. Ich hab' es auch schon heut früh mitgemacht und bin davor nicht zurückgeschreckt. Und ich will bei dir bleiben", sagte sie fest entschieden. Er ging grübelnd mit ihr weiter. Fern, fern rückte ihr kleines Glück. Er wollte nicht daran denken. Die Genossen warteten auf ihn. Sie hatten schon zwei neue Abteilungen bewaffnet, und die Leute warteten nur noch auf die Wagen, die sie nach Hamborn weiterbefördern sollten. Im Rathaus in der Stadt saß jetzt ein revolutionärer Vollzugsrat, der die Leitung des Kampfes übernommen hatte. Jede Stunde konnte jetzt der Befehl kommen, dass sie abrücken müssten.
An der Kirche sagte Franz noch einmal: „Überleg's dir gründlich, ich sage dir, es wird dieses Mal noch schwerer sein."
Sie antwortete: „Ich hab's mir überlegt!" Sie trennten sich.
Franz ging voller Gedanken nach der Wache. Dort lagen die Leute seiner Abteilung und warteten.
„Wann geht es denn los?" empfingen sie ihn. Es waren Salkenberger und eine Anzahl Bergleute aus Stoppenberg-Nord, unter denen sich auch der blondlockige Johann Kaluga, ein wilder, hübscher Bursche von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, befand.
Man hatte schon am Morgen beobachtet, dass er furchtlos mit den ersten in den Viehhof vorgedrungen war und dort eine Gruppe der Grünen zur Übergabe gezwungen hatte. Der einige zehn Jahre ältere Sepp Wurzbacher, ein kleiner, schmächtiger Bayer, ließ sich von Johann Kaluga das Laden des Gewehres vormachen, denn er war kein Soldat gewesen. „So, jetzt kann ich's schon", sagte er und schob selber ungeschickt die Patronen hinein.
Franz erblickte unter der wartenden Schar ein Jungengesicht, das ihn nickend anlächelte. „Jaja, ich komm' auch mit!" sagte der Junge und zeigte auf sein Gewehr. Es war Heises achtzehnjähriger Sohn, der Heini. Er sah noch wie ein Knabe aus, und in Franz regten sich Bedenken, ob er den Jungen wirklich mitnehmen und der Gefahr aussetzen sollte. Der Junge bemerkte dieses Schwanken und stand zornig auf: „Glaub nicht, dass du mich zurückhalten kannst", sagte er aufgeregt, „der Vater hat es auch versucht, aber ich bin ihm einfach davongerannt; ich werde mitfahren, und damit basta, ich habe lange genug darauf gewartet. Ich gehe nicht zurück."
Franz gab seine Bedenken auf und sagte: „Sei still, du wirst mitkommen. Aber ich werde draußen über dich wachen, dass ich dich wieder gesund zurückbringe." Der Junge setzte sich mit einem Seufzer der Erleichterung wieder hin.
Miller und Tauten waren in der Versammlung der Bürgermeistereivertretung. Die Vertreter der bürgerlichen Parteien und Schigalski mit der Mehrzahl seiner Genossen, unter denen auch der graue Heise zu sehen war, führten alle Einwände ins Feld, um sich vor der Forderung der Unabhängigen zu drücken, die verlangten, dass die Familien der Kämpfenden aus Gemeindemitteln unterhalten werden sollten.
Herr Claus sprach von dem völlig ausgeplünderten Gemeindesäckel, und Schigalski trat fast feindselig gegen die Unabhängigen auf. Der behäbige, dicke Mann war dunkelrot vor Zorn.
„Wir von der Sozialdemokratischen Partei haben diesen Kampf keineswegs gewollt, und wir werden auch solchen Anträgen, die nur wieder das Volk belasten, auf keinen Fall zustimmen. Wir sind für den Abbruch des Kampfes und für die sofortige Wiederaufnahme der Arbeit. Kapp und Lüttwitz sind weg, und unsere Regierung sitzt wieder in Berlin, und wir haben keinen Grund mehr, uns weiter gegenseitig die Köpfe einzuschlagen." Er redete noch eine halbe Stunde gegen die Fortsetzung des Kampfes und forderte Rückkehr zu Vernunft und Verstand und sah Miller an, der noch still dasaß und den Kopf nicht erhob. Aber als Schigalski sich mit empörtem Blick wieder hinsetzte, verlangte Zermack das Wort.
Er sagte finster: „Unsere Menschen liegen draußen und setzen ihr Leben ein. Die meisten haben Familie und sind ohne Murren hinausgezogen. Und diese Männer sind nicht mehr die demütigen Menschen von gestern. Ihr habt alle gesehen, was sie dieser Tage zuwege brachten, und sie werden noch mehr zuwege bringen. Wenn Sie mit diesen Menschen nicht mitgehen wollen, dann werden wir diese Menschen hier an Ihre Stelle hinsetzen, und die werden schon wissen, wo sie das Geld herbeschaffen. Unsere Kumpels", wandte er sich an Claus, „wissen, dass ihr Geld, das sie mit ihrer Arbeit verdient haben, für Herrn Stinnes auf den Banken deponiert wird. Bitte, richten Sie dorthin ihr Augenmerk und schauen Sie zu, dass Sie von diesem Geld die notwendige Summe für die Unterstützung unserer Familien herbeischaffen."
Schigalski stieß ein knurrendes Lachen aus. Er machte die Bemerkung: „Ihr wollt wohl wieder sozialisieren? Nun, ihr bringt ja alles fertig!"
Die anderen schwiegen finster und verlegen.
Zermack antwortete Schigalski: „Vielleicht wird das auch noch kommen."
„Aber wenn wir sozialisieren", sagte Raup, „dann werden Hindenburg, Stinnes und Krupp nicht mitsozialisieren."
„Ich habe euch gesagt", fuhr Zermack fort, „wo ihr das Geld herbekommen könnt, und ich denke, dass wir mit dieser Versammlung am Ende sind. Wir haben keine Zeit, hier noch lange nutzlose Debatten zu führen und mit Ihnen zu streiten oder vielleicht von Ihnen Almosen zu erbitten." Er winkte den Genossen und den im Zuhörerraum sitzenden Kumpels, die mit ihren Gewehren erschienen waren, und sie gingen alle hinaus.
Zermack ging mit Miller nach der Wache zurück. „Warum hast du dich nicht gemeldet?" fragte er Miller vorwurfsvoll.
Miller erwiderte: „Es kann einem alles bald zuviel werden. Man muss sich alles jedes Mal erzwingen."
„Du kennst ja diese Gesellschaft", lachte der große Mann, „sie gibt nie etwas gutwillig her. Man muss sie einfach zwingen. Wenn wir nur wieder etwas nachgeben, dann drehen sie gleich wieder den Spieß um."
Miller schwieg.
Es dämmerte schon wieder der Abend, und die Leute lagen noch immer herum. Die Bürgermeisterei hatte den Auftrag, die angeforderten Wagen zu beschaffen, aber auch dieser Auftrag war noch nicht ausgeführt. Die Männer, die schon des Wartens müde waren, fragten Zermack: „Wenn geht es denn los, zum Teufel. Wenn ihr die Wagen nicht beschaffen könnt, dann ziehen wir entweder so los, oder wir gehen nach Hause.“
Miller überlegte. Sein Gesicht zuckte nervös, und seine Augen waren voller Müdigkeit. Er setzte sich einen Augenblick hin und stützte den Kopf in die Hände. Der Schlaf drohte ihn zu übermannen, aber er entriss sich ihm gewaltsam wieder. Er presste die Lippen zusammen, dass sie fast weiß wurden, und zum ersten Mal sagte er: „Ich könnte jetzt eine Stunde schlafen. Leute, zerreißt uns nicht, ihr kommt noch weg. Geht jetzt nach Haus, aber haltet euch bereit, wenn man euch wieder rufen muss."
„Ich geh' nicht heim", sagte der junge Heise, „sonst wird mich der Vater wieder zurückhalten wollen. Ich will dann schon lieber hier die ganze Nacht auf der Wache durchsitzen."
Und auch Johann Kaluga, der zu Hause nur in einem „Fetzenstall" lebte, denn sie waren viele Kinder, und der Alte war ein haltloser Trinker, mit dem er sich schon mehrere Male herumgeschlagen hatte, wollte dableiben. Johann Kaluga war ein leichtlebiger Bursche und viel in den trübe erleuchteten Tanzsälen zu sehen, wo er, wie viele, die im Krieg verlorenen Jahre und deren Freude nachholen wollte. Die Stürme der Nachkriegsjahre hatten auch ihn hin und her geworfen, und man hatte ihn das eine Mal in den Versammlungen der Ulk-abhängigen oder in der Union, das andere Mal bei den Zusammenkünften der „Christlichen" gesehen. Aber in diesen Tagen hatte auch ihn der neue Sturm ergriffen, und er hatte bei dem Kampf um die Stadt mehrere Male sein Leben eingesetzt. Sein wirrer Lockenkopf und sein offenes Gesicht mit dem hellen Blick machten ihn jünger, und er lauschte allem Neuen mit der gleichen Neugierde und putzte gelegentlich wieder an seinem Gewehr. Er bot sich Franz an: „Wenn du einen Mann am Maschinengewehr brauchst, dann spring' ich ein. Ich habe draußen eins geführt. Damals wusste ich nicht, wofür ich schoss, aber heute weiß ich's. Und die Grünen haben gemerkt, wen sie vor sich hatten."
Zermack, der einige Stunden nach Hause gegangen war, weil er einmal ausruhen musste, kam wieder herein. Miller saß, den Kopf in die Hände gestützt, und schwankte in einem Halbschlummer.
„Geh du jetzt mal eine Weile nach Haus", sagte ihm Zermack. „Ich und Raup sind ja hier, und wir werden uns um die Leute kümmern. Geh, streck dich aus und schlaf ein wenig, sonst fällst du uns noch um."
Miller erhob den Kopf und sah ihn verwirrt an. Er stand dieses Mal williger auf und taumelte in den Nebenraum, wo, er sich auf den Fußboden hinwarf und sofort einschlief.
Franz war mit Therese nach Hause gegangen. Sie saßen in der Küche zusammen, sprachen aber nur wenig. Die Eltern lagen in der Kammer, aber an den Seufzern der Mutter und dem Hüsteln des Vaters konnte Franz merken, dass beide nicht schliefen. Sie kamen nie zur Ruhe, bis er wieder heil zu Hause saß. Er schüttelte den Kopf. „Eine Last."
Und doch war es wieder eine Stunde, die er so gern hatte. Er spürte Thereses Atem. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und schlief. Er fand noch keinen Schlaf. Er war mit seinen ganzen Gedanken bei dem kommenden Kampf. Er hatte jetzt um viele Leben zu sorgen, die ihm anvertraut worden waren. Er weckte Therese und sagte ihr: „Leg dich auf die Bank, da kannst du besser ruhen." Als sie sich auf die Holzbank gebettet hatte, setzte er sich ans Fenster und sah auf die Stadt, wo das Werk und die Schächte noch immer schwiegen. So saß er, bis der Morgen wieder dämmerte und er endlich für eine Weile, mit dem Kopf auf den verschränkten Armen gegen die Fensterbank gelehnt, einschlief. Aber dann glaubte er wieder das Krachen der Handgranaten und die Schreie draußen zu hören und erwachte verwirrt. Er horchte hinaus. Nein, draußen herrschte die Stille eines friedlichen Tages. Eines friedlichen Tages?
Da kamen schon Schritte die Treppe herauf, und gegen die Tür klopfte Fritz Raup. „Franz, die Wagen sind da, bist du fertig?" Franz griff nach Rock und Mütze. Auch Therese war wach geworden und stand schnell auf.
Als Franz nach dem Gewehr fasste und gehen wollte, erschien die Mutter auf der Schwelle; sie hielt die gefalteten Hände unterm Kinn, und neuer Schrecken stand in dem versorgten Gesicht.
„Sie gehen wieder! Jung', pass mir ja auf", rief sie ihm nach.
Franz kam zurück, er nahm ihren Kopf in seine Hände, streichelte ihn und küsste das zitternde Gesicht. „Ich muss gehn, Mutter; wir müssen es jetzt zu Ende schaffen!"
Sie kämpfte mit ihren Tränen: „Dann geh!" sagte sie, „aber pass auf!"
In der Kammer hüstelte Martin Kreusat. „Er geht wieder, wieder geht er. Aber man kann sie nicht halten, man kann nicht. Wenn sie was angefangen haben, dann sollen sie es zu Ende führen. Wenn ich mitkönnte, würde ich aufstehen und mitziehen, ja, auch ich würde mitziehen."
Als Franz Kreusat auf die Wache kam, waren die anderen schon in eiliger Vorbereitung. Sie steckten noch rasch Munition zu sich und schleppten die Kästen mit den Patronengurten für die zwei Maschinengewehre auf die Wagen und sprangen hinauf. Der junge Heise strahlte glücklich, dass nun endlich auch seine Stunde gekommen war und er dem grämlichen Elend entfliehen konnte. Der Vater hatte ihn nicht aufgespürt; Heini hatte sich die ganze Zeit auf der Wache aufgehalten oder hatte sich dann und wann zum Postenstehen gemeldet, um über die langen Stunden der Ungeduld hinwegzukommen. Nun stand er mit seinem kleinen, vom Eifer geröteten Gesicht und erwartungsvollem Blick unter den anderen auf dem Wagen. Sein Gewehr fest in der Hand und von Zeit zu Zeit nach der Munition in seinen Taschen tastend, überzählte er mit den Blicken die Schar der Männer, die er schon alle kannte. Er hatte sich einen Gurt und ein paar gefundene Patronentaschen umgeschnürt, und ein viel zu großer Männermantel verbarg ihn fast ganz.
Der welke Wurzbacher neben ihm war in seinem Grubenzeug gekommen. Er hatte unter den oberen, größeren Rock noch einen anderen Rock angezogen. Die Ellbogen waren durchgewetzt und seine Mütze von der Grube noch fleckig und grau. Wurzbacher hatte sich, außer den Patronen in seinen Taschen, auch noch einen Maschinengewehrgurt quer um die Brust gebunden und sah mit den vier Handgranaten an seinem Riemen und -mit seinem borstigen Bart recht abenteuerlich aus. In der Nacht war noch der Gaida vom Stoppenberger Zollvereinschacht hinzugekommen. Er trug einen Kanonieranzug und auf seiner Mütze eine rote Kokarde. Er war von Franz Kreusat für das schwere Maschinengewehr bestimmt, das vorn auf dem Verdeck des Wagens aufgebaut stand. Seine Frau war trotz der frühen Stunde mitgekommnn; sie hatte ihm ein Stück Brot mitgebracht, das sie ihm noch schnell hinaufreichte. „Nimm es mit", sagte sie besorgt, „du hast doch nichts gegessen."
Er schob es zurück. „Behalt es für die Kinder, du hast für sie ja nichts!"
Franz hatte sich von Miller und Zermack verabschiedet und kam heraus. Er wollte auf den Wagen steigen, in der Hoffnung, Therese hätte sich's noch anders überlegt; aber als der Motor losdröhnte, da rannte sie um die Ecke mit ihrem Sanitätskasten und einem roten Kopftuch.
Franz schüttelte den Kopf. Die Männer streckten die Hände herunter und halfen Therese auf den Wagen hinauf. Der Motor dröhnte von neuem, und der Wagen fuhr ab. Die anderen rollten hinterher. Im letzten Wagen stand breit und mächtig, in einem Soldatenmantel und seiner groben Mütze über dem Kopfverband, Franz Renteleit. Er sagte zufrieden: „Nun geht es wirklich endlich los."
„Es geht endlich los!" sagte auch der Junge in dem großen Mantel erfreut.
Sie fuhren zum Rathaus. Franz betrat den Bau, der ihm schon von der einen Nacht seiner Verhaftung bekannt war, diesmal mit einem anderen Gefühl. Die Grünen waren verschwunden, und an ihrer Statt liefen Arbeiter mit Gewehren und roten Armbinden, Kuriere, Patrouillen und Führer von Abteilungen, die zur Front fuhren, ein und aus. Jeder grüßte ihn nickend oder mit einem Händedruck, und der Bau war voll neuer Musik. Eine Musik des Lebens und des Mutes und Eifers. Einer der Männer drückte ihm ein Paket Zeitungen in die
Hand. „Die rote Fahne!" sagte er lächelnd. „Wir haben die Redaktion des ,Stinnes-Anzeigers' beschlagnahmt, und der muss jetzt unser Kampforgan drucken!" Und ein anderer gab ihm ein Paket Flugblätter und Zeitungen seiner Partei, und so vollbepackt ging er in den Raum hinein, wo er sich den Ausweis für die Weiterfahrt holen sollte. Auch hier sah er dasselbe Leben und Treiben: Männer über Karten gebeugt, andere, die Anweisungen und Befehle ausschrieben, noch andere, die anscheinend mit der Organisation neuer Reserven beschäftigt waren.
Er bekam einen Fahrtschein und beantwortete dutzendmal dieselbe Frage, wo sie herkämen: „Wir sind Stoppenberger!" Die Stoppenberger hatten sich schon einen guten Ruf erworben, das merkte er aus allen Reden und Blicken. Mit neuem Mut lief er wieder hinaus und kletterte auf den Wagen. Draußen standen neue Abteilungen, die Waffen empfingen, anscheinend Kruppianer und Leute aus anderen Vororten. Sie riefen ihm zu: „Also haltet euch dran. Wir kommen nach." Und wieder Händedrücke und Grüße und Winke. Als sie weiterfuhren, begegneten sie neuen Marschierenden, die mit Gesang ankamen. „Wacht auf, Verdammte dieser Erde." Siegesbewusst winkten alle.
Franz musste sich immer wieder erinnern, dass er noch vor kurzem in diesem Haus ein paar furchtbare Nächte durchlebt hatte.
Franz verteilte auf dem Wagen die Zeitungen und nahm die anderen an die Front mit, denn da würden sie wohl ohne jede neue Nachricht liegen. Sie fuhren durch die Straßen der Stadt und durch den grauen Segeroth, der ihnen wie eine düstere Festung entgegenstarrte, ein von dem Krupp-Werk verstaubtes und verräuchertes Arbeiterviertel. Auch hier sah er überall rote Fahnen, und sie begegneten wieder singenden und winkenden Arbeitern und Frauen mit Gewehren, mit Armbinden und roten Kopftüchern. Sie mussten noch an eine letzte Station hinter dem Segeroth, um dort einige Maschinengewehre für Hamborn mitzunehmen. Die Baracken, in denen früher die Grüne Polizei einquartiert war, glichen einem Heerlager: Autos, Gewehre, schwatzende und lachende Gruppen, und wieder die Fragen: „Wo kommt ihr her?", und wieder, als er antwortete: Wir sind Stoppenberger", flog das Lächeln über die bärtigen und stoppligen Gesichter.
Ein Matrose fragte: „Wer leitet die Abteilung?"
Und als Franz etwas verlegen sich als den Abteilungsführer ausgab, nahm ihn der Matrose mit in eine der Baracken. „Was braucht ihr noch alles?" fragte er. „Wir haben jetzt Knarren und Maschinengewehre reichlich. Die Grünen sind hier Hals über Kopf davongerannt und haben uns allerhand Schätze zurückgelassen."
Franz sagte, auch jetzt noch verlegen: „Die meisten von uns haben noch nichts gegessen..."
Der Matrose befahl ihm: „Hol die Genossen, ihr könnt hier gleich abfuttern. Wir haben hier eine großartige Küche."
Franz Kreusat staunte: „In so einer kurzen Zeit, und solche Organisation." Der Kuli führte sie in einen Holzsaal, wo sich die Küche befand; mehrere große Kessel, von Frauen bedient, dampften drinnen und verbreiteten den lockenden frischen Duft gutgekochter Fleischsuppen.
„Kommandant ans Telephon!" rief ein Posten dem Matrosen zu. Und noch von einer anderen Tür her rief ein jüngerer Arbeiter: „Ans Telefon!"
„Siehst du, so geht es fortwährend", sagte der Matrose. Er lief hinaus.
Franz hörte den Gesprächen der vielen Rotarmisten zu. An einem Tisch erzählte einer: „Ja, wir müssen noch viel von unseren russischen Genossen lernen. Die haben alle Quertreiber davongejagt und schlagen die weißen Generale aus ihrem Land. Die machen eine wirkliche Revolution..."
Franz glaubte, seinen Christian Wolny zu hören. Wo mag Christian wohl stecken? fiel ihm ein. Er hätte ihn jetzt gern bei sich gehabt, mit seinen glücklichen Augen und seinen Erzählungen.
Ein anderer erzählte an einem zweiten Tisch: „Ich habe erst vor vierzehn Tagen Schluss mit dem Schwindel gemacht. Als wir Grenzschutz waren, da ging es bunt zu. Wer gut klauen konnte, der wurde Gefreiter. Besorgtest du deinem Kompanieführer eine Flasche Schnaps oder eine Hure, dann konntest du bis zum Feldwebel chargieren. Wenn wir durch die Städte zogen und eine Zote sangen, dann bewarfen uns die Bürger mit Blumen und wischten sich vor Rührung die Augenwinkel. Die Arbeiter aber spuckten uns vor die Stiefel..."
Der Kommandant erschien wieder. „Genossen, wenn ihr fertig seid, dann geht's nach Dorsten ab. Dort wird eben von uns Verstärkung angefordert." Er machte ein ernstes Gesicht. Er winkte Franz: „Vorn scheint es schwer zuzugehen", sagte er. „Es haben sich allerhand Schweinehunde unter uns geschlichen und verwirren unsere Leute oder schleppen ganze Abteilungen zurück von der Front."
Sie fuhren weiter. Franz dachte über die letzten Worte des Matrosen nach. Der Kanonier an dem Maschinengewehr sah es ihm wohl an: „Du denkst über die Banditen nach, von denen der Matrose erzählt hat? Das kenn' ich schon, ich habe es auch in Russland erlebt. Ich habe mich als Kriegsgefangener der Roten Armee angeschlossen, und wir hatten auch mit allerhand Gesindel zu tun. Es sind auch hier nicht alle mit der Absicht hergekommen, für die Befreiung der Arbeiter zu kämpfen. Aber jede Umwälzung", sagte er stirnrunzelnd, „wirkt wie ein schwerer Stein in einem Schlammteich, da fliegt mancher Dreck empor."
„Wenn wir solche Menschen unterwegs treffen", meldete sich der junge Heise mit hochrotem, erregtem Gesicht, „dann müssen wir sie sofort festnehmen oder an die Wand stellen!"
Der Kanonier sah ihn an und nickte: „Das werden wir wohl tun müssen, Junge. Solche Hindernisse führen oft zu Verwirrung der anderen und zum Unglück." Er wandte sich wieder seinem Maschinengewehr zu und starrte düster grübelnd vor sich hin.
Zu beiden Seiten flogen graue, russverschmutzte Häuserreihen, Schachtanlagen und Steinhalden vorbei. Kinder schrien und winkten dem Wagen nach. Gesichter dauernden Elends lagen furchig, welk und bleich in den Fenstern der Häuser. Manche von ihnen mürrisch und verdrossen wie die Umgebung selbst. Hier und dort winkte eine alte Hand. Die Luft roch nach Kohle und Öl, und die Männer spürten im Munde den immer regnenden feinen Schlackenstaub. Nach und nach überzog dieser Staub auch ihre Gesichter, legte sich auf die Bärte und Brauen. Sie erschienen älter, ernster und härter.
Und wieder tauchte eine Schachtanlage auf, eine Lokomotive rangierte leere Waggons, in die mit Patronentaschen umgürtete Männer kletterten und einander die Gewehre reichten. Zechenplätze mit Eisen, Schrott, Grubenholz auf Stapeln, alten Förderwagen und den ruhenden, schwarzen Förderbrücken, und wieder Eisenhallen, schwarz und schweigend, und stille Kräne. Generalstreik.
Die Sonne sank langsam wieder in die Nacht. Der Himmel flammte im letzten Licht des vergehenden Tages, und Frostwind strich über die Gesichter der Männer.
Ein Wagen mit Verwundeten kam ihnen entgegen. Franz ließ einen Moment halten. Er fragte: „Wie steht's an der Front?"
„Schlecht, Genosse", antwortete ihm einer der Verwundeten. „Zu wenig Reserven. Und auch mit der Versorgung kommen sie nicht immer rechtzeitig an." „Wo liegen Unsere?" fragte der kleine Heise. „Bei Dinslaken, in den Büschen von Wesel und weiß Gott wo sonst noch. Die Verbindungen sind schlecht!" erzählte der Mann. „Und die Noskes knallen mit Kanonen, schweren Brocken und Schrapnells!"
Franz überließ dem Verwundeten einige Brote und etwas von dem Trank, den sie bei sich führten, und stieg mit größeren Sorgen wieder auf seinen Wagen.
Schweigend fuhren sie weiter.
Therese stand neben Franz und hielt sich an seinem Arm fest. Er fühlte ihre Wärme. Er dachte an die Verhaftung und an die Zelle und die Drohung, dass man sie erschießen würde. Er war der einen Hölle entkommen, um sich in die andere zu stürzen.
Merkwürdig, in diesem Augenblick fiel ihm auch die Tochter der grauen Frau Werner ein. Vielleicht hatte sie auch diese Schlacht erschreckt. Diese Bürger hassten die groben Menschen der Arbeit. Ihre wohlbehütete kleine Welt krachte wieder in allen Fugen, und das Kugelgepfeife war eine hässliche Musik.
Der Tod sang. Franz dachte voller Hass: Auch ihr sollt keine Ruhe haben. Nein, keine Ruhe! grübelte er, Hass und Neid im Herzen gegen diese Sattheit.
In dieser Stunde fühlte er das große Geheimnis: Liebe zum Leben! Trotz dem nahen Tode: Liebe zum Leben.
Therese und er wollten leben.
„Kannst du dir das denken, niemals ein bisschen wirkliche Freude", sagte sie. „Niemals ein freundliches Gesicht. Wann werden wir mal zu ein klein wenig Freude kommen? Der Vater hat mich niemals ganz verstanden."
Sie hielten an vielen Meldestationen, auch an einigen Versorgungsstationen. Hier empfingen sie den Ausweis für die Weiterfahrt, dort wieder Brot, an einer dritten Stelle wurden ihnen auf die Wagen Munition und Maschinengewehre geladen, die sie an ihrem Bestimmungsort abgeben sollten.
Sie fuhren weiter nach Hamborn; ein schwerer Wagen, an dem hinten eine Kanone angehängt war, rollte an ihnen vorbei.
Als sie in Hamborn ankamen, stießen sie wieder auf den Wagen mit der Kanone. Die Artilleristen fluchten, andere lachten und spotteten. Die Kanoniere hatten die dazugehörige Munition nicht mitgenommen.
„Steckt eure Köppe hinein, die taugen doch nichts!" rief man ihnen zu.
„Die taugen schon was. Und dir ist wohl auch der Hackenstiel geläufiger als die Knarre!" riefen die Kanoniere zurück. „Bring dich bloß nicht selber damit um."
Späße und Gelächter. Aber die Angst ließ sich nicht fortspaßen.
Als sie weiterfuhren, beschlich auch Franz wieder das Gefühl der Sorge. Sie waren bald da. Es war langsam Abend geworden. Die Aufenthalte an den verschiedenen Stationen nahmen manche Stunde in Anspruch. Sie fuhren auf der Landstraße dahin. In der Dunkelheit zwinkerte hier und da ein Licht aus den niedrigen Bauernhäusern. Im Gebüsch, von hohen Zäunen halb versteckt, lagen sie. Überall herrschte, bis auf das Gebrüll und Geschrei der Tiere, ein drückendes Schweigen.
Endlich wurden sie in einem Dorf angehalten.
Ein Posten rief sie an: „Halt! Wer seid ihr?"
Franz sprang von dem Wagen und zeigte seinen Ausweis. Der Posten sagte: „Ihr seid schon gemeldet. Ihr bleibt über Nacht hier im Dorf. Lass die Leute absteigen und komm mit."
Die Männer kletterten schwerfällig, von dem Stehen auf dem Wagen müde geworden, herunter und streckten sich: „Gott sei Dank, vielleicht kann man noch eine Stunde schlafen!"
Der Posten führte sie zu einem Bauernhaus, wo eine kleine Versammlung tagte. Es war der Vollzugsrat des Dorfes. Franz merkte, dass alles gut organisiert war, und er spürte endlich ein Gefühl der Sicherheit. Er trat mit dem Posten in die Stube. Die Männer, darunter einige ältere, und ihrer Sprache nach nicht alle aus dem Dorf, wandten sich ihm zu. Er meldete ihnen die beiden Abteilungen.
Einer der Männer antwortete ihm: „Ihr bleibt hier liegen, bis wir wissen, wo wir euch hinschicken sollen. Vielleicht brauchen wir euch, um die Haufen der Lungerer zu entwaffnen. Der Teufel hol sie alle. Sie glauben, dass sie hier nur herumstrolchen und herumräubern können. Allerlei Gesindel hat sich angehängt und schreckt die Bauern, und das kommt alles auf unser Konto. Ihr könnt euch hier in eine Scheune legen", sagte er. Er gab dem Posten einen Wink: „Führ sie hin, sie können sich die Nacht über etwas ausruhen." Und zu Franz noch einmal: „Aber haltet eure Gewehre und alles bei euch und stellt Posten vor die Scheune, man kann nicht wissen, ob sich hier nicht noch die Söldner versteckt halten."
Der Posten führte Franz und die Abteilungen eine Strecke weiter, wo eine große Holzscheune stand. Sie war voll Stroh, auf dem anscheinend schon Hunderte anderer gelagert hatten. Die Männer warfen sich in der vollen Kleidung und mit der umgegürteten Munition seufzend hin. „Gott sei Dank, wir haben diesmal noch Glück gehabt!" rief einer. „Wir können noch eine Nacht länger leben!" Eine andere Stimme, es war die des kleinen, welken Wurzbacher, antwortete ärgerlich: „Denkt doch nicht immer gleich das Schlimmste, Herrgott! Ich denke immer, ich komme wieder zurück!"
„Hoffnungsvoller Engel!" brummte wieder der erste, an dessen Stimme man den immer missmutigen Wirrwa erkannte, der sich trotz seiner Angst dem Zug angeschlossen hatte.
So ging das Wortgefecht noch länger hin und her, bis endlich die ersten und die nächsten still wurden. Sie schliefen schnell nacheinander ein.
Franz Kreusat rief Johann Kaluga und den großen Kanonier und hieß sie, die erste Wache zu übernehmen. Er teilte einige andere für die Ablösung ein und ging noch eine Zeitlang auf dem Hof auf und ab. Nein, er konnte noch nicht schlafen. Therese hatte sich draußen vor die Scheune hingesetzt und betrachtete den blauschwarzen Himmel, der voller Sterne war. Was dachte sie wohl in dieser Minute? Dachte sie an das kommende Kind oder an die Gefahr, in die sie in den nächsten Stunden zogen? Sie seufzte mehrere Male. Einmal schon hatte sie um Franz gezittert, hatte nicht gewusst, ob er lebend wiederkäme. Und wieder zog er in diese neue Schlacht, aus der wohl viele der schlafenden Männer nicht wieder zurückkommen würden. Sie wollte jetzt nicht daran denken, dass auch Franz etwas zustoßen könne. Aber sie dachte doch, immer wieder dachte sie daran.
Und auch Franz grübelte Ähnliches: Sie hätte vielleicht doch zu Hause bleiben sollen. Er sah sie schweigsam dasitzen und wollte nicht wieder damit anfangen. Sie würde sich's jetzt nicht mehr ausreden lassen. Was werden wir in den nächsten Stunden wieder erleben? fragte er sich. Es war immer noch der Anfang - der Anfang. Und er hatte auf den verschiedenen Stationen wieder den früheren Zwiespalt beobachten können.
Die Feinde nagten wieder an der Eintracht. Die Debatten waren heftig wie früher und die Meinungen gespalten. Ein Teil redete schon wieder von Frieden und von Preisgabe des Kampfes; dass der Streik abgebrochen sei und dass die Leute zur Arbeit zurückkehren sollten. Die anderen tobten über Verrat und Nachgiebigkeit.
Aber immerzu noch fuhren neue Abteilungen an die Front, die sich jetzt von Dinslaken bis nach Münster hinzog. Vorn in den Wäldern kämpften die Genossen. Unterwegs waren sie immer wieder einzelnen Gruppen Verwundeter und erschöpfter Leute begegnet. Es war noch nichts zu Ende. Und doch phantasierten welche von baldigem Abbruch des Kampfes und vom Frieden.
Therese rief ihn an. „Franz, komm, leg dich ein wenig hin und grüble nicht. Morgen wird sicherlich ein schwerer Tag sein."
Ein schwerer Tag, ja, auch für sie, ein schwerer Tag. Er ging hinter ihr in die Scheune hinein, und sie setzten sich in eine Ecke. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und strich ihm über die Hände.
Draußen hörten sie den schweren Schritt des auf und ab gehenden Kanoniers. Gaida sah Zermack ähnlich und hatte auch dessen Ruhe und Gleichmut. Was dachte er wohl in dieser Stunde? Er hatte Frau und vier halberwachsene Kinder.
Aber Gaida war aus dem revolutionären Russland als Kommunist zurückgekommen, er hatte die gleiche, starke Gläubigkeit an den Sieg ihrer Arbeiterklasse mitgebracht, und er hätte sich weder durch die Klagen der Frau noch durch andere Bedenken zurückhalten lassen. Der Genosse gehörte sich nicht selbst, er musste den anderen, schwächeren vorangehen, und dieses tat Gaida ohne zu murren.
Ganz fern klopften Maschinengewehre. Das war die Schlacht. Morgen würde auch er wieder in einem dieser Löcher liegen und schießen. Und vielleicht schon in wenigen Stunden still daliegen. Er wollte nicht daran denken. Nicht in dieser Nacht, nicht in diesen Minuten, wo man ans Leben denken musste, nur ans Leben. An das verfluchte Leben, das trotzdem ein Leben war. Es musste sich nur ändern. Und sie waren hinausgegangen mit diesen Gewehren, um dieses verfluchte Leben zu ändern.
Gaida kam mehrere Male an die Scheune und horchte hinein. Er hörte das laute Atmen der Genossen. Sie wollten alle leben, die meisten hatten Kinder wie er und dachten sicherlich ans Zurückkommen.
Franz, der nicht schlafen konnte, trat heraus. „Was machst du?" Er fasste nach Gaidas Hand.
Gaida antwortete: „Ich wollte nur hören, ob alles schläft."
„Ja, sie schlafen alle", sagte Franz und wandte sich nach der Scheune. „Oder sie tun nur so, vielleicht denken sie alle nach."
„Ja, auch ich denke nach", antwortete Gaida, „das macht diese ruhige Nacht. Sie bedrückt einen."
Franz zog ihn auf die Straße, und sie gingen beide auf und ab.
Erst gegen Morgen schlief Franz ein wenig. Gegen fünf Uhr kam wieder der Posten vom Vollzugsrat und brachte die Meldung, sie sollten gleich aufsteigen und nach Dorsten weiterfahren. Es war ein älterer Mann. Er drückte Franz Kreusat die Hand und sagte: „Also Glückauf, Kumpels! Seht zu, dass ihr die Söldner heraustreibt!"
Die Wagen rollten aus dem Dorf. Jetzt fuhren sie im offenen Land. Hier und dort war ein Bauernhaus oder eine Strohmiete zu sehen. Einige Bauern pflügten auf dem Feld, und bis auf die zeitweiligen, entfernten, dumpfen Knalle herrschte überall das Schweigen des Friedens, eines trügerischen Friedens. Sie kamen endlich in Dorsten und an dem ihnen bezeichneten Gebäude an.
An den Straßengrabenrändern und überall auf dem Feld und an den Häusern lagerten Scharen abgekämpfter Rotarmisten mit ihren Gewehren und schliefen oder dösten. In einer Schar trieben mehrere jüngere, anscheinend betrunkene Männer ihre rohen Späße mit Frauen, die unter ihnen saßen. Diese Szene gefiel Franz Kreusat nicht, und er machte den Kommandanten, einen Matrosen mit übernächtigtem und stoppligem Gesicht und völlig heiser geschriener Stimme, darauf aufmerksam. „Warum liegen diese Leute hier? Kannst du sie nicht aus den Augen der anderen schaffen?"
„Ich gebe mir ja schon alle Mühe, aber die Meute geht weder nach vorn, noch nach Hause", antwortete ihm der Matrose voller Zorn: „Unsereiner kann hier schreien und vor Müdigkeit umfallen, aber diese Vagabunden regen sich nicht und lachen noch. Gut, dass ihr gekommen seid", sagte er. „Ihr müsst mir helfen, dass wir diese faule Gesellschaft wieder nach vorn bringen, oder der Teufel soll sie holen!"
Franz trat auf eine der liegenden Gruppen zu und fragte die Männer, die noch immer brüllten und mit den Frauen spaßten: „Warum liegt ihr hier herum. Wozu seid ihr hierher gekommen, wenn ihr nicht nach vorne geht?"
„Bist du auch schon wieder ein Kommandant?" rief einer der betrunkenen Burschen spottend. „Scher dich nur, sonst geben wir dir Kommandant, wir kommandieren uns selber." Ein anderer spottete: „Schaff mal Schnaps her, dann gehen wir nach vorn!"
Ein dritter rief: „Da vorn liegt niemand mehr, da sitzt schon überall die Reichswehr. Geht nur hin, wenn euch das Fell juckt, da sitzt ihr gleich in der Falle."
Der Matrose sagte empört: „Du hörst es. Und so treiben sie es die ganze Zeit. Sie halten mir die anderen zurück. Herrgott, ich lass sie alle niederschießen. Da vorn kämpfen die wenigen um ihr Leben und warten auf Hilfe, und diese verfluchte, faule Gesellschaft treibt hier ihren Unfug. Ruf deine Leute, wir nehmen der Rotte die Gewehre ab. Wir treiben sie wie die Hunde zurück, denn mehr sind sie nicht wert."
Franz rief Gaida und Renteleit. Sie halfen dem Matrosen, die randalierende Schar zu entwaffnen, die sich erst wütend wehrte. Aber Renteleit zottelte einige der Widerspenstigen kräftig, und sie wurden gleich ruhig. Der Matrose ging zu den Lagernden und sagte: „Steht auf und ordnet euch nach den verschiedenen Ortschaften. Wo seid ihr her?" fragte er die eine Gruppe, bei der er einige ruhigere Männer sah.
„Aus Bottrop!" antwortete ihm einer der älteren Leute zögernd.
„Warum liegt ihr hier?" fragte sie Franz.
Da schrie einer empört: „Wenn die Banditen hier faul rumlungern, dann werden wir doch nicht so verrückt sein und allein nach vorn ziehen. Schafft die erst mal hin, dann gehen auch wir."
Franz sagte: „Kommt, seid vernünftig. Ihr geht mit uns nach vorn."
Einige erhoben sich willig. Die andern folgten, noch zögernd. Sie fluchten auf die „Diebe" und „Wegelagerer" und blickten finster nach der einen Gruppe, die alle anderen zurückgehalten hatte.
„Die werden wir bald los sein", versprach der heisere Matrose und sagte zu einem der älteren Leute, die aufgestanden waren: „Genossen, ihr sorgt dafür, dass die Kumpels wieder nach vorn gehen!"
Ein Hauer, man erkannte ihn an seinen blauen Narben, ordnete die Willigen zu Gruppen. Der Matrose sagte ihm: „Kommt ins Haus, ihr kriegt Brot, und dann geht ihr mit den Stoppenberger Genossen!"
Es erhoben sich noch andere und traten jetzt ruhig auf der Landstraße an. Es waren Kohlenhauer und Schlepper von Karnap; auch sie fügten sich jetzt den Anordnungen des Matrosen, der erlöst aufatmete.
Einige der vorher entwaffneten Männer traten vor und sagten jetzt friedlicher: „Gib das Gewehr wieder her, wir gehen mit nach vorn." Einer sagte: „Ihr solltet sie nicht so laufen lassen", und zeigte auf einige der randalierenden Burschen, „am besten ist, ihr sperrt sie ein. Sie gehen doch wieder unterwegs in die Häuser und verhetzen die Leute gegen uns!"
Der Matrose blickte die entwaffnete Gruppe an, er überlegte finster und winkte einige seiner Posten herbei: „Bringt sie hinten in die Scheune und stellt eine Wache davor. Wir schicken sie nach Hamborn zurück, man wird dort schon wissen, was man mit ihnen tun soll."
Erschöpft wandte er sich ab und taumelte in das Haus. Franz folgte ihm. Er wollte hören, wo er mit seinen Leuten hinkäme.
Auf der Straße ordneten sich die anderen unter den Anweisungen der Gruppenführer zu Abteilungen. Franz hörte, wie einige jetzt wieder vernünftig redeten: „Endlich ist man die randalierende Gesellschaft los. Sie sind aus allen Schlupfwinkeln herausgekrochen und kommen her, um den anderen eine Last zu werden." Einige riefen noch empört: „Ja, es ist eine Schande! Vorn werden die Kumpels abgeknallt, hier liegt alles und faulenzt."
„Ihr seht", wandte sich ein graubärtiger Mann an Renteleit, „jetzt folgt wieder alles willig. Wir sind doch nicht hergekommen, um einander im Weg zu sein. Aber der Genosse Kommandant bricht ja fast selber zusammen. Er schläft schon Tag und Nacht nicht mehr. Man muss ihm helfen. Gut, dass ihr gekommen seid." Er drückte Renteleit dankbar die Hand. „Wir gehen mit euch nach vorn!"
Franz kam wieder aus dem Haus zurück. Er hatte den Auftrag, gegen die Lippe und bis zu dem im Wald liegenden Schloss vorzudringen. Der Kommandant hatte ihm ans Herz gelegt, ja vorsichtig zu sein, denn er hatte schon seit Stunden von den dort liegenden Genossen keine Meldung mehr bekommen.
Die Reichswehr hatte an dieser Stelle mehrere Male angegriffen, und der Matrose glaubte, dass die Genossen dort nicht mehr lebten oder dass sie gefangen genommen worden wären.
Franz ging schweigsam und gedankenvoll. Die Wagen sollten zurückbleiben. Er ließ seine Leute antreten und sagte zu Therese: „Es wäre besser, du bliebst hier. Vorn muss es schlimm aussehen!"
„Ich geh' mit euch!" widerstand sie und sah ihn vorwurfsvoll an. „Sorg dich nicht um mich. Ich will in deiner Nähe bleiben."
Franz sagte nichts mehr. Er winkte der Abteilung, und sie gingen.
Sie gingen wohl schon eine Viertelstunde. Vor ihnen lag der Wald, und sie hörten die Knalle einzelner Schüsse. In Abständen rauschte durch die Luft eine Granate herüber und schlug irgendwo hinten im Wald ein. Die Reichswehr beschoss die Bahnlinie.
Die Männer zuckten bei diesem heulenden Geräusch zusammen und duckten sich. Sie waren in der Schlacht. Von den Grünen und von der Reichswehr war noch nichts zu sehen, doch pfiffen immer wieder einzelne Geschosse über sie hinweg, und Franz zwang oftmals Therese, die aufrecht ohne Angst vorwärtsschritt, auf die Erde. Sie überquerten nach etwa einer halben Stunde das Geleise, immer einer hinter dem anderen, und gingen in den Wald hinein. Sie waren noch auf keinen einzigen ihrer Leute gestoßen, obwohl sie überall frisch aufgeworfene Löcher fanden.
Franz ließ zwischen den Bäumen ausschwärmen und langsam vorgehen. Plötzlich schoss ein Maschinengewehr eine ganze Salve über sie hinweg. Es war so überraschend gekommen, dass einige, auch Sepp Wurzbacher, umkehren und flüchten wollten. „Wir stecken in einer Falle!"
Franz befahl den Leuten, sich hinzulegen und Deckung zu suchen. Er ließ die Genossen mit den zwei Maschinen vorkommen und kroch mit ihnen eine Erhöhung hinauf. Er sah links den Lippe-Fluss und vor ihnen die Türmchen eines Schlosses aus einer Talsenke herausragen. Dort mussten die Grünen oder die Reichswehr sitzen.
Aber auch von der rechten Seite aus einem Waldstück knatterte jetzt ein Maschinengewehr. Renteleit, der dort mit einigen Leuten lag, kam eilig an. „Das ganze Gelände rechts von uns ist frei", erzählte er Franz, „nicht eine Menschenseele von uns sieht man da. Wir stecken tatsächlich in einer Falle."
„Baut euch da mit einem Maschinengewehr ein", befahl Franz, „damit wir nicht umgangen werden. Ich schicke noch schnell einen Boten um Verstärkung. Vielleicht sind inzwischen wieder neue Abteilungen angekommen."
Renteleit lief voller Sorgen zurück.
Franz Kreusat schickte Johann Kaluga zu dem Kommandanten und befahl: „Bringe, was du an Leuten zusammenkriegen kannst, eil dich!"
Johann Kaluga eilte zurück.
Therese lag in einem der aufgeworfenen Löcher und bereitete ihre Verbandpäckchen vor, denn bald musste sie wohl wieder ihre schwere Pflicht aufnehmen. Mehrere Maschinengewehre, von der Lippe, aus dem Schloss und von dem Waldstück rechter Hand, schossen jetzt immerfort Salven herüber. Man hatte sie wohl beim Anrücken gesehen und wollte ihr weiteres Vordringen verhindern.
Franz, der eine Strecke geduckt lief, eine andere, die zu übersehen war, kroch, kam zu Gaida. Der beschoss aus seinem Maschinengewehr das Waldstück an der Lippe, wo einige uniformierte Gestalten zeitweilig zu sehen waren. Nach und nach krachten immer mehr Gewehre; der Kampf hatte begonnen.
Franz wollte um keinen Preis zurückgehen. Er bereitete sich darauf vor, hier so lange liegenzubleiben, bis die Verstärkung herangekommen war. Es war nur eine Hoffnung, aber er klammerte sich an diese Hoffnung und beruhigte auch die ängstlichen Leute, Kaluga müsse bald mit der Verstärkung kommen. Er war Renteleits sicher, dass er seinen Platz nicht verlassen würde, wenn von der Reichswehr und den Grünen ein plötzlicher Angriff erfolgen sollte.
Er schickte noch mehrere Kästen mit Munition zu ihm hin und ließ Renteleit bestellen, den Bahndamm, der einige hundert Meter weiter lag, gut zu beobachten und unter Feuer zu halten.
Nachdem er alle diese Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, ging er mit dem jungen Heise zurück, wo er an einer kleinen Lichtung ein einzelnes Bauernhaus gesehen hatte. Er klopfte. Erst nach einer Weile kam der Bauer mit erschrockenem Gesicht heraus. „Lieber Gott", stöhnte der Mann und starrte Franz an, als wollte er sagen, „was wollt ihr denn schon wieder! Lasst mich bloß in Ruhe."
Franz beruhigte ihn: „Habt keine Sorge, wir verlangen nichts. Wir wollen nur wissen, wer hier zuletzt gewesen ist, unsere Leute oder die Reichswehr."
„Beide", sagte der Bauer plötzlich in Groll: „Einmal diese und einmal die anderen. Man kommt ja gar nicht mehr zur Ruhe. Kann man denn nicht endlich Frieden geben?"
Hinter dem Bauer war die Frau aufgetaucht. Auch sie begann zu jammern: „Man kommt ja nicht mehr aus der Angst heraus. Die einen kommen ins Haus und drohen und verlangen immerfort Essen, dann kommen die anderen und drohen wieder und fragen, ob man welche verborgen hat. Das Pferd haben sie uns schon gestohlen", klagte sie.
„Ja, das Pferd haben sie uns weggeholt", sagte auch der Bauer. „Das Stroh schleppen sie weg, und alles, was man sich für den eigenen Mund abgespart hat, haben sie geplündert. Einer ist nicht mehr wert wie der andere. Man soll doch endlich Ruhe geben, man hat ja immer Angst, dass einem das Dach über dem Kopf angesteckt wird." Franz fragte: „Wer hat euch das Pferd weggeholt?"
„Einer von euren Leuten", antwortete der Bauer zögernd. „Ich sagte ihm, wir haben nur das eine, aber der Kerl drohte mit dem Gewehr und nahm einfach das Pferd. Schafft mir es ja wieder her, sonst kann ich nicht arbeiten", grollte er.
Franz presste den Mund zusammen und sah zu Boden. Er erinnerte sich an die randalierende Schar und an die Diebesgesichter. Es konnte nur einer von denen gewesen sein. Ja, man hätte sie auf der Stelle erschießen sollen. Er war mit der Absicht gekommen, die Bauersleute zu fragen, ob sie nicht eine ihrer Kammern oder die Scheune für seine Leute hergeben wollten. Diese bitteren Gesichter erschreckten ihn aber, und er war nahe daran, zurückzugehen und die Vagabunden, die der Matrose festhielt, herzuschleppen.
Der Bauer sagte noch einmal: „Ja, der eine ist nicht besser als der andere. Alle kommen her und verlangen das Unmögliche, und wenn man es nicht hergeben will, wenn man sagt, dass man nichts mehr hat, dann bedrohen sie einen noch." Er wollte wieder ins Haus hineingehen. Franz rief ihn zurück und fragte den Mann, ob er nicht eine Ecke in der Scheune für seine Leute frei machen wolle, wenn es notwendig sei. Es geschehe nichts, das versichere er ihm, er brauche nur einen Winkel und eine Schütte Stroh.
Der Bauer sah ihn noch voller Argwohn an: „So kamen auch die anderen immer", brummte er. „Ich hab' nichts dagegen", fügte er nach einigem Schweigen und Kopfschütteln hinzu. „Aber holt mir nicht das Letzte fort, sonst weiß ich nicht mehr, was ich auf das Feld setzen soll."
Franz ging zurück. Die Unterhaltung mit dem Bauer hatte Bitterkeit und eine unheimliche Wut in ihm zurückgelassen. Der Junge neben ihm ging ebenso schweigsam. Es war sein erstes großes und niederdrückendes Erlebnis, und das kleine Gesicht war hochrot vor Aufregung. „Man soll doch so was nicht tun", stammelte der Junge noch bedrückt und sah Franz an.
Franz sagte: „Wir können nicht jedem Menschen gleich in die Seele schauen. Natürlich haben die Bauern recht, wenn sie uns als Feinde ansehen. Wir haben ja vorher erlebt, als wir angekommen waren, was mit hergekommen ist. Aber lass dich nicht schrecken", sagte er, „es ist nun einmal unser schwerer Kampf gegen alle Feindseligkeiten."
Als er wieder nach vorn eilte, kam ihm Wirrwa entgegen. „Der Sepp Wurzbacher ist verwundet!" erzählte Wirrwa, noch erschrocken. Franz lief schneller und traf Therese beim Verbinden des verwundeten Wurzbacher an. Der Schuss war Wurzbacher durch die Brust gegangen, und er lag bleich und stöhnend in der Grube.
Therese blickte nicht auf, obwohl sie Franz hörte. Ihre Hände zitterten wie bei dem ersten Verwundeten, den sie in der Mittelstraße verbunden hatte, und sie versuchte es zu verbergen.
Franz fühlte einen Schmerz. „Der erste", murmelte er, „wie viel werden noch folgen?"
Franz Kreusat ließ den schwerverwundeten Wurzbacher von einigen Leuten nach dem Bauernhof schaffen. Heini Heise ging mit, aber er ging mit abgewandtem Gesicht, denn das Blut war für ihn der erste große Schrecken. Er war ganz bleich geworden und tastete an seinen Taschen, ob da noch seine Patronen steckten.
Als sie Wurzbacher in der Scheune gebettet hatten - Therese und zwei der älteren Leute waren bei ihm geblieben -, lief der Junge wieder zurück, denn er wollte den beginnenden Kampf, „die Rache" für den verwundeten Wurzbacher, nicht verpassen. Als er wieder oben ankam, wütete schon ein starker Feuerkampf. Hinter der Lippe, wo sich Gruppen, anscheinend ihrer Leute, bewegten, wurde ein heftiges Feuer gegen das Schloss gerichtet. Auch Franz Kreusat befahl, aus allen Gewehren den Hof und die Mauern des Gebäudes, wo sich mehrere Male die Grünen und die grau-uniformierten Reichswehrleute sehen ließen, unter Feuer zu nehmen.
Nach einer halben Stunde etwa sahen sie die Uniformen aus einem hinteren Tor einzeln in einen gegenüberliegenden Wald flüchten.
Jetzt fielen keine Schüsse mehr aus dem Hof. Franz wartete noch eine Weile; er traute dem Frieden nicht, und er hielt auch Johann Kaluga, der mit einigen anderen hinübereilen wollte, besorgt zurück. Es konnte eine Falle sein. Vielleicht waren auch die hier früher liegenden Genossen in eine solche Falle gelockt und totgeschlagen worden. Er befahl, nach einiger Überlegung, Johann Kaluga und ein paar jüngeren Kumpels, zu versuchen, mit den hinter der Lippe liegenden Genossen eine Verbindung herzustellen.
Heini Heise bat, Franz solle ihn mitgehen lassen. Der Junge war wieder aufgeregt, dass ihn Franz nicht mitgehen ließe, und Franz gab nach einigen neuen Bedenken nach. „Dann geh mit, aber pass mir gut auf, es kann dein Tod sein. Und ich würde mir schwere Vorwürfe machen."
Der Junge dankte ihm mit einem glücklichen Blick und kroch eilig hinter Johann Kaluga den Abhang hinunter. Die Rache für den verwundeten Wurzbacher!
Franz Kreusat beobachtete noch immer das jetzt schweigende Schlossgebäude und den gegenüberliegenden Wald, aber es rührte sich nichts, und er entschloss sich nach einigem Schwanken, mit einer Gruppe hinzugehen und den Hof zu untersuchen, ob da noch Feinde steckten. Er war jetzt ruhiger, nachdem er Therese etwas sicherer untergebracht wusste. Sie liefen und krochen von Baum zu Baum, bis sie das Tor des Schlosses erreicht hatten. Es war noch kein Schuss gefallen, und er beschritt erst allein den Hof und sah sich um. Es meldete sich niemand, und er winkte den anderen, nachzukommen. Sie verteilten sich gleich so, dass sie nicht von den Fenstern oder aus irgendeinem Schlupfwinkel beschossen werden konnten, und warteten noch eine Weile.
Es waren Minuten höchster Anspannung und auch an Franz hingen diese Minuten wie Berge.
Gaida erhob sich plötzlich und lief mit einer Handgranate gegen die Tür. Aber diese ging schon auf und ein hagerer Mann, anscheinend der Verwalter, kam ihnen entgegen.
Er hatte wohl die Gruppe beobachtet und sagte, als er den Kanonier mit der Handgranate vor sich stehen sah, scheu: Im Schloss ist niemand mehr. Die Soldaten haben den Hof geräumt, meine Herren."
Gaida drang trotzdem in das Haus hinein, während noch andere aufsprangen und ihm folgten.
Der Verwalter unterhielt sich indessen mit Franz, der ihm immer noch nicht ganz traute, denn es war eines jener Gesichter, die sich gut verhüllen konnten. „Ich bin froh, dass die Soldaten hier wieder raus sind. Sie können mir glauben, es ist nicht angenehm, wenn man hier alle paar Stunden Todesangst ausstehen muss. Die Frauen sind schon ganz aufgeregt, und man hat uns auch schon allerhand Dinge weggeschleppt."
Gaida kam mit den anderen wieder aus dem Haus und bestätigte, dass sich drinnen niemand mehr befände. „Wir bleiben hier", sagte er zu Franz. „Von oben aus einem Fenster kann man sich mit unseren Leuten drüben verständigen", sagte er. „Sie halten den Wald vor uns unter Feuer. Wir können ruhig vorrücken."
Franz Kreusat befahl einem der Leute, die anderen zu holen, und der Kanonier baute sein schweres Maschinengewehr hinter der Mauer im Hof auf.
Indessen kam auch Johann Kaluga mit dem jungen Heise und den anderen zurück. Er erzählte, sie hätten die Verbindung mit den Genossen hinter der Lippe hergestellt. Es lägen Hamborner und Duisburger dort.
Es war schon wieder später Nachmittag geworden. Die Sonne war untergegangen, und der Wald hüllte sich in Nebel. Franz überließ Gaida die Aufsicht über das Schloss und diesen Teil des Waldes und begab sich eilig zu Renteleit, den er in der gleichen Besorgnis antraf. Renteleit hatte den Feuerkampf an der Lippe gehört. Er hatte aber sein Waldstück nicht verlassen können, musste selbst seinen Mann stehen, weil sich auch in dem ihm gegenüberliegenden Wald die Grünen geregt und geschossen hatten.
„Mensch", empfing er Franz Kreusat, „es wird ein bisschen unheimlich. Wenn der Nebel noch stärker kommt, dann sitzen wir hier wirklich in einer Rattenfalle." Renteleit hatte noch einmal selber die Umgebung untersucht und war dabei auf einige Tote gestoßen, die anscheinend von der Reichswehr und den Grünen mit den Kolben totgeschlagen worden waren. Dieser Anblick hatte auch den starken Menschen erschüttert und scheu gemacht. Immer mehrere Handgranaten wurfbereit, stand er da und starrte ängstlich auf jeden sich bewegenden Fleck. Er brummte: „Tatsächlich, man fängt schon selber an, Gespenster zu sehen. Dieses unsichere Liegen hier und Herumlauern macht mir die Leute verrückt. Sie wollen zurück, oder Verstärkung, damit wir dieses verfluchte Loch schließen können.
Auch Franz Kreusat kam langsam etwas wie Verzagtheit an. Diese Klage hatte er jetzt schon öfters gehört, und er sorgte sich, dass sich die Leute über die Nacht hier kaum halten würden. Er lauschte, ob nicht bald etwas von der heranrückenden Verstärkung zu hören wäre, aber außer dem zeitweiligen Knallen der Gewehre und den hoch oben vorbeiziehenden Granaten und dem erstickten Hüsteln der in dem Gebüsch liegenden Männer, war nichts anderes zu hören, was auf das Kommen der erwarteten Hilfe hingedeutet hätte.
Der kleine Heise, der mitgekommen war, beobachtete Franz' Gesicht und erkannte anscheinend seine Sorgen. Er sagte: „Lass mich hingehen. Ich bringe sie schon her. Ich finde den Weg zurück und werde auch aufpassen, dass mir nichts passiert."
Franz Kreusat zögerte; aber als er wieder die eifrigen Augen des Jungen sah, nickte er. „Also lauf hin, sage den Genossen, dass sie schnell Hilfe schicken sollen. Wir warten sehr darauf!"
Der Junge rannte.
„Steig jetzt nicht mehr herum", wandte sich Franz Kreusat an Renteleit, „sondern bleib bei den Kumpels, und pass mir gut auf. Ich schicke dir noch einige Leute mit einem Maschinengewehr her, damit ihr euch besser wehren könnt!"
Im Gebüsch hörte er wieder das Hüsteln der Männer. Es war, da einige Minuten kein Schuss fiel, ein quälendes Warten.
Franz Kreusat lief wieder nach dem Schloss, um zu hören, ob sich da noch etwas Neues ereignet hatte. Johann Kaluga war noch einmal an der Lippe gewesen, und die Hamborner hatten versprochen, auf verschiedenen Fahrzeugen, die sie sich zurechtgezimmert hatten, wenn es notwendig war, ihnen Hilfe zu schicken.
Vorn im Walde hatte sich nichts mehr geregt, und Gaida erbot sich, mit einigen anderen den Wald abzusuchen. Franz ließ ihn nicht gern gehen, weil ihm Gaida eine große Hilfe geworden war.
Er sah aber das ruhige und kluge Gesicht des Genossen und erklärte sich einverstanden. Gaida nahm ein Gewehr und ein paar Handgranaten, suchte sich zwei der jungen Leute aus und machte sich mit ihnen auf den gefahrvollen Weg.
Franz Kreusat wartete voller Sorgen. Jeder Schuss, der irgendwo im Walde fiel, erschreckte ihn diesmal. Er ließ alle Gewehre bereithalten und stand voller Unruhe an Gaidas Maschinengewehr. Die Dunkelheit brach allmählich herein, und der Nebel verhüllte immer mehr den Wald, und sie waren nur noch auf ihr Gehör angewiesen. Es verging fast eine Stunde, als er endlich Schritte hörte und die Stimme des zurückkehrenden Gaida, der nach ihm fragte.
„Gott sei Dank, ihr seid wieder zurück!"
Gaida hatte einen großen Teil des Waldes abgestreift, aber keinen Uniformierten vorgefunden. Er stockte eine Weile in seinem Bericht. Dann sagte er gepresst: „Aber einige Leute von uns, wahrscheinlich, die hier vor uns gelegen haben, liegen da im Wald, totgeschlagen."
Franz Kreusat wandte sich stumm ab. Der Gedanke kam ihm: Vielleicht erwartete sie alle dasselbe Los! Er wehrte diese Gedanken gewaltsam ab und begab sich wieder zu Renteleit. Die Strecke schien jetzt länger geworden zu sein in dem Nebelmeer, und er konnte sich nur durch die Anrufe der immer ziemliche Strecken auseinander liegenden Genossen und durch ihre Antworten zurechtfinden. Er traf Renteleit diesmal in einer Wutstimmung an. „Wenn sie nicht bald Hilfe schicken", grollte er, „dann geh' ich selber zurück und werde mir die Hilfe mit der Knarre erzwingen. Ich hole die ganze faule Gesellschaft hierher, und sie soll hier mit uns die ganze Nacht durchwachen."
Die Männer in dem Gebüsch, die nicht mehr zu sehen waren, hüstelten erstickt. Einige gruben sich ein, und Franz Kreusat dachte an die am Nachmittag leer angetroffenen Löcher und an die erschlagenen Genossen im Wald. Er sagte nichts. Er blieb jetzt länger bei Renteleit stehen, und beide horchten immer wieder zurück, ob nicht die ersehnten Schritte zu hören waren. Es war schon völlig dunkel geworden.
Sie konnten in dem Nebel, in dem sie wie in einem leeren Raum standen, nichts mehr sehen; und jedes scharrende Geräusch schreckte, und jedes Husten war Angst.
Renteleit, der Franz neben sich spürte, hatte sich wieder etwas beruhigt und sagte: „Diese Ungewissheit ist tatsächlich schlimmer, als die ganzen Schrecken am Viehhof. Aber, ich bin noch der Renteleit und werde diese Nacht hier aushalten. Mag kommen was will!" „Ein Zurückgehen gibt's nicht!" sagte auch Franz.
Plötzlich horchten beide. Sie hörten ein Geräusch, als käme fern eine Herde.
„Die Grünen!" rief einer ängstlich aus dem Gebüsch. „Lasst euch doch nicht gleich von eurer Angst umbringen!" beschwichtigte Renteleit die aufgeregten Leute, und hielt einige, die wegrennen wollten, zurück. „Legt euch wieder hin und haltet eure Handgranaten und Gewehre bereit. Sollten sie kommen, dann werden wir ihnen unser Leben nicht billig überlassen."
Die vielen Schritte kamen näher. Man hörte auch das Geklapper von Waffen und Werkzeugen. Trotzdem befahl Franz Kreusat, noch abzuwarten. „Wartet, bleibt ruhig!" ermahnte er die aufgeregten Leute. Er hoffte, es könnte die Verstärkung sein.
Er ging dem Geräusch entgegen und hörte nun auch verworrenes Sprechen. Es waren die schwersten Minuten, aber Renteleit fügte sich und schoss nicht. Endlich hörte Franz Kreusat jemand allein eilig rankommen. Und einige Sekunden später hörte er die Stimme des kleinen Heise. Franz rief laut: „Komm, Junge!" und fiel ihm gleich um den Hals.
Der Junge erzählte erschöpft, aber in wichtigem Ton: „Ich habe gleich vier Kompanien mitgebracht, mit denen bekommen wir ganz Wesel!"
Und da kamen sie auch schon, mit Maschinengewehren und Kästen und Schaufeln beladen, starke, ältere und junge Gestalten, und Franz wünschte sich in diesem Augenblick Dutzende Hände, um all diese Hände, die sich ihm entgegenstreckten, drücken zu können. Er fiel dem einen und dem anderen um den Hals und sagte glücklich: „Es war höchste Zeit, Genossen. Höchste Zeit!"
Auch Renteleit war rasch hinzugeeilt und fiel heulend und stammelnd einigen um den Hals: „Verflucht, Gott sei Dank, ihr seid da. Ach, Genossen, verdammt!"
Die Verstärkung wurde in Eile auf den Wald und bis zur Lippe verteilt; und während sich die Neuangekommenen hinter den Bäumen einrichteten, schickte Franz Kreusat Renteleit mit einer größeren Gruppe als Patrouille hinaus, um eine Verbindung mit den wahrscheinlich hinter dem Bahndamm liegenden anderen Arbeiterabteilungen herzustellen.
Renteleit kam nach einer halben Stunde zurück. Er hatte die Verbindung nicht gefunden, obwohl er fast einen halben Kilometer des Geländes abgesucht hatte. Auch hinter dem Bahndamm war noch eine große Lücke unbesetzt. Franz beriet sich mit den Kompanieführern, und sie beschlossen, die Strecke bis zum Bahndamm mit zwei der Kompanien zu besetzen. Die weit ausgedehnte Schwarmlinie setzte sich schwerfällig in Bewegung.
Jetzt erst dachte Franz Kreusat an Therese, die in dem Bauernhaus saß. Es waren noch einige Frauen mitgekommen, und er nahm sie nach dem Hause mit, wo auch die vier Kompanieführer zu einer Beratung hinkommen sollten.
Franz fand Therese in der Scheune. Sie hatte Wurzbacher besser verbunden, und der Verwundete lag in dem Stroh, mit einer Decke, die Therese von dem Bauern ausgeborgt hatte, zugedeckt und mit groß geöffneten Augen. Die Angst war jetzt von ihm gewichen. Der Schuss schien nicht tödlich zu sein, aber es war an der Zeit, dass man ihn weiter zurückbrachte, und Franz hieß einem der Leute, die vor dem Bauernhaus standen, nach vorn zu gehen und einige starke Männer zu holen. Die Leute kamen und trugen Wurzbacher auf einer schnell zurechtgebundenen Bahre weg. Es war ein bewegter Augenblick, als sich Wurzbacher von Franz und Therese verabschiedete.
„Ich habe mich lange hin und her ziehen lassen, aber jetzt glaube ich einen Teil meiner Schuld abgetragen zu haben", sagte er lächelnd mit schwacher Stimme.
Da jetzt ein größerer Kampf zu erwarten war, richtete sich Therese mit den zwei hinzugekommenen Frauen, die einige Kästchen mit Verbandzeug mitgebracht hatten, darauf ein. Sie hatte sichtlich aufgeatmet, als sie Franz mit ankommen sah. Sie sagte: „Nimm dich auch weiterhin in acht, denk daran, dass du zurückkommen musst!"
Franz antwortete ihr nicht. Er drückte ihr nur die Hand und ging in das Bauernhaus.
Der Bauer empfing ihn schweigsam. Er ging mit ihm in eine Kammer und sagte, noch mürrisch: „Ihr könnt euch hier einrichten, wenn ihr wollt. Aber sagt euren Leuten, dass sie uns nicht das Letzte wegholen, sonst sind wir geschlagene Menschen." Im Stall brummte eine Kuh, und er hatte vielleicht Angst, dass man sie ihm herausholen könnte.
Franz sagte: „Es wird euch hier nichts weggeholt. Unsere Kumpels sind Menschen, die wissen, dass euch auch nichts umsonst auf den Tisch fliegt. Wir kommen nicht her, um zu stehlen, sondern um die Söldner loszuwerden, die man uns immer herschickt, damit wir nicht mehr aus unserem Elend herauskommen sollen. Vorn im Wald liegen unsere Toten, die die Reichswehr erschlagen hat."
Der Bauer zuckte mit den Schultern und schlug den Blick nieder. Er schwieg eine Weile, dann sagte er: „Ich hab' bislang weder zu den einen noch zu den anderen gehalten, aber seit ich gesehen habe, wie sie hier rumhausen, da sage ich mir: Mit diesem wilden Soldatenvolk will ich erst recht nichts zu tun haben!" Er wandte sich, von seinen Sorgen gebeugt, in der Tür noch einmal um und sagte: „Die Leute, die ihr hier zurückgelassen habt, sind anständige Menschen. Sie haben hier manches über ihre schwere Arbeit und Not erzählt, wenn man so was hört, dann versteht man, wenn die Menschen empört sind und sich nicht mehr alles gefallen lassen. Und oft ist es mit unsereinem auch so, dass man den Knüppel nehmen und das ganze Pack, das einem nur das Blut auspresst, zum Haus hinausjagen möchte!" Er ging schweren Schrittes und seufzend hinaus.
Franz trat vor das Haus; denn er hörte, dass die anderen Männer gekommen waren. Der eine, von der ersten Kompanie, war ein großer, schmaler Mann; er hatte einen Uniformrock an, eine graue Sportmütze auf dem Kopfe und trug eine Brille. Die zweite Kompanie führte ein vielleicht fünfunddreißigjähriger Matrose, die dritte ein älterer Arbeiter mit einem strengen Gesicht wie Miller. Der vierte war noch ein ganz junger Mensch und, wie Franz Kreusat alsbald erfuhr, ein Lehrer. Sie gingen in die Kammer, und der große Genosse mit der Brille und in dem Uniformrock zog eine Karte heraus, die er auf dem Tisch ausbreitete. Nach der Karte und dem Fingerzeigen des Kompanieführers konnten sie erst ihre Lage genau feststellen und die unbesetzte Lücke abschätzen, die noch zu einer Gefahr werden konnte. Der große, schmale Genosse - er hieß Schotte - schlug vor, dort abwechselnd Patrouillen hinauszuschicken, damit sie von dieser Seite besser gedeckt wurden, bis sich die Möglichkeit bot, noch mehr Verstärkung heranzuziehen. „Wir werden uns wohl in dieser Nacht auf einen Vorstoß vorbereiten müssen, um die Brücke über die Lippe und den Eisenbahndamm, auf dem sich die Reichswehr stärker gruppieren kann, in unsere Hände zu bekommen", erklärte Schotte, nachdem sich alle die Karte angesehen hatten. „Haben wir den Bahndamm und die Brücke", fuhr er fort, „dann sind wir besser geschützt und näher an Wesel heran, das wir dann später mit stärkeren Kräften angreifen können." Schotte sprach überlegt und anscheinend solcher Maßnahmen kundig, und alle billigten seine Ratschläge schweigend. „Achtet darauf, Genossen", bemerkte Schotte, als sie die Beratung beendet hatten, „dass sich keine faulen Elemente unter eure Leute schleichen. Die Verräter sind schön wieder am Werk, unsere Mühe unmöglich zu machen." Seine Augen verrieten einen geheimen Schmerz und Verachtung.
Die Bauersleute saßen in der gegenüberliegenden Kammer und schliefen nicht. Sie waren anscheinend noch nicht beruhigt, und der Bauer kam wieder hervor, als die Gruppen, die Schotte als Reserven bestimmt hatte, ankamen. Sie sollten teils in der Scheune, teils in anderen Unterkünften untergebracht werden, damit man sie jederzeit in der Nähe hatte.
Der Bauer sah düster zu, wie der Schwarm in die Scheune zog, schüttelte den Kopf und ging wieder in seine Stube.
Die Beratung der fünf Männer in der anderen Stube dauerte lange. Sie hatten Kuriere in Bewegung gesetzt, die mit Meldungen hin und her liefen, und es wurden auch wieder neue Patrouillen ausgeschickt, die das Gelände und den vorn liegenden Wald abstreiften. Die Grünen und die Reichswehr hatten sich anscheinend aus den Wäldern hinter den Bahndamm zurückgezogen. Und es schien, als zögen auch sie Verstärkungen heran; denn man hörte eine lebhafte Geschäftigkeit hinter dem weitgestreckten Bahndamm.
Die Hamborner und Duisburger jenseits der Lippe beabsichtigten, am frühen Morgen die Brücke anzugreifen, hinter der mehrere Maschinengewehrnester der Reichswehr eingebaut waren. Die diesseits liegenden Kompanien sollten den Angriff unterstützen. Man verständigte sich untereinander, dass der Angriff um die sechste Stunde beginnen sollte, und man teilte es auch den vorn liegenden Abteilungen mit, dass sie sich darauf vorbereiten sollten.
Schotte, den man ohne eine besondere Wahl als den leitenden Mann des bevorstehenden Kampfes anerkannte, schickte noch einige Boten nach der Kommandantur, um noch Verstärkung heranzuholen, und mit dem Bericht über die noch schwach oder gar nicht besetzten Strecken hinter dem Bahndamm, von wo aus man einen vielleicht geplanten Angriff der Reichswehr durch ein Flankenfeuer behindern oder ganz verhindern konnte. Die Verwirrung und Erschöpfung des vergangenen Tages hatten sich auch im Ort anscheinend wieder gelegt. Die Kommandantur war durch einige energische Männer verstärkt worden, die jetzt eiliger arbeiteten. In der Nacht waren neue Transporte bewaffneter Arbeiter angekommen, und man konnte an der ganzen Front die Geräusche einer lebhaften Bewegung hören.
Die Nacht ging wieder zu Ende, aber der Nebel wallte noch immer, und die Männer, die sich überall im Wald und hinter den Bodenerhebungen eingegraben hatten, froren. Sie wurden schon ungeduldig und riefen jedes Mal, wenn Franz oder ein anderer der leitenden Leute herankamen: „Macht doch, dass wir vorwärts kommen!"
Auch Renteleit empfing Franz Kreusat unzufrieden: „Was habt ihr denn so viel zu beraten. Ihr macht's ja bald wie die anderen. Wir sind ja stark genug und können vorgehen."
Franz Kreusat dachte an die Umsicht Schottes und beruhigte Renteleit: „Wir haben vor uns einen gut organisierten Feind und werden noch schwer zu kämpfen haben. Seid nicht ungeduldig."
Renteleit brummte: „Langweilige Gesellschaft."
Der Angriff war auf sechs Uhr festgesetzt. Franz sollte vom Schloss aus mit seiner ausgeschwärmten Abteilung gegen den davorliegenden Wald vorgehen. Die letzten Minuten rückten heran, und eine ungeheure Spannung lag über allen. Vorn im Wald, den sie gleich beschreiten mussten, knallten vereinzelte Schüsse und schoss zuweilen ein Maschinengewehr der Reichswehr, die allem Anschein nach wieder einige größere Posten vorgeschoben hatte. Als sie noch lagen, dröhnten drüben mehrere schwere Abschüsse, und die Granaten strichen heulend und knapp über den Wald und entluden sich krachend in der Richtung des Bauernhauses. Einige Schrapnells platzten gerade über dem Wald, und die schweren Bleistücke schlugen um die Deckungen der Abteilung herum ein. Die Männer lauschten ängstlich den neuen Abschüssen und duckten sich, wenn die Granaten wieder heranheulten.
Ein Radfahrer kam den Waldweg herauf. Er warf das Rad hin und fragte: „Wo ist denn euer Abteilungsführer?"
Franz meldete sich.
Der Kurier sagte: „Stell deine Uhr, in drei Minuten geht es vorwärts."
„In drei Minuten!"------
Zwei Minuten!------
Eine Minute!------
Sie standen auf und gingen in mehreren Schwarmlinien vorwärts.
Auch die Hamborner und Duisburger jenseits der Lippe waren aufgestanden und liefen eilig gegen die Brücke. Die bislang fast atemlose Stille löste plötzlich der Donnerlärm der Granaten und das Geknatter der Maschinengewehre ab. Die Reichswehr beschoss die stürmenden Hamborner mit ganzen Salven und Schrapnells.
Franz, der gelegentlich zwischen den Bäumen hinschaute, konnte sehen, wie dort mehrere der Stürmenden hinstürzten, um sich nicht wieder zu erheben. Der Wald stand noch wenig unter Feuer, und Franz rückte mit seiner Abteilung eilig vor, um den Waldrand zu erreichen.
Die Reichswehr und die Grünen hatten den Sturm jenseits der Lippe abgeschlagen, und der Angriff drohte zu stocken.
Zur rechten Seite, soweit es Franz überschauen konnte, rückten ihre Kompanien weiter vor, und die ersten hatten schon das gegenüberliegende Waldstück erreicht. Die Reichswehr hatte wohl alle ihre Kräfte eingesetzt, denn jetzt wurde auch der Wald mit einem Kugelregen überschüttet. Franz Kreusat wandte von Zeit zu Zeit den Kopf, um nach dem Jungen zu sehen, der hinter ihm herlief, und riss ihn zuweilen, wenn die Kugeln zu nahe und dicht einschlugen, zu Boden. „Duck dich, Jung, rühr dich nicht."
Endlich war er nach einigen weiteren Sprüngen an dem Waldrand angekommen und zog den Jungen wieder neben sich hin. „Bleib liegen und beweg dich nicht, bis die anderen alle herangekommen sind!" Er sah sich um. Gaida sprang mit seinem Maschinengewehr und mit einigen anderen Leuten heran und warf sich in seine Nähe. „Der Kaluga ist liegengeblieben", sagte er, noch schwer atmend.
„Der Kaluga -". Franz starrte zurück, als müsste Kaluga doch noch nachkommen, aber der blondlockige Kumpel stand nicht mehr auf. Eine Kugel hatte seinen Kopf getroffen. Noch einige andere fehlten, wie er mit einem Umblick mit Entsetzen feststellen musste. Vielleicht waren sie mit anderen Gruppen mitgerannt. Vielleicht...?
Er wollte nicht daran denken. Vom Bahndamm her flammten die Schüsse, und die Kugeln schlugen rund umher und in die Bäume ein. Aus einem Bahnwärterhaus schossen mehrere Maschinengewehre herüber. Gaida richtete sein schweres Maschinengewehr dorthin und schoss auf den kleinen Bau. Zu ihrer Rechten gingen die Kumpels immer noch weiter vor; sie hatten eine größere Strecke zu überqueren, und ein heftiges Feuer hatte sie empfangen, als sie über das freie Gelände liefen. Auch dort lagen einige und bewegten sich nicht mehr.
Therese und die beiden anderen Frauen hatten ihre schwere Pflicht aufgenommen. Man brachte die ersten Verwundeten und auch den toten Johann Kaluga. Während sie die ersten verbanden, kamen andere Verwundete an, die sich stumm verbinden ließen.
Therese fragte den Wirrwa, der mit einem Armschuss gekommen war, nach Franz.
„Er lebt noch, ich hab' ihn vorn am Waldrand gesehen", sagte Wirrwa.
Therese fuhr sich heimlich mit der Hand über ihre Augen und verband den nächsten Verwundeten. Es war einer der Neuangekommenen, ein schmächtiger Mensch. Er trug schon die Zeichen der Grube, einige blaue Narben, in seinem jungen Gesicht.
Der Bauer war mehrere Male verstört herausgekommen. Er ging in die Scheune, blickte auf die blutenden Verwundeten, schüttelte den Kopf und ging wieder zurück ins Haus. „Ein Unglück, ein Unglück!"
Die Bäuerin saß in ihrer Stube und betete.
Die Hamborner hatten wieder die Brücke gestürmt, und auch dieser zweite Angriff war in dem heftigen Schrapnellfeuer der Reichswehr zusammengebrochen. Die Reichswehr schoss jetzt aus Minenwerfern gegen den Wald. Mehrere der Minen schlugen in der Nähe des schweren Maschinengewehrs ein. Die nächste Mine konnte es treffen und die ganze Mannschaft töten.
Gaida wechselte den Platz; er kroch mit seinen vier Leuten und mit dem Maschinengewehr einige dreißig Meter vorwärts, wo eine Grube war und eine kleine Bodenerhöhung, hinter der er besser geschützt war. Franz Kreusat bewunderte im stillen Gaidas Ruhe und Mut; er dachte an die Frau, die dem Mann morgens das letzte Stück Brot reichte, und wie er aus Sorge um die Kinder dieses letzte Brot zurückwies. Die Frau erwartete ihn sicherlich lebend wieder. Er kroch zu ihm hin und sagte: „Überlass mir das Gewehr und geh' du etwas zurück, du musst dich deinen Kindern erhalten."
Gaida sah ihn unwillig an: „Die anderen haben auch Kinder, willst du sie alle zurückschicken? Ich will nicht eine Ausnahme sein."
Franz Kreusat kroch wieder zurück. Der Junge schoss, das Gesicht fiebrig rot und fast ungedeckt, aus seinem Gewehr gegen den Bahndamm. Franz zog ihn in eine Vertiefung, die besseren Schutz bot.
„Da vorn konnte ich sie besser sehen, die Hunde", protestierte der Junge voller Hass.
Der Angriff stockte. Immerfort entluden sich die Schrapnells krachend über dem Wald. Und die Maschinengewehre hinter dem Bahndamm hämmerten gegen die umkämpfte Brücke. Einige schwere Kanonen dröhnten, anscheinend von Wesel her, und die Granaten fuhren wieder heulend über den Wald und hinter die Lippe.
Schotte kam an und warf sich neben Franz hin. „Ein elender Kram. Wir haben schon eine Menge Verwundeter, und einige unserer Jungens sind gefallen. Wir müssten Kanonen haben, um diesen verfluchten Bahndamm auszuräuchern. Es stehen zwar einige hinten auf der Straße, aber es fehlt die Munition. Grabt euch etwas ein", befahl er, „man hat uns noch Hilfe versprochen, und wir können vielleicht bald weiter vorgehen."
Es ging schon wieder gegen Mittag, und sie lagen immer noch im Wald. Das Feuer wurde auf beiden Seiten gelegentlich schwächer und stieg wieder an, und oft zu voller Heftigkeit, wenn sich die Hamborner jenseits der Lippe zu einem neuen Vorstoß anschickten. Die Reichswehr suchte mit ihren Minen Gaidas Maschinengewehr, das sie anscheinend noch am Waldrand stehen glaubte, und die Gruppen mussten oftmals ihre Deckungen wechseln, weil die Minen häufig den Waldrand trafen.
Gaida schoss immer wieder gegen das Bahnwärterhäuschen, wo die Reichswehr saß, und auch die Hamborner schossen mit mehreren Maschinengewehren hin. Endlich sah Gaida, dass einige Uniformierte aus dem Häuschen herausliefen und hinter dem Bahndamm verschwanden. Diese Maschinengewehre waren jetzt still. Aber vom Bahndamm her erhob sich wieder fast eine ganze Stunde lang das rasende Feuer. Mehrere Minen schlugen jetzt in bedenklicher Nähe vor Gaidas Gruppe ein. Die Reichswehr hatte ihn endlich bemerkt. Und nun folgte Mine auf Mine. Gaida fluchte und kroch mit dem Maschinengewehr in den Wald zurück.
Die Hamborner hatten schon vier, fünf Angriffe gegen die Brücke unternommen, und alle waren gescheitert. Schotte zögerte, mit den wenigen Kompanien über das offene Land gegen den Bahndamm vorzugehen, und so lagen sie schon wieder mehrere Stunden und warteten. Es ging wieder langsam gegen Nachmittag und zum Abend. Der Nebel stieg wie gestern auf, er verhüllte das Feld und den Wald und brachte den abgehetzten Männern etwas Ruhe.
Therese hatte schon viele Verwundete verbunden. Die noch gehen konnten, waren allein zurückgegangen; die anderen lagen still oder stöhnend auf dem Stroh in der Scheune. Mehrere Sanitätsleute, die den Frauen zu Hilfe gekommen waren, schaufelten mit anderen im Wald Gräber für die Toten. Auch Johann Kaluga wurde in eines dieser Gräber gebettet.
Einmal kam Franz Kreusat. Therese fiel ihm aufschreiend um den Hals: „Franz, ich kann nicht mehr, es ist so schrecklich."
Er strich ihr über das erschöpfte Gesicht und setzte sich nieder. Auch er war zu Tode erschöpft. „Der Kampf stockt!" sagte er verzweifelt.
In der Nacht kamen noch mehrere Abteilungen an. Schotte, der den ganzen Tag von Abteilung zu Abteilung gelaufen war, saß übermüdet in der Kammer vor der Karte. Der Angriff auf die Stadt konnte nur gelingen, wenn sie von jenseits des Bahndamms eine stärkere Unterstützung bekämen. Aber dort rührte sich nichts, und sie opferten sich hier umsonst. „Kanonen fehlen uns, Kanonen!" sagte er wieder zu Franz Kreusat. „Die Söldner fühlen sich auch durch die belgischen Besatzungstruppen in Wesel geschützt, aber wir würden sie da herausholen, wenn wir einige Dutzend Kanonen hätten und wenn sich unsere Menschen etwas mehr aufraffen würden. Aber es scheint schon wieder alles zu stocken. Hör dir mal die Reden der Neuangekommenen an: Hinten streiten sie sich wieder, ob man den Kampf fortsetzen oder aufgeben soll. Und Severing hat sich nach Bielefeld aufgemacht, um zu vermitteln."
Viele der Neuen waren tatsächlich schon mit zwiespältigen Meinungen gekommen. Man rede von Waffenstillstand und Waffenruhe und von Verhandlungen. Man hätte schon einige Transporte unterwegs aufgehalten: der Kampf sei abgebrochen, und die verschiedensten Gerüchte gingen in den Städten umher. „Wir wollen uns trotzdem durch das ganze Gerede nicht beirren lassen", sagte Schotte, „wir bleiben hier. Hoffentlich setzen sich unsere Genossen durch. Wir dürfen diesen opfervollen Kampf nicht in letzter Minute abbrechen und alles wieder den Söldnern und Watter überlassen. Geh du wieder zu deinen Leuten und sorge dafür, dass sich auch unter ihnen nicht diese verfluchte Krankheit breit macht."
Franz verabschiedete sich von Therese und ging wieder nach vorn. Der Nebel wallte gespenstisch, und jeder Schrei eines aufgescheuchten Vogels erschreckte ihn diesmal. Er suchte Renteleit auf und legte sich neben ihn hin. „Nu, was gibt es", fragte Renteleit.
Franz konnte ihm die Verstimmung anmerken. „Wir müssen warten!" sagte er. „Vielleicht wird sich morgen alles wieder ändern, und wir können gegen die Stadt vorgehn."
Renteleit sagte ergrimmt: „Deine Hoffnungen. Aber hör dir mal die neuen Leute an, was sie reden. Verflucht, man könnte ihnen die Gewehre aus den Klauen reißen und sie wieder zum Teufel jagen. Sie schwätzen ja unsere Leute verrückt. Was treiben die denn hinten? Mich wird hier keiner von der Stelle bewegen. Dann rase ich schon lieber in das Feuer, ehe ich jetzt das Gewehr abgebe."
Franz begab sich nach einem kurzen Ausruhen an ihren linken Flügel. Auch da fragten ihn einige empört: „Was reden die Leute denn für einen Unsinn; man will verhandeln?"
Gaida, der sich schon die ganze Zeit mit den widerstreitenden Männern auseinandersetzte, antwortete zornig: „Lasst euch doch nicht scheumachen. Hört nicht auf das Gerede. Wir wussten, als wir hergingen, dass wir mit allen Feindseligkeiten zu tun haben. Die Schächte und Werke liegen noch still, und sie werden still bleiben, solange wir noch die Gewehre in unseren Händen haben. Wenn euch noch jemand mit so einem Gerede kommt, dann schlagt ihm aufs Maul. Da vorn liegen die Söldner, und mit diesen gibt es kein Verhandeln."
Der Junge neben Franz seufzte: „Gott sei Dank!"
Dunkel und neblig lag die Nacht über der Erde. Man schoss nicht mehr, man hörte nur Scharren und Hüsteln.
Im Wald brachen die von den Granaten getroffenen Bäume. In der Ferne ertönte ein Horn: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde..."
Franz Kreusat fühlte neue Hoffnung. Neue Hoffnung.
In Stoppenberg fand seit Stunden eine Beratung statt. Schigalski war gekommen und bestürmte Miller und Zermack, der Aufforderung der Regierung und der Gewerkschaften zu folgen. „Ihr seht doch", redete er sicherer, „die Leute sind alle müde, auch die Frauen kommen nicht mehr aus den Schrecken heraus. Wir können auch die Wirtschaft nicht so lange lahm legen, die Alliierten werden nur daraus ihre Vorteile ziehen und unter Umständen das Ruhrgebiet besetzen. Dann müsst ihr sowieso den Kampf abbrechen, und wer weiß, was dann noch folgt. Lasst euch also vernünftig zureden und sagt den Kumpels, dass sie wieder die Arbeit aufnehmen sollen." Er warf einen Seitenblick auf den unter der Fraktion der Zentrumspartei sitzenden Kranzmann. „Die Regierung und die Gewerkschaften stehen schon in Verhandlungen mit Watter, und wir hoffen, dass wir bald einen annehmbaren Frieden herstellen können."
Der Kranzmann nickte. Er hatte schon tags zuvor die Zechenboten in die Häuser geschickt, mit der Aufforderung an die Bergleute, die Arbeit wieder aufzunehmen. Er hatte in der Sitzung seine Maßnahme zu rechtfertigen versucht, dass zumindest die Notstandsarbeiten verrichtet werden müssten. Jetzt fühlte er Schigalskis Hilfe, doch war er klug genug, diesem das Ausfechten der peinlichen Debatte zu überlassen; er unterstützte ihn nur mit seinen verständnisvollen Blicken. Schigalski drängte: „Nun erklärt euch!"
Tauten saß verwirrt da. Stamm starrte unruhig darein, und Miller schwieg.
„Kann ich also die Nachricht mitnehmen, dass hier die Geschichte beigelegt wird?" nahm Schigalski wieder das Wort. „Mit den anderen Belegschaften wird auch schon verhandelt, und ich denke, dass sie morgen an die Arbeit zurückkehren werden." Er blickte sich um, sah Tauten an, der die Augen senkte, und sah Stamm an, der den Kopf schüttelte: „Nu, Genossen, redet!" erhob er seine Stimme. „Wir können es nicht bis zum Äußersten treiben."
„Na, redet doch!" rief auch Steiger Schulte und sah auf den Kranzmann.
Miller, der die ganze Zeit geschwankt hatte, sagte endlich: „Wir können hier nicht ohne die anderen, die noch kämpfen, eine Wiederaufnahme der Arbeit beschließen." Zermack regte sich jetzt ebenfalls aus der Erstarrung. „Solange noch einer dieser Söldner ein Gewehr in der Hand trägt, wehre ich mich entschieden gegen solche Beschlüsse. Wenn wir jetzt nachgeben", sagte er erzürnt, „dann kommen sie wieder, und dann werden wir noch mehr opfern müssen. Die Schächte sollen lieber versaufen, als dass ich die Kumpels auffordern werde, wieder unter den alten Bedingungen hineinzukriechen!"
Schigalski fragte Tauten: „Und was sagst du?" Tauten erhob den Kopf und tastete mit den Händen auf dem Tisch umher. „Ich weiß nicht, wozu ich mich entschließen soll..." Er breitete die Arme hilflos aus und ließ sie wieder auf den Tisch fallen. Nach einer Weile erst, während ihn Schigalski voller Ingrimm anstarrte, sagte Tauten wieder: „Dem einen Vorschlag will ich schon zustimmen, dass die alte Polizei wieder den Innendienst verrichtet und dass man hier eine andere Ordnung schafft, aber ich kann mich noch nicht für das andere entscheiden."
„Und du?" wandte sich Schigalski an Stamm.
Stamm, der auch geschwankt hatte, richtete sich auf. Er antwortete: „Ich bin derselben Meinung wie Zermack, wir können jetzt nicht abbrechen, wenn unsere Menschen draußen dem Tode ausgesetzt sind. Ich traue diesen neuen Verhandlungen nicht mehr, und mögen die Regierung und die Gewerkschaften auf einen guten Ausgang schwören. Man hat uns schon zu oft betrogen."
„So schließt du dich selber von der Partei aus", bemerkte der Parteisekretär, der seine Wut nicht mehr unterdrücken konnte. Stamm antwortete ihm mit einem offenen Blick: „Die Partei geht falsche Wege, und ich kann diese Wege nicht mehr mitgehen. Wenn du glaubst, dass ich mich mit meiner Meinung aus der Partei ausschließe, dann setzt sie das Unrecht fort." Er zog sein Buch heraus und sagte: „Zwanzig Jahre habe ich geglaubt, dass die Partei einmal diesen Kampf führen wird und ein Ende mit dem ganzen Betrug macht. Aber heute bin ich belehrt, dass sie immer mehr auf Abwege gerät. Ich zähle mich nicht mehr als Mitglied dieser Partei." Er nahm seine Mütze, strich mit der Hand über die müde Stirn und ging. Auch Zermack und Raup erhoben sich und gingen mit. Miller folgte ihnen, indem er noch einmal zu Schigalski sagte: „Ich bin dafür, dass wir alle fragen."
Schigalski rief sie noch einmal in der Tür an: „Also, ihr wollt euren Kopf durchsetzen?"
Zermack drehte sich um: „Du kennst unsere Meinung. Wir geben nichts auf, bis wir den Beweis haben, dass alle Söldner entwaffnet sind und kein Watter mehr hier etwas zu bestimmen hat."
Tauten war geblieben.
Schigalski überschüttete ihn mit Vorwürfen. „Du bist ein Narr geworden. Du hast die Meinung der Partei aufgegeben und hast all diesen Widerspruch mit verschuldet. Wir hätten uns jetzt besser durchsetzen können, wenn du nicht wahnsinnig geworden wärst."
Auch Schulte, der sich mit dem Betriebsführer erhoben hatte, sagte vorwurfsvoll: „Wie können Sie nur so unvernünftig sein. Es kann sich in wenigen Stunden alles wenden, und dann wird auch Ihnen jede Verantwortung angehängt!"
Der Kranzmann lächelte eisig und nickte.
Tauten schüttelte den roten Kopf. Er stand auf und ging stumm hinaus. In neuem Zwiespalt ging er nach Hause. Er wollte an diesem Abend nicht nach der Wache zurückgehen, weil er befürchtete, dass er auch dort mit Vorwürfen empfangen würde.
Ein schwerer Wagen mit einer Abteilung bewaffneter Kumpels rollte in der Mittelstraße an ihm vorbei. Er hörte den Gesang: „Dem Karl Liebknecht haben wir geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand...", aber er erhob diesmal den Kopf nicht. Er ging mit sich zerrissen weiter und dachte nur: Wem soll man recht tun. Wem?
In den Wohnungen war noch hier und da ein Lichtschein zu sehen. Die Frauen wachten noch und warteten auf ihre Männer, die vor Dinslaken lagen.
Auch seine Frau wachte und wartete auf die Tochter. So wachte sie schon seit mehreren Nächten. Sie streichelte den Stuhl, auf dem das Mädel einmal gesessen hatte, sie ging in die Kammer und fuhr mit der Hand über das Kissen, auf dem das Kind immer gelegen hatte. Sie hatte viele schwere Tage durchgemacht, Streiks und Krieg und alle Sorgen, aber diese furchtbare Seite des Lebens hatte sie noch nicht gekannt. Die Sklavin dieses ihres Lebens, und immer untergeordnet dem eigensinnigen Mann, war sie in den letzten Tagen völlig eingeschüchtert. Sie kannte sich in ihrem Mann nicht mehr aus, sie kannte sich in sich selbst nicht mehr aus. Sie hatte gespart und gescharrt und allen gedient und alle umsorgt. Da war die hübsche Küche, da hatte sie ihm das gute Zimmerchen eingerichtet und das Ledersofa beschafft und gesorgt und gesorgt. Und nun trieb sie der Mann und das Kind in diesen Widerspruch, in dieses Durcheinander, in dem sie sich nicht mehr zurechtfinden konnte.
Der Mann kam herauf, gebeugt und vergrämt. Er zog sich gleich aus und legte sich ins Bett. „Was ist mit dir?" fragte sie.
Er sagte: „Es geht zu Ende." „Aber das Kind ist doch noch nicht hier", klagte sie.
Er gab keine Antwort.
Draußen auf der Straße schritten Henke und Stamm mit den umgehängten Gewehren. Sie kamen an Werners Schenke vorüber, in der wieder Abendgäste waren.
„Sie kriechen wieder aus ihren Löchern", bemerkte Stamm, der auf diese Beamten- und Krämergesellschaft, die drinnen verkehrte, nicht gut zu sprechen war. Er horchte einen Augenblick an einem der hochangebrachten Fenster.
„Die werden uns schon wieder das Urteil sprechen, diese Bande", lachte er böse und wandte sich von dem Fenster ab. „Sie scheinen alle mitbeteiligt gewesen zu sein", sagte er, als er mit Henke weiterging. „Jetzt tauchen sie alle nacheinander wieder auf! Sie wagen sich aus den Verstecken heraus."
Stamm hatte recht: Sie tauchten einer nach dem anderen wieder auf und versammelten sich wie früher in der Kneipe.
Der Schwerlich war einen Tag später als Kleinemann und der Stübel einige Tage später als Schwerlich nach Hause gekommen.
Willi Werner und Heumisch wagten anscheinend noch nicht, sich sehen zu lassen, und hielten sich wohl in der Stadt in irgendwelchen Schlupfwinkeln auf.
Herr Kleinemann hatte bereits wieder einige Gänge in den Ort unternommen, um etwas über den Verbleib der anderen zu erfahren.
Auf einem dieser Gänge hatte er den Schwerlich getroffen, der ihm aber offensichtlich ausgewichen und, als ob er ihn nicht gesehen hätte, mit einigen eiligen Schritten in seinem Haus verschwunden war.
Herr Kleinemann hatte erst die Absicht, dem Bäcker in das Haus nachzugehen, weil ihn Schwerlichs Benehmen etwas beunruhigte - sein Bengel hatte den Vorwurf „Feigling" noch einige Male gebraucht -; vielleicht dachte auch der Bäcker so über ihn; das war der Grund seiner Unruhe. Er beschloss, noch ein wenig zu warten, denn auch Schwerlich konnte plötzlich seine Fahne umgesteckt haben.
An diesem Abend aber - es hatte ihn in die Wernersche Kneipe mit Macht gezogen - traf er drinnen beide, Schwerlich und Stübel. Sie erzählten anscheinend Frau Werner von ihren Heldentaten, die sie selbstverständlich zusammenlogen, aber als sie ihn hereintreten sahen, waren alle sofort still geworden. Sie umlauerten darauf einander wie misstrauische Hunde, und keiner wollte zuerst, weder Schwerlich und Stübel noch Herr Kleinemann, mit einer offenen Frage herausrücken. Schließlich seufzte die Wirtin: „Jaja, es sind schon schlimme Zeiten."
Ja", brummte Stübel mit einem schiefen Blick auf den Krämer, „es sind wirklich schlimme Zeiten." Auch der Bäcker wiederholte: „Böse Zeiten!" Herr Kleinemann dachte sich: Wollen die aus mir vielleicht was herauslocken? Ich werde mich hüten, darauf zu antworten. Bin schon einmal schwer hineingeritten worden. Aber etwas musste er doch antworten, und er ließ nur sein absolut unverfängliches „Jajaja" hören. „Jaja", seufzte auch die Wirtin. Endlich forschte Stübel vorsichtig: „Na, Krämer, wo hast du dich so lange rumgetrieben?"
Herr Kleinemann schielte den Gemüsehändler über den Rand des Bierglases an, aus dem er gerade einen Schluck nehmen wollte. Er trank den Schluck und wandte sich Stübel zu: „Wo soll ich mich rumgetrieben haben? Wo habt ihr denn euch die ganze Zeit rumgetrieben?"
Die beiden anderen antworteten nicht gleich. Schließlich seufzte wieder die Wirtin: „Schlimme Zeiten, ja!"
Schwerlich wagte endlich eine neue Frage: „Sind Sie noch gut abgekommen an dem Morgen, Herr Kleinemann? Sie waren plötzlich verschwunden, und man hat sich allerlei gedacht. Ich dachte mir, der hat eins abgekriegt, und hab' Sie tatsächlich schon aufgegeben!"
„Das haben Sie gedacht?" sagte Herr Kleinemann erleichtert. Nach und nach wich die Mauer der Misstrauens, und eine halbe Stunde später wusste Frau Werner die ungeheuerlichsten und mutigsten Geschichten über des Krämers Rettung, der sich allein durch die ganzen Haufen der rasenden Roten durchgeschlagen hatte.
Erst als Herr Kleinemann draußen die Schritte der beiden Wehrleute hörte, ging er verstummt wieder an die Theke, wo er mit einem ängstlichen Hinaushorchen sein Bier austrank.
„Vielleicht hab' ich der hinterhältigen Gesellschaft zuviel erzählt!" fragte er sich. „Vielleicht sind die beiden auch umgeschwenkt und verschwatzen mich den Roten!"
Auch der Bäcker und der Gemüsehändler waren still geworden. Und wieder folgte das gegenseitige Belauern, wie vorher beim Eintreten des Krämers.
Schwerlich brach mit einem: „Jaja, schlimme Zeit!" auf. Auch Stübel sagte doppelsinnig: „Es ist besser, man hält den Schnabel heut!" und ging auch.
Herr Kleinemann zahlte ebenfalls und ging unter einem neuen Alpdruck nach Hause.
Diese Nacht verbrachte er fast schlaflos. Jeden Augenblick glaubte er Stübels oder Schwerlichs böse lachende Stimmen zu hören: „Ja, das hat er uns alles erzählt!"
Kalt, eisig ist die Erde, der Nebel hüllt sie alle wie in ein Leichentuch ein. Leben wir morgen noch? Sind wir tot? Egal! Egal?
Nein, sie wollten leben.
Auch Franz wollte leben. Auch der kleine Heise und auch der an seiner linken Seite liegende bittere Matucha. Er hatte Franz erzählt, dass er sich mit seiner Frau nicht mehr verstehe. Sechs Kinder, ewige Armut und Streit. Die Armut hatte sie zu Feinden gemacht; Menschen, die sich einst gern hatten, zu ergrimmten, einander quälenden Menschen. Nächte voller Flüche, Tage voller Streit. Aber er war nicht deshalb hier, der Matucha. Er sah, dass die vielen mit dem Gewehr losgingen, und hatte auch eins genommen.
Franz Kreusat vermisste Thereses Stimme. Er merkte erst jetzt, dass er sie sehr gern hatte.
Die Nacht wich. Im Wald klirrten Spaten und Gewehre. Der Nebel hing noch dicht und grau vor ihnen, aber es fielen schon die ersten Schüsse. Das Getöse der neuen Schlacht schwoll an, und der Wald kreischte und schrie unter den prasselnden Geschossen.
Die Hamborner griffen wieder die Brücke an. Da und dort ächzte auch wieder einer von Franzens Leuten auf. „Matucha, komm hierher!"
Matucha kroch näher. Er seufzte: „Das elende Weib. Immer muss sie mit dem Streit anfangen; man hat sich noch nicht einmal im Guten verabschiedet." Vielleicht graute ihm doch jetzt vor dem tödlichen Feuer. Er war ein schwacher Mensch, aufgefressen von der Grube. Der Steinstaub hatte seine Brust verschlackt, seine Augen quollen hervor, als er Franz erreichte, der einige fünfzig Meter vorwärts ins Land gerannt war. Sie griffen an.
„Meine Alte verflucht mich!" lächelte Matucha aus dem mageren, faltigen Gesicht. „Aber sie soll nicht mich verfluchen. Sie soll das Elend verfluchen und die Canaillen, die es uns bereitet haben." Er schob sein Gewehr vor, unsicher, er war ja kein Soldat gewesen, und man hatte es ihm erst unterwegs beigebracht, wie man schießen sollte. Er zauderte erst, als überlegte er. Aber dann schoss er; die drüben schossen ja auch auf sie. Sie hatten Handgranaten geworfen in der Stadt und ihre Hungerleider damit zerfetzt. Matucha schoss und drückte, als erschrecke er vor seiner Handlung, den Kopf gegen die Erde. Doch gleich schob er wieder das Gewehr vor und schoss. Ein bleiches, böses Gesicht.
Diese Tage hatten sie alle zu Hassgespenstern verwandelt. Watters Garde lag vor ihnen und zielte auf ihre Köpfe. Sie scharrten sich ein, denn sie kamen wieder keinen Schritt weiter, so schwer lag das Feuer auf dem Feld.
Franz Kreusat hörte sich ihre wütende Unterhaltung an.
„Die Söldner bekommen sechs Mark für den Tag. Dafür müssen sie aber ein Dutzend von uns totschießen." „Sie bekommen auch noch Kampfzulage." „Auch Speckzulage. Sie werden besser gefüttert als wir. Man konnte sie in Essen sehen, sie hatten dicke, fette Gesichter, diese Feldwebel!"
„Und dicke Schenkel, und einen strammen Schritt. Kasernenbullen von früher!"
Ja, diese Söldner drüben waren leere Seelen, tote Seelen; Henker, ums Geld.
Franz Kreusat schoss, und auch Matucha schoss. „Ziele genau, denn wir wollen keine Munition verschwenden."
Die Kanonen bumsten wieder in der Stadt Wesel. Die Herren Offiziere der Watter-Garde und diese belgischen Offiziere verstanden sich anscheinend gut. Die belgischen Generale und der deutsche General.
„Vorwärts, Unsere stürmen!"
Aus dem rechten Waldteil brachen die Arbeiter hervor. Ein Feuersturm empfing sie. Sie kehrten um. Eine Anzahl blieb liegen. Einige wanden sich, versuchten fortzukriechen, blieben wieder liegen.
„Vorwärts!" Auch die im linken Waldstück drangen hervor, und drüben hinter der Lippe stürmten die Harnborner. Sie sprangen über die Brücke. Auch dieser Angriff zerflatterte in dem Getöse und Krach der Schrapnells und der wahnsinnigen Geschoßsalven. Auch da lagen einzelne und wanden sich.
„Wir sterben hier alle", hörte Franz die Leute murren.
„Warum schicken die Herren vom Vollzugsrat nicht mehr Verstärkung her?"
Einer schrie: „Die Herren sitzen in Sicherheit und vergessen uns hier. Sie sitzen warm und sicher und denken nicht daran, dass wir hier verbluten müssen!"
„Halt dein Dreckmaul !"schrie ein anderer. „Ihr hättet daheim maulen und darauf drängen sollen, dass sie aus ihren Buden rauskriechen und hier mithelfen." Es war ein schwarzes, stoppliges, wildes Gesicht mit Augen wie glühende Kohlen.
Hass! Groll! Bitterkeit!
„Vorwärts, wir stürmen!"
Sie erhoben sich und liefen wieder einige fünfzig Meter weiter. Der Tod griff auch nach Franz mit tausend Krallen.
„Matucha, Josef, wirf dich hin!"
Matucha kroch seufzend zu ihm. Von seinem Kopf strömte Blut. Er drückte den Kopf gegen die Erde und atmete schwer.
Franz rüttelte ihn voller Angst, und Matucha öffnete wieder die Augen.
Ein Melder kroch heran und befahl ihnen: „Ihr müsst zurück in den Wald!" Sie krochen zurück, mühsam. Franz Kreusat half Matucha, der halb ohnmächtig war. Der Wald stöhnte und schrie in der schauerlichen Melodie der Schlacht. Die Kanonen der Reichswehr dröhnten, und die Geschosse fuhren heulend über sie hinweg und warfen, aufbrüllend, Äste und Baumwipfel gegen den hellstrahlenden Himmel.
„Verflucht, warum schicken die Hunde keine Verstärkung."
„Sie wollen verhandeln! Als wir herkamen, da hörte man sie überall davon reden, dass sie wieder verhandeln wollen; deshalb lassen sie uns wenige hier krepieren!"
„Wenn sie verhandeln, dann werden wir ihnen das Verhandeln noch unterbinden. Wir werden hier mit den Knarren hinziehen und knallen die ganze Saubande über den Haufen, denn mehr sind sie nicht wert!"
„Es wird vielleicht günstige Bedingungen geben: Zurückziehung der Reichswehrtruppen und der Grünen. Aber dann müssen auch wir etwas nachgeben", redete einer, der schon am vergangenen Abend von Verhandlungen und von wahrscheinlichem Abbruch des Kampfes geredet hatte. Er hatte ein Gesicht wie der Schigalski, das immer und überall wie eine lebendige Ermahnung und Warnung auftauchte.
„Schwatz keinen Dreck!" grollte ihn das schwarze, stopplige Gesicht an. Es war ein noch junger, vielleicht dreißigjähriger Bergmann aus Hamm. Er trug eine zerfetzte Matrosenbluse, an der noch die verschlissene rote Kokarde steckte. Überall glaubte Franz Kreusat seinen Kahlstem und Kramm und den kleinen Christian Wolny zu sehen, von dem er seit Tagen nichts mehr gehört hatte. Überall lag und ging und marschierte ihr Kiel mit.
„Wo mag Christian geblieben sein?" fragte sich Franz, während sie wieder in dem zerwühlten und stöhnenden Wald lagen. Er wusste nicht, dass Christian drüben bei den Hambornern wie rasend noch immer mit seinem Maschinengewehr schoss, Martin Kaminski an seiner Seite, der ihm seit Essen gefolgt war. Christian Wolny lebte. Und er wollte nicht eher zurückgehen, bis die rote Fahne, wie er sich geschworen hatte, wie auf seinem Kasten, auch über Wesel und über dem Kohlenpott wehte.
Matucha hatte sich ein Stück seines Hemdes um den blutenden Kopf gewickelt.
„Mensch, geh doch zurück und lass dich von den Frauen verbinden", bedrängte ihn Franz schon mehrere Male. „Und du", ächzte Matucha. „Du bleibst hier liegen?" „Los, nehmt ihn unter den Arm", befahl Franz zwei anderen Leuten, „und führt ihn zu der Verbandstelle." Der Mann mit dem Schigalski-Gesicht und noch ein anderer führten Matucha weg.
Matucha protestierte: „Und ihr? Ich kann doch nicht weg."
„Die werden auch bald zurückmüssen", beruhigte ihn der Mann mit dem Schigalski-Gesicht. Er schien sehr gern wegzugehen.
Franz sah sich nach Gaida und Heini Heise um, die während des Stürmens ihm aus den Augen gekommen waren. Er kroch die Strecke seiner Abteilung ab und fand bei einer Gruppe den Gaida. Sie drückten sich die Hand. Jeder sagte: „Gott sei Dank, du lebst!"
Franz Kreusat fragte nach dem Jungen. Der Kanonier antwortete: „Er ist mit einem Schulterschuss zurückgegangen."
Franz Kreusat fragte erschrocken: „Schlimm?"
Der Kanonier beruhigte: „Nein, ich glaube nicht, er lief ja noch. Er lief, blass, aber ganz glücklich, hinweg."
Heini Heise lief glücklich hinweg, weil auch er sein Opfer gebracht hatte; ja, er war stolz auf seine Wunde. Und er würde bald wiederkommen, versprach er sich. Auch er saß jetzt vor dem Bauernhaus und erzählte den anderen von dem ungeheuren Kampf vorn und dass sie bald in der Stadt sein würden.
Therese und die beiden Frauen hatten viel zu verbinden. Überall hockten Verwundete mit Schüssen in den Beinen und Brüsten und blutenden Köpfen. Therese verband sie bleich und erschöpft und gab ihnen Näpfe mit Kohlsuppe, die in der Küche des Bauern gekocht wurde.
Die Granaten schlugen in der Nähe des Hauses ein, aber Therese unterbrach ihre schwere Beschäftigung nicht. Sie ging wie versteint umher und holte die draußen wartenden Verwundeten herein und nickte nur, wenn man sie warnte, sie solle sich in acht nehmen.
Es ging in die zehnte Stunde. Die Schlacht ebbte ab. Die Männer lagen schweigsam und müde auf der Walderde. Der eine schlief, der andere grübelte über seine Familie nach, der dritte über den Wahnsinn, dass sie oben wieder verhandeln wollten.
Ob der General auf einen Waffenstillstand einging? Aber Severing nannte sich doch Sozialist. Auch Noske nannte sich Sozialist. Sozialisten, die nicht zu ihnen hielten. Sie waren für die III. Gardeschützendivision gewesen, sie waren für die Niederschlagung des Spartakusaufstandes, für den Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gewesen. Was hatte man von deren Verhandlungen zu erhoffen? Der General würde lächeln oder kurz sagen: „Die Bedingungen bestimme ich." Ja, so wird er reden. Und wenn er das nicht sagt, dann wird er doch nach seinem Willen handeln. Sie müssen weg, weg, die Bluthunde. Diese Generale! Die Krupps! Die Stinnes! Alle!
Der Kaiser riss aus, aber die anderen Wölfe blieben.
Es fiel kein Schuss mehr. Diese Stille bedrückte sie und schreckte sie mehr, als der vorherige Sturm. Jeder schien für sich zu liegen, ganz allein auf diesem toten Feld vor Wesel.
Im Wald kreischten die Vögel, die von dem Kampflärm erschreckt noch immer verwirrt im Astwerk umherflatterten.
Franz sah vor sich die kleinen Märzblumen. Er hörte die Lerchen aufsteigen. Es war Frühling.
Plötzlich dröhnten wieder Salven, und ein neuer Feuerkampf begann. Alle waren wieder da, bleich, stopplig, verdreckt, hohlgesichtig.
Um zehn Uhr kam ein Bote. Er sagte zu Franz Kreusat: „Es ist der Befehl gekommen, dass wir den Kampf abbrechen sollen. Man redet von einem Waffenstillstand."
„Waffenstillstand! Gott sei Dank!" schrien mehrere. „Gott sei Dank!"
Einige erhoben sich und wollten gleich zurückrennen. Franz Kreusat schrie, und auch der Kanonier schrie drohend: „Bleibt hier und rückt nicht gleich aus. Es ist sicherlich ein Betrug!"
Zwei, drei der Leute kamen wieder zurück, mürrisch und fluchend.
„Ihr hört doch: Waffenstillstand. Der Kampf soll aufhören."
„Wir bleiben hier, lasst euch nicht zu Narren machen", grollte der Kanonier. „Wir haben mit dem Waffenstillstand dieser Verhändler nichts zu tun." Auch Franz Kreusat sagte: „Wir bleiben hier. Wartet, bis sich Schotte meldet. Wir denken gar nicht daran, jetzt, wo die Grünen und die Reichswehr drüben noch liegen und noch immer unsere Leute abknallen, wegzugehen."
Die Unruhe war trotzdem geblieben. Die Kumpels sahen, dass sich überall einzelne erhoben und abzogen. Sie zogen ab, obwohl die Grünen wieder schossen.
„Die Hunde knallen uns noch in der letzten Minute ab. Die geben doch nichts auf den Waffenstillstand." Einer ächzte wieder. Eine Kugel der Grünen.
„Das ist der Waffenstillstand!" grollte Gaida. Er war nicht mehr der ruhige Mensch mit dem stillen, klaren Blick, er war eine einzige Wut und nur Hass. Er schoss mehrere Patronengurte gegen den verfluchten Bahndamm ab, gegen die Mörder.
Ein neuer Bote kam: „Es ist der Befehl gekommen, das Schießen zu beenden; es soll nicht mehr weitergekämpft werden."
„Die drüben schießen doch weiter", schrien mehrere.
„Die werden auch bald aufhören müssen. Auf beiden Seiten sollen die Kampfhandlungen eingestellt werden, und alles soll sich zurückziehen."
Die Lücken wurden offenbar größer. Jetzt liefen sie schon in Gruppen weg.
Gaida fühlte sich versucht, sein Maschinengewehr gegen die Zurückgehenden zu richten. „Die Narren, sie wissen nicht, was sie tun. Ich schieß sie alle über den Haufen! So ein Ende! Gottverflucht! Es muss jemand zur Kommandantur und dort sagen, was sie für einen Unsinn angerichtet haben."
Auch Franz hatte den Zurückkehrenden entsetzt nachgestarrt, aber er entschied nach einem schweren Kampf mit sich, zu bleiben.
Einige murrten: „Es ist unser Tod. Sie erschlagen uns hier. Wenn sie sehen, dass wir hier nur noch mit wenigen liegen, dann rücken sie vor und schlagen uns tot."
„Lasst uns lieber abziehen!"
Franz Kreusat erhob, sich aus dem furchtbaren Druck aufraffend, mit einer fremden Härte seine Stimme: „Genossen, ich befehle euch zu bleiben. Wir müssen hier ausharren, und wenn wir hier alle nicht mehr wegkommen. Es kann nicht möglich sein, dass alle mit diesem Waffenstillstand einverstanden sind. Bleibt und haltet auch die anderen zurück."
Er suchte eiligst Schotte auf, den er im Lippeschloss traf. Schotte setzte sich auch da mit den anderen heftig auseinander, die den Kampf abbrechen wollten. „Geht wieder nach vorn, keiner rennt weg, hört nicht auf den Schwindel. Wir glauben nicht eher daran, bis wir's schwarz auf weiß haben, dass die Grünen und die Söldner aus dem Ruhrgebiet raus sind."
Franz atmete erleichtert auf. „Also du meinst, wir sollen bleiben. Auch bei mir ist schon fast die Hälfte aufgebrochen."
Schotte schrie zum ersten Mal außer sich: „Holt sie wieder alle zurück und knallt die Querulanten ab, die uns die Menschen verrückt machen."
Franz lief zurück zu seinen Leuten. „Wir bleiben!"
Mehrere, die sich schon erhoben hatten, legten sich verdrossen wieder hin. „Es ist doch Unsinn, hier noch zu liegen, wenn die anderen alle abziehen. Es ist unser Verderben."
Und wieder gingen einige weg.
Die Abziehenden stießen unterwegs auf neue Abteilungen, die nach vorn gingen.
Ein Abteilungsführer trat ihnen entgegen und schrie empört: „Was ist denn los? Warum macht ihr Schluss?" „Man sagt doch, es ist Waffenstillstand!" „Es ist ein Schwindel, den die Herren da oben ausgeheckt haben", sagte der Genosse wütend. Er befahl: „Ihr geht alle wieder nach vorn, es wird weitergekämpft !" Er trieb die eine Schar zurück. Aber sie stießen auf neue Flüchtende. Diese riefen aufgeregt: „Die Grünen gehen gegen den Wald vor. Es ist nichts mehr zu halten."
„Verflucht", schrie der kleine, breite Mann wütend, „rennt doch nicht alle fort, es wird weitergekämpft. Wer zurückrennt, den schieß' ich eigenhändig nieder." Aber die Flüchtenden stießen ihn beiseite und zogen zurück. Franz Kreusat sah voller Bitterkeit, dass sich trotz seiner Ermahnungen auch von seinen Leuten einige und dann mehrere erhoben und davonliefen. Er sagte zu Gaida: „Es ist unser Ende. Aber wir bleiben." Er fühlte, bald würden nur sie beide hier allein liegen. „Schieß, da kommen die Grünen!" bemerkte er plötzlich.
Die Grünen und die Reichswehr kamen über den Bahndamm, einzeln und in Trupps, mit den Gewehren unter dem Arm, wie zu einer Jagd. Gaida legte sich hinter sein Maschinengewehr und schoss. Franz führte ihm den Patronengurt zu. Er hörte die anderen ängstlich fluchen und schreien: „Lasst uns doch weggehen, wir werden jetzt nichts mehr ausrichten können. Sie sind bald hier und schlagen uns tot."
Gaida, der das Vorrücken der Grünen eine Zeitlang aufgehalten hatte, rief heiser: „Munition!" Sie hatten keine Munition mehr.
Franz sah sich um und rief einigen der Kumpels, die noch dalagen, zu: „Sucht schnell noch Maschinengewehrmunition."
Aber diese hörten es nicht mehr, denn die Grünen waren wieder aufgestanden und gingen von neuem vor, wie die Jäger.
Gaida, der den letzten Patronengurt abgeschossen hatte, starrte entsetzt auf die Grünen. Auch Franz fühlte seine Kehle zugeschnürt. Gaida sagte heiser: „Es hat keinen Sinn mehr, wir müssen weg."
Gaida nahm eine Handgranate, zog die Schnur ab, legte sie auf das Maschinengewehr, das er den Grünen nicht überlassen wollte, und auch sie liefen zurück. Hinter ihnen krachte die Handgranate. Überall gingen sie zurück. Eine völlige Auflösung.
Franz Kreusat und Gaida gingen bitter und schweigsam. Jetzt besann sich Franz wieder auf Therese: Hoffentlich war sie schon zurückgegangen! Er rannte nach dem Bauernhaus, wo ihn der Bauer mit einem verstörten Gesicht empfing. „Was ist jetzt wieder los? Jetzt kommen wieder die anderen, und das Elend fängt von neuem an!"
Franz fragte nach den Frauen. Der Bauer zeigte mit der Hand, dass sie alle zurückgegangen waren. Franz atmete auf. Sie gingen schneller. Sie trafen noch einige Verwundete und sahen da und dort einen Toten. Wesel! Sie taumelten als letzte zurück. Im Wald und auf den Wegen und gegen die Landstraße knallten die Schüsse der Grünen. Aus dem rechten Waldstück ritt Kavallerie hervor.
Franz und Gaida und noch einige andere warfen sich hin und schossen aus ihren Gewehren gegen die Husaren, „Unser Ende?" stöhnte einer neben Franz,
„Noch nicht!" antwortete Franz voller Hass. Er schoss und schoss wieder: „Noch nicht - noch nicht!"
Franz Renteleit, der während der letzten Angriffe unter eine andere Abteilung geraten und bei dieser geblieben war, hatte ebenfalls bis zur letzten Minute geschossen. Auch er war fast einer der letzten, die zurückgingen. Er taumelte erschöpft und voller Ingrimm zurück, blieb von Zeit zu Zeit noch einmal stehen und schoss auf die vorrückenden Grünen, die schon den Wald erreicht hatten. Er holte eine flüchtende Gruppe ein und sagte: „Lasst uns noch bleiben, Kumpels. Vielleicht sitzen noch welche von uns in der Falle, und wir müssen ihnen helfen." Er bewegte die Leute nach vieler Überredung, den Wald noch eine Weile unter Feuer zu halten; aber lange konnten sie nicht mehr bleiben, denn die Schwarmlinie der grünen Uniformen rückte immer weiter vorwärts. Aber diese halbe Stunde war Thereses und der Verwundeten Rettung gewesen; die Frauen konnten noch auf einem Umweg weggeschafft werden. Man musste Therese, die auf Franz warten wollte, mit Gewalt mitziehen. „Gebt mir ein Gewehr, ich gehe zurück und suche ihn!" bat sie. Voller Zorn auf die niedergeschlagenen Männer, dass sie plötzlich so willenlos alles aufgegeben hatten, forderte sie mehrere Male, dass sie sich besinnen und wieder zurückgehen sollten, um die anderen zu retten, die noch im Wald saßen.
„Es hat keinen Zweck mehr, es hat keinen Zweck, Kind", sagten die Männer, noch voller Schrecken. „Mit uns wenigen werden wir nichts mehr aufhalten können. Man hätte die anderen alle festhalten sollen, aber du siehst, dass uns die Betrüger auch dieses schlimme Ende wieder bereitet haben."
„Komm, Mädel!" ermahnte ein älterer Mann. „Vielleicht hält man die Davongelaufenen da weiter rückwärts wieder fest und bringt sie zurück."
Ein schwacher Trost für sie, aber Therese folgte, bereit, gleich wieder mit vorzugehen und Franz zu suchen.
Sie erreichten den Ort, aber auch hier sahen sie nur alles in Auflösung; alles zog zurück, und auch die Kommandantur packte eilig. „Wir müssen zurück. Vielleicht hält man die Flüchtenden weiter hinten auf und führt sie wieder her. Der Kampf kann noch nicht zu Ende sein!" antwortete ihr einer der Männer, der auch vor Ermüdung taumelte. Er schrie die eilig vorbeiziehenden Rückzügler an: „Rast doch nicht so weg! Es sind doch noch Leute von uns im Wald zurückgeblieben. Bleibt doch wenigstens hier und verteilt euch, damit sie uns nicht überrumpeln!"
„Sagt es der verfluchten Verrätergesellschaft, die uns dieses Unglück bereitet hat!" antwortete man ihm verdrossen, und die Flüchtenden zogen weiter.
Der Mann von der Kommandantur sagte zu Therese: „Geh mit, du kannst hier nicht allein bleiben. Du siehst doch, es ist tatsächlich das Ende!"
Therese weinte. Sie trocknete ihre Tränen und sah sich um. Aber die Männer gingen zurück. Sie sah einen schwerfälligen, taumelnden Mann, der mit einigen anderen herankam, und erkannte in ihm Renteleit: „Wo ist Franz?" schrie sie.
Renteleit, der nicht wusste, wo Franz geblieben war, sagte trotzdem mit einer letzten Hoffnung: „Sei ruhig, Franz wird wohl mit den anderen zurückgegangen sein." Er hielt einige Scharen an: „Bleibt hier, wir müssen die vorrückende Reichswehr aufhalten."
„Du bist wahnsinnig", antworteten sie ihm, „was willst du denn jetzt noch aufhalten; sie rücken von allen Seiten heran. Sie haben schon Kavallerie eingesetzt, und die wird bald hier sein."
Renteleit blickte sich verzweifelt um. Er konnte nicht verstehen, dass die Tausende so sinnlos zurückliefen. Er ging mit der Pistole auf eine Schar los, die mit einem Maschinengewehr ankam: „Ihr bleibt hier. Wir werden die Straße absperren." Er sah unter den vier, fünf Leuten ein junges, mit Blut überkrustetes Gesicht.
Beide schrien zu gleicher Zeit: „Christian!" - „Renteleit !" Und sie fielen einander um den Hals. Beide heulten. „So ein Ende!" grollte Christian Wolny.
Renteleit sagte: „Wir bleiben, Christian. Stell das Maschinengewehr hier auf die Straße, und wenn sie kommen, knallen wir hinein." Er wandte sich zu Therese um: „Geh du zurück. Hier kannst du nicht bleiben. Geh, wir sehen uns vielleicht im nächsten Ort wieder."
Er rief einigen der älteren Leute zu: „Nehmt sie mit euch", und zu Therese noch einmal streng und befehlend: „Geh! Du kannst uns hier nicht helfen. Und ich will nicht, dass dir was geschieht."
Sie folgte nur widerstrebend. Franz war noch nicht da. Die älteren Männer zogen sie mit fort: „Komm, Kind, vielleicht triffst du ihn wo. Vielleicht im nächsten Ort!"
Sie glaubte es nicht. Sie ging mit schwerem Herzen zurück. Er wird nicht wiederkommen!
„Mein Martin Kaminski ist verwundet worden", sagte Christian, „Hoffentlich haben sie ihn noch weit genug weggeschafft!"
Die kleine Gruppe schoss aus dem Maschinengewehr gegen das letzte Waldstück, aus dem die Grünen nun hervorkamen. Christian schoss, und Renteleit führte die Gurte ein. Er ließ die anderen noch einige Kästen aus dem Haus holen, und sie hielten die Grünen wieder eine Weile auf. Es hatten sich noch einige von den Flüchtenden wieder besonnen und rechts und links von der Straße hingeworfen und schossen mit.
Einer der Männer rief entsetzt: „Kavallerie! Wir sind umzingelt!"
Christian Wolny und Renteleit warfen das Maschinengewehr herum und schossen gegen die in ihrem Rücken auftauchende und über das Feld galoppierende Kavalleriepatrouille. Sie drehte um und verschwand im Wald. Aber die Grünen gingen jetzt wieder in größeren Schwärmen im Wald vor, und es bestand die Gefahr, dass sie die kleine kämpfende Gruppe abschnitten. Zähneknirschend befahl Renteleit, weiter zurückzugehen. Die Grünen sprangen schon wieder über das Feld. Hier und dort fielen noch Schüsse, anscheinend von einzelnen oder von kleinen Gruppen, die sich im Wald oder irgendwo im Gelände verzweifelt verteidigten. Renteleit hoffte, dass sich die Zurückgehenden hinter Dorsten wieder versammeln würden. Er raffte unterwegs einige zurückgelassene Patronenkästen auf und schleppte sie keuchend mit. Von Zeit zu Zeit befahl er wieder, mit dem Maschinengewehr in eine Grube zu springen, und sie schossen auf die immer wieder auftauchenden Grünen, unter denen auch Gruppen der Reichswehr zu sehen waren. Sie schossen immer wieder und schlugen sich bis nach Dorsten durch.
In der Ortschaft hatten sich einige Hundert der Flüchtenden aufgerafft. Der heisere Matrose aus der Kommandantur hatte sie aufgehalten und verteilte sie rechts und links der Ortschaft und versprach, umherschwankend:
„Wir werden bald Hilfe kriegen. Bleibt und lasst euch nicht schrecken. Wir werden sie alle wieder zurückholen. Legt euch hinter die Mauern und Büsche und lasst sie nicht rankommen."
Christan Wolny und Renteleit legten sich mit ihrem Maschinengewehr vor den Eingang des Ortes, um die Straße unter Feuer zu halten. Auch weiter in den zurückliegenden Ortschaften hatten energische Genossen eingegriffen und die flüchtenden Scharen aufgehalten. Als es schon wieder dunkel wurde, hörten Christian Wolny und Renteleit mehrere dieser neugesammelten Abteilungen heranrücken.
„Vielleicht", hoffte Christian Wolny, „können wir das Vordringen der Reichswehr noch einmal aufhalten. Ich hätte mir am liebsten selber eine Kugel in den Kopf geschossen, als ich sah, dass sie vorn die Front verließen. Es ist doch eine Schande für uns; es darf nicht wieder zu einem neuen Januar kommen."
Die Reichswehr rückte vorläufig nicht weiter vor. Sie schien noch Verstärkungen abzuwarten. So traten wieder einige Stunden einer quälenden Ruhe ein. Man brachte ihnen aus der Ortschaft etwas Brot, und die Männer, die schon den ganzen Tag keinen Proviant bekommen hatten, griffen hastig danach und verschlangen es gierig.
Die Grünen kamen nicht, und Renteleit ging einige der Gruppen ab, um ihnen Mut zuzusprechen. Er hatte wieder Hoffnung, dass sich alles ändern müsse. Die Verwirrung schien sich etwas gelegt zu haben, denn es waren noch einige Gruppen zu Hilfe gekommen und legten sich willig ins Feld. Er ging in den Ort, um noch Munition zu holen, und traf in der neuen und eilig eingerichteten Kommandantur unter den Männern auch Therese an.
Sie wollte nicht zurückgehen, solange sie noch dalagen. Sie hatte überall nach Franz gefragt, aber diejenigen, die ihn kannten, wussten ihr auch nichts anderes zu sagen, als dass sie ihn noch zuletzt mit dem Kanonier im Wald gesehen hätten. Therese hatte wieder einige Leute verbunden, die auf dem Rückzug, wo sie sich noch zur Wehr gesetzt hatten, verwundet worden waren. Sie ging mit bleichem und hartem Gesicht umher. Sie bereitete sich darauf vor, dass Franz nicht wiederkam. Sie wollte aber noch diese ihre Pflicht erfüllen. Renteleit drückte ihr die Hand. „Mädchen, denk an die anderen, die haben auch viel verloren. Und es wird noch eine Zeit kommen, wo wir alles heimzahlen werden, auch diesen elenden Verrat zahlen wir ihnen heim!" Er bangte um sie, er musste sie zurückbringen. Er hatte ihrem Gesicht angesehen, wie es um sie stand. Und sie musste zurück, damit Tauten nicht wieder abglitt, der vielleicht jetzt schon wieder schwankte, der immer schwankende, zerrissene Tauten.
Als Renteleit wieder seine Gruppe aufsuchte, war die Nacht vollends hereingebrochen: eine jener Nächte, die sie schon kannten. Sie hatten es mit einem erbarmungslosen Feind zu tun, und sie durften nicht nachgeben. Nicht nachgeben.
Die Menschen in den kleinen Bauernhäusern schliefen nicht. Sie saßen und wachten voller Schrecken, zitternd und betend. In einem Hause schrie ein Kind, und Renteleit hörte das Holpern einer Wiege und das beruhigende Stammeln der Mutter. Angst und Sorge überall, und es übertrug sich schon auf die Kleinen.
Christian Wolny war mit den Hambornern mitgegangen und hatte die Stürme auf die Brücke mitgemacht. Es war ihnen gelungen, auf einem alten Kahn über die Lippe zu kommen. Er wollte die Brücke aus dem Wald unter Feuer nehmen. Von einigen Kumpels, die er kannte, erfuhr er, dass die Stoppenberger in diesem Wald lagen. Aber als er nach Franz suchte, kamen schon die Grünen, und er musste zurück. Er warf sich mehrere Male mit dem Maschinengewehr hin und schoss rasend gegen die auftauchenden Uniformen, bis auch ihm, wie Gaida, die Munition ausgegangen war. Er hatte aber sein Maschinengewehr, das er so lange behütet hatte, nicht zurücklassen wollen; er war mit den Schindern noch nicht zu Ende, und er schwor sich, es so lange zu behalten und zu behüten, bis er sein Versprechen, das er im stillen Lenin gegeben, erfüllt hatte. Lenin! Er lag unter seiner Gruppe und erzählte wieder von der Revolution in Russland und erzählte von Lenin. Die Nacht hüllte sie schweigend und dunkel ein. Mehrere Hunderte Meter vor ihnen lag der Feind, der jeden Augenblick wieder vorgehen konnte. Sie hörten die Vorbereitungen der Reichswehr, hörten Wagen knarren und das Geklapper der Waffen. Christian Wolny erzählte von der ungeheuren Kraft der Roten Armee und von ihrem unerschütterlichen Mut, und die Männer, die um ihn herumlagen, hörten düster und stumm mit dem Kopf nickend zu.
In Essen hatte am 25. März eine Konferenz der Vollzugsräte für Rheinland-Westfalen stattgefunden. Aus vielen Betrieben und Hunderten von Orten waren die revolutionären Räte herbeigeeilt, um an der Beratung teilzunehmen. Gegenstand dieser Beratung war das Bielefelder Abkommen, das die Preisgabe des Kampfes bedeutete. Da das Ruhrgebiet jedoch vergebens auf das Eingreifen der übrigen Arbeiterschaft im ganzen Lande wartete, wurde der Beschluss gefasst, einen Zentralrat zu wählen und diesen zu beauftragen, in neue Verhandlungen mit der Regierung zu treten.
Man wusste, dass der Waffenstillstand unter den Kämpfenden eine Verwirrung hervorgerufen hatte. Es wehrten sich noch viele verzweifelt, aber die Front war an verschiedenen Abschnitten zurückgedrängt worden. Watter hatte die Vereinbarungen nicht eingehalten und ließ die Reichswehr vorrücken.
Der Zentralrat hatte die Verhandlungen eingeleitet. Aber die Regierung forderte ultimativ: Uneingeschränkte Anerkennung der verfassungsmäßigen Staatsautorität; Wiedereinsetzung der staatlichen Verwaltungs- und Sicherheitsorgane, soweit sie nicht durch ein offenes Eintreten für die Kapp-Lüttwitz-Regierung belastet waren; sofortige Auflösung der Roten Armee; völlige Entwaffnung der Bevölkerung einschließlich der Einwohnerwehren, unter Aufsicht der rechtmäßigen, staatlichen Organe; sofortige Freigabe der Gefangenen.
Falls die Bedingungen erfüllt werden, wird von einem Angriff abgesehen, anderenfalls erhält der Inhaber der vollziehenden Gewalt Freiheit des Handelns zur Wiederherstellung gesetzmäßiger Zustände.
Gezeichnet hatten dieses neue Ultimatum: die Reichsregierung, Reichskanzler Müller; Reichswehrminister Dr. Geßler.
Der Zentralrat protestierte und berief sich auf das Bielefelder Abkommen. Auf diesen Einspruch antwortete der Chef der Reichswehrtruppen im Rhein-Ruhr-Gebiet, General Watter, mit einem noch schärferen Ultimatum.
General Watter, der sich vor dem Aufstand der Ruhrarbeiter fast offen für Kapp-Lüttwitz eingesetzt hatte,war nun Vollzieher der verfassungsmäßigen Staatsgewalt.
General Watter forderte, bis zum 30. März müssen abgegeben werden: 4 schwere, 10 leichte Geschütze; 200 Maschinengewehre; 16 Minenwerfer; 20000 Infanteriegewehre; 400 Schuss Artilleriemunition; 600 Schuss Minenwerfermunition und 100000 Schuss Infanteriemunition. Stehen am 30. März noch Teile der Roten Armee unter Waffen, so gelten die Bedingungen als nicht erfüllt.
In den Städten waren Plakate mit diesen Bedingungen ausgehängt worden.
In den Versammlungen der Streikenden tobten die Debatten. Müdigkeit, Angst, Hass und Wut. Vernunftsredner und über die schweren Bedingungen rasende Menschen. Man hörte Schreie: „Waffen! Die Waffen wiederholen!"
Die Arbeiter, die gegen die Verwirrung kämpften, rissen die Plakate von den Säulen und Mauern. Sie standen auf den Straßen in Gruppen und erzählten von den schweren Kämpfen an der Front. Sie forderten, sich wieder zu bewaffnen und den bedrohten Kumpels zu Hilfe zu eilen.
Am Koppstadtplatz stand ein Matrose auf dem Denkmalsockel und sprach mit heiserer und erschöpfter Stimme: „Wofür haben wir uns erhoben, Kameraden? Wofür haben wir die Gewehre ergriffen? Nicht um dieser Regierung willen, die uns jetzt, nachdem wir ihr durch den Generalstreik wieder in die Regierungssessel verholfen haben, einem Bluthund Watter preisgibt. Wir haben die Gewehre genommen, um uns von allen unseren Bedrückern zu befreien, Genossen! Das Watter-Ultimatum ist der Tod unseres Aufstandes! Wenn wir die Gewehre abgeben, dann fallen Tausende der Besten den Söldnern in die Klauen. Wenn wir zu Kreuze kriechen, dann sind wir auf Jahrzehnte wieder Knechte der Kapitalisten. Im Auftrage der kämpfenden Genossen, die jeden Schritt unserer Ruhrerde mit ihrem Leben bezahlen, fordern wir euch auf: Greift wieder zu den Gewehren, erhebt euch von neuem. Das Ruhrgebiet hat Arbeiterblut getrunken. Das Ruhrgebiet gehört der revolutionären Arbeiterschaft!"
Der Matrose wurde auf die Schultern genommen und von der Menge durch die Straßen getragen. Ein Demonstrationszug strömte zum Rathaus. Vorn erhob einer der Männer die rote Fahne. „Es lebe die Revolution. Nieder mit dem Bluthund Watter! Nieder mit der verräterischen Regierung!" schrien die Demonstranten. Am Rathaus verlangten Hunderte der Männer Gewehre. Sie wollten an die Front.
Eine Stunde darauffuhren neue Transporte ab. Neue Hoffnungen belebten die Zurückbleibenden. Neue Hoffnung trugen sie zu den abgekämpften Genossen.
Auch der Zentralrat erklärte die Forderung des Generals Watter als unannehmbar. Er forderte die Mobilisierung neuer Reserven und rief am 29. März einen neuen Generalstreik aus.
Die Werk- und Bergleute, die schon seit einigen Tagen zum Teil die Arbeit aufgenommen hatten, wurden wieder aus den Gruben und Werken herausgeholt. Die Klöppel in den Schächten und die Sirenen schwiegen wieder.
Jupp Zermack hatte mit Miller der. Vollzugs- und Betriebsrätekonferenz beigewohnt. Er hatte gesehen, dass ein Teil der Unabhängigen während der Debatten und bei den Entschließungen geschwankt hatte. Dieses Schwanken und die immer stärker auftauchenden Widersprüche zwischen dem rechten und dem linken Flügel der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei waren seit Beginn des offenen Kampfes immer stärker hervorgetreten. Nach der Konferenz begannen neue Debatten in den Parteiversammlungen. Der Parteisekretär Teichmann, der den rechten Flügel vertrat, war für die Annahme der Bedingungen des Generals. Aber auch Miller saß schweigsamer und düsterer in den Versammlungen, und wenn er sich zu Wort meldete, dann konnte man auch aus ihm nicht klug werden, wo er hinauswollte. Einmal gab er auf Zermacks Fragen keine Antworten, ein anderes Mal konnte er wieder aufbrausen: „Was wollt ihr? Wir werden den Kampf nicht aufgeben!"
„Dann müssen wir die Leute wieder bewaffnen und rasch hinausschicken, ehe die Reichswehr hier in Essen sitzt", sagte Zermack. Aber Miller zögerte wieder und starrte finster drein.
„Du siehst doch", antwortete er, von neuem in Zweifeln, „die Zustände in der Partei, das Hin und Her ist keine Gewähr, dass wir noch etwas aufhalten können. Ich weiß nicht, ob wir recht handeln, wenn wir die Leute noch einmal hinausschicken. Vielleicht werden dann die Bedingungen noch härter ausfallen."
Zermack schwankte dadurch selber einige Tage, und alles lag brach und drohte, sich aufzulösen. Er entschloss sich, ohne Miller zu handeln. Er zog Fritz Raup und Stamm zu Rate. Auch die beiden waren dafür, dass man die herumliegenden Leute wieder bewaffnen müsste. Fritz Raup schlug eine Belegschaftsversammlung ihres Schachtes vor, um dort für die Wiederaufnahme des Kampfes zu sprechen und die Kumpels zu bewegen, den noch draußen liegenden Genossen Hilfe zu bringen. Stamm, der auf dem Stoppenberger Zollvereinschacht arbeitete, war bereit, auch zu seiner Belegschaft zu sprechen. Sie setzten sofort eine Anzahl Boten in Bewegung, die ihre Belegschaften zusammenholen sollten.
Miller zögerte auch dieses Mal.
Teichmann war bei ihm gewesen und hatte vor einer Spaltung der Partei gewarnt. „Ich weiß nicht, ob man das machen soll", widerstrebte Miller. „Wir können es doch nicht so weit treiben, dass durch diese verschiedenen Meinungen die Partei auseinander gerissen wird; wir würden damit den Herren nur noch entgegenkommen."
Zermack sagte schließlich ungeduldig: „Warum schwankst du denn wieder? Hast du denn die zwei Nächte in Essen vergessen? Du warst doch anderen Sinnes zurückgekommen, und man glaubte, dass du deinen früheren Zwiespalt aufgegeben hast."
Miller schwieg eine Minute düster. Er widerstrebte weiter. „Wenn der Kampf schlecht ausgeht, dann werden wohl noch andere und unter schwierigeren Aussichten wieder hineinwandern. Wir können doch nicht die ganze Partei in den Gefängnissen begraben lassen, und uns wird es wohl wieder zuerst treffen."
„Also, du bist gegen die Versammlungen?" fragte ihn Zermack in Auflehnung.
Miller blickte düster vor sich hin. „Nein, ich bin nicht dagegen, aber wir können nicht vor der Menge als Partei mit einer zwiespältigen Meinung auftreten. Das sind meine Bedenken."
Sie gingen fast verfeindet auseinander.
Zermack bestand auf der Einberufung der Belegschaftsversammlungen und wollte sie, wenn es sein musste, allein durchführen. „Wir können doch jetzt die Genossen draußen nicht im Stich lassen. Ich würde mir das zeitlebens nicht vergeben", beharrte er auf seinem Entschluss, und auch die anderen Genossen waren seiner Meinung, die Belegschaftsversammlungen müssten abgehalten werden.
Zermack ließ alle verstreut untergebrachten Gewehre zusammenholen, um sie in den Versammlungen an die Kumpels wieder auszugeben. Er ließ auch alle Kumpels, die in der ersten Verwirrung ihre Gewehre auf der Wache abgegeben hatten und nach Hause gegangen waren, wieder zurückholen. Nicht alle kamen wieder; die Angst, später für ihre Teilnahme zur Verantwortung gezogen zu werden, hatte sie eingeschüchtert, und sie weigerten sich, noch einmal das Gewehr zu nehmen. Es waren dies meistens die älteren Leute, die der Sozialdemokratischen Partei oder der Christlichen Gewerkschaft angehörten, denen die eigenen Parteileute jetzt zusetzten, sich noch frühzeitig aus allem herauszuziehn. Auch Tauten, zu dem Stamm hingegangen war, hatte sich wieder ganz Schigalskis Willen untergeordnet. Er wollte nicht, nach seiner langen Partei- und Verbandszugehörigkeit, wegen dieses einen voreiligen Schrittes beides verlieren. Es war nichts mehr von dem gestrigen, noch dem Kampf zustimmenden Tauten in ihm übrig geblieben. Er antwortete dem Genossen auf alle Einwände: „Ich bin für die Vernunft. Wir müssen einen vernünftigen und menschlichen Abschluss herbeiführen, und das beste wäre, wenn man die Gewehre abgeben und wieder an die Arbeit zurückkehren würde. Und dir", sagte er zu Stamm, „würde ich auch anraten, ebenso vernünftig zu denken und unseren Leuten ins Gewissen zu reden, dass sie den Hass nicht weiterschüren sollen. Ich glaube, wir sind diesmal zu weit gegangen. Und auch ich hatte mich mitreißen lassen, was mir heute von der Partei vorgehalten wird."
Stamm versuchte, Tauten den verhängnisvollen Rückfall klarzumachen und ihn zu einer Hilfe zu bewegen, aber Tauten antwortete das gleiche: „Ich bleibe dabei, dass wir die Gewehre abgeben und an die Arbeit zurückkehren. Das ist der vernünftigste Ausweg. Überleg es dir auch du!"
Stamm verließ ihn mit derselben Erbitterung, mit der Zermack Miller verlassen hatte. Sie hofften noch immer, dass sich Miller wenigstens auf sich selber besinnen würde, sonst standen sie mit immer weniger da, und die Kumpels würden fragen, was mit Miller und was mit Tauten sei und warum sie nicht mehr mitmachten. Am nächsten Morgen fanden die Belegschaftsversammlungen statt. Den Hoffrone-Saal füllten wohl an die tausend Menschen. Die Kumpels waren alle gekommen, aber vielen merkte man den Zwiespalt und die Besorgnis an, die sie jetzt seit Watters Bedingungen beherrschten.
Miller war gekommen. Auch Teichmann sah man vorn im Saal.
Zermacks Rede, der für die Fortsetzung des Kampfes und die Mobilisierung neuer Hilfeabteilungen gesprochen hatte, folgte erst ein bedrückendes Schweigen. Zermack sah ratsuchend nach Miller hin, der unten im Saal saß und den Kopf gesenkt hielt.
Teichmann meldete sich und ging, ein großer, dicker Mensch, auf die Bühne. „Genossen", sagte er, „wir verstehen, dass es ein schwerer Entschluss ist, sich für das eine oder für das andere zu entscheiden. Auch ich wäre für die Fortsetzung des Kampfes, und das haben wir uns hundertmal überlegt, wenn auch nur eine Aussicht auf einen Sieg bestehen würde. Ich muss aber selbst meinen eigenen Genossen sagen: diese Aussicht besteht kaum noch. Wir wissen, dass die Front vor Wesel nicht mehr existiert, dass unsere Leute, völlig aufgelöst, zurück- strömen und nicht mehr imstande sind, weiterzukämpfen. Alle Mühe, das Unglück aufzuhalten, wäre also völlig umsonst, und ich würde anraten - und dies ist nicht nur meine Meinung allein, auch alle Verantwortlichen der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei sind derselben Meinung -, dass wir uns in das Unabänderliche vorläufig schicken müssen. Wir werden noch alles unternehmen", sagte er, „um durch neue Verhandlungen die harten Bedingungen zu mildern, aber dieses wird uns nur möglich sein, wenn wir den verzweifelten Kampf aufgeben und an die Arbeit zurückgehen."
Auch ihm antwortete nur ein Schweigen.
Endlich schrie einer der jüngeren Bergleute in die Stille: „Warum spricht denn Miller nicht, der war doch bisher immer für den Kampf gewesen. Er soll sich äußern, was wir jetzt tun sollen!"
Die Kumpels husteten und murmelten und riefen: „Er hat recht, Miller soll sich melden. Er wird doch besser wissen, was zu tun ist."
„Wenn er für den Abbruch des Kampfes ist", rief der alte Koschewa, „dann sind wir auch für den Abbruch und für die Rückkehr zur Arbeit. Aber er soll was sagen."
Miller stand auf: „Ich bin für die Beendigung des Kampfes", sagte er. Er überlegte einige Sekunden finster : „Ich bin für die Beendigung des Kampfes, aber nur, wenn man uns garantiert, dass allen, die daran teilgenommen haben, keine Strafe droht."
Teichmann rief von der Bühne: „Genosse Miller, wir glauben nicht, dass man Zehntausende zugleich bestrafen kann. Und es ist schon Strafe genug, das wissen auch die Herren, dass wir gezwungen sind, diesen schwer begonnenen und anfangs so erfolgreichen Kampf aufgeben zu müssen. Ich bin trotzdem dafür, dass wir hier nicht neue Aufregung schaffen, die keinen Wert hat und die uns noch mehr Schaden einbringen kann."
Einige der Versammelten riefen: „Es stimmt!"
Andere schrien wütend: „Du scheinst auch schon unter die Pfaffen gegangen zu sein!" - „Du hast wohl schon dein Schaflein im trockenen!" - „Der ist wohl auch schon bestochen worden!"
Teichmann wollte weitersprechen, aber die letzten Zurufe hatten den größeren Teil der Belegschaft geweckt, und jetzt schrien viele: „Er soll aufhören! Wenn er uns nichts anderes zu sagen hat, als dass wir wieder demütig in die Löcher kriechen sollen, dann soll er sich zum Teufel scheren!"
Einer schrie: „Wir wollen hören, was Zermack und Raup dazu sagen."
Raup ging auf die Bühne, während Teichmann mit rotem Gesicht herunterstieg.
„Kumpels", sagte Fritz Raup, „ihr kennt mich und ihr wisst, dass ich meine Meinung nicht ändern werde. Wir haben Hunderte Genossen geopfert, und es wäre jetzt ein Verrat, wenn wir die anderen durch unseren Zwiespalt allein lassen würden. Ich bin dafür, dass wir die Gewehre halten und dass wir den Kumpels vorn schnell zu Hilfe kommen."
Der furchtbare Druck, der auf den meisten der Männer gelastet hatte, war gewichen. Die Jungen schrien nach Gewehren, und auch einige der Alten bewegten sich wieder und sagten: „Nein, man darf es nicht aufgeben. Wenn unsere Leute noch vorn liegen und Hilfe brauchen, müssen wir ihnen Hilfe bringen."
Zermack rief in den Saal: „Genossen, wer bereit ist, den draußen Liegenden zu helfen, der komme mit und hole sich ein Gewehr."
Die Männer drängten lärmend aus dem Saal, und sie stritten noch im Hinausgehen: der eine unbefriedigt, dass man Teichmann nicht zu Ende hatte reden lassen, die anderen, dass Miller sie im Stich gelassen habe, dem jetzt viele zornige Blicke zugewandt wurden. Der alte Koschewa redete unter einer Schar: „Mein Junge ist auch noch draußen: ich weiß nicht, was mit ihm geschehen ist. Ich bin alt, aber auch ich hole mir noch ein Gewehr und ziehe mit."
Auch Miller ging mit sich im Widerstreit hinter Zermack und Raup nach der Wache. Er nahm ein Gewehr. Zermack blickte ihn an. Miller sagte: „Man soll mir nicht nachreden, dass ich daheim liege, wenn ihr hinausgeht." Auch Zermack war entschlossen, diesmal nicht zurückzubleiben; auch er wollte mitgehen. Fritz Raup sagte dankbar: „Dann gehen wir alle" - und auch er nahm ein Gewehr. Noch einige fünfzig Kumpels, ältere und junge, ließen sich Gewehr und Munition geben und gingen nach Hause, um sich von ihren Familien zu verabschieden.
An diesem Nachmittag sah Stoppenberg fast wieder so aus wie an dem ersten Tage vor dem Sturm auf die Stadt; denn auch die Kumpels von den Zollvereinschächten bewaffneten sich wieder und stellten Abteilungen zusammen. In den Straßenbahnen fuhren bewaffnete Scharen nach Essen, und es rollten wieder vollbepackte Wagen mit Arbeitern aus Gelsenkirchen und Rotthausen und Katernberg an die Front. Man wusste nicht, wo diese Front war; einer erzählte, sie sei noch hinter Dorsten, andere berichteten, sie kämpften hinter Hamborn, andere wieder, die Kämpfenden seien schon bis Bottrop zurückgedrängt worden. Und noch andere erzählten sogar, es gäbe überhaupt keine Front mehr, die Reichswehr rücke, ohne auf Widerstand zu stoßen, eilig vor.
Zermack, Miller und Raup fuhren mit den Stoppenberger Abteilungen. Die Kumpels waren wieder voller Hoffnung, dass der Kampf noch nicht zu Ende sei und dass sie Watter doch noch zwingen würden, das Ruhrgebiet zu verlassen. Auch in der Stadt schien die Verwirrung wieder aufgehört zu haben, denn auch hier liefen viele Arbeiter mit Gewehren umher und warteten auf ihren Abtransport.
„Sie kommen wieder alle zur Besinnung", sagte Fritz Raup erleichtert.
Aber als sie weiter nach Hamborn fuhren, kamen ihnen Gruppen völlig erschöpfter Leute entgegen. Einige lachten böse und riefen: „Wo wollt ihr denn hin, wollt ihr euch da vorn gleich gefangen nehmen lassen? Ihr seid doch nicht wahnsinnig. Kehrt gleich um. Die Reichswehr rückt vor."
Fritz Raup fragte einige der Zurückkehrenden: „Wo ist die Front?"
„Front? Es gibt keine Front mehr. Die müsst ihr euch suchen", antwortete ihm ein älterer missmutiger Mann. „Aber wenn ihr wollt, könnt ihr euch ja in Mülheim melden, dort ist noch so etwas wie Front und Kommandantur."
Auch Zermack hatte auf seine Fragen ähnliche Antworten bekommen. „Trotzdem", sagte er zu den Kumpels, „lasst euch nicht schrecken. Wir fahren hin."
Sie fuhren nach Mülheim. Die Stadt war voll bewaffneter Leute, die von vorn zurückgekommen waren. Einige Männer, anscheinend vom Vollzugsrat der Stadt, versuchten, die verzagten Leute wieder zu Abteilungen zu ordnen. Sie stießen auf Widerstände und zornige Schreie: „Geht doch selber hin und sitzt hier nicht immer in eurer Kaserne. Wir haben unseren Teil getan, lasst jetzt die anderen hinziehen und ihr Leben aufs Spiel setzen!"
Die Vollzugsräte ließen einige der Schreier entwaffnen und gaben die Gewehre an andere, die williger dastanden und auf ihre Bewaffnung warteten.
Zermack und Raup traten an einen der Genossen heran und fragten, wo die Front sei.
Der Kumpel, ein graubärtiger Mann und allem Eindruck nach ein Metallarbeiter, zuckte die Schultern. Er zeigte nach Dinslaken hin: „Da irgendwo müssen sie liegen. Wir wissen es auch nicht. Jede halbe Stunde kommt eine andere Meldung: einmal, dass sie's noch halten, ein anderes Mal, dass sie es wieder aufgegeben haben und zurückgehen."
Hier in der Nähe der Front schien alles noch durcheinander zu sein. Zermack und Raup mussten mit ihren Leuten einige Stunden warten, bis sie Bescheid bekamen, dass sie nach Hamborn fahren sollten, da man dort dringend Hilfe brauchte.
Sie fuhren wieder in der Richtung nach Hamborn, und die Dunkelheit brach schon herein, als sie die Stadt erreichten. Auch hier trafen sie dasselbe an wie in Mülheim: Verwirrung und Auflösung.
„Wir lassen uns nicht mehr aufhalten!" sagte Zermack ergrimmt, den die Aufregung auch schon zu zermürben begann. Sie hatten erfahren, dass einige Kilometer hinter der Stadt die letzten Abteilungen der Arbeiter gegen die Reichswehr kämpften, und er beschloss, die Wagen zurückzulassen und dort zu Hilfe zu eilen.
Als sie eine Strecke aus der Stadt heraus waren, hörten sie schon in der Ferne das Geknatter der Schüsse. Zermack schickte Bruno Freising und noch einige Leute vorauf, die erkunden sollten, wo die Kämpfenden lagen, damit sie nicht blind in eine Falle rannten.
Schweigsam zogen sie auf der dunklen Landstraße dahin. Bald lagen sie selber vorn; und dieses „vorn" sahen sie an den an ihnen immer wieder vorbeiziehenden, humpelnden und stöhnenden Verwundeten, die sich nach der Stadt zurückschleppten. Zermack fragte einen dieser Männer, der einen blutigen Verband um den Kopf trug und sich auf sein Gewehr stützte: „Wie weit liegen Unsere?"
Der Verwundete sagte: Sie ziehen sich zurück. Die Reichswehr ist zu stark, sie kommt mit Minenwerfern. Vielleicht stoßt ihr gleich auf die Zurückgehenden."
Bruno Freising kam eilig. Er berichtete aufgeregt: „Sie gehen zurück. Wir müssen hier liegen bleiben, damit wir die Flüchtenden aufhalten!"
Zermack befahl den wartenden Leuten: „Legt euch hin und haltet euch bereit, wenn die Reichswehr auftauchen sollte!" Ein Verwundeter rief: „Die kann gleich hier sein, sie hat Kavalleriepatrouillen rausgeschickt !"
Zermack und Raup ließen ihre Leute die Straße besetzen und in die Felder ausschwärmen. Einige Minuten später hörten sie das Traben der zurückweichenden Scharen. Zermack hielt die ersten auf. „Bleibt hier!" rief er. „Es kommt gleich noch mehr Hilfe. Ihr könnt nicht zurückrennen, wenn die anderen vielleicht noch liegen geblieben sind. Geht ins Feld und legt euch da hin und schießt, wenn sich die Reichswehr zeigt." Er hielt noch mehrere andere Gruppen auf und trieb sie ins Feld. Die meisten folgten willig und gruben sich ein. Miller, der sich die ganze Zeit mit seinen Gedanken herumgeschlagen hatte, ging mit in das Feld und legte sich zu den anderen.
Zermack fragte einen jüngeren Gruppenführer, der fast allein gekommen war, ob noch welche vorn lägen. Der Mann antwortete ihm, von Heiserkeit erstickt: „Ich weiß nicht, vielleicht sind noch welche liegen geblieben, vielleicht sind sie schon gefangen. Es ist ein Verbrechen", klagte er, sich auf einen Stein hinhockend, „dass man uns keine Hilfe mehr schickt. Man soll die Verräter, die den Waffenstillstandsvertrag abgeschlossen haben, nacheinander totschlagen!"
Der Mann heulte. Zermack sagte: „Wir sind hergekommen, um euch zu helfen. Raff dich wieder auf und such deine Leute zusammen, und legt euch zu den anderen!"
Es kamen noch einige vereinzelte Männer erschöpft und humpelnd an, dann folgte eine Weile bedrückende Stille. Zermack und Raup warteten hinter einem Maschinengewehr auf der dunklen Straße. Die Nacht ließ nicht erkennen, ob noch ihre Leute oder schon der Feind herankäme. Aber plötzlich schrie einer im Feld: „Kavallerie kommt! Die Reichswehr!"Und die Gewehre begannen zu krachen. Auch von drüben, einige hundert Meter entfernt, blitzten die Schüsse.

 

Siebtes Kapitel

Schwarz und ölig wälzten sich die Fluten des Alt-Essener Kanals. Renteleit lag mit Christian Wolny und mehreren anderen Männern in einer Vertiefung hinter dem Maschinengewehr. Jenseits des Kanals lief die Reichswehr umher. Sie schoss drüben aus den Häusern. Auch Geschütze donnerten drüben, und einzelne Granaten schlugen in der Nähe der abgehetzten Maschinengewehrmannschaft ein und überschütteten sie mit Splittern und mit aufgewühlter Ackererde. So hatten sich Renteleit und Christian seit vielen Tagen bis hierher geschleppt und immer wieder gewehrt. Auch der bärenstarke Renteleit war fast am Ende seiner Kräfte. Es waren ihrer immer weniger geworden, und Renteleit übersah mit immer größerer Sorge die einzeln und zu zweit und dritt hinter dem Kanal verstreut kauernden Genossen, die dem Feind das Eindringen in ihre Stadt zu wehren versuchten. Sie waren dreckig von Staub und Schweiß und abgerissen von dem Kriechen in den Feldern und in dem Gebüsch, und hungrig, weil sie sich nur selten Zeit nahmen, um sich in den Bauernhäusern das Stück Brot zu erbetteln. Auf Hilfe hofften sie kaum noch, denn sie wussten, dass sich in der Stadt alles in voller Auflösung befand. Sie fühlten sich aber verpflichtet, wenigstens noch das Wegschaffen der Verwundeten zu sichern. Diesseits feuerten noch einige Maschinengewehre.
Die Kumpels schossen sparsam, denn sie verfügten nur noch über wenig Munition. Auch Christian überzählte oft eilig und mit immer größerer Besorgnis den Rest, den sie in den leergeschossenen Gurt steckten, um dann und wann wieder einige Schüsse abfeuern zu können.
Sie mussten einige Male ihre Deckung wechseln, weil sie von den Granaten aufgespürt wurden, die immer in bestimmten Abständen heranrauschten und mit einer ziemlichen Zielsicherheit vor und hinter ihnen krepierten. Obwohl fast keine Hoffnung auf Hilfe vorhanden war, sah auch Renteleit zuweilen noch sehnsüchtig nach der rückwärts liegenden Stadt. Aber dort wurden von den Ängstlichen schon eilends die Gewehre abgegeben, und sie liefen auseinander. Anstatt der Verstärkung wurde ihnen an den Kanal die bittere Nachricht gebracht, dass der Kampf abzubrechen sei.
„Jetzt sind wir fertig", seufzte einer der grauen Männer neben Renteleit.
„Schießt dorthin schnell ein paar Kugeln ab", befahl Renteleit Christian Wolny, „dort hinter der Brücke rennt die Reichswehr."
Christian Wolny schoss wieder verbissen hinüber. Mit einem Blick auf den Gurt sagte er erschrocken: „Wir haben bald keinen Schuss mehr drinnen. Schickt doch schnell einige Leute zu den anderen, sie sollen uns Munition ausborgen."
Die anderen sagten, als man sie um Munition bat: „Wir haben ja selber nichts mehr", und einige sagten böse: „Geht, holt sie euch drüben von den Noskes, da haben unsere Feiglinge die Munition zurückgelassen. Jetzt werden wir damit abgeknallt."
Renteleit, der selber bei einer Gruppe vorgesprochen hatte, kam, nachdem er längere Zeit im Gelände herumgekrochen war, mit einigen Patronen, die er bei den Toten in einem Loch gefunden hatte, zurück. Sie konnten wieder ein paar Schüsse abfeuern.
„Bald ist es vorbei!" sagte auch er jetzt schon verzagt.
In der Stadt tönten die Glocken. „Ostern!" sagte Renteleit. „Die Spießer feiern Erlösung!" Ein heiseres Lachen erschütterte ihn. „Sie feiern ihre Befreiung, während wir hier verrecken."
„Lasst uns abbrechen!" klagte ein kleiner verwundeter Schlepper. „Mit den paar Handvoll können wir nichts mehr halten."
Renteleit schrie ihn wütend an: „Du bleibst hier, keiner regt sich weg. Wenn wir den Kanal freigeben, erschlagen sie uns in der Stadt die Verwundeten."
Er kroch noch einmal zu den anderen und kam mit einem halben Munitionsgurt zurück. Die Gruppe hatte den letzten Patronengurt geteilt. Sie schossen wieder, sparsam, sparsam...
Jenseits des Kanals knallten ununterbrochen die Maschinengewehre der Reichswehr, und die Geschütze donnerten in immer kürzeren Abständen. Die Söldner brauchten nicht zu sparen.
Ein verdreckter Mann kroch in Renteleits Grube. Dieser verband gerade einen seiner Salkenberger, den Schorsch Plewka, der ihm die ganze Zeit still und anhänglich gefolgt war, und den eine Kugel der Reichswehr in den Hals getroffen hatte.
„Ist ein Schießmeister unter euch?" fragte der Genosse, in dem Renteleit den Schotte wieder erkannte. Schotte schleppte einige Pakete mit, während zwei Leute mit anderen Paketen folgten.
„Die Brücke muss gesprengt werden!" erklärte Schotte eilig und nahm Renteleit, der Schießmeister war, mit.
„Und das Maschinengewehr?" fragte Christian Wolny erschrocken. „Hier, packt die Handgranate drunter", sagte Schotte, „und sprengt es!"
Renteleit hatte Schotte unterwegs öfters getroffen. Er war einer der Mutigen, die bis zuletzt ausharrten. Er nahm die Pakete und befahl Christian Wolny: „Nimm dein Maschinengewehr und geh mit den anderen zurück!" Sie hatten keine Patrone mehr, und das Maschinengewehr nützte ihnen auch nichts mehr. Aber Christian hätte es um sein Leben nicht den Noskiten überlassen; er musste es noch einmal verbergen, denn es würde sicherlich wieder gebraucht. Sie verabschiedeten sich mit einem Blick, in dem die Sorge des einen um den anderen lag. Und Christian Wolny kroch mit seinem Maschinengewehr zurück.
Renteleit war mit Schotte, nach einem mühseligen Kriechen, an der Brücke angekommen, wo sie noch ein paar Genossen mit Sprengstoff erwarteten. Dort stand noch ein Maschinengewehr, und die Kumpels hatten noch einige Patronen. „Schießt, wenn sie uns drüben stören wollen", befahl Schotte der Gruppe. Sie krochen an den Pfeiler und kletterten dort angestrengt hoch. Mit den erfrorenen Fingern in die Eisenträger verkrallt, schob Renteleit Paket um Paket darunter. Ein anderer Hauer brach mit einem Spitzeisen und Hammer in einen der Pfeiler ein größeres Loch und stopfte da eine Ladung hinein.
Die Reichswehr schoss jetzt immer heftiger. Man schien die Männer bei ihrer Arbeit bemerkt zu haben, und die Kugeln hämmerten gegen das Eisen- und in das Steinwerk. Manche der Kugeln schlugen oft so dicht neben ihnen ein, dass sie ihre Arbeit unterbrechen mussten.
„Los, weiter", trieb Schotte. „Wir müssen fertig werden, sonst kommen sie herüber und dringen in die Stadt."
Renteleit stopfte die letzten Ladungen unter die Träger und verband sie mit den Drähten. Die Maschinengewehre der Reichswehr schossen jetzt so niedrig, dass Schotte und Renteleit sich nur mit Mühe zurückbewegen konnten.
Sie rollten den Leitungsdraht auseinander und schlossen die Sprengbatterie daran. Sie duckten sich in die Schollen. Renteleit drehte den Schlüssel herum. -„Nichts!" sagte er betroffen. Er drehte noch einmal mit stärkerem Ruck, so wie er es früher in der Grube immer getan hatte, wenn ihm ein Kohlenschuss nicht kommen wollte... wieder nichts.
„Nicht in Ordnung!" sagte er. „Ich geh' und seh' mal nach." Er kroch wieder bis zur Brücke, wo sich der Draht gelöst hatte. Er knüpfte den Draht wieder zusammen und kroch in dem Feuer der Maschinengewehre der Reichswehr wieder die ganze Strecke zurück. Ein heftiger Schlag traf seinen Arm, und er fühlte das Blut herausrinnen. Er kroch trotzdem, ohne nach der Wunde zu sehen, bis zu Schotte zurück und drehte mit der erlahmenden Hand an der Batterie, die schon das Blut aus seiner Wunde überströmte. Ein erschütternder Donner dröhnte, und sie sahen, wie die Brücke sich in dem aufwallenden Dynamitrauch hochbäumte und mit den auseinander gerissenen Teilen in das Wasser sank.
Drüben bei der Reichswehr verstummte für eine Minute das Feuer, dann aber wurde es um so rasender.
Schotte, der ganz erschöpft und mit gequollenen Augen in einer Grube saß, befahl den wenigen, die noch dalagen, zurückzugehen. Sie gingen einzeln und schossen, sich noch einmal umwendend, ihre letzten Kugeln gegen die drüben hervorkommende Reichswehr ab. Dann schwankte einer nach dem anderen in die Stadt, in der die Osterglocken dröhnten.
In der Stadt standen die Menschen in den Straßen und horchten furchtsam nach dem Kanal. Dort donnerten die Einschläge der Reichswehrgranaten. Von Zeit zu Zeit kam ein einzelner Arbeiter mit dem leergeschossenen Gewehr, forderte voller Hass noch einmal Patronen oder schrie die zaudernden Männer wütend an: „Gafft doch nicht hier herum, sondern geht nach vorn und helft!"
Die Kaufläden waren geschlossen und mit Eisengittern verriegelt. Man befürchtete wieder Plünderungen.
Da und dort mischten sich die Bürger unter die erregte Menge, hörten zu oder fragten die zurückkommenden Rotarmisten aus. Man merkte einigen der Bürger die Zufriedenheit an. Sie flüsterten einander zu: „Die Reichswehr ist da!"
Der und jener Geschäftsmann war besorgt, dass man die Stadt beschießen könnte. Ihre Blicke verrieten den verborgenen Hass gegen die abgelumpten und verdreckten Gestalten, die noch immer voller Wut nach Verstärkung schrien und den Kampf nicht aufgeben wollten.
Man erzählte sich in der Menge voller Schrecken: „Die Noskes sind schon in Bottrop! Sie verhaften alle unsere Leute."
Und wieder schreit einer, der müde ein leeres Gewehr mit sich schleppt: „Gafft doch nicht hier herum und schwatzt nicht. Los, Knarren genommen und hin zum Kanal, sonst verrecken die paar Mann!" Er hockt sich auf eine Steinstufe hin und schluchzt. Die Menge starrt ihn an. Ein anderer mit einem Gewehr schreit: „Ihr seid alle schuld, dass wir jetzt totgeschlagen werden. Ihr alle seid auf den Verrat eingegangen und habt uns allein gelassen!" Er erhebt wütend sein Gewehr: „Und ich überlass' es ihnen nicht!" und schmettert es mehrere Male gegen die Hauswand, bis es zersplittert. Er wirft den Rest den Bürgern vor die Füße: „Da! Jetzt könnt ihr's nehmen!"
„Jesus Maria!" schrie eine der Frauen. „Die Menschen werden irrsinnig!"
„Halt dein Maul!" grollte der abgehetzte Mann, „morgen heulst du vor Freude, wenn uns Watter an die Mauer stellt und abknallt! - Platz!" schrie er.
Die Menge wich zurück.
Die welken, grauen Gesichter waren voller Trauer. Die Bürger gingen kopfschüttelnd ihrer Wege.
Mit einem furchtbaren Blick des Hasses humpelte der Verwundete davon.
Die Stadt strich die roten Fahnen ein und hüllte sich in Trauer. Die Rote Armee, deren letzter, verzweifelter Widerstand am Kanal gebrochen war, befand sich in Auflösung und flutete ins Bergische Gebiet.
Der revolutionäre Zentralrat in Essen hatte alles versucht, um den Zerfall der Front noch einmal aufzuhalten, aber die zersetzenden Kräfte, die sich teilweise der Führung der Kämpfenden bemächtigt hatten, unterstützt durch Watters Drohungen und Versprechungen der Regierung, hatten diese Auflösung beschleunigt.
In der Stadt trieb sich wieder das Plündervolk umher ; die Verwirrung ausnutzend, drangen sie in Scharen in die Geschäfte und tobten und schleppten die Ware und Gegenstände heraus. Die letzten zurückkehrenden Rotarmisten versuchten, die Plünderungen aufzuhalten.
Auch Renteleit hörte schreien: „In der Grabenstraße schlagen die Spartakisten die Fenster ein!"
„Jetzt beschmutzen sie uns noch!" grollte der ermüdete Mensch. Er hielt einige Genossen auf und zog sie mit nach der Grabenstraße. Die Plünderer verließen gerade das Kaufhaus Freudenberg, vollbepackt mit Waren.
„Wo wollt ihr damit hin?" schrie sie Renteleit voller Zorn an.
„Wir haben Empfangsscheine!" antworteten ihm einige der Plünderer. „Von wem?" „Vom Vollzugsrat!"
„Bringt sofort die Sachen zurück!" befahl Renteleit und drohte: „Ich schieß' euch einen nach dem anderen nieder, wenn ihr nicht gleich die Sachen wieder zurückbringt!"
Einer brüllte: „Schlagt ihm doch was auf den Schädel; er hat hier nichts mehr zu sagen!" Renteleit knirschte und schoss. Er trieb die anderen, die stumm geworden waren, in das Kaufhaus zurück: „Hunde, Banditen verfluchte, nachher heißt es: ,Spartakisten'. Wenn sich noch einer mit einem Stück Ware sehen lässt, dem geht es wie dem Verbrecher!"
Auch in der Limbecker Straße fielen Schüsse. Dort tobte ein Kampf zwischen Arbeitern und Plünderern.
In dieses Durcheinander brachten eilig heranradelnde Boten die Nachricht, dass die Reichswehr einrücke.
Schotte zog den aufgeregten Renteleit mit: „Komm, wir müssen weg!"
Renteleit wandte sich noch einmal um und seufzte: „Verfluchte Verräter. Aber wir kommen wieder. Wir kommen...!" Er taumelte fort. —
Am Nachmittag standen die Panzerwagen der Reichswehr am Kathaus und vor den anderen Verwaltungsgebäuden. In allen Straßen drohten die Mündungen der Maschinengewehre.
In der Viehhofer Straße standen die Leute. Einige aus der Stadt heimkehrende Männer zeigten finster zurück: „Die Noskisten bringen wieder welche fort!"
„Der eine hatte das Gesicht aufgeschlagen, und der zweite konnte kaum noch laufen. Er war verwundet!" erzählte zitternd eine andere Frau.
Eine dritte Frau jammerte: „Mein Gott, und mein Mann ist noch nicht zu Hause. Ich weiß nicht, wo er steckt. Wenn sie ihn nur nicht abgeschleppt haben."
Frau Kreusat, die mit in der Menge stand, erzitterte, als sie von den Verhaftungen hörte. Sie begann zu weinen. Sie wollte in die Stadt, um nach dem Jungen zu sehn. Vielleicht war er unter den Verhafteten. Man hielt sie zurück: „Bleib hier Mutter, da rasen sie jetzt, und du kannst noch eine Kugel abkriegen."
Frau Kreusat stammelte: „Mein Junge ist noch nicht zurück."
Der alte Koschewa nahm sie mit: „Kommt, Frau Kreusat, meiner ist ja auch noch nicht zurück. Vielleicht sind sie mit den anderen weitergezogen. Hoffen wir, dass sie noch leben."
Frau Kreusat suchte schon den ganzen Tag ihren Franz. Der eine erzählte ihr, man hätte ihn bei Wesel gesehen, ein anderer glaubte, ihn bei den Zurückkehrenden gesehen zu haben. Sie schwebte zwischen Hoffnungen und tödlicher Angst, ihn nicht wieder zu sehen.
Sie kam wieder nach Hause zurück und klagte ihrem Mann, der grübelnd am Fenster saß: „Ich hab' ihn nicht gefunden."
„Er wird vielleicht noch kommen", tröstete hüstelnd Martin Kreusat sie.
„Und wenn ihm doch was passiert ist?" klagte sie, „sie verhaften jetzt alle in der Stadt. Vielleicht auch ihn." Martin Kreusat hüstelte und wandte sich ab.
Fritz Raup und Zermack waren abends zurückgekehrt. Miller war ihnen aus den Augen gekommen, aber sie glaubten, dass er sich mit den anderen gerettet habe. Sie gingen, nachdem sie ihre Frauen beruhigt hatten, wieder nach der Wache. Sie trafen dort nur die Blauen an, die ihren Dienst wieder aufgenommen hatten. In einer Ecke stand eine Menge abgegebener Gewehre, und Zermack erfasste die Wut. Herr Loew kam aus dem Nebenraum - er war wieder der wohlgesetzte Herr Kommissar Loew. Er sah die beiden Männer und erklärte: „Meine Herren, wir haben den Auftrag, unseren Dienst wieder aufzunehmen und uns um die Ordnung im Ort zu kümmern. Sie wissen, dass die Arbeiter schon alle ihre Gewehre abgegeben haben, und es wäre auch für Sie ratsam, dasselbe zu tun, bevor die Reichswehr auch hier einrückt." Er spielte noch den vermittelnden Mann, weil er des vollständigen Sieges der Reichswehr wohl noch nicht ganz sicher war.
Die anderen Blauen saßen mit abgewandten Gesichtern und anscheinend auch noch nicht ganz sicher, ob man sie nicht doch noch einmal herausholen würde.
Zermack starrte von einem zum anderen. Sein Gesicht arbeitete heftig. Er sagte endlich gepresst: „Die Gewehre bleiben hier nicht stehen. Die kommen gleich weg."
Herr Loew wollte empört auffahren: „Meine Herren...", aber Zermack schrie drohend: „Die Gewehre werden sofort weggebracht. Die Reichswehr kriegt sie nicht in die Hände!"
Inzwischen waren noch mehrere Kumpels von ihrer Schar hinzugekommen. Zermack befahl ihnen, die Gewehre mitzunehmen. Die Männer nahmen jeder mehrere der Gewehre, andere rafften die Munition zusammen.
Herr Loew versuchte, ihnen zu wehren, aber Zermack schob ihn zurück und sagte: „Noch sind wir hier. Die Reichswehr kriegt keine Patrone in die Hände!"
Er wandte sich noch einmal an Herrn Loew: „Wir gehen, aber wir kommen wieder. Ich warne euch, euch an unseren Menschen zu vergreifen!"
Er zog Raup hinaus. Sie standen draußen in der Nacht. Fritz Raup fragte: „Was tun wir jetzt?"
Zermack grübelte düster und antwortete: „Wir können hier nicht bleiben. Komm, sagen wir es den Frauen, und dann gehen wir. Sie werden sich entsetzen, aber es ist besser, wir gehen, als dass wir uns den Mördern freiwillig ausliefern."
Die Reichswehr rückte gegen Morgen in Stoppenberg ein. Sie kam um die Stunde, als Jupp Zermack und Fritz Raup auf Umwegen in eine neue Ungewissheit zogen.
Herr Loew empfing den Unteroffizier, der mit einer Gruppe Soldaten auf die Wache kam, mit einem Aufatmen. Jetzt war er endlich seiner sicher, und er bedauerte, dass er vorher nicht seine ganze Energie zusammengerafft und das Wegschleppen der Gewehre verhindert habe. Er meldete dem Unteroffizier, dass die Polizei wieder ihren Dienst und die Verwaltungsgeschäfte übernommen hätte. Er sagte nichts von den Gewehren, weil er Sorge hatte, dass man ihn dafür verantwortlich machen könne. Er blickte nur einen Moment misstrauisch auf die Blauen, aber diese standen mit verschlossenen Dienstgesichtern da. Noch einmal durchfuhr ihn der Schreck, als der Unteroffizier barsch fragte, ob die Gewehre abgegeben worden seien. Herr Loew stotterte: „Das entzieht sich meiner Kenntnis", und er schielte noch einmal nach den Blauen. „Ich denke, es werden wohl noch welche in den Häusern stecken", erklärte er in der Hoffnung, dass man die weggetragenen Gewehre bei dem einen oder anderen wieder herausholen könnte. Der Unteroffizier drohte: „Wir werden mit keinem fackeln, der die Roten vielleicht in Schutz nehmen oder uns etwas verschweigen will. Die kommen alle auf Nummer Sicher oder an die Wand!" Er ging mit der schwerbewaffneten Gruppe wieder weg und ließ einen neuen Schrecken zurück.
Herr Loew brummte bleich: „Man kommt niemals mehr zur Ruhe!" Er ging in seinen Nebenraum zurück. Doch ließ es ihm drinnen keine Ruhe, er kam wieder hervor und sagte zu den Blauen, die ihr Flüstern miteinander gleich wieder unterbrachen: „Ich möchte Sie bitten, von der Geschichte mit den Gewehren vor keinem etwas zu erwähnen, sonst machen sie uns alle dafür verantwortlich."
Die Polizisten schüttelten nur stumm die Köpfe. Am frühen Morgen kam der Unteroffizier mit einigen der Soldaten und einem Leutnant wieder. Herr Loew starrte sie erschrocken an. Der Leutnant sagte: „Wir werden einige Haussuchungen vornehmen und brauchen dazu Ihre Leute, die sich hier besser in den Buden auskennen. Bestimmen Sie gleich die einzelnen für die verschiedenen Straßen."
Herr Loew klappte die Hacken zusammen und sagte: „Jawohl, Herr Leutnant!"
Der Leutnant befahl noch einmal: „Aber eilen Sie sich, wir wollen sofort anfangen!"
Herr Loew sagte: „Jawohl", und verneigte sich etwas ungeschickt.
Die Soldaten gingen. Herr Loew starrte die Blauen an, die mit verlegenen Mienen dastanden. Er sagte: „Wir müssen schon den Befehl ausführen, sonst kommen sie uns auf den Hals. Bitte, meine Herren, bereiten Sie sich darauf vor, dass Sie gleich mitgehen können!" Er ließ schnell auch noch die nicht anwesenden Schutzleute holen und ging blas in seinen Raum. Die Blauen sahen sich an. Der ältere Tille brummte: „Wenn man sich jetzt in den Häusern mit der Reichswehr sehen lässt, dann kommen uns nächstens die Arbeiter wieder auf den Kopf. Man weiß verflucht nicht mehr, wo man hingehört."
Am nächsten Morgen gingen in der Salkenberg-Kolonie und in der Essener und in anderen Straßen eilig Gruppen von Soldaten mit je einem Blauen in die Häuser. Im Ort sah man viele graue Uniformen und berittene Kommandos, die über die Felder sprengten. Die Reiter wühlten auf den Äckern, wo sie Herr Kleinemann, der mutmaßte, dass man dort verschiedene Gewehre vergraben hätte, heimlich hingewiesen hatte. Herr Kleinemann winkte den vorbeikommenden Soldatentrupps und verbeugte sich und stand stramm vor den Offizieren. Er sagte zu einem der Unteroffiziere, der in der Straße die Haussuchungen vornahm: „Ihr kommt leider etwas zu spät. Der Zermack und der Raup sind nicht mehr hier. Sie hatten leider noch ausrücken können. Das waren nämlich die Anführer."
„Wo wohnen die beiden?" herrschte ihn der Unteroffizier an. Herr Kleinemann nahm die Füße zusammen, wie früher bei seinem Wachdienst, und zeigte auf die beiden Häuser, wo Raup und Zermack wohnten. Er fügte noch hinzu: „Es sind noch mehrere mitgerannt, auch der Kreusat-Bursche ist mitgefahren."
Der Unteroffizier ging mit der Gruppe in das Haus, wo Fritz Raup wohnte. Er befahl dem ihn begleitenden Tille barsch: „Gehen Sie vorauf, Sie wissen doch wohl, wo die Genannten wohnen!"
Tille ging der Gruppe vorauf. Er tat es nicht gern, denn gerade der Raup kannte ihn sehr gut, und darum war ihm der Gang noch peinlicher. Der alte Polizist empfand gegen diesen wütenden Reichswehrkerl und auch gegen Loew eine unheimliche Wut, und er klopfte nur zögernd an die Tür der Raupschen Wohnung. Er hörte drinnen einen Klagelaut und sah zögernd den Unteroffizier an. Der stieß ihn zur Seite und riss die Tür auf. Die Frau schrie und starrte die Soldaten an. Die vier Kinder umringten sie erschrocken.
Der Unteroffizier fragte: „Wo ist Ihr Kerl?"
Frau Raup sagte zitternd: „Er ist nicht zu Haus." „Wir kriegen ihn noch!" drohte der Unteroffizier und befahl den Soldaten, die Wohnung zu durchsuchen. Die Soldaten warfen alle Sachen durcheinander, rissen die Betten und Schränke auf und suchten überall; sie fanden aber nicht die gesuchten Waffen. Sie kamen wieder aus der Kammer zurück.
Der Unteroffizier drohte noch einmal der Frau: „Wenn wir deinen Kerl kriegen, dann hängt er, verlas dich drauf!"
Die Schar polterte hinter ihm hinaus.
Der Unteroffizier befahl Tille: „Zu dem anderen!"
Tille, der noch rasch Frau Raup einen entschuldigenden Blick zugeworfen hatte, ging mit rotem Gesicht vorauf, in das nächste Haus, wo Zermack wohnte.
Frau Zermack, die auf diesen Besuch schon vorbereitet war, blickte der eindringenden Schar ruhiger entgegen. Der Unteroffizier schrie sie wie Frau Raup an: „Wo ist Ihr Kerl?"
Auch Frau Zermack antwortete: „Mein Mann ist nicht zu Hause."
Der Unteroffizier schrie Tille an: „Ihr Feiglinge habt sie alle entschlüpfen lassen. Auf der Wache sitzen sie und dösen. Ihr seid mir schon eine Polizei! Aber das wird euch angekreidet!" drohte er.
Sie durchwühlten auch Zermacks Wohnung, rissen Dielenbretter heraus, klopften die Wände ab. Der Unteroffizier drohte der stummen Frau: „Man soll euch alle totschlagen, mehr seid ihr nicht wert. Wenn wir den Kerl nicht kriegen, dann holen wir dich, dann wirst du beichten, wo er steckt."
Sie zogen ab.
„Führen Sie uns zu den anderen!" befahl der Unteroffizier Tille. Tille stammelte: „Die anderen sind harmlose Leute..."
Der Unteroffizier lachte wütend: „Harmlose Leute, alles harmlose Leute. Sie wollen Soldat und Polizist sein? Man sollte auch euch alle erschießen!"
Tille schwor sich, als er in das nächste Haus ging, wo die Kreusats wohnten, dass er diesen Dienst nächstens aufgeben würde.
„Wenn dieses Unglück bloß vorbei ist, dann bin ich mit der Uniform fertig", sagte er sich, während er die Treppe zu den alten Leuten hinaufstieg.
Der Unteroffizier klopfte nicht an, er stieß brüsk die Tür auf. Die alte Frau wollte schreien, aber Martin Kreusat hielt sie zurück. „Sei still, Mutter!"
„Wo ist euer Kerl?" schrie der Unteroffizier.
Sie erhob entsetzt die Hände.
Martin Kreusat antwortete: „Das weiß Gott. Er ist noch nicht nach Hause gekommen."
Der Unteroffizier stierte ihn an: „Einen Verbrecher habt ihr erzogen!" stieß er wütend heraus.
Martin Kreusats altes Gesicht wurde grauer und erzitterte. Er wurde größer. „Mein Sohn ist kein Verbrecher", antwortete er jähzornig. „Wir haben unseren Sohn gut erzogen, aber die anderen wollten ihn schlecht erziehen. Die anderen, die mich früh zum Invaliden gemacht haben, zu einem kranken, sterbenden Menschen, der sich mit fünfzig Jahren nicht mehr bewegen kann. Mein Sohn war ein guter Mensch!"
Der Soldat stierte ihn rot an. Er erhob knirschend die Pistole. Einen Augenblick schien es, als wollte er gegen die Brust des alten Mannes abdrücken; dann ließ er die Pistole wieder sinken, sagte voller Wut: „Pack!" und winkte den Soldaten.
Sie polterten hinaus.
Martin Kreusat murmelte noch in Auflehnung: „Wir sind kein Pack. Ihr seid die Tiere, die sich für die schändliche Sache hergeben. Mein Sohn ist ein guter Mensch."
Eine Reichswehrtruppe war in Tautens Haus gegangen. Jakob Tauten saß oben allein in der Küche - seine Frau war nach Stoppenberg, um Therese zu suchen - als er die schweren Stiefel auf der Treppe vernahm. Er machte die Tür auf und trat hinaus. Er sah die Soldaten heraufkommen und starrte sie verwirrt an.
„Wo wohnt hier Tauten?" herrschte ihn der Feldwebel an, der diese Schar anführte.
Tauten stammelte: „Das bin ich" - und starrte noch immer verständnislos auf die Soldaten.
Der Feldwebel stieß ihn in die Küche. „Haben Sie Gewehre im Haus?" herrschte er ihn wieder an.
Tauten stammelte: „Ich hab' mein Gewehr abgegeben. Ich bin schon seit mehreren Tagen zu Hause und nehme an nichts mehr teil." Der Feldwebel sagte zu den Soldaten: „Der wird mitgenommen!" Er ließ die anderen die Wohnung durchsuchen, während Tauten in voller Verwirrung zusah. „Aber Menschen, was wollt ihr denn?" fragte er.
„Das wirst du schon selber wissen, was wir wollen", antwortete der Feldwebel und befahl ihm: „Zieh den Rock an und komm mit!"
Jakob Tauten suchte zitternd seinen Rock, zog sich an und ging seufzend mit. Er fragte auf der Treppe noch einmal: „Aber, was wollt ihr denn von mir?"
Die Soldaten stießen ihn ohne Antwort vor sich her.
In der niedrigen, langen Kegelbahn der Wernerschen Schenke standen schon eine Anzahl der Kolonisten und verschiedener Leute aus dem Ort. Die Reichswehr hatte auch den alten Koschewa und den grauen Heise geholt. Tauten musste sich wie die anderen mit dem Gesicht gegen die Wand stellen.
„Was wollen sie denn von uns?" wandte er sich noch ganz eingeschüchtert an den starrblickenden Heise.
Einer der Soldaten schrie ihn an: „Halt dein Maul, hier wird nicht geredet!"
Tauten wurde still, seufzte und wandte sich wieder mit dem Gesicht nach der Wand.
Sie standen schon mehrere Stunden in der gleichen Ungewissheit.
Erst am Nachmittag hörte Tauten Schigalskis Stimme, der mit den Soldaten und dem Wachunteroffizier sprach. Er drehte sich um und sah Schigalski mit dem Unteroffizier hereinkommen.
Schigalski schalt: „Ich hab' dir gesagt, dass du mit hineinschluderst. Jetzt hast du deine dumme Freundschaft mit Miller und Zermack. Jetzt muss man alle Behörden abrennen und sich das Maul wundschwätzen, um dich wieder freizubekommen."
Jakob Tauten hörte nur, dass er wieder freigelassen werden sollte, und sah den Parteisekretär dankbar an.
Schigalski verhandelte noch einmal mit dem Unteroffizier, zeigte die Bescheinigung von der höheren Kommandostelle der Reichswehr, bei der er, nach vielem Verhandeln, Tautens Freilassung erwirkt hatte. Er zeigte auch seinen Sekretärausweis der Sozialdemokratischen Partei vor und sagte: „Meine Partei war immer gegen diesen sinnlosen Kampf, und wir bedauern, dass es soweit gekommen ist."
Er konnte Tauten mitnehmen. Tauten, von den Schrecken noch ganz geschwächt, schwankte neben ihm her, während Schigalski weiterschimpfte: „Ich hab' dir immer gesagt, dass du dich hineinreiten wirst, aber du hast nicht darauf gehört. Du kannst noch von Glück reden, dass wir uns darauf besonnen haben, dass du früher deine Pflicht besser erfüllt hattest, sonst wäre es jetzt um dich geschehen."
Tauten antwortete nicht. Er dachte nur: Nach Hause, nach Hause, die Frau wird sich zu Tode ängstigen.
Schigalski holte abends auch noch den Heise heraus, den er mit den gleichen Vorwürfen überschüttete, dass er den Jungen mit hinausrennen ließ. „Der hört nicht mehr auf mich", antwortete Heise, der wegen des Sohnes aus dem Haus geholt worden war. „Er ging einfach weg und hat sich bis jetzt noch nicht sehen lassen."
Schigalski knurrte: „Du hättest ihn anders erziehen sollen, dann wäre er dir besser gefolgt."
Heise blickte ihn mit einem stillen Hass an: „Besser erziehen, sagst du, sollen wir die Kinder. Aber wenn ich ihn so erziehen soll", sagte er plötzlich aufgeregt, „wie sie diese Söldner-Gesellschaft erzogen haben, dann soll er lieber auf seinem Wege zugrunde gegangen sein." Er fügte erstickt hinzu: „Das sind keine Menschen, das sind Bestien und Mörder, die sie uns hergeschickt haben."
Nachts kam der alte Koschewa mit zerschlagenem Gesicht nach Hause. Dutzende Male hatten die Fäuste der Soldaten in sein altes, blutendes Gesicht geschlagen. Er sollte verraten, wo sein Edy steckte. Er sagte immer: er wisse es nicht. Und wenn er es gewusst hätte, er hätte den Jungen nicht preisgegeben, nein, diesen Mördern nicht.
„Den Wirrwa", erzählte er den Leuten, die furchtsam im Haus zusammenstanden, „den sie mit verhaftet haben, musste man ins Krankenhaus schleppen, so geschlagen hatten sie ihn. Erschossen soll er werden."
Mehrere Wochen lang ritten die Watter-Husaren durch Eisendorf. Sie preschten in die Felder, sprangen ab, wühlten und jagten nach einiger Zeit wieder davon.
Bei dem Auftauchen der Reiter stoben die Leute voller Schrecken in die Häuser. „Sie suchen wieder!"
Die Mütter rissen die Kinder von der Straße, dass sie nicht unter die Hufe der galoppierenden Pferde gerieten. Sie jammerten: „Die Teufel, was suchen sie denn immerfort bei uns? Sie sollen lieber abziehen und die Menschen nicht rumhetzen."
Die Söldner zogen nicht ab. In den Schenken allabendlich zechend, erzählten sie prahlend von ihren blutigen Menschenjagden, als handelte es sich um Hasentreibjagden.
In Hamborn waren vierundsechzig Arbeiter, in Pelkum bei Hamm zweiundneunzig exekutiert worden. In Bottrop hatte man sie „wie Stangenvögel auf einem Schützenfest" abgeknallt.
Willi Werner, der nach dem Einrücken der Reichswehr wieder in Stoppenberg aufgetaucht war, hatte in diesen Tagen hohen Betrieb. Die Nächte hallten wider von Gelagen mit Willi, der seine Offiziersgäste gut zu bewirten verstand. Langsam versammelten sich drinnen auch die alten Stammgäste wieder. Klirrende Prosits und das Erhardt-Lied wechselten mit zotigen Späßen und der Wacht am Rhein ab.
Am nächsten Morgen preschten wieder die Husaren heran. Sie suchten nach Waffen und nach verborgenen Rückzüglern. Stiefelknarren, Säbelklappern - schneidende Stimmen: „Man soll euch alle einbuchten, dann ist man euch Aufwiegler ein für allemal los!"
Herr Kleinemann, der seine innere und äußere Sicherheit wieder völlig hergestellt fühlte, redete in seinem Laden wie die „Allgemeine". „Ja, die Vernunft hat sich Gott sei Dank wieder durchgesetzt und wir können jetzt mit ruhigeren Zeiten rechnen. Die Regierung hat gut eingegriffen und hat die notwendige Ruhe wiederhergestellt."
Er ging jetzt auch wieder sicherer nach der Wernerschen Schenke, wo er sich die Gespräche der Soldaten anhörte.
Stübel und Schwerlich zechten mit, und auch Herr Kleinemann stieß mit den grölenden Unteroffizieren auf den „Sieg" an: „Auf unseren alten Hindenburg, meine Herren" - „Auf unsere tüchtigen Truppen!"
Herr Kleinemann kam jetzt jeden Abend in gehobener Stimmung nach Hause. „Jetzt haben wir endgültig unsere Ruhe!"
Die „Allgemeine" und der „Kleine Anzeiger" (beides konservative, von der rheinischen Industrie finanzierte Blätter) berichteten: Die Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung und die freiwillige Waffenabgabe machen gute Fortschritte!
Die Husaren trieben mehrere Hundert Arbeiter zusammen, rasten noch einige Zeit umher und zogen schließlich ab. Die Zeitfreiwilligen hielten Einzug. Mit einer Gruppe drangen sie auch bei Frau Zermack wieder ein. Ausgefütterte, rohe, dumme Gesichter. Stiefel knarrten, Gewehre klapperten. „Wo ist Ihr Kerl?" schnauzte ein Leutnant, dass die Kinder vor Schreck loszeterten.
Sie wisse es nicht!
Sie, seine Frau, wisse es nicht? Wem wolle sie dies vorreden! „Wenn er geschnappt wird, dann kann er sich auf einen verfluchten Tanz gefasst machen! Totschlagen soll man alle, dann ist man euch Sorte auf einmal los!"
Die Zeitfreiwilligen stöberten noch ein paar Rückkehrer auf und trieben sie weg. Nach einigen Wochen zogen sie endlich ab.
Die „Grünen" übernahmen als letzte und dableibende Sicherheitstruppe die vollkommene Wiederherstellung der „Ordnung".
Die Seilscheiben in den Schächten drehten sich in alter Schnelligkeit. Die „Allgemeine" berichtete mit Genugtuung: Die Besinnung des arbeitenden Volkes habe die bösen Auswirkungen der blinden Verhetzung überwunden. Man könne damit rechnen, dass der Kohleausfall der Streikenden alsbald wiederaufgeholt sei.

 

Achtes Kapitel

Therese war zurückgekommen. Sie hatte den ganzen Rückzug von Dorsten, einmal mit dieser, einmal mit jener Schar, mitgemacht, immer wieder Verwundete verbindend. Sie griff manchmal selbst nach einem Gewehr und schoss mit den Männern gegen die vorrückende Reichswehr. Weil ihre Hoffnung, dass Franz noch lebe, immer mehr sank, bewegte sie der Gedanke, dass sie ihn jetzt zu vertreten habe. Und sie widersetzte sich den Männern, die sie durchaus zwingen wollten, die Truppe zu verlassen und sich zu retten.
Sie war an dem Tage nach Hause gekommen, als Tauten von den Reichswehrsoldaten verhaftet worden war. Sie fand die Mutter krank im Bett Hegen. Die alte Frau empfing sie mit der Klage: „Der Vater ist verhaftet worden. Er ist doch unschuldig, weshalb hat man denn ihn weggeholt? Geh hinaus, Kind, und sieh nach, wo er geblieben ist!"
Therese war diesem kleinen, engen Leben und diesen Klagen schon so fremd geworden, dass sie die Seufzer der verängstigten Mutter im Augenblick gar nicht rührten. Sie zog das abgerissene und verdreckte Zeug aus und ließ sich am Fenster nieder. Franz kommt nicht mehr! dachte sie.
Tauten kam gegen Abend zurück.
Er sah die Tochter am Fenster sitzen und blieb an der Tür stehen. Einen Moment lang glitt ein kurzer Schein der Freude über sein noch blasses Gesicht.
„Das Kind ist da", sagte er, „nun bin ich auch die letzte Sorge los." Er ging auf die Tochter zu und sagte: „Wir haben uns beide unsinnigerweise hinreißen lassen, aber das kommt mir nicht mehr vor. Jetzt wird wieder der Arbeit nachgegangen und alles vermieden, was uns noch einmal in eine solche Lage führen könnte."
Therese blickte ihn starr an: „Du hast wohl wieder deine Meinung gewechselt", sagte sie enttäuscht und bitter. „Franz liegt wohl draußen irgendwo totgeschlagen und Hunderte haben sich geopfert. Nur Schigalski hat es nicht verstehen wollen und hat dich wohl wieder zu dieser neuen Umkehr verleitet. Ich glaubte, dich anders vorzufinden."
Tauten hörte ihr verlegen zu. Er entschuldigte sich: „Was ich getan habe, das musste ich tun, und das haben auch viele andere getan. Man kann sich nicht gegen die Gewalt stellen, wenn sie stärker ist als wir. Und man kann ja auch in Frieden erreichen, was man mit Auflehnung und Widerstand nicht schaffen kann. Ich habe mich wieder besonnen, ja, und beabsichtige nicht mehr, gegen den Willen meiner Partei zu handeln. Wenn Schigalski nicht gewesen wäre, dann wäre ich wohl jetzt nicht mehr losgekommen."
Therese sagte erst nach einigen Minuten Grübelns: „Du hast nicht recht gehandelt. Deine Umkehr ist Flucht vor dir selber, und die Politik deiner Partei führt zum Verderben. Ich habe mich entschlossen, von heut ab mehr auf die anderen als auf dich zu hören. Wenn du glaubst, dass ich hier im Haus bleiben soll, dann bleibe ich, aber unsere übrigen Wege haben sich getrennt."
Tauten fand darauf keine Antwort mehr. Er sah sie noch eine Weile starr an, schüttelte den Kopf und ging stumm in seine Kammer.
Therese wusch sich und zog sich um. Sie wollte zu den alten Kreusats. Die brauchten jetzt jemanden um sich.
Sie begegnete in den Straßen den umherstehenden Soldaten und wandte ihre Augen ab. Sie hasste diese Gesichter und diese Uniformen. Sie eilte schneller.
Die alten Kreusats saßen stumm in ihrer Küche. Als sie eintrat, stieß Frau Kreusat einen Jammerlaut aus: „Da kommt sie!" Sie fragte: „Hast du Franz mitgebracht?"
Therese lief auf sie zu und zog die alte Frau in ihre Arme. „Mutter!" Beide weinten.
Martin Kreusat stand auf und ging in seine Kammer.
Bedrückende Wochen durchlebten die Menschen. Endlich verkündigte die Regierung eine Amnestie.
Die außerhalb des Ruhrgebiets weilenden Flüchtlinge wurden aufgefordert, zu ihren Familien zurückzukehren; es würde ihnen nichts geschehen.
Man spürte aber keine Freude. Überall lebte der Schrecken weiter. Die Leute auf den Feldern erhoben schnell ihre Köpfe, wenn irgendwo ein Hufschlag ertönte. Man war noch nicht sicher, ob die Ordnungstruppen nicht noch einmal ankämen. Die Ruhe war ein dauerndes Zittern und Ausschauen nach neuen Feinden.
Den Sommer über wartete man auf jene, die noch nicht zurück waren. Man hatte sie vor Dorsten, vor Wesel, in Mülheim und einige noch vor Essen gesehen, aber sie kamen nicht. Der Wurzbacher fehlte, der Johann Kaluga fehlte, der Edy Koschewa und der Martin Kaminski fehlten; aus den Nachbarstraßen fehlten welche. Aus allen Orten und aus allen Kolonien rundum fehlten noch viele.
Die paar Bäumchen, die in den rußigen Straßen standen, verloren schon ihre Blätter. Dürr und welk nahte der Herbst. Der Mensch spürte Hass und Erbitterung. Wenn es eine Ordnung und Gerechtigkeit gäbe, dann müsste eine furchtbare Strafe über diejenigen hereinbrechen, die dem armen Volk dieses neue Unglück bereitet hatten. Man konnte ja einander nicht mehr anblicken, ohne nicht selber in Heulen und Knirschen auszubrechen, so schwer war das Leben wieder geworden,
Oft sah man auch Therese vor dem Haus, wo Kreusats wohnten, stehen. Sie sagte nichts, sie klagte nicht -ein sonderbar still und ernst gewordenes Geschöpf. Sie erwartete ihre schwere Stunde.
Die Naumannsche traf sie zuweilen vor der Tür und schrie jammernd: „Warte doch nicht, Kind, reg dich lieber etwas und versuche, darüber hinwegzukommen!" Die ewig beschäftigte Frau trug wieder die Zeitung aus und rannte von Haus zu Haus, um die bedrückten Leute aufzumuntern, die alle noch unter dem Alpdruck lebten.
Endlich war auch Zermack mit Miller und Fritz Raup zurückgekommen. Die Frau und die Kinder empfingen ihn schreiend: „Der Vater ist da!"
Als sich der erste, schmerzliche Wiedersehenssturm gelegt hatte, fragte Zermack: „Ist Kreusats Junge wiedergekommen?" Die Frau schüttelte den Kopf und fuhr mit der Schürze über ihre Augen. Der große Mann kämpfte mit sich. Er setzte sich auf die Bank und hob seinen Jüngsten auf. Er strich dem Kleinen, der ihn nicht wieder erkannte, über den Kopf und beruhigte: „Schrei doch nicht, Kind, oder bin ich dir schon so fremd geworden?"
Seine Frau fragte ihn ängstlich: „Und wirst du wieder anfahren?"
„Es ist ja Amnestie", antwortete er, bitter auflachend, „und angeblich Order, alle wieder anfahren zu lassen."
Sie griff nach einigen Grubensachen: „Die muss ich auch noch flicken, wenn du wieder anfahren wirst." Sie sagte es nur, um ihre Tränen zu verbergen, die ihr immerfort aufstiegen. Es gab ja überall nur Trauer und Angst um die nicht heimgekehrten Männer; und auch sie hatte sich schon allerhand Gedanken gemacht, ob sie ihn nicht festgenommen und ihm was angetan hatten.
Als sie aus der Kammer einige Sachen hervorholte, um sie zu flicken, und der Hauer sich wieder gedankenvoll auf dem Schemel niedergelassen hatte, erschien in der Tür plötzlich bleich und aufgeregt der älteste Junge. „Vater, verschwinde irgendwo, man will dich holen", sagte der Junge und drängte ihm rasch den aufgegriffenen Rock in die Hand. „Geh, geh, sie wollen herkommen!" Frau Zermack kam aus der Kammer und sah erschrocken ihren Mann an.
„Mein Gott, wieder!"
„Ruhig", ermahnte der Hauer und nahm widerstrebend den Rock. „Erschreckt nicht gleich wieder. Wer sagte denn das?" wandte er sich an den Jungen.
„Geh, geh", drängte der aufgeregte Junge, und auch Frau Zermack bat: „Geh weg, Vater!"
Zermack zögerte noch, während der Junge erzählte: „Der Tille hat's dir sagen lassen. Ich soll dich warnen. Man will dich holen."
„Der Tille." Zermack kannte den alten Schutzmann als einen vernünftigen Mann. Er sagte trotzdem noch widerstrebend: „Es kann doch nur Unsinn sein. Die haben doch die Amnestie erlassen..." Er glaubte aber selber nicht mehr daran, denn schon auf dem Heimwege war ihm von neuen Verhaftungen in der Stadt erzählt worden. Er ließ sich jetzt ohne Widerstreben von dem Jungen hinausziehen. Der Hauer stand auf dem Hof. Er hatte, in einer kurzen Auflehnung, das Verlangen, in den Stall zu gehen, dort das Beil zu nehmen und sich, wenn sie ankämen, zur Wehr zu setzen. Aber der Junge zog ihn bei der Hand weiter ins Feld hinaus. „Geh in die Kolonie, da kannst du vielleicht irgendwo unterkommen; ich sage, du bist noch nicht zurück." Er schob ihn weiter.
Zermack stand einen Augenblick auf dem Feldweg. „Das ist die Heimkehr." Er schüttelte den Kopf. Er ging langsam nach der Kolonie hinauf. Vielleicht konnte er dort eine Weile bei einem Kumpel unterkommen, bis sich die Gefahr verzogen hatte. In Gedanken versunken ging er in die Straße hinein, wo Wurzbachers Familie wohnte. Er wusste nicht, dass Wurzbacher noch nicht zurückgekommen war, und klopfte bei ihm an. Frau Wurzbacher kam heraus. Er sah ihr verhärmtes Gesicht und wagte nicht, nach dem Mann zu fragen. Sie sagte selber: „Ihr seid alle zurückgekommen, nur meiner ist irgendwo liegen geblieben; jetzt sitz' ich hier mit den sechs Kindern ohne Brot. Die Mörder, die verfluchten!" weinte sie.
Zermack stand beklommen da und wusste nicht, was er der Frau sagen sollte. Er ging endlich weiter. Da rief ihn jemand an. Er sah sich um, erkannte Christian Wolny. „Die sind wohl auch hinter dir her?" fragte der frühere Kuli.
Zermack nickte abwesend. „Ja, man hat sich kaum sehen lassen, schon jagen sie hinter einem her. Ich musste von Hause weg, weil sie zu mir kommen wollen!"
Christian Wolny zog ihn mit: „Komm, gehn wir zu Heise." Zermack zögerte, aber Christian erzählte: „Der Schigalski hat ihn zwar wieder herausgeholt, aber Heise hat sich in den letzten Tagen gewandelt und hält zu uns. Auch Renteleit hält sich bei ihm auf, weil sie ihn schon gesucht haben!"
Heise empfing sie wortkarg. Renteleit saß in der Stube. „Jetzt spielen wir wieder Hasen, trotz der Amnestie", sagte der schwerfällige Mensch und lachte ingrimmig.
Heise trat in die Stube und sagte zu Zermack: „Ich halte es für richtiger, wir bringen euch woanders unter, denn ich bin noch nicht sicher, ob sich Schigalskis Sinn nicht wieder wandelt."
Zermack erfuhr von Renteleit, dass Heise mit der Sozialdemokratischen Partei gebrochen hatte, und verstand jetzt erst, dass dieser früher so widerspruchsvolle Mann ihnen bereitwillig seine Hilfe anbot. Heise hatte durch andere erfahren, dass sein Junge glücklich fortgekommen war. Heini saß noch irgendwo in Elberfeld.
Heise brachte Zermack am Abend zu seinem Schwager Schocke, der in der Stinnesstraße wohnte, schon länger zu der Opposition stand und sich gleich bereit erklärte, Zermack bei sich unterzubringen. Schocke hatte sich an dem Kampf nicht beteiligt, weil er Grubeninvalide war, und wollte wohl jetzt einen Teil Schuld abtragen.
Der junge Zermack war wieder nach Hause gerannt. Er stieß auf der Treppe auf eine Menge Nachbarn, und als er hinauf lief, hörte er in der Küche die Stimmen einiger fremder Männer. Der Junge stürzte herein und stellte sich erregt vor die Mutter.
„Wo ist Ihr Mann?" fragte Heumisch Frau Zermack. Als sie keine Antwort gab, ging er in die andere Stube und sah sich da um. Er fragte den Jungen: „Wo ist der Vater?"
Der Junge blickte ihn feindselig an: „Was wollt ihr wieder von ihm? Ich schreie die ganze Umgebung zusammen, wenn ihr nicht gleich geht!"
„Ich schlag dir gleich was auf das Maul!" knurrte der Beamte und wandte sich an die zwei anderen, die mit ihm gekommen waren. „Er ist ausgerückt! Wir hätten besser aufpassen sollen. Wir finden ihn aber noch", sagte er, sich nochmals nach der Frau umwendend. Sie gingen. Draußen war die Menge noch größer geworden. Man empfing die herauskommenden Polizisten stumm und mit finsteren Blicken. Heumisch ging schneller. Er hörte hinter sich mehrere der Männer grollend reden: „Das ist ihre Amnestie. Man sollte die Kumpels auffordern, gleich wieder die Brocken hinzuschmeißen. - Wir sind doch nicht ihre Hunde, dass sie uns immer wieder hetzen können."
„Schämt euch!" schrie die Naumannsche hinterher. „Geht zu dem reichen Krupp und verhaftet den Kerl, der unser Elend verursacht!"
Noch lange standen an diesem Abend die Leute vor den Häusern und unterhielten sich empört über die ewige Jagd nach den armen Menschen.
„Man sollte ihnen zeigen, dass wir noch nicht ganz zu Kreuze gekrochen sind", sagten die Männer.
„Ja, man sollte es ihnen noch mal zeigen." Zermack musste sich noch einige Tage verbergen, bis er endlich die Gewissheit hatte, dass man nicht mehr nach ihm fahndete. Die Partei und die Union hatten gegen diese neue Maßnahme der Regierung zu einer Demonstration aufgerufen.
Es war wieder wie in den Märztagen, als Zehntausende mit roten Fahnen, die Internationale singend, durch die Stadt zogen. Die Grünen standen mit ihren Karabinern da - sture Jägerblicke, aber sie wagten diesmal nicht, zu schießen und die Demonstration aufzuhalten. Diese neuerwachte Masse erschreckte sie und erinnerte sie wohl an jene Tage, da sie vor ihrem Sturm kopflos geflüchtet waren.
Die Regierung hatte die Strafverfahren endlich aufheben lassen.
Zermack und Raup, denn auch dieser hatte auf einige Tage verschwinden müssen, waren wieder nach Hause gegangen. „Hoffentlich ist jetzt die Jagd zu Ende", sagte Zermack, der nach den letzten Wochen um viele Jahre gealtert aussah.
Die gewaltige Demonstration hatte gezeigt, dass ihr Widerstand, ihr Aufstand noch nicht zu Ende war. Zermack und alle hofften und wussten, dass die Macht der Krupp und Stinnes, und wenn es noch so lange dauerte, doch einmal zu Ende gehen musste. Ihr zähes Anklammern an diese stumpfsinnige Macht ihrer Söldnerarmee und all ihre Versuche, sich auch der schwankenden Noskes und Schigalskis zu bedienen, um diese ihre Macht zu behalten, würden einmal zu Ende sein. Und sie, die Gehetzten und Elenden, die Schlepper dieses herzlosen Gefängnisstaates, sie würden wieder auferstehen, ja, auferstehen, einiger und mächtiger, und für sie würde es keinen Waffenstillstand mehr geben, bis die blutige Macht von ihrer Erde verschwunden sein würde.
Draußen fielen die letzten Blätter von den Bäumen. Die beiden Kreusats saßen am Fenster und sahen hinaus. Die Stadt donnerte wieder von Arbeitslärm, und von den Schächten tönten die Fördersignale. Man konnte das Rollen und Klirren der Förderwagen und der Eisen hören.
„Sie arbeiten wieder", sagte der alte Mann. „Sie haben sich wieder untergeordnet. Sie schleppen wieder ihr Kreuz."
Die Tür ging auf, und Therese schwankte unter einem Schmerzenslaut in die Küche. Ihre Augen zeigten Angst, und ihr Ächzen weckte die beiden alten Leute aus ihrer Versunkenheit.
„Was ist denn, mein Kind?" schrie Frau Kreusat und lief ihr entgegen.
Martin Kreusat stand auf und rief mit dem gleichen Erschrecken: „Kind, was ist denn?"
Therese stand an der Tür und blickte hilflos von einem zum anderen. Sie ging langsam, mit schleppenden Schritten seufzend auf Frau Kreusat zu und fiel ihr um den Hals: „Das Kind!"
Frau Kreusat führte sie in die Kammer. Sie streichelte ihr die Stirn und wehklagte laut: „Das Kind kommt - und nicht ein reines Lümpchen haben wir zur Hand. Nicht einen ganzen Bettbezug!"
Thereses Hände verkrampften sich in ihre Arme: „Mutter, er kommt nicht!"
Auch Kreusats Gesicht erzitterte und wurde feucht. Frau Kreusat drückte der hereinkommenden Naumannschen rasch den Eimer in die Hand: „Holt Wasser und setzt den großen Topf auf; fach das Feuer an", sagte sie zu dem Mann, „ich renn' rasch weg, ein paar Laken borgen."
Die Naumannsche brachte das Wasser und goss es in den Topf, den Kreusat auf das Feuer stellte. „Mein Gott, man muss doch die Frau holen." Und sie lief eilig hinweg, um die Hebamme zu holen. „Lieber Gott, lieber Gott", jammerte sie, während sie hastig die Treppe hinunterstieg, „jetzt kommt auch noch dieses Elend. Aber es ist vielleicht für alle ein Glück; so kommen sie von ihren Gedanken ab."
Die Wehemutter, Frau Kaduba, groß, breit, mit mütterlich besorgtem Gesicht, kam mit einem Seufzer: „Ach, dieser Jammer!"
Frau Freising hatte einen ihrer wenigen Bezüge mitgebracht, sie ging in die Kammer und warf in Eile das zweite Bett auf.
„Los, sie kann sich hier reinpacken!" Sie war so alt wie Frau Kreusat und hatte das gleiche bekümmerte Gesicht. Sie faltete die Hände und stieß klagend aus: „Wofür schindet man sich eigentlich mit ihnen ab, sie werden einem doch nur umgebracht!" Sie hatte zwei im Krieg verloren, und ihr Bruno war auch noch nicht nach Hause gekommen.
Während Frau Kreusat jammernd umherlief, legte Frau Kaduba die erschöpfte Therese in das andere Bett. Die Frauen umstanden in der Kammer das säuberlich bezogene Bett und gaben Therese, die zuweilen laut aufschrie, Dutzende Ratschläge. „So, leg die Arme um meinen Hals, halt dich ganz fest." - „Brüll ein bisschen, kreisch drauflos, das hilft schon." So redeten sie aufgeregt durcheinander.
Frau Kreusat hatte auch die Tautens rufen lassen. Sie kamen beide an. Frau Tauten lief schreiend in die Stube: „Ach, mein Kind, mein armes Kind!" Sie fiel jammernd über die Tochter.
Tauten blieb in der Küche. Er sagte nichts und horchte nur ängstlich nach der Kammer. „Setz dich, Jakob", forderte ihn Martin Kreusat auf. Er murmelte: „Es wäre besser gewesen, wenn der Junge wiedergekommen wäre. Aber er kommt nicht - er kommt nicht mehr, sonst hätte er sich schon irgendwie gemeldet!"
Tauten, der mit schuldbewusster Miene dagestanden hatte, sagte endlich: „Nun haben wir doch wenigstens das Kleine!" Er zog leise für sich eine zweite Bank heran und saß abwartend da, seine Angst in der Faust erstickend.
Als die Weheschreie lauter anhuben, stand er auf und ging auf und ab. Auch Martin Kreusat hatte einen unruhevollen Gang aufgenommen und murmelte öfters: „Es könnte doch wohl jetzt schon genug der Qual sein!" Da erhob sich drinnen der letzte, laute Schrei. Die beiden Männer verstummten und starrten nach der Kammer. -Jetzt erscholl das kleine, kreischende Stimmchen.
Beide Männer stöhnten erlöst. Tautens Augen flossen jetzt ungehemmt über.
Frau Kaduba trat heraus: „Es ist da!"
Hinter ihr kam zitternd Frau Kreusat: „Es ist da, ein Jüngelchen!" Sie schnaubte in die Schürze. „Mein Gott, jetzt fehlt nur der Große noch!"
Der Große lag im Wald bei Wesel.
Oben in der Salkenberg-Kolonie saßen bei Renteleit eine Anzahl Männer. Man sah auch Zermack, Raup und Miller darunter. Miller war mehrere Monate weggewesen und kam wortkarger zurück. Zermack hatte die Genossen zusammengerufen. Im Oktober hatte in Halle der Vereinigungsparteitag der Kommunistischen und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei stattgefunden, und auch hier sollte, wie überall, der Zusammenschluss der beiden Parteien vollzogen werden. Miller hatte noch keine Erklärung abgegeben. „Entscheide dich", sagte ihm Zermack, „du weißt, dass von deiner Entscheidung vieles abhängt, ob wir die ganze Ortsgruppe mitbekommen. Es sind über hundertachtzig Mitglieder, und wir wollen sie nicht einer neuen Verwirrung überlassen."
„Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll", sagte Miller. Stamm meldete sich. „Du weißt, dass ich mit mir schwere Kämpfe durchzumachen hatte", sagte er, „und ich hab' mich für ein Zusammengehen mit euch entschieden. Und auch heute entscheide ich mich wieder für euch. Die alte Zeit mit dem vielen Schwanken muss ein Ende nehmen. Dir dürfte es auch nicht so schwer sein, dich für das Bessere zu entscheiden."
Miller schwieg. Sein Gesicht arbeitete angestrengt. Die anderen warteten und sahen ihn an. Endlich hob er den Kopf und sagte: „Ich kann mich noch nicht entscheiden."
Die anderen standen auf. Zermack sagte: „Überlege es dir, enttäusche die Genossen nicht, Wilm. Unser Kampf beginnt erst." - Die anderen nickten. - Auch der graue Heise nickte. - Zermack sah Miller an: „Du willst doch jetzt nicht auf der Strecke liegen bleiben?"
Miller stand auf und ging allein hinaus.
Die anderen folgten. Draußen sagte Miller: „Es ist eine ernste Sache, aber ich will nicht nachgeredet bekommen, dass ich flüchten will!"
Die Feuer brannten wieder, und vom Schacht tönten die Fördersignale. Aus einem der Häuser ertönten die Klänge eines Bandoneons. Zermack hörte die Melodie und den Gesang mehrerer junger Stimmen: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Brüder, zum Lichte empor, hell aus dem dunklen Vergangnen leuchtet die Zukunft hervor..."
Es war Christian Wolny. Christian führte jetzt die Kommunistische Jugendgruppe. In der kleinen Kammer saßen der junge Heise, Martin Kaminski mit Edy Koschewa und Bruno Freising und eine Schar anderer. Bruno spielte Bandoneon. Christian Wolny stand aufrecht und sang mit glücklichem Blick: „Auf, und verjagt die Tyrannen, auf dass ihre Herrschaft zerschellt..."
„Unsere guten Jungen!" sagte Fritz Raup. „Unsere Hoffnung. Aber wir sind auch noch da und werden nächstens noch mit mehr kommen. Mit noch mehr."
Die Flammen im Krupp-Werk stiegen hoch in den Himmel. Zermack sah hin und lauschte. Er hörte das Dröhnen der Eisen und das Pochen der schweren Hämmer. Er sah die Schächte und die Berge von Kohle und dachte an die vielen, die sich unten und in dem flammenden Werk wieder um das trockene Brot abmühten. Ihr Müheland, ihr Schmerzensland, ihre Ruhr! „Und wir werden uns von all den Peinigern frei machen, und wenn wir noch dutzende und hunderte Male in den Tod ziehen müssten!" sagte er. „Und wenn wir es nicht selber erleben, dann sollen es unsere Kinder erleben. Ja, wir werden uns nicht aufgeben, bis das Land von allen Henkern frei ist. Es ist unser Schweiß, es sind unsere Blutstropfen, unsere Mühe. Unsere Mühe!" „Unsere Mühe!" sagte Stamm.
Die Stadt stand rot und hell in dem auflodernden Flammenschein, als schürten dort mächtige Arbeitsarme die neue Glut. Und das Klirren der Ketten und die Schreie der Lokomotiven hörten sich an, als risse ein stöhnender Riese an seinen Fesseln...