Abends zehn Uhr fuhren die Kumpels der Nachmittagsschicht  heraus. Müde in den Knochen. Die Augen entzündet von dem Flackerlicht der Lampe  und dem scharfen Kohlenstaub.
  Die Februarkälte ließ sie in ihren dünnen,  schweißdurchnässten Lumpen erschauern. Trotzdem rannten die meisten zur  »Pinnbude«, um zu sehen, wie viel Kohle aus ihrer Strebe über Tage gefördert  worden war.
  Über manche Gesichter huschte ein Schein Freude, wieder  einmal dem Kohlengrab heil entgangen zu sein. Zwischen der überstandenen und  der nächsten Förderschicht lagen sechzehn Stunden. Sechzehn Stunden den Tag zu  atmen ist, mag das Leben auch noch so hundselend sein, immerhin besser als  unten in der Grube.
  Noch rollte und krachte es auf der Hängebank, die,  niedrig, nach Wagenschmiere und dem fauligen Sumpfwasser stinkend, das von den  Körben heruntergoss, von trüben Lampen erleuchtet war.
  Zerfetztes Zeug an, schoben kohleverschmutzte Brückenschlepper  an den Förderwagen, die sie noch entleeren mussten, bevor sie Schicht machen  durften. Der Brückenaufseher, dem es nicht schnell genug ging, lärmte und  fluchte hinterher. Durch die löchrigen Fenster blies stoßweise der Wind und  wirbelte den Pulverstaub auf. An der Eisentreppe hatten sich ein Mittagsteiger  und ein aus der Grube kommender Kumpel.
  »Hau ihn!« riefen vorbeieilende Schlepper.
  Das Gesicht des Steigers blähte sich vor Zorn. Man  hörte: »Wenn Sie sich keine größere Mühe geben, dann bestraf ich Sic, alle!«
  »Kleb ihm eins, Ignatz!« schrie jemand aus dem Förderkorb.
  Ein Fahrsteiger kam laut vor sich her schimpfend in  großen Sätzen heran, trieb ungeduldig die Kumpels, die dem Förderkorb  entstiegen, zur Eile. Fasste einen der Hauer am Rock. »Kommen Sic mit zurück,  Bruch aufräumen!«
  Der Hauer zögerte.
  »Los!« schrie ihn der Fahrsteiger an.
  Der Förderkorb sauste mit den beiden ab. Nach wenigen  Minuten schoss ein anderer Kasten aus dem gähnenden Loch, wippte schwer über  dem Anschlag. »Mist!« zürnte ein Kumpel, der dem Förderkorb, triefend von  Schachtdreck, entstiegen war, und soff durstig den Rest der Brühe aus seiner  Blechtoite.
  Balasz kroch hinter ihm heraus, schüttelte sich und  wandte sich der Treppe zu, die zur Waschkaue führte.
  In dem staubigen Umkleideraum drückte ihm der lange  Dränger einen Packen Flugblätter in die Hände. »Eil dich, verteil sie, bevor  die Kumpels weg sind!«
  Die RGO hatte eigene Leute zur Betriebsrätewahl aufgestellt.  Dors Reger, der bisherige Obmann, hatte es mit den Kumpels gründlich verdorben.  Nicht eine Belegschaftsversammlung hatte stattgefunden, obwohl jeder die Treiberei  nach Kohle übersatt hatte. Es verging nicht ein Tag, an dem nicht einer oder  mehrere mit Verletzungen hinausgebracht wurden.
  Balasz hatte sich unter der Brause schnell gereinigt  und stellte sich an dem kleinen Pförtchen vor der Markenbude hin. Die Blätter  wurden ihm förmlich aus den Händen gerissen.
  Die Kumpels, die an ihm vorbeikamen, waren ausgemergelt.  Ohne Blut in den Gesichtern. Ihre Bewegungen schlaff. Wie eine Schar, die aus  einem Massengrab aufgestanden war. Sogar Krämer, der sich vor einem Jahr noch  rühmen konnte, der Wohlgenährteste der Belegschaft zu sein, dem war der Rock zu  groß geworden, und seine ehemals vollen Backen hingen ihm wie leere, schlappe  Beutel herab. Seine Beine knickten beim Gehen auffallend in den Knien. Die Jagd  nach Kohle in der Grube fraß auch seine strotzende Gesundheit, die er vom Lande  mitgebracht hatte.
  Nur noch wenige Mann kamen in größeren Abständen,  nickten Balasz zu und nahmen ein Blatt.
  Balasz wartete, bis der letzte den Zechenplatz  verlassen hatte, steckte die erstarrten Hände in die Taschen und machte sich  auf den Heimweg.
  Mit beschleunigten Schritten holte er einen Trupp Kumpels  ein, die sich über einen Unfall unterhielten, dem Krämer beigewohnt hatte. Ein  Kohlenbrocken, der aus einer Rutsche angesaust kam, hatte dem Lader die Brust  eingedrückt. Der Verunglückte war ein junger Bursche, kaum zwanzig Jahre alt,  und der einzige Ernährer seiner Eltern und dreier arbeitsloser Geschwister.
  »Gibt dat diesmal wat mit eurer Wahl?« fragte Krämer  Balasz, der sich den Kumpels angeschlossen hatte.
  »Ich denk, ja!« nickte Balasz zuversichtlich.
  »Wenn euch dat Schwein nich weer 'n Strich durch die  Rechnung mäkt!« Krämer meinte Böß, den Betriebsführer.
  »Nicht ausgeschlossen!« sagte Balasz. »Der Alte ist  scharf hinter uns her!«
  »Dann passt nur god op!« brummte Krämer. »Geht die Geschichte ok  diet Johr noch mol scheip, dann könn wie näkstens nur de Bux nom Pütt  schicken!« Er bog in die Wirtschaft, die rechts am Eingang zur Kolonie lag.  »Kommst met rin?« fragte er Balasz. Balasz ging mit hinein.
  Krämer ließ sich in seine Blechtoite einen Schoppen  füllen, den er, vor dem Ausschankschalter stehend, leertrank.
  Kreibel schrieb an. Die Kumpels, die kein Geld hatten,  tranken auf Pump. Die Wärme der Schenke regte immer neue Gespräche an...
  Die Straßen der Kolonie lagen schon im Dunkeln, als  Balasz nach Hause ging. Die Kumpels, die ihn schätzten und wussten, dass et:  wegen seiner Gesinnung bei Böß nicht gut angeschrieben war, hatten ihn so lange  aufgehalten. Jeder hatte etwas zu fragen, konnte wenigstens vor ihm seinem  Herzen Luft machen.
  Aus allen Gesprächen war die tiefste Verstimmung und  Ratlosigkeit herauszuhören, gegen den Obmann insbesondere, der sechs Jahre  lang darauf bedacht war, den Betrieb vor Erschütterungen zu bewahren, und nur  dann radikal wurde, wenn es zu einer neuen Wahl an der Zeit war.
  In der Franzstraße brannte noch in einer Wohnung  Licht. Dort wohnte die Marie Plaschewski. Ihr Mann wurde vor einem Jahr in der  Grube krank, musste feiern und wurde wegen Arbeitsmangel entlassen.
  Plaschewski hatte durch Fürsprache erst vor kurzem auswärts  in einer Erdarbeiterkolonne Beschäftigung bekommen.
  Balasz hörte im Vorbeigehen Sprechen in der Wohnung  und meinte, Maries Mann wäre heimgekommen.
  »Pst!« zischte jemand aus einem gegenüberliegenden  Haus.
  Er blickte hin und erkannte die dicke Ragnitzki. Sie  winkte ihn heran und flüsterte aufgeregt, doch froh, jemand gefunden zu haben,  dem sie ihr Geheimnis mitteilen konnte: »Der Brand ist bei der Marie!«
  Brand war der Wohnungsverwalter der Zeche.
  Balasz sah ungläubig auf, machte eine abweisende Handbewegung  und wollte weitergehen.
  »Mein Gott, es is wahr, was ich Ihnen erzähl!«  behauptete die Dicke eindringlich. »Er geht doch schon immer hin!«
  »Faules Geschwätz!« brummte Balasz. Es war ihm peinlich,  von Marie, die er seit Jugend her kannte, so etwas zu hören.
  Frau Ragnitzki begann, um ihn zu überzeugen, von ihren  Beobachtungen zu erzählen, da ging drüben das Licht aus. »Siehste!« zischelte  sie. »Das Licht hat sie ausgedreht! Wollen Sie warten? In einer Viertelstunde  ist er draußen.« Sic lachte gedämpft.
  Balasz verspürte Abscheu. Er wandte sich um und  schritt seiner Behausung zu.
  Marie war nicht die einzige, die auf solche Art ihre  Wohnung in der Kolonie zu erhalten suchte. Leider! In der Not griffen die  Menschen zu jedem Mittel. Diebstahl, Totschlag, Selbstmord, Hurerei. Vor dem  Umzug in die Pestbuden, die man den Ausgeräumten gab, zitterten alle.
  Ein hässlicher Ausweg, dachte er. Wenn aber eine zur  Dirne herabgesunken war, dann entrüsteten sich am meisten diejenigen, die ihr  dazu verholfen hatten.
  Balasz lag lange wach im Bett und grübelte. Die Förderschicht,  die er hinter sich hatte, war schwer gewesen. Die Schrammen auf seinem Rücken  und die Schnitte in seinen Händen, die fallende Kohle hineingerissen hatte,  brannten. Welche Wohltat, die Augen schließen zu können!
  Nebenan im Bett hörte er die tiefen Atemzüge seiner  Frau. Sie nähte, stopfte und flickte den ganzen Tag. Veränderte alte,  abgetragene Sachen, damit die Kleinen nicht verlumpt umherliefen. Von dem  Verdienst, den er heimbrachte, konnte nichts Neues angeschafft werden.
  Für die Nutznießer seiner harten Arbeit, für die  Herren der Zeche, hatte er seine Jugend in der Grube begraben, hatte sich Jahre  im Krieg durch wüste, blutbesudelte Schützengräben hetzen lassen, hindurch  hungern müssen. Jetzt forderten sie von ihm Mehrleistung. Und immer  erbärmlicher wurde der Lohn.
  Morgen wieder in der Erde. Er wälzte sich und stöhnte  im Schlaf, der trotz aller Müdigkeit spät zu ihm kam.
An einem Vormittag. Es hatte geregnet. Nun brach die  Sonne durch. Frauen holten ihre Ziegen aus dem Stall und führten sie zum Abhang  der Kolonie, wo spärliches Gras wuchs. Kumpels, die Füße in groben Holzschuhen,  schaufelten vor einigen Wohnungen Kohlen in den Keller.
  Der alte Fleck, der von der Nachtschicht gekommen war  und nicht schlafen konnte, besserte den Zaun seines Gartenstücks aus.
  In den Gossen stand schwarzer Schlamm. Barfüßige Kinder  patschten darin herum. Die Füße der Kleinen waren blaurot von der Kälte und  ihre Gesichter verschmutzt, denn sie bewarfen sich mit dem Kot.
  Eine Rotte Jungen jagte mit Geschrei durch die Stefanstraße.  Sie schlugen mit Latten aufeinander los. Bis Ragnitzkis Fritz aufheulte und  sich lang hinwarf, die Arme gegen seine Augen gepresst. Die ganze Rotte  umringte ihn ängstlich. Die Latten flogen über die Zäune.
  Frau Ragnitzki erschien mit hochrotem Gesicht am Fenster.  »Was ist denn nun los? Was habt ihr verdammten Kanaillen wieder angerichtet?«  schrie sie.
  »Der Franz Pawlik hat ihm vor die Augen gehaun!« erzählte  Jarzacks Junge.
  »Nich wahr!« wehrte sich der Beschuldigte. »Der Krämer  Otto war's!«
  »Ihr verdammten Biester!« drohte Frau Ragnitzki empört  und verschwand vom Fenster.
  »Haun wir ab, der olle Drachen kommt mit dem Futterstampfer!«  rief einer der Jungen, und die Rotte stob auseinander.
  »Na - na - na!« wurde der Fleck grob, als er die Dicke  mit dem ungefügen Schläger aus dem Haus stürzen sah. »Wat willst du denn mit  dem Dinge da?«
  »Ich will mal Ordnung schaffen, wenn sie niemand  schafft!« Der Speichel spritzte ihr vor Aufregung aus dem Mund.
  »Mit dem Donnerkeil do?« fragte Fleck und zeigte auf  den Knüppel.
  »Dat is mich egal!« Und sie setzte hinter den Jungen  her.
  Fritz sprang auf und stürzte mit neuem Mut drauf los.  Frau Ragnitzki rollte wie ein Tank heran. Fleck sprang noch früh genug hinzu  und entwand ihr den Knüppel. »Damit du keinen dodhaust!« sagte er.
  Die Jungen setzten sich zur Wehr. Bis der Krämer, der  es nicht mehr mit ansehen konnte, einen Eimer voll Wasser nahm und es über die  Keilenden goss.
  Es war nicht zum ersten Mal, dass die dicke Ragnitzki  so einen Straßenauflauf machte. Die Mütter der verprügelten jungen rannten  herbei, und die Dicke bekam es von allen Seiten.
  Frau Ragnitzki hatte Lust, ihre mächtigen Arme auch an  ihnen zu versuchen, und es hätte eine neue Schlägerei gegeben, denn die Frauen  waren nicht minder erbost; da kam die Breimann um die Ecke gejagt und fragte in  höchster Aufregung nach Frau Krause.
  »Was ist denn mit der?« fragten die Frauen  erschrocken.
  »Der Krause ist verunglückt!« erzählte sie hastig.  »Man hat ihn eben ins Krankenhaus gefahren - Kreuz gebrochen hat er.«
  Die Frauen wurden blass. »Wie kam das denn?« »Untern  Bruch gekommen!«
  »Mein Gott, ich hab so 'ne Angst um meinen Mann, der  klagt auch immer so!« zitterte Frau Jung, eine kleine Frau mit einem kindlichen  Gesicht. Sic trug ein Kind auf dem Arm und drückte es in aufsteigender Angst an  die Brust.
  »Kreuz gebrochen ist schlimmer wie ganz tot!« meinte  Frau Ragnitzki, die entsetzt an ihre Jungen dachte, die alle vor Kohle  arbeiteten. »So ein Kerl is übler dran wie 'n Blag!« Sie begrub allen Hass  gegen die andern und dachte nur an das furchtbare Los, das den Krause betroffen  hatte.
  Die Frauen umstanden noch immer Frau Breimann und  erzählten aus ihren Erfahrungen, bis sie ein Schrei entsetzte. Frau Krause, der  es jemand erzählt hatte, kam mit wächsernem Gesicht angelaufen. »Was ist mit  meinem Mann?«
  Die schwarzen Haarsträhnen flogen ihr um den Kopf. Sie  griff mit beiden Händen hinein und jammerte, weil die andern verlegen  verstummt waren: »Was ist mit ihm, sagt doch!«
  »Schrei doch nicht so, Marjell!« beruhigte sie eine  ältere Frau. »Er ist ins Krankenhaus gekommen!«
  Frau Krause erzitterte.
  »Er soll das Kreuz gebrochen haben!« vergaß sich eine.
  Ein neuer Schrei folgte, der allen ins Herz schnitt.  Die Frauen starrten zu Boden. Keine wagte etwas zu sagen. Frau Krause wandte  sich ihrem Haus zu und rannte mit fliegenden Haaren zurück. Sie kam nach einer  Weile wieder heraus. Ein Kind auf dem Arm und ein zweites an der Hand, lief sie  der Richtung zu, wo das Krankenhaus lag.
  Frau Jung ging ins Haus. Ihr Mann hatte Morgenschicht.  Sie war durch das Unglück des Krause so erschüttert, dass sie nicht imstande  war, das Essen aufzusetzen. Eine entsetzliche Unruhe plagte sie. Sie hatte  unter der Vorstellung zu leiden, ihr Mann sei es, dem das Unglück zugestoßen.  Zwei Jahre waren sie erst verheiratet. Sic hatte ihren Mann von Herzen gern.  Sein Tod hätte ihren Tod bedeutet. Bis sie es nicht mehr aushalten konnte und  zur Zeche hinlief. Dort wartete sie in der Kälte, bis ihr Mann im Tor erschien.  Nein, es war ihm nichts geschehen!
Krause verunglückte im achten Revier. Er hatte eine  schlechte Stelle durchzubauen und verlangte vom Steiger, dass ihm der einen  Hilfsmann hinschicken sollte; wenigstens so lange, bis er die schlechte Stelle  ausgebaut hatte. Der Steiger wollte ihm keinen Mann schicken, denn der Betriebsführer  Böß hatte am Letzten des Monats wieder einen Teil »Unproduktive« entlassen.
  Ein schwerer Brocken, der Krause schon einige  Schichten beunruhigte, zerbrach die Hölzer, schlug herunter, traf Krause in den  Rücken und brach ihm das Rückgrat.
  Balasz arbeitete in der vierten Rutsche. Der Steiger  schickte ihn an Krauses Stelle. »Ich muss aber einen zweiten Mann dabei haben,  sonst tu ich's nicht!« protestierte Balasz.
  Der Steiger gab ihm einen Hilfsmann hinzu, befahl  aber, dass einer von den beiden Hauern sofort verschwinden sollte, wenn sich  Böß in der Rutsche blicken ließ. Aber schon in der dritten Schicht kam der  Steiger selbst und holte den zweiten Mann fort, weil ihm welche vor Kohle  fehlten. Balasz warf die Brocken hin und drohte, nicht eine Minute länger  allein weiterzubauen.
  »Dann fahren Sie aus!« wurde der Steiger grob.
  Balasz wollte nicht vor der Wahl hinausfliegen; er gab  nach. Mit großer Mühe und Gefahr hatte er sich durch die schlechte Stelle  hindurchgearbeitet.
  Eine Schicht kam der Betriebsführer in seine Arbeit,  erkannte ihn und legte sich in seiner Nähe hin.
  »Wie lange sind Sie Hauer?« fragte Böß nach einer  Weile.
  »Zwölf Jahre!« erwiderte Balasz, der von der Frage unangenehm  berührt war.
  »Zwölf Jahre!« wiederholte Böß spitzfindig.
  »Warum fragen Sie danach?« fragte Balasz.
  »Ein Invalide macht mir mehr!« erwiderte Böß.
  Balasz unterdrückte eine scharfe Antwort.
  »Sie leisten zu wenig!« sagte Böß. »Halten Sie sich ja  besser ran!« - Das besagte genug. Balasz sah sich vor, denn Böß wollte ihn  irgendwie loswerden.
  »Was hast du denn ausgefressen?« fragte zwei Tage später  der alte Ragnitzki Balasz, dem er beim Schichtwechsel im Querschlag begegnete.  »Du bist ja gekündigt!«
  »Was? Gekündigt? Wer sagt das?« erschrak Balasz.
  »Jau, jau, du hängst drauf!« nickte Ragnitzki energisch.  »Dat weißt du nicht?«
  »Mann, die Geschichte stinkt!« meinte Balasz und  suchte am Schacht den langen Dränger auf. »Weißt du schon? Ich bin gekündigt!«  erzählte er hastig.
  Dränger nickte. »Ich weiß Bescheid, wegen Betriebseinschränkung  !«
  Als Balasz hinausgefahren war und sich gewaschen  hatte, begab er sich in schnellem Tempo zum Büro. An der Markenbude hingen  fast alle Kandidaten der roten Vorschlagsliste - wegen Betriebseinschränkung  gekündigt.
  Böß war im Büro. »Sie haben mir gekündigt?« fragte  Balasz erregt.
  »Ja«, sagte der Betriebsführer kurz. »Weshalb denn?«
  »Ich muss Leute entlassen, der Betrieb wird eingeschränkt!«  erklärte der Betriebsführer.
  »Und darum haben Sie unserer gesamten Liste gekündigt?«
  Das Gesicht des Betriebsführers verzog sich. »Ich  entlasse die Leute, wie ich es für nötig erachte. Oder glauben Sie, dass ich  Sie danach fragen muss?«
  In Balasz kochte es. Böß begann zu schreiben und ließ  ihn unbeachtet stehen. Es blieb Balasz nichts anderes übrig, als hinauszugehen,  wenn er sich nicht an Böß vergreifen wollte. Draußen besann er sich und begab  sich ins Betriebsratszimmer, das hinter dem Schachtgebäude lag. Reger, der  Obmann, war da.
  »Weißt du schon um die Kündigung?« fragte Balasz.
  Reger nickte. »Bist du damit einverstanden?«
  »Was kann ich tun? Böß kündigt euch wegen Betriebseinschränkung!«
  »Alle unsere Leute stehen auf der Liste!«
  Reger zog die Schultern hoch. »Es tut mir leid! Tanzt  ein anderes Mal nicht aus der Reihe!«
  Balasz verließ erbittert das Betriebsratszimmer. Er wusste,  Reger war froh, dass Böß ihm und den anderen Kumpels der Opposition gekündigt  hatte; nur so war es Reger möglich, sich noch länger im Betriebsrat zu halten.
  Die Opposition berief eine Belegschaftsversammlung  ein, um gegen die Kündigung zu protestieren. Dors Reger machte einen  Gegenanschlag. Er warnte die Kumpels, an der Versammlung teilzunehmen, mit der  Begründung, Böß keinen Anlass zu geben, noch mehr Leuten zu kündigen. Die  Kumpels wurden dadurch eingeschüchtert. Nur ein ganz geringer Teil besuchte die  Versammlung, in die Böß seine Späher geschickt hatte, um die nächsten für eine  Kündigung vorzumerken.
Fritz Jaschinski kam aus dem oberschlesischcn Bergbau  und hoffte für die Schufterei in seiner Heimat hier im Ruhrgebiet entschädigt  zu werden.
  Der Agent, der ihn für eine Zeche an der Ruhr  geworben, hatte ihm Wunderdinge von hohen Löhnen und von einem eigenen Häuschen  erzählt; von Viehzucht, die jeder Kumpel an der Ruhr betreibt, und dass er  neben seiner Arbeit im Pütt noch so nebenbei »dicke Taler« verdienen könne und  was sonst noch!
  Jaschinski stäubte den Dreck der oberschlesischen  Kohle ab, packte seine wenige Habe in den Zug, der ihn nach dem Ruhrgebiet  schaffen sollte, und dampfte ab.
  Der Agent brachte den Transport, mit dem über hundert  Mann herüberkamen, auf die Zeche N. bei H. Dort kam erst der Schwindel heraus:  Jaschinski, der in Oberschlesien schon vor Kohle als Hauer gearbeitet hatte, musste  auf N. wieder als Schlepper anfangen, denn er war auf die neuen  Flözverhältnisse nicht eingearbeitet. Zudem waren Kohlenhauer genug vorhanden,  es fehlte nur an Schleppern.
  Jaschinski hatte sich gesträubt, als Schlepper zu  arbeiten, weil der Lohn viel zu gering war. Er wurde aber auf den Vertrag  aufmerksam gemacht, den er, ohne zu wissen, für Schlepparbeit unterschrieben  hatte. Der Betriebsführer versprach ihm, wenn er drei Monate fleißig als  Schlepper arbeite, käme er vor Kohle. Jaschinski schleppte sich krumm und  lahm.
  Fünf Monate vergingen, er schleppte noch immer. Er  ging zum Betriebsführer und fragte, ob er nicht bald vor Kohle käme, es wäre  ihm doch versprochen worden. Der Betriebsführer konnte sich nicht entsinnen,  hieß ihn, sich noch zu gedulden, er wolle an ihn denken, sobald ein Platz frei  wäre.
  Jaschinski schleppte ein ganzes Jahr. Der  Betriebsführer schien ihn ganz vergessen zu haben. So nahm Jaschinski seine  Papiere und siedelte nach einer anderen Zeche über.
  Auch dort musste er die dreckigste Arbeit verrichten,  und der Lohn war schlecht. Er wanderte von Zeche zu Zeche. Auf Zeche »Hannibal«  wurde er endlich Hauer. Das war noch vor dem Kriege. Nun kamen ihm wieder die  Hoffnungen, da er mehr verdiente, zu einem eigenen Häuschen und einem Stück  eigenem Land zu kommen. Während des Krieges wurde er reklamiert, weil er ein  fleißiger Hauer war; aber durch die übertriebene Jagd nach Kohle und den Steckrübenfraß  war er bis auf die Knochen abgemagert.
  In der Zeit von neunzehnhundertachtzehn bis  neunzehnhundertdreiundzwanzig, als die Inflation die Kumpels zu Millionären und  Milliardären machte, war Jaschinski verschwunden: Die holländischen  Bergwerksgesellschaften warben um deutsche Kumpels und zahlten mit  vollwertigen, harten Gulden. Jaschinski hatte seine Möbel verpackt und war in  die holländischen Zechen gegangen. Er kam dort in ein nasses Flöz. Das  Salzwasser zerfraß ihm die Haut. Die Förderverhältnisse waren saumäßig. Von den  Gulden, die er ausgezahlt bekam, konnte er sich noch immer kein »Eigenes«  erwerben; sie gingen ihm aus, ehe der nächste Zahltag kam.
  Jaschinski verfluchte Holland, wie er die Pütts im  Ruhrgebiet und in Oberschlesien verflucht hatte. Er kündigte, nahm seine  Papiere, packte seine Brocken und siedelte nach dem Wurmrevier über. Aber auch  dort ging es ihm schlecht. Nirgends konnte er zu etwas kommen. Er verzagte schon.
  Jaschinski hatte auf Zeche »Hoffnung« einen Kumpel,  der Steiger geworden war. An den schrieb er in seiner Not und bat, ihn auf der  Zeche unterzubringen.
  Böß nahm nach Fürsprache des Steigers Jaschinski an.  »Sie können hier gutes Geld verdienen«, sagte Böß. »Sic müssen aber auch ran!«
  »Das ist mir egal«, sagte Jaschinski zu, erfreut, dass  er gutes Geld verdienen konnte.
  Böß verlegte ihn in das fünfte Revier, das unter der  Aufsicht des Steigers Schacke stand. Schacke war ein grobknochiger,  rücksichtsloser Mann, nur darauf bedacht, das von ihm verlangte Fördersoll an  Kohle herauszuholen. Schacke steckte Jaschinski in eine »Fliegende Kolonne«.
  Die »Fliegende Kolonne« hatte zu dieser Zeit die rebellierende  Kameradschaft der achten Rutsche abgelöst, um dort die höhere Förderleistung,  die Böß errechnet hatte, festzusetzen. Es waren kräftige Leute, die ihr Leben  nicht schonten, wenn es hieß, Geld zu verdienen. Schacke entlohnte sie gut.
  Jaschinski freute sich auf den guten Verdienst und  ging nun mit allen Kräften an die Arbeit. Es fielen ihm die ersten Schichten  recht sauer, denn so ein rasendes Tempo, wie es die »Fliegende Kolonne« hatte,  war er bisher auf keinem Pütt gewöhnt.
  Böß, der seine Leute halten wollte, versprach auch Jaschinski,  sobald eine Wohnung in der Kolonie frei werden sollte, eine solche sofort  bereitzustellen. Das spornte Jaschinski noch mehr an.
  Die »Fliegende Kolonne« war unter den übrigen Kumpels verhasst.  Überall, wo sie hinverlegt wurde, sah es nach ihrem Abgang aus wie nach einem  Rattenfeldzug; das Flöz ausgewühlt, so dass man nicht wusste, wo wieder  anfangen. Auch der Ausbau, vernachlässigt, die Hölzer einfach hingehauen, ohne  Ordnung. Oder gar nicht ausgebaut. Nur drauf und dran, Kohle geraubt. Jede  Schicht über Soll. Die Leistung wurde nach der »Fliegenden Kolonne« errechnet  und danach auch der Wagen- oder Meterlohn festgelegt.
  Gleich die ersten Tage hielten Hauer den Jaschinski  an. »Wo kommst du her? Willst du uns den Lohn versauen?«
  Jaschinski duckte sich und schlich vorüber. Die  Kumpels spien hinter ihm her und warfen ihm Steine nach. »Du kriegst noch mal  das Kreuz verbogen, du Schmierlapp, wenn du es nicht dran lässt!« rief ihm  einer erbost nach.
  Jaschinski hatte sich aber von neuem in die verrückte  Hoffnung auf den guten Lohn und die Aussicht auf die Koloniewohnung so  verrannt, dass er lieber die Schmährufe auf sich nahm, als auf das erstere zu  verzichten.
  Die »Fliegende Kolonne« hatte in der achten Rutsche  mit der Kohle mächtig aufgeräumt. Betriebsführer Böß, Fahrsteiger Benzberg und  Steiger Schacke lösten einander ab und errechneten mittels Uhren das  Arbeitstempo.
  Jaschinski war einer der Fleißigsten. Sobald einer der  Beamten neben ihm lag, ließ er die Lufthacke oder die Schippe nicht einen  Atemzug lang aus den Händen, sondern rackerte wie ein kleiner Bagger.
  »Wir können zufrieden sein!« sagte in einer Schicht  Böß zu Schacke. »Wir geben der alten Rutschenmannschaft achtzehn Groschen pro  Wagen Kohle, und wenn sie mir kein Soll bringen, dann sind die Kerle faul!«...
  »Mann, bin ich denn ein Idiot!« wütete Plenge, ein  Lehrhauer der alten Mannschaft. »Hier soll ich nun was machen?« Das Loch, in  dem er arbeiten musste, sah wüst aus. Der Stein war an einigen Stellen  geplatzt, hing in schweren Platten über seinem Kopf und drohte jeden Moment  herunterzubrechen.
  Plenges Wut hielt die ganze Förderschicht über an.  Abgehetzt kroch er nach Schichtschluss aus dem Kohlenloch und erfuhr unterwegs  zum Schacht, dass Jaschinski in seinem Ort gearbeitet hatte.
  Plenge suchte Jaschinski am Schacht. Er fand ihn unter  einigen Leuten der »Fliegenden Kolonne«. - »Du verfluchte Sau, du kommst mir  gerade recht!« fuhr er ihn an. »Du hast mir die Arbeit versaut, jetzt kann ich  mich rumschinden, du Dreckschwein!« Er holte mit der Hand aus und schlug Jaschinski  ins Gesicht.
  Der Schlag hatte Jaschinski die Hoffnung auf das  »Eigene« vernichtet. Ganz dumpf wurde es ihm im Schädel, und er fühlte mit der  Hand, dass ihm Blut aus Mund und Nase floss. Plenge war aber so in Raserei  geraten, dass er auf das blutende Gesicht des Jaschinski keine Rücksicht nahm,  sondern noch mehrere Mal darauf schlug. Zuletzt, als Jaschinski flüchten  wollte, trat er ihm mit dem schweren Stiefel ins Gesäß, so dass Jaschinski  glaubte, sein Steißbein wäre gebrochen.
  Jaschinski hinkte nach der Ausfahrt zu Schacke. »Ich möcht  aus der Kolonne raus!« bat er. »Geben Sie mich in eine andere Arbeit hinein!«
  »Mann, sind Sie blödsinnig geworden?« fragte Schacke  erstaunt. »Verdienen Sie zu viel?«
  »Das wohl nicht«, erwiderte Jaschinski, »ich möcht aber  trotzdem raus!«
  Schacke wurde ärgerlich. »Das kann ich auf keinen  Fall, Jaschinski, Sie wurden für die >Fliegende Kolonne< angenommen -  ich darf Ihnen keine andere Arbeit geben. Wenn Sie aber durchaus heraus wollen,  dann melden Sie sich beim Alten!«
  Jaschinski hatte jedoch vor Böß einen heillosen  Respekt; zudem bestand die Gefahr, dass die gute Wohnung, die ihm Böß in  Aussicht gestellt hatte, verlorengehen konnte. So beschloss er, noch zu warten.
  Dass er immer wieder mit den Kumpels Krach bekam, war  ihm klar. Er schrieb in der freien Zeit eine Anzahl Briefe. Die Briefe waren an  seine Bekannten gerichtet, die er irgendwo auf einer Zeche wusste, im  Ruhrgebiet, im Wurmrevier, selbst in Holland. Jaschinski verfluchte in den  Briefen die Arbeit auf Zeche »Hoffnung«, bat die Kumpels, ihm über die  Verhältnisse auf ihren Zechen zu schreiben und ob er dort Arbeit bekommen  könnte.
  Die Kumpels antworteten Jaschinski. »Scheißmaloche«,  schrieb einer, »gejagt werden wir auf Deuwel komm raus, und den Lohn könn wir  uns in den Schornstein schreiben lassen«, und ob Jaschinski so dämlich wäre und  glaube, dass irgendeine Zechenverwaltung genau auf Jaschinski warte, wo jeden  Monat einem Schwung nach dem anderen gekündigt wird!
  »Schlag dich dat ja nur aus dem Kopp«, schrieb ein  anderer aus Holland, »hier in Holland ist ein Dreck, und man kann nichts  werden. So dreckig, wie's hier zugeht, ist es auf dem jämmerlichsten Pütt in  Deutschland nicht!«
  Jaschinski bekam noch mehr solcher Briefe. Er war danach  sehr niedergeschlagen. Es wollte nicht in seinen Schädel, dass er die Zeche  nicht mehr wechseln konnte; glaubte,
  die Kumpels hätten ihn angelogen, und machte sich  selbst auf die Beine. Er rannte alle erreichbaren Zechen ab und fragte um  Arbeit. Überall bekam er das gleiche zu hören: »Keinen Platz!« oder: »Wir  entlassen noch Leute wegen Arbeitsmangel!«
»Jetzt sitz ich fest!« klagte Jaschinski missmutig  seiner Frau.
  »Mann, was willst du denn nur?« fragte sie bestürzt.  »Du hast doch deine Arbeit und verdienst nicht übel!«
  »Wenn ich nur aus der Kolonne wär!« sagte Jaschinski  bedrückt. Die Schläge, die er von Plenge bekommen hatte, konnten sich  wiederholen; denn die Kolonne befand sich wiederum in einer Rutsche und  arbeitete die Leistung vor. Er nahm sich wohl dabei in acht, damit er nicht zum  zweiten mal mit dem betreffenden Hauer, in dessen Ort er Kohle haute, in Streit  kam, baute wenigstens halbwegs aus und warf die Steine beiseite. Das hielt ihn  zu sehr von der Kohlenarbeit ab, und die Beamten, die ihm zusahen, waren unwillig,  dass Jaschinski nicht mehr so viel Kohle brachte, wie er es sonst getan hatte.
  »Sind Sie schlapp geworden?« fragte ihn in einer  Schicht der Fahrsteiger Benzberg.
  »Das wohl nicht«, sagte Jaschinski, »ich möcht aber  nich mit die Kumpels in Krach kommen, wenn sie wieder her müssen!«
  »Hauen Sie nur Kohle raus!« gebot ihm Benzberg. »Das  andere überlassen Sie ruhig uns!«
  Jaschinski plagte sich, so gut er konnte; er war  jedesmal dem Umfallen nahe, wenn die Schicht zu Ende ging.
  »Ich muss mich doch raus melden!« sagte er daheim zu  seiner Frau. »Ich geh ja kaputt drin, wenn's so weiter anhält!«
  »Du gehst nicht raus!« warnte Frau Jaschinski. »Du  sollst jetzt die Wohnung bekommen, denk doch daran, Fritz!«
  Jaschinski war aber so mit seiner Angst beschäftigt, dass  er am nächsten Tag nach der Schicht doch zu Böß ging und diesen bat, ihn aus  der »Fliegenden Kolonne« heraus zu tun.
  »Dann müssen Sie schon kündigen!« sagte Böß kurz.  »Eine andere Arbeit hab ich für Sie nicht!«
  »Ich kann es aber nicht mehr mitmachen!« klagte Jaschinski.  »Warum denn nicht?«
  »Es wird mir zu schwer!«
  »Ich sagt es Ihnen, eine andere Arbeit gibt es nicht!«  sagte Böß barsch. Weil Jaschinski noch immer zögerte, erklärte Böß: »Ich hab  Ihnen eine Wohnung in der Kolonie freimachen lassen, die Sie beziehen sollten,  entschließen Sie sich - entweder bleiben Sie in der Kolonne, oder ich seh mich  nach einem andern Mann um!«
  Jaschinski zitterte. Verlor er die Koloniewohnung,  dann gab es zu Hause einen Sturm, den er mehr fürchtete als alle Schläge. Frau  Jaschinski hatte sich ein Sümmchen zusammengespart und wollte davon eine neue  Küche auf Abzahlung kaufen, sobald sie die Wohnung in der Kolonie beziehen  sollten. Sie war schon jeden Tag dran, sprach, wie sie sich einrichten wollte, dass  sie bestimmt ein Ferkel kaufe und vielleicht noch eine Ziege hinzu; denn die  Wohnungen in der Kolonie hatten Stallungen, in denen man Vieh halten konnte.  Wehe, wenn dies alles nichts werden würde!
  »Na!« fragte Böß ungeduldig. »Was ist denn da noch  viel zu überlegen! Los, Jaschinski, ich hab wenig Zeit!«
  »Ich bleib in der Kolonne!« entschloss sich Jaschinski  schweren Herzens.
  Er bekam die neue Wohnung. Frau Jaschinski war außer  sich vor Freude, dass sie einziehen durften. Der Wohnungsverwalter hatte den  Meinert, der vor einigen Monaten wegen Arbeitsmangel vom Pütt entlassen worden  war, ausräumen lassen, der nun an Jaschinskis Stelle in den schlechten Notraum  in der Ludwigsgasse einziehen musste.
  Frau Jaschinski nahm ihr Erspartes, ging mit ihrem  Mann in ein Abzahlungsgeschäft in der Stadt, zahlte dort eine neue Küche an und  verpflichtete sich vertraglich, jeden Abschlag zehn Mark abzuzahlen.
  Zu der Wohnung gehörten ein Stück Garten und die schon  erwähnten Ställe. Der Wunsch, etwas »Eigenes« zu haben, war teils in Erfüllung  gegangen, und Frau Jaschinski sprang froh und lebendig wie schon lange nicht  mehr und putzte an der hübschen Wohnung herum, erzählte jeden Augenblick  Jaschinski, was sie noch alles anschaffen möchte, und steckte ihn mit ihrer  Freude an.
  Die »Kolonne« hatte es den Kumpels in der Rutsche wieder  so verdorben wie in allen bisherigen.
  »Na, du Schrapper, hast noch nicht genug?« sagte in  einer Schicht ein Hauer zu Jaschinski. »Schämst du dich nicht, deinen Kumpels  das Brot zu stehlen?«
  »Ich möchte ja aus der Kolonne raus«, entschuldigte  sich Jaschinski kleinlaut, »ich kann aber nicht, dann muss ich ganz vom Pütt!«
  »So einen Dreck macht doch kein gescheiter Mensch  mit!« sagte der Hauer verächtlich.
  Die Hauer umringten Jaschinski, der sich fortwährend  entschuldigte, dass er bisher nichts gehabt hätte, dass er nicht rausfliegen  wolle, und erklärte jedem einzelnen, dass sich seine Frau umbringen würde, wenn  er die Koloniewohnung verlieren sollte.
  »Treibt es nicht zum Äußersten!« drohten die Hauer ergrimmt.  Jaschinski wurde recht klein. Er drückte sich aus der Menge, die ihn umstand,  und kroch auf den Korb.
  Am nächsten Tag begab er sich nach der Ausfahrt wieder  auf die Suche nach Arbeit. Auf einer Zeche kam er mit einem Markenkontrolleur  ins Gespräch. »In den nächsten zwanzig Jahren wird damit nicht zu rechnen sein,  dass wir Leute annehmen!« erzählte der Markenfritze.
  Jaschinski ging verzagt heim. »Aus!« sagte er.
  »Was meinst du?« fragte ihn seine Frau, der er von der  Arbeitssuche vorher nichts gesagt hatte.
  »Ich mein das Mitdempüttwechseln!«
  »Bist du wieder dran?« fragte sie aufgebracht.
  »Sie haun mich noch mal tot, wenn ich nicht aus der Kolonne  rauskomme!« klagte Jaschinski.
  In einer Schicht rief ihn der lange Dränger an. »Sag  mal, Jaschinski, ihr macht uns jede Arbeit kaputt, wo ihr hinkommt. Wir können  uns beim Graf Deuwel beschweren, es nutzt nichts, denn die Leistung wird nach  eurer Wühlerei berechnet! Kein anständiger Mensch billigt es, wenn er nicht in  ein paar Wochen krepieren will!«
  »Das weiß ich!« zitterte Jaschinski und erwartete eine  Ohrfeige oder einen Fußtritt. Es wunderte ihn sehr, dass es Dränger nicht  gleich bei den Worten getan hatte.
  »Du weißt es also und tust es doch!« sagte Dränger ungehalten.  Und Jaschinski erzählte ihm das, was er schon jedem erzählt hatte, um Dränger  erklärlich zu machen, warum er aus der »Fliegenden Kolonne« nicht  herauskonnte.
  »Du musst es doch verstehen, dass ihr nur  vorübergehend die Arbeit macht, bis sie euch nicht mehr brauchen!« erläuterte  Dränger. »Wenn sie dir dann die Fieppen geben, dann ist's umso schlimmer, denn  nicht ein einziger Kumpel steht hinter dir! Ihr habt es euch doch mit jedem  verdorben!«
  Das begriff Jaschinski wohl und war daraufhin noch  mehr verzagt. Müde und abgespannt ging er nach Hause. Die einzige Rettung war  ein Krankenschein. Er wollte darüber mit seiner Frau reden. Da kam er aber  schön an. »Einen Krankenschein? Hast du einen Vogel, Mann? Wir haben die Küche  abzuzahlen; oder willst du, dass man sie uns wieder fortholt?« Frau Jaschinski  wurde zornig.
  Jaschinski sah ein, dass ihm auch ein Krankenschein  nicht helfen konnte. So verstummte er, wurde winzig, wenn ihn jemand ansprach,  nahm alles hin wie ein Grubengaul, den man vor einen viel zu schweren Zug  gespannt hatte, lachte blöde zu jedem Schimpf, um nur etwas zu tun, um sich  nicht mehr entschuldigen zu müssen. Frau Jaschinski war unerbittlich, ließ mit  sich ebenso wenig reden, liebte ihre kleine Wohnung, die sie sich unter Sorgen  erarbeitet, den Stall, den kleinen Streifen Garten, der, durch ihre fleißigen  Hände umgegraben, besät, nun Früchte trug, das Ferkel, das sie gekauft, die  Ziege, alles, alles, was sie unter Opfern und nach langem, trostlosem Warten  zusammengebracht hatte.
  Und Jaschinski konnte ihr die kleine Welt nicht  zerstören. Drohend stand vor ihm eine neue Gefahr, die ihm Dränger angedeutet  hatte - wenn man ihn nicht mehr brauchte!
Die Betriebsrätewahl hatte stattgefunden. Böß hatte  die Leute der Belegschaftsliste entlassen.
  Dors Reger, der Obmann, unternahm nichts gegen die  Entlassung, weil er befürchtete, dass die Belegschaftsliste ihm die Stimmen  fortholen würde. Er rechtfertigte sich vor den Kumpels damit, dass er gegen  eine Kündigung wegen Betriebseinschränkung nichts unternehmen könnte, weil er  dazu keine gesetzliche Handhabe hätte. Dors Reger hielt sich streng an das  Betriebsrätegesetz.
  Nur Dränger, der nicht auf der Liste stand, weil er  erst vor wenigen Monaten auf Zeche »Hoffnung« in Arbeit getreten war und nach  dem Gesetz kein Anrecht auf die Kandidatur hatte, blieb verschont.
  Die vierzehn Entlassenen reichten beim Arbeitsgericht  eine Klage ein. Sie wurde abgewiesen, weil die Kündigung gesetzlich rechtmäßig  vonstatten gegangen war.
  Balasz hatte vier Kinder. Die  Arbeitslosenunterstützung war gering. Die Miete für die Koloniewohnung musste  gezahlt werden. Das Geld reichte nicht aus. Er bekam eine Räumungsklage, wurde  zur Räumung der Wohnung verurteilt. Der Wohnungsverwalter erbot sich, ihm einen  Notraum in der Ludwigsgasse bereitzustellen. Es waren entsetzliche Löcher,  die Wände quer gerissen, stickig und eng...
  Es war Lohntag auf der Zeche. Die Kumpels fuhren aus  der Grube, säuberten sich unter den Brausen und eilten zu den Büroschaltern, um  ihre Abschlagscheine und Lohnbücher zu holen. Die Gedingeregelung durch die  »Fliegenden Kolonnen« hatten es zuwege gebracht, dass die Lohnbücher größtenteils  das »Bleibt schuldig« zeigten und auf den Abschlagscheinen recht geringe  Summen standen. Wenn sich einer aus den »Fliegenden Kolonnen« sehen ließ, ging  es von allen Seiten los: »He, Schrapper, hast wieder einen Blauen verdient?«
  Auch Jaschinski bekam es zu hören. Er schlich zum  Schalter, nahm seine achtzig Mark Abschlag und den Restlohn, verbarg das Geld  ängstlich vor den empörten Blicken der andern Kumpels, und mit gesenktem Kopf  verließ er das Gebäude. Das Geld machte ihm keine Freude. Nicht einen Kumpel  hatte er, der ihn freundlich ansprach. Das kränkte und demütigte ihn.
  In der Wirtschaft Kreibel war Hochbetrieb. Die Kumpels  gingen hinein, zahlten ihre Schulden und tranken sich einen an auf den Dreck.
  Auch Jaschinski begab sich hinein. Er ließ sich an der  Theke einen einschütten, trank ihn unter dem Gespött der anderen Kumpels aus  und verschwand sofort wieder.
  Dränger traf ihn unterwegs. Jaschinski klopfte in Verlegenheit,  ohne aufzusehen, seine Pfeife aus.
  Dränger rief ihn an. »Na, Jaschinski, hast dir's  überlegt?«
  »Ich möcht schon raus, aber die Alte, weißt du...« In  Jaschinskis Gesicht erschien der alte hilflose Ausdruck. »Und dann hab ich auch  Angst, von wegen der Kündigung!«
  »Mensch, du haust dich durch die Wühlerei noch zum  Krüppel«, sagte Dränger und blieb stehen. »Weißt du, was wir heute für Geld  gekriegt haben?« und er nannte Jaschinski die Abschläge und Restlöhne einiger  Kumpels.
  »Ich möcht gern aus dem verdammten Pütt raus«, klagte  Jaschinski. »Wo krieg ich aber Arbeit?«
  »Es nützt dir keine Flucht«, sagte Dränger, »du musst  dich entschließen, mit den andern Kumpels wieder in Ordnung zu kommen, deren  Meinung du kennst!«
  »Ich möcht ja schon, aber ich kann nicht aus der Kolonne!«
  »Ich sag es dir, du kommst schon raus, wenn dich Böß  nicht mehr nötig hat!« sagte Dränger, der einsah, dass Jaschinski keinen  eigenen Willen besaß.
  Die Kumpels der sechsten Rutsche lehnten sich wegen  der schlechten Flözverhältnisse und des herabgesetzten Wagenlohns auf.
  »Wir wollen mal sehn, ob es hier wirklich so schlimm  ist!« sagte Schacke zu den Hauern. »Wenn ich hier die Kolonne hineintue, werden  Sie staunen, was hier für eine Kohle rauskommt!«
  Die »Fliegende Kolonne« kam hinein. Hoi! hieß es kohle  raus!
  Drei Förderschichten über Soll. Die Kolonne wurde  herausgetan, und die alte Kameradschaft kam wieder in die Rutsche hinein.
  »Sehn Sic«, triumphierte Schacke, »spielend leicht  haben wir unsere Kohle gekriegt!«
  »Warum haben Sie denn die Leute nicht drin gelassen?«  fragten die Kumpels.
  »Damit ihr faulenzen könnt?« sagte Schacke. »Das fällt  mir nicht ein!«
  Es war ein einziger Bruch, das ganze Kohlenfeld. Man  konnte sich ohne Lebensgefahr nicht vor die Arbeit wagen. Überall bröckelte es  und musste erst gründlich ausgebaut werden, wenn es ohne Unfälle abgehen  sollte.
  Schacke saß den Hauern auf, lag lange in den Kohlenörtern  und passte auf, was die Hauer machten. Es kam ihm zu wenig Kohle. Er verlangte,  dass erst Kohle rausgehauen werden sollte; dann könnten die Hauer noch genug  bauen.
  »Schluss!« sagte ein Kumpel und schleuderte seine Lufthacke  fort. Das hatte Schacke gehört. Der Hauer musste sofort die Rutsche verlassen.
  Die andern stellten aus Protest die Förderung ein. Ein  robuster Lehrhauer geriet in Zorn. »Und wenn Sie nicht gleich aus dem Loch  gehen, dann passiert noch was«, sagte er zu Schacke, der sie durchaus zum  Fördern zwingen wollte.
  Schacke zog es vor, aus der Rutsche zu kriechen. Die  Entschlossenheit der Kumpels machte ihn unsicher.
  Während der nächsten Förderschicht versuchte er es im Guten:  »Leute, ich kann doch nicht anders, als was man mir bestimmt. Los, fördert  endlich eure Kohle, sonst muss ich euch alle dem Alten melden!«
  Der Hauer förderten wohl, jedoch nur das, was sie konnten.  Schacke holte zum zweiten Mal die »Fliegende Kolonne« herbei. Jaschinski kroch  in das ihm zugewiesene Kohlenloch hinein. Sckacke legte sich neben ihn hin.  »Dran, Jaschinski, zeigen Sie denen mal, was Sie können!«
  Jaschinski bemerkte, dass ihn der Steiger schief  ansah, und verschwieg das, was er sagen wollte.
  Die Wühlerei begann von neuem, Schacke trieb hartnäckig,  weil die Kolonne auch nicht mehr so recht von der Stelle kommen konnte. In  jeder Schicht ereignete sich etwas, was die Förderung behinderte. Die Rutschen  rissen auseinander. Der Motor versagte, weil man das Schmieren unterließ. Die  Leitungsrohre wurden undicht, mussten geflickt werden. Immer kam etwas vor, und  Schacke bekam Tobsuchtsanfälle.
  Er stieß bei allen Kumpels auf den heftigsten Widerstand,  sobald er von ihnen die durch die »Kolonne« festgesetzte Leistung verlangte.  Einige Kumpels zerschlugen verzweifelt mit dem schweren Hammer ihre Maschine,  um nicht fördern zu brauchen. Alle verlangten entschieden, dass die  Raubbauarbeit der »Fliegenden Kolonnen« eingestellt werde.
  Dies bekam Böß zu hören. Er ließ die Hauer  feststellen, die den Protest angeregt hatten, und kündigte ihnen.
  Schacke bekam trotzdem seine Förderung nicht und musste  die »Fliegende Kolonne« in der sechsten Rutsche belassen. Das Fördersoll, das  nach ihrem Tempo errechnet worden war, wurde ihnen nun selbst zur Qual. Als die  Leute der »Kolonne« merkten, dass sie in der Rutsche verbleiben sollten,  verdrückte sich einer nach dem andern und nahm einen Krankenschein. Trotz  Bitten und Protesten bei Schacke gab es für die »Kolonne« keine andere Arbeit  mehr.
  Nun war es mit dem guten Lohn zu Ende. Hatten sie  während ihrer flotten Zeit sechzig, siebzig und neunzig Mark Vorschüsse  erhalten, bekamen sie nun, weil  die
  Rutsche sechs am schlechtesten im Gedinge stand,  vierzig, dreißig und nicht selten nur zwanzig Mark Abschlag.
  »Mein Gott, Mann, was fällt dir denn auf einmal ein?«  fragte Frau Jaschinski ihren Mann voll Schrecken. »Was bringst du mir denn für  ein Geld nach Haus?«
  »'s ist aus«, sagte Jaschinski, »wir sind jetzt in  einer festen Arbeit!« Er war in den letzten Tagen immer mehr zusammengeschmolzen;  denn in der Rutsche sechs war es sehr heiß, und er musste dran, wenn er nicht  mit trockenem Brot zur Schicht gehen wollte.
  Er zerbrach sich den Schädel darüber, wie er nur aus  der schlechten Arbeit herauskommen könnte, und versuchte es noch einmal mit  Briefen an seine Bekannten. Einige Kumpels schrieben zurück. Die Briefe  brachten ihn zur Raserei, er zerfetzte sie und warf sie in den Kohlenkasten.
  Das Ferkel, noch keine hundert Pfund schwer, musste  verkauft werden. Das Geld, das Jaschinski verdiente, reichte nicht aus; denn  sie hatten ja an ihrer Küche abzuzahlen, das waren dreißig Mark im Monat. Auch  die Ziege musste dran glauben.
  Jaschinski tröstete sich mit den Kaninchen, die er  sich auf den Rat eines Kumpels zugelegt hatte. Das Mutterkaninchen hatte ein  paarmal Junge geworfen. Die kleinen Dinger sprangen so lustig umher und  entschädigten ihn für den Ärger, den er im Pütt hatte. Er gedachte eine  Riesenzucht anzulegen und schwärmte von einer Kaninchenfarm, die er später  bauen wollte. Aber er musste bald ein Kaninchen nach dem anderen für Frau  Jaschinskis Kochtopf hergeben, weil sie gezwungen war, sich mit dem Geld mehr  und mehr einzuschränken.
  Die gute Butter, der gute Bohnenkaffee, den er während  seiner Arbeit in der »Fliegenden Kolonne« mit in den Pütt bekommen hatte,  fielen fort; auch der Wurstbelag. Frau Jaschinski kaufte Margarine und  »Gemischten«, später nur noch »Kornfrank« für die Kaffeepulle, der im Pütt eine  ganz ekelhafte Brühe wurde. Das Essen wurde immer fleischloser, der Lohn  schlechter und die Arbeit verrückter.
  Jaschinski fluchte noch schrecklicher, als die Kumpels  geflucht hatten, denen er früher die Arbeit und die Löhne hatte verderben  helfen.
Die Kohle der ersten Teilstrecke wurde von »Amor« an  den Bremsberg geschleppt. Amor war der letzte Gaul im fünften Revier. Sein  Hinaustransport verzögerte sich, weil sich das breitere Ausbauen der Strecke  für eine Maschine als unrentabel erwies.
  So plagte sich Amor mit den Förderzügen. Je mehr Mühe  er sich gab, umso mehr Wagen wurden ihm angehängt, denn die Steigerung der  Förderung erforderte auch von ihm Mehrleistung.
  Bis vor ein paar Wochen teilten sie sich noch zu zweit  die Arbeit. Da gab es noch die »Mary«.
  Mary war auf einem Auge blind. Sie hatte sich's an  einem Bruchholz bei der Antreiberei ausgestoßen. Sie war aber fleißig und nahm  Amor die größere Last ab, die Förderung der Morgenschicht.
  Dann kam ein Unglück, wobei Mary sich einen Knochen  brach und arbeitsunfähig hinausbefördert werden musste.
  Böß ließ kein neues Pferd mehr hinunterschaffen, weil  es sich seiner Meinung nach nicht mehr bezahlt machte.
  Seither ging es Amor sehr schlecht. So eine tolle  Förderung hetzt nicht nur Menschen, sie setzt auch dem stärksten Gaul zu. Und  das spürte Amor am besten.
  Die Strecke stöhnte und dröhnte, wenn er mit der Kohle  daher stampfte, dampfenden Schaum um das Maul und auf dem zerschabten Fell, das  voller Narben war wie mancher Rücken der alten Kumpels.
  Schacke ließ ihn nach der mühseligen Morgenschicht,  kaum dass er ein paar Maulvoll Futter hinuntergeschlungen hatte, wieder  vorspannen, um die Kohle der Mittagsschicht an den Bremsberg zu schleppen.
  In wenigen Wochen war Amor erschreckend abgemagert.  Seine Knochen, die stark herausragten, waren oft das Gespött der jüngeren  Kumpels.
  Selbstverständlich bockt auch der geduldigste Gaul,  wenn man ihm zu viel zumutet. Das tat auch Amor, soweit es seine steifen  Knochen erlaubten.
  Schacke fasste es als Trotz auf. Amor wurden die Knochen  noch mehr lahm gehauen, und er gab den Widerstand mit hängendem Schädel auf.  War die Schicht zu Ende, war er schlapp und nicht imstande, sich der Ratten zu  erwehren, die ihm den Hafer wegfraßen.
  Einmal stockte die Förderung.
  Die Kolonne, in der Jaschinski sich befand, wartete  auf leere Wagen. Der Ortsälteste kroch fluchend durch den Bau und hieß die  Hauer, Kohle auf Vorrat zu hauen. Zudem war bekanntgegeben, dass hoher Besuch  erwartet wurde, was den Ortsältesten erst recht in Schwung brachte.
  Die Hauer verschwanden schon hinter der aufgetürmten  Kohle, und es gab noch immer keine leeren Wagen. Schacke kam von oben,  bemerkte, dass die Rutsche stand. »Na, gottverdammt, warum fördert ihr nicht?«  jagte er gleich auf den nächsterreichbaren Mann los.
  »Da unten muss was passiert sein!« erklärte der Hauer.  »Wir kriegen seit einer halben Stunde keine leeren!«
  »Was, keine Wagen? Die verdammten faulen Hunde, ich  schmier sie alle aufs Brett!« brüllte er und krabbelte über die Kohle zu der  Teilstrecke hinunter. Schon von weitem hörte er das Schreien des  Pferdetreibers.
  »Was ist mit dem Biest?« schrie Schacke den Jungen an  und stieß ihn beiseite. »Geh weg!«
  »Amor zieht nicht!« keuchte der Junge. »Hau ihm was  auf den Balg, dem Stinkvieh!« »Ich hab ihm schon Zunder genug gegeben, er zieht  einfach nicht an!« erzählte der Junge.
  »Das will ich doch mal sehen!« Schacke ergriff, um  seinen Meterstock zu schonen, ein Stück Schalholz und schlug damit wütend auf  Amor ein.
  »Hoi, du Aas!«
  Amor schlug hinten hoch, traf den Eisenwagen. Funken  spritzten.
  »Vorwärts, Amor!« schrie Schacke. Ein Hieb traf Amor,  der sich hin und her warf, zwischen die Ohren. Ein zweiter das Maul.
  »Los, Amor!«
  Amor riss an den Ketten. Das Holz traf seine Knicknochen.  Er drehte sich schmerzgepeinigt herum und sprang Schacke an. Der knallte ihm  eins auf die Nüstern. »Da, du Aas, du verfluchtes! Hoi, Amor!«
  Vorn in der Strecke erschien Licht.
  »Wer kommt da?« schnaubte Schacke.
  »Ich!«
  »Wer ich?«
  »Ich, Jaschinski!«
  »Was treiben Sic sich hier unten rum?« schrie ihn  Schacke an, froh, jemand erwischt zu haben, an dem er sich auslassen konnte.
  »Ich musste auf den Kübel!« stotterte Jaschinski  ängstlich.
  »Was Kübel!« packte Schacke los. »Blöde Ausreden! Dafür  haben Sic ein andermal Zeit genug, auf den Kübel zu gehen. Hier wird Kohle  gefördert!«
  »Wir hatten keine leeren Wagen«, versuchte Jaschinski  sein Verlassen der Rutsche zu rechtfertigen.
  »Ich geb Ihnen leere, da sollen Sie staunen!« schrie  Schacke. »Los jetzt, den Gaul vorn an der Schnauze gepackt!«
  Jaschinski fasste nach Amors Zaumzeug. Ordnete es.
  »Machen Sic nicht soviel Dreh!« schrie Schacke, dem es  zu lange dauerte.
  »Komm!« rief Jaschinski, packte das Pferd, das wild  zur Seite sprang. »Komm, sonst kriegste wieder deine Prügel!«
  Amor stemmte die Beine gegen die Schwellen, riss und  stöhnte. Kam keinen Meter vorwärts.
  »Ich glaub, das Tier is krank!« meinte Jaschinski schüchtern.
  »Was, krank, wenn Sic nur nicht krank sind!« schrie  Schacke. »Hoi, du Elendsbiest!«
  Jaschinski flog in einen Stoß.
  »Halten Sie den Gaul fest!« schrie Schacke.
  Jaschinski schüttelte den Kopf und näherte sich dem  ausschlagenden Pferd. »Komm, Amorchen, ich hau dich nich. Sei nicht bange,  komm nur!«
  »Drehen Sie ihm das Maul an! Hoi, du Aas!«
  Amor schlug mit dem Kopf hoch. Jaschinski pendelte sekundenlang  mit den Beinen in der Luft. »Nicht hauen«, wurde er ärgerlich, »lasst ihm doch  Ruh!«
  »Das wäre gelacht!« grollte Schacke.
  »Hängt ihm ein paar Wagen ab!« bat Jaschinski.
  »Blödsinn, er muss ziehen!« tobte Schacke, »Hoi,  Amor!«
  Amor stöhnte tief. Ein Hieb mit dem Holz traf seine  Rippen. Er legte sich mit einem mal quer über die Schienen.
  »Was ist nun los?« fragte Schacke bestürzt.
  »Ich hab's ja gesagt!« erwiderte Jaschinski.
  »Das fehlt mir noch!« Schacke fluchte, sprang an das  Tier heran, zerrte es am Halfter. »Auf, du verdammte Krücke! Hoch, los!«
  Amor blieb liegen und stöhnte noch mehr.
  »Packt doch zu!« brüllte Schacke die Kumpels an.
  Sie zerrten zu dritt an Amor herum. Der stand nicht  auf.
  »Aus!« meinte Jaschinski.
  »Junge, Junge, nee!« jammerte Schacke. »So ein fauler  Zosse! Was mach ich bloß, die ganze Förderung steht. Nun fehlt noch, dass der  Alte herkommt!«
  Er stierte den Gaul an, dann die Kumpels, die ihm das  gönnten und mit versteckter Schadenfreude dastanden. Die Tobsucht packte ihn.  »Gottverdammich!« Die Lampe krachte in den Stoß. Die Lederkappe flog hinterher,  zuletzt die Meterlatte. »Worauf warten Sie?« brüllte er die Kumpels an.  »Vorwärts, das stinkige Vieh fort und die Wagen abgekoppelt! An den Bremsberg  geschleppt!«
  »Der is kaputt!« flüsterte Jaschinski dem Lader zu,  als sie unter Mühe Amor aus den Schienen schleiften.
  Während sie die Kohlenwagen fortschoben, verendete  Amor in der Strecke.
  »Glaubst du, dass die Arbeit für ihn zu schwer war?«  meinte Jaschinski zu dem Pferdejungen.
  »Blödmann«, entgegnete der, »Pferde sind Pferde!«
  »Das wohl«, sagte Jaschinski nachgrübelnd, »und wenn  es noch so stark is, wenn man ihm zu viel anhängt, dann geht es ihm wie uns!«
  In der weiteren Schicht fiel es ihm ein, dass Amor  noch leben könnte, wenn ein zweites Pferd dagewesen wäre. Auf jeden Fall lag  etwas vor, dass man kein zweites Pferd hergeschafft hatte.
  Und dies erfuhr er von dem Ortsältesten, der sagte:  »Sparen wollte der Alte, jetzt hat er ausgespart!«
  »Pass auf, jetzt kriegen wir auch 'ne Maschine!«  meinte der Lader nach der Schicht.
  »Warum denn nicht früher?« fragte Jaschinski.
  »Meinst du, die Gäule kriegen ihr Fressen umsonst?«  sagte der Pferdejunge.
  »Umsonst ist der Tod!« antwortete der Lader.
  Jaschinski musste an Amors klägliches Ende denken. Den  ganzen Nachmittag. In der Nacht. Als er am nächsten Morgen anfuhr. Vor Kohle,  als er vor Staub und Kohlenhauen nicht mehr schnaufen konnte.
  Schacke jagte wie toll durch die Rutsche. Der  Förderausfall musste heraus.
  >Jetzt geht es uns wie dem Amor<, dachte Jaschinski.
Böß' Plan war gelungen. Unter Tage hockten die Hauer  und Lehrhauer in den Rutschenbetrieben wie angespannt an den Maschinen. Sie  durften keine Pause machen, um ihr Brot zu verzehren; Kohle musste raus. Alle  Unproduktiven waren aus den Kohlenbetrieben heraus. Was vor Kohle saß, war  jüngeres, frisches Hauermaterial.
  Die Pferde waren fort. Maschinen rasten mit der Kohle  durch die Strecken, durch den Querschlag, donnerten durch den Füllort am  Schacht hin, koppelten die vollen Wagen ab und die leeren an und rasten wieder  in die Reviere zurück. Neben den Zügen rannten die Bahnläufer her, die sich die  Reviersteiger zur Kontrolle über die Fahrer angestellt hatten.
  Im fünften Revier war es der Muralla, ein stumpfsinniger,  grobschlächtiger Bursche. Muralla machte es den Maschinisten so sauer wie  möglich; denn er lebte in der Einbildung, er sei ein Beamter. Er bekam einen  niedrigen Schichtlohn, rannte sich hinter den Maschinen die Zunge aus dem Hals  und hatte die Vergünstigung, zuweilen länger in der Grube bleiben zu dürfen und  eine Überschicht zu machen.
  Böß hatte unten am Schacht maschinelle Vorrichtungen  eingeführt, die gestatteten, einen Teil der bisherigen Schlepper zu entlassen.  Starke Eisenhebel schoben die leeren Wagen von den Förderkörben herunter und  die vollen auf die Förderkörbe hinauf.
  Über Tage liefen Kettenbahnen, vom Schacht zu den  Rollkippen, auf der Brücke nach den Bunkern und Halden hin. Acht Stunden in  einer Förderschicht rollten die Wagen ununterbrochen voll Kohle durch Strecken,  Querschläge, auf die Förderkörbe, in die Kettenbahnen - ein unendlicher Zug  voll Kohle.
  Das Schachtgebäude dröhnte, die Brücken dröhnten, die  Bunker donnerten. Fördersignale, tief und schrill, Lokomotiven, Waggon um  Waggon auf Dutzenden Schienensträngen. Kohle krachte hinein. Auf die Halden,  die einen großen Teil des Zechenplatzes füllten, stürzte Wagen um Wagen  frischer Kohle.
  Böß bewachte den Gang der Förderung mit geschäftigen  Augen, denen nicht ein Mangel verborgen blieb. Seit der ersten Förderstunde  stand er auf der Hängebank, gab dem Brückenaufseher Waise Anweisungen, jagte  hinter den Arbeitern her: brüllte, strafte, prüfte das Maß der Förderwagen,  ließ die schlechtgefüllten umkippen, die Kohlennummer feststellen, wenn Steine  in der Kohle vorgefunden wurden. Böß war überall in der Förderung.
  Böß' Apparat klappte vorzüglich. Obwohl er die Belegschaft  in den letzten zwei Jahren von zweitausendachthundert auf  eintausendsiebenhundert Mann rationalisiert hatte, war die Förderziffer nicht  gefallen; im Gegenteil, sie war gestiegen. Böß war jedoch noch nicht zufrieden.  Er beobachtete die Maschinen, verglich sie mit den Menschen, die unten und  oben in der Förderung arbeiteten. Die Menschen gefielen ihm nicht, die  Maschinen dagegen besser. Maschinen arbeiten auf einen Hebeldruck. Er hatte  von ihnen keinen Widerspruch zu erwarten. Die Menschen in der Förderung  widersprachen noch. Er hätte gern auch aus ihnen stumme, Rädchen in Rädchen  greifende Maschinen gemacht...
  Über dem ganzen Gebiet an der Ruhr liegt der Geruch  von Kohle. Wo man hinblickt, sieht man Förderturm an Förderturm, Schachtanlage  an Schachtanlage, deren Gelände voll Kohle. Züge um Züge voll Kohle rollen ins  Land.
  Vor Meinerts Wohnung liegt der Rangierbahnhof. Meinert  hört jeden Tag die Züge voll Kohle vorbeischnaufen. Er selbst hat keine Kohle.  Alle, die in der Ludwigsgasse wohnen, sind arbeitslose Bergleute und haben  keine Kohle, obwohl sie auf Zeche »Hoffnung« jahrelang Kohle gehauen haben. Sie  besitzen nicht eine Schippe voll für ihren Bedarf. Ihre Kinder kriechen auf den  Eisenbahndämmen umher und kratzen den Kohlendreck zusammen, der von den Waggons  fällt. Sparsam wirtschaften die Frauen mit den so erworbenen Schätzen; denn in  den Buden der Ludwigsgasse ist es im Winter unheimlich kalt und ungemütlich.
  Unterhalb der Kolonie, in der Nähe der alten Schlackenhalden,  liegt die Müllkippe. Dorthin hasten täglich Hunderte von Männern, Frauen und  Kindern, um Holz und Kohlen zu suchen.
  Dreihundert Meter abseits qualmen die hohen Kohlenberge  der Zeche »Hoffnung«. Man darf nicht heran, es ist verboten. Wer es wagt, wird  bestraft. Böß hält zur Bewachung der Kohle Wächter und Hunde.
  Meinert war das Kratzen auf der Müllkippe leid geworden.  Seine Notwohnung lag unterm Dach, war feucht und voll Schwamm in den  Stubenecken. Seine Kinder kränkelten fortwährend, hatten eine Farbe in den  Gesichtern wie die der fahlen Tontöpfe, die mit den vertrockneten Pflanzen auf  der Fensterbank standen. Die Kinder erinnerten an welke Blumen, waren wie jene  ohne Sonne und Licht. Es fehlte ihnen Nahrung und Pflege.
  Meinert sah täglich zu den Kohlenbergen der Zeche hinüber.  Wie komm ich da heran? dachte er. Er schlich oft um die Halden herum und suchte  nach einer geeigneten Stelle, wo er gelegentlich durchkriechen konnte, und  besprach sich einmal mit ein paar Arbeitslosen. Sie waren damit einverstanden,  hatten nur ein Bedenken: die Wächter!
  »Ganz egal«, sagte Meinert, der sich's in den Kopf  gesetzt hatte, einmal vernünftige Kohle zu brennen, »wir wollen's mal versuchen!«
  Sie besorgten Säcke und gingen nachts, nach elf Uhr,  los. Von Zeit zu Zeit lauschten sie die Umgebung ab, ob sich irgendwo ein  Wächter hören ließ, und kletterten über die Mauer. Meinert schlich voran, die  andern zwei ihm nach. Sie füllten ungestört die mitgebrachten Säcke voll der  schönen Kohle. Meinert war dabei zumute wie einem Goldgräber, der plötzlich  auf den lang ersehnten Schatz stößt.
  Der Rückweg war umständlicher. Sie schleppten zu zweit  die Säcke bis zu der Mauer, während der dritte aufpasste. Dann packten alle  drei an und warfen die Säcke einen nach dem andern über die Mauer und  kletterten selbst hinüber. Sie durften mit der Kohle nicht über die Straße  gehen, sonst fiel es auf, und außerdem konnten sie von der Polizei gesehen  werden. Nach einem schwierigen Weg über Felder kamen sie ungehindert nach  Hause.
  Sie beschlossen, am nächsten Abend noch einmal zu  gehen.
  Es war rabendunkel,   als  sie,  vor   Aufregung nassgeschwitzt, zum zweiten Mal über die Mauer stiegen. Sie  lauschten erst und schlichen wieder zu dem Kohlenhaufen. Das Füllen der Säcke  ging ungestört vonstatten. Sie schleppten wieder die Säcke zur Mauer und waren  im Begriff, sie hinüberzuwerfen, da kam vom Fördermaschinenhaus her ein  Hundelaut.
  »Still«, flüsterte Meinert. Sie warteten ab. Der  Wächter war nicht zu sehen, aber das Hundegekläff kam näher.
  »Der Hund kommt!« rief einer entsetzt und sprang auf  die Mauer. Meinert und der dritte wollten nicht die Säcke zurücklassen, sie  versuchten, diese noch schnell über die Mauer zu werfen. In langen Sätzen kam  ein großer Hund heran und fiel über Meinert her, der im letzten Moment noch die  Mauer erklettern wollte.
  Meinert stürzte von der Mauer zurück auf den  Zechenplatz. Der Hund verbiss sich in seinen Arm.
  Meinerts Begleiter hatte in der Aufregung nach einem  Stück Eisen gegriffen und schlug damit auf den Hund ein. »Halt!« schrie jemand  aus dem Dunkel heraus. Es war der Wächter, der im Eilschritt hinter dem Hunde  herkam.
  »Bleib da, oder ich hau zu!« schrie Meinerts Begleiter  dem Wächter entgegen. Der Wächter stutzte, besann sich aber schnell und griff  nach seiner Pistole. »Hände hoch!« rief er und legte an.
  Sobald sich einer der beiden bewegte, sprang der Hund  mit einem Satz zu und biss sich fest.
  Auf den Pfiff des Wächters rannte noch ein zweiter  Wächter herbei. Auch der hatte einen Hund und eine Pistole. »Los, mit!« befahl  der erste Wächter. Meinert und der andere mussten mitgehen.
  »Los!« brüllte der eine Wächter und stieß Meinert, der  zögerte, ins Gesicht. »Wir geben's dir, von wegen klauen.«
  Auf der Polizeiwache wurden sie verhört. »Wie oft  haben Sie schon Kohle gestohlen?« vernahm sie ein Kriminalbeamter.
  »Wir haben nur ein paar Stücke genommen!« »Genommen -  nicht gestohlen?« Der Kriminalbeamte bebte vor Lachen. »Das Nehmen wird Sie  wohl ein paar Monate kosten, Freundchen!«
  Man hielt die beiden vorläufig fest.
Balasz suchte Arbeit; auf den Zechen bekam er keine.  Ein Schachtmeister riet ihm, zu einem seiner Bekannten nach Wanne zu gehen, der  dort mit Kanalisationsarbeiten beschäftigt war. Balasz begab sich dorthin. »Es  hat nicht viel Zweck!« wurde ihm gesagt. »Wir sind in wenigen Tagen zu Ende!«
  Balasz musste den weiten Weg wieder zu Fuß zurück. Auf  dem Heimweg kam er an den mächtigen Eisenwerken von Gelsenkirchen vorbei.  Arbeiter standen vor sengenden Feuern, Schutzbrillen vor den Augen, und stachen  mit großen Eisenstangen in die Glut. Dicker, stinkender Gasgeruch erschwerte  Balasz das Atmen, und die Luft war voll von feinem Aschestaub, der in dichten  grauen Schichten den ganzen Stadtteil überdeckte. Riesenkräne hoben kreischend  plumpe, glühende Eisenblöcke auf, zogen sie spielend leicht in die Höhe,  tanzten damit über den Köpfen der Männer. Das Werk war wie eine gewaltige  Feueruhr, zahllose Räder, Bohrmaschinen, Feilbänke - dazwischen die Arbeiter.
  Balasz passierte ein Tor des Werkes. Auf der  Straßenseite war ein Schild angebracht: »Arbeiter werden bis auf weiteres  nicht eingestellt.« Hinter dem Tor sah er eine Kolonne Arbeiter ausschachten.  »Darf ich mal zu den Leuten hin?« fragte Balasz den Portier.
  »Sie können doch lesen!« sagte der Portier brummig und  machte eine Kopfbewegung nach einem zweiten Schild, darauf stand: »Unbefugten  ist der Eintritt streng verboten.«
  »Ich möchte nur wegen Arbeit anfragen!« versuchte Balasz  den Portier zu überreden.
  »Warten Sie, bis der Meister herauskommt!« sagte der  Portier und verschwand in seinem Bau.
  Balasz wartete eine Stunde und noch länger, bis  endlich der Meister zum Tore herauskam.
  »Brauchen Sie nicht noch Arbeiter?« fragte Balasz und  griff mechanisch an den Rand seiner Mütze.
  »Nein!« sagte der Meister kurz und ging mit langen  Schritten einer Schenke zu, die auf der andern Werkseite lag. Balasz ärgerte  es, dass er den groben Kerl überhaupt angesprochen hatte. Er tippelte weiter,  fragte noch hier und dort, bekam aber nirgends Arbeit. Wie ein abgehetzter Hund  kam er abends heim und streckte sich auf die Lehnbank aus.
  »Hast nichts gekriegt?« fragte ihn seine Frau. »Nein!«
  So ging es jeden Tag, wochenlang.
  Balasz tippelte die ganze Stadt ab, lernte dort  manchen Arbeitslosen kennen, der wie er vergeblich Arbeit suchte. Auf diesen  Gängen bekam er verschiedene Ratschläge. Einer schlug ihm vor, auf die Höfe  singen zu gehen, das wäre ein kleiner Nebenverdienst. Balasz lehnte das ab. Zu  Hause jedoch ertappte er sich dabei, dass er seine Stimme in Liedern versuchte.  Seine Frau schüttelte darüber den Kopf. »Mann, bist du denn nimmer gescheit?«
  »Es ist ein Nebenverdienst, wenn du nicht verhungern  willst.« Es erschien ihm, der sonst nur mit ernsten Dingen beschäftigt war,  wirklich närrisch, den Leuten auf den Höfen Schlager vorzukrähen, denn seine  Stimme war alles andere als schön. Er verwarf den Gedanken und stürzte sich in  seine Organisationsarbeit. Kam er nach Hause, empörte ihn das Schweigen seiner  Frau und das eindringliche Fragen seiner Kinder nach Essen.
  Eines Morgens floh Balasz wieder hinaus. Wohin, das  war ihm völlig gleich. Nur hinaus aus der Bude, in der er es nicht mehr  aushalten konnte. Der Weg führte ihn an der Ruhr entlang. Überall Fabriken,  Kohlenschächte. Er versuchte abermals, Arbeit zu bekommen; umsonst.
  In Werden stand in der Nähe der Ruhr eine Reihe  kleiner Landhäuser. Er hatte am Morgen kein Brot mitgenommen.
  Er schämte sich, den Kindern das wenige fortzunehmen.  Die Schwäche in seinen Beinen wurde größer. Er empfand sie schon alle Tage -  das war der Hunger.
  Balasz stand vor einem der Häuser und wusste nicht, ob  er hineingehen sollte oder nicht. Er fluchte über seine Unschlüssigkeit; die Scham  hielt seine Füße zurück. Er ging nicht hinein. So stand er noch immer vor dem  Haus, bis eine Frau den Kopf durchs Fenster schob und ihn fragte, ob er sich  verlaufen hätte. Balasz nickte verwirrt.
  »Wo wollen Sie denn hin?« fragte die Frau.
  Balasz nannte Zeche »Hoffnung«. Die Frau erklärte ihm,  welchen Weg er zu gehen habe, und schloss das Fenster. Er wandte sich um und  trottete zurück. Das ganze Grauen der Arbeitslosigkeit kroch vor ihm her, eine  endlose Kette von hungrigen Gespenstern.
  Es war ein böser Tag. Als Balasz heimkam, erzählte ihm  seine Frau, dass sie am nächsten Tage geräumt werden sollten.
  »Auch das noch!« sagte er heiser.
  Am nächsten Morgen kam der Wagen der Wohnungsverwaltung.  Drei Übertagearbeiter betraten Balasz' Wohnung, hinterher der Wohnungsverwalter.  »Sie werden geräumt!« erklärte der Verwalter Balasz.
  Balasz musste zähneknirschend zusehen, wie ein Möbelstück  nach dem anderen hinausgeschleppt und auf dem Wagen verstaut wurde. Zehn Jahre  lang hatte er die hübsche, geräumige Wohnung bewohnt. Es graute ihm vor dem  engen Loch in der Ludwigsgasse, das ihm der Wohnungsverwalter als Ersatzwohnung  bereitstellte.
  Der Wagen fuhr ab. Frau Balasz trug eins der Kinder  auf dem Arm und schob das Kleinste vor sich im Wagen. Balasz hielt den vierjährigen  Jungen an der Hand und schritt mit hängendem Kopf und finsterer Miene  hinterher.
Frau Ragnitzki, die von ihrem Fenster aus sehen  konnte, wenn der Wohnungsverwalter zu Marie ging, beschloss, der Geschichte ein  Ende zu bereiten. Sie wusste, wann Plaschewski nach Hause kam, und wollte ihm  auflauern, um ihm einen Wink zu geben.
  Plaschewski arbeitete in Horst und kam nur einmal in  der Woche heim.
  Es war der Tag, an dem Plaschewski nach Hause kommen musste,  und Frau Ragnitzki lag jeden Augenblick am Fenster. Auch ihr Fritz hatte den  Auftrag, aufzupassen, wenn Plaschewski kam, und es ihr sofort mitzuteilen.
  Auf diese Art erwischte sie Plaschewski. Sie rief ihn  in ihre Wohnung. »Wie geht's denn, Plaschewski?« begann sie, um über ihre erste  Verlegenheit hinwegzukommen. »Es ist doch nichts, die Familie hier und Sie  draußen unter fremden Leuten, nich wahr? Oder fühlen Sie sich dabei wohl?«
  »Was soll ich denn anders anfangen?« erwiderte Plaschewski,  ein großer, breitschultriger Mann in den dreißiger Jahren. »Ich kann froh sein,  dass ich noch Arbeit hab!«
  »Stimmt schon, aber die Umstände, die dabei sind«,  Frau Ragnitzki hustete in die Faust, »immer die ganze Woche aus dem Haus, nee,  mein ich, das wär nichts!«
  Plaschewski zog die Schultern hoch. »Es ist einmal so!  Was kann man dran ändern?«
  »Mein Gott, ich halt Sie ja nur unnütz auf, was?«  wurde Frau Ragnitzki ängstlich, denn Plaschewski griff nach der Türklinke. »Ich  will Sie um Himmels willen nicht aufhalten, ich wollte Ihnen nur sagen, wenn  ich auch weiß, dass Ihre Frau eine grundanständige Person ist, passen Sic  trotzdem auf, denn das Biest, der Wohnungsverwalter, ist arg hinter ihr her!«
  Plaschewski sah Frau Ragnitzki an, lachte einfältig.  »Blödsinn reden Sie! Ich kenn meine Frau!«
  »Ja, Plaschewski«, sagte die Ragnitzki eindringlich,  »fragen Sie nur die anderen Frauen.«
  Plaschewski stierte sie unschlüssig an. »Macht doch  keinen Quatsch!«
  »Plaschewski, wir haben's doch gesehn«, beteuerte sie  und schlug sich gleich darauf mit der flachen Hand vor den Mund. »Mein Gott,  was man nicht alles plappert; es geht mich im Grunde genommen auch nichts an.  Es ist ja nur Ihre Sache, und darüber können Sie ja denken, wie Sie wollen...«  Sie kniff die Augen zu und überprüfte die Wirkung des Gesagten an seinem  Gesicht.
  Plaschewskis Stirn furchte sich. »Ich bring euch vor  Gericht!« warnte er.
  »Aber, mein Gott, ich red doch nur das, was ich mit  offenen Augen gesehn und vor Gericht beschwören könnte, Plaschewski. Der Kerl  geht zu Ihrer Frau!« beteuerte sie beleidigt.
  Plaschewski stand da und kaute an einer schweren Erregung.
  »Alle in der Straße wissen's doch schon«, beschwor ihn  Frau Ragnitzki, »der Hund hat sie einfach dazu überredet, sag ich, nichts  anders, sie ist ja sonst eine grundanständige Frau...«
  »Wann haben Sie ihn denn schon in meiner Wohnung  gesehn?« fragte Plaschewski zwischen den Zähnen. Seine Augen bekamen ein  gefährliches Feuer.
  »Oft, Plaschewski, fast jeden Abend!«
  »Ich fress es nicht!« Plaschewski knirschte. »Ich  glaub das einfach nicht!«
  »Ich will sofort tot umfallen, wenn ich lüg!« Frau Ragnitzki  schlug sich mit der dicken Rechten gegen ihre Brust.
  Plaschewski verzog die breiten Schultern wie unter  einem scharfen inneren Schmerz, stand noch eine Weile niedergeschmettert da  und ging dann mit einem hässlichen Fluch zur Tür hin. »Wenn's wahr ist, dann  kann er sich auf etwas gefasst machen! Ich mach ihn kalt!«
  Als er draußen war, bekam es Frau Ragnitzki mit der  Angst zu tun. Sie lief schnell zu Jarzacks hin und erzählte, um sich die  Beklemmung von ihrem Herzen fortzureden:
  »Wissen Sie's schon, der Plaschewski war bei mir  soeben. Er weiß schon von der Geschichte!«
  »Soo«, Frau Jarzack sah die Dicke erschrocken an, »er  weiß es? Dann gibt dat 'nen Stunk!«
  »Er macht den Kerl kaputt!«
  »Wer hat's ihm erzählt?« fragte die Jarzack neugierig,  doch mit einem inneren Schauder. Die Ragnitzki bog sich vor und flüsterte. »Ich  hab's ihm gesagt, Frau Jarzack, ich kann es nicht länger mehr mit ansehn!«
  »Er hätt es doch erfahren!« beruhigte Frau Jarzack.
  »Aber sicher hätt er's erfahren!« Die Ragnitzki atmete  auf.
  ... Plaschewski kam heim. Unterwegs hatte er sich zurechtgelegt,  was er machen wollte. Er verriet noch nichts, obwohl es in ihm wühlte. Frau  Plaschewski empfing ihn ein wenig unsicher. Er merkte es, blieb aber ruhig und  aß das vorgesetzte Abendessen. Dann zog er sich an und ging zu Kreibel.
  Sonntagabend fuhr er sonst immer ab. Auch diesmal  packte er reine Wäsche ein, nahm das Nötige für die Woche mit, die er  ausbleiben sollte, und verließ die Wohnung.
  Nach einem Umweg kam er wieder in die Kolonie zurück  und begab sich zu Christian Gruba, einem ehemaligen Kumpel, mit dem er im Pütt  zusammen gearbeitet hatte. »Kann ich heute bei dir bleiben?« fragte er Gruba.
  »Wie, hat dich die Alte rausgeschmissen?« lachte  Gruba.
  »Das nicht«, erwiderte Plaschewski zögernd, »ich muss  hier noch bleiben, Christian. Frag nicht, warum!«
  »Bist ein komischer Mensch«, sagte Gruba, »meinetwegen  kannst hier pennen!«
  Montagabend kroch Plaschewski zu seiner Wohnung hin  und überstieg den Gartenzaun. Er verbarg sich in seinem Stall. Wartete. Die  Nacht verging, es kam niemand. Plaschewski glaubte, Frau Ragnitzki hätte ihn  angelogen, und wollte abfahren. Er überlegte hin und her und beschloss, noch  eine Nacht zu warten. Auch die nächste Nacht verbrachte er in dem Stall. Es  geschah nichts.
  Gruba schüttelte den Kopf, denn Plaschewski machte  einen sehr finsteren Eindruck und war recht wortkarg.
  Mittwochabend begab sich Plaschewski wieder in den  Stall. Stunde um Stunde verging. Er verfluchte sich schon wegen seiner  Blödheit, auf der Ragnitzki Geschwätz gehört zu haben, und war im Begriff, aus  dem Stall zu kriechen und seine Frau wachzuklopfen, da hörte er Schritte.
  Die Schritte verhielten vor dem Haus. Es stieg ihm  heiß in den Kopf. Dann klopfte jemand gegen die Scheiben. Das war vor seiner  Wohnung. Eine Raserei befiel ihn, und er wollte hinausspringen und sich auf den  Mann stürzen. Mit Gewalt beherrschte er sich, fühlte im Dunkel um sich, fand  ein altes Grubenbeil und steckte es zu sich. Draußen klopfte es noch immer.  »Marie!« hörte er rufen.
  Plaschewski war halb irrsinnig vor Wut und Eifersucht.  Ein Fenster ging auf. »Ich schlaf doch schon!« hörte er seine Frau.
  »Also doch!« Er umkrampfte mit der Faust das Beil,  wäre am liebsten hinausgesprungen, hätte brüllen können wie ein Vieh. Da hörte  er, dass die Tür geöffnet wurde. »Mein Gott, Sie bringen mich noch einmal in  Unannehmlichkeiten!« hörte er die zitternde Stimme seiner Frau. Der Mann  lachte und schob sich in die Wohnung.
  Nun war es mit der Geduld aus. Plaschewski kroch aus  dem Stall und schlich geduckt bis unter das Küchenfenster hin. Erkletterte dort  vorsichtig einen Mauervorsprung und sah zwischen den Gardinen in die Küche  hinein. Es war der Wohnungsverwalter. Heiß brannte es in seinem Kopf. Eine Schwäche  befiel Plaschewski, und er hielt sich mit den Nägeln festgekrallt, um nicht  hinunterzustürzen. Seine Augen stierten hinein - er sah, wie sich nach einem  kurzen Widerstand seine Frau gegen den Küchenschrank drängen ließ, daraufhin  bis zum Sofa. Sah, wie sie sich hinlegte, wie der betrunkene Brand ihre Röcke  hochschürzte.
  Seine bebenden Hände zogen das Grubenbeil unterm Rock  hervor. In der Küche hörte er das Keuchen des Mannes, sah er die Beine seiner  Frau, entblößt. - Er schlug in der aufsteigenden Raserei zu. Das Fenster  zerbrach Stück um Stück. Drinnen die beiden waren wie erstarrt. Waren  aufgesprungen und konnten vor Entsetzen keinen Schritt tun. Durch das Fenster  erschien das unheildrohende Gesicht des zum Wahnsinn aufgestachelten  Plaschewski. Der Körper schob sich nach.
  »Herrgott!« schrillte Frau Plaschewskis Stimme. »Mein  Mann!«
  Der Wohnungsverwalter kam zu sich und machte einen  Satz zur Tür. Wie ein Tier sprang Plaschewski hinterher und schlug mit dem Beil  blind drauflos.
  Brand fiel zu Boden. Das Beil vergrub sich noch einmal  in seinem Schädel. Frau Plaschewski kreischte auf und brach ohnmächtig  zusammen. In der Kammer begannen die Kinder zu schreien. Plaschewski wandte  sich, das blutige Beil in der Faust, von dem Wohnungsverwalter ab und stierte  seine Frau an, dann die Kinder, die aus der Kammer hervorkamen.
  In der Straße erscholl Geschrei. Die Nachbarn stürzten  aus ihren Wohnungen, nur halb bekleidet, und rannten herbei. Einige  erkletterten das Fenster und sahen hinein.
  »Der Plaschewski hat den Brand erschlagen!« ging es  einige Minuten darauf in der ganzen Kolonie rund.
Jaschinski ging es schlechter. Das Geld von dem  Verkauf des Ferkels und der Ziege war verbraucht. Die Kaninchen bis auf wenige  kleine Dinger aufgezehrt. Die Küche noch nicht abgezahlt. Die Abschläge immer  geringer und im Lohnbuch fast jeden Zahltag ein »Bleibt schuldig«.
  Jaschinski wusste nicht ein noch aus. Seine Frau hatte  das vierte Kind bekommen. Mutlos ging er zur Zeche hin, zog sich um, fuhr ein  und ließ stillschweigend alles Nörgeln und Antreiben des Schacke über sich  ergehen. Nur jetzt nicht die Papiere kriegen, dachte er.
  In einer Schicht fiel ein Stück Stein auf seine Hand.  Er wollte nicht feiern, verband sich die Knochen, so gut er konnte, und ging  weiterhin zur Arbeit. Die Hand schwoll an, behinderte ihn am Kohlenhauen. Er  fluchte, verbiss den Schmerz und quälte sich so durch, bis er doch einsehen musste,  dass es auf die Dauer nicht ging, denn die Hand war mittlerweile voll Eiter.
  »Ich nehm mir 'nen Kurschein und geh damit zum Arzt«,  sagte er eines Nachmittags zu seiner Frau. Der Schmerz zog sich schon bis zur  Achselhöhle hinauf, und der dicke, rote Strich, der sich den ganzen Arm entlang  wand, brachte ihn in Angst.
  »Jetzt krankfeiern?« Frau Jaschinski erschrak und  zählte ihm alles auf, was sie zu zahlen hatten.
  »Ich kann keinen Schlag mehr tun!« klagte Jaschinski,  wickelte die vereiterte Hand los und zeigte sie ihr.
  »Sicher!« Frau Jaschinski sah es ein. »Es ist besser,  du gehst damit zum Doktor!« Es war ihr schwer, sich damit abzufinden, aber die  Hand brachte sie noch mehr in Schrecken als ihre Schulden.
  Jaschinski holte sich einen Kurschein.
  »Fangen Sie mir nur nicht an zu bummeln!« knurrte  Schacke.
  Jaschinski wickelte die Hand los und hielt sie Schacke  hin. Der Steiger musste einsehen, dass es nicht anders ging...
  Frau Jaschinski sah nach dem Wochenbett aus wie ein  Gespenst, so blass und dürr. Sie hatte es sich immer vom Mund abgespart, war in  ihrer ganzen Ehe darauf bedacht, sich einen Notpfennig zurückzulegen. Es ging  jetzt alles drauf. Wunsch blieb Wunsch. Die Wirklichkeit war härter. Die  Wirklichkeit drohte sie aufzufressen.
  Vierzehn Tage feierte Jaschinski wegen der Hand. Er bekam  zweimal keinen Abschlag, die letzten Pfennige gingen aus. Frau Jaschinski, an  der das Kleine herumsog, behielt ihren Kummer für sich, sagte acht Tage lang  nichts; die nächsten acht Tage auch noch nichts. Erst in der dritten
  Woche, es ging auf den Letzten im Monat zu - drei  Raten standen für die Küche aus -, da hielt sie nicht länger an sich, sie  heulte laut los.
  Jaschinski konnte das Heulen nicht ertragen, er ging  in den Stall, hockte dort und döste stundenlang vor sich hin, bekam ganz dumme  Gedanken: Häng dich auf - bist allem aus dem Wege. Er floh in den abgerupften  Garten, schlich dort herum, stierte die Kohlstümpfe an, ging wieder zurück in  den Stall, hockte sich hin und döste von neuem.
  Dränger traf ihn einmal im Garten und rief über den  Zaun: »Jaschinski, kommst mal mit?«
  Jaschinski sah vergrämt auf. »Wohin?«
  »Zur Versammlung!«
  »Ach, weißt du«, sagte Jaschinski verzweifelt, »es hat  für mich keinen Zweck. Ich bin am Feiern, die Alte hat vor Wochen was Kleines  gekriegt, ich sitz bis über die Ohren im Dreck. Es hilft mir auch keine  Versammlung!«
  Dränger versuchte, es ihm auszureden. Jaschinski gab  ihm in allem recht, blieb jedoch dabei, dass es für ihn keinen Sinn hätte.
  Frau Falzman, die Kolonialwarenhändlerin, riet Frau Jaschinski,  sich an das Wohlfahrtsamt zu wenden.
  Frau Jaschinski sagte es ihrem Mann und riet ihm, nach  dem Wohlfahrtsamt hinzugehen; denn das Krankengeld, das er bekam, ging für die  dringendsten Schulden drauf.
  Jaschinski ging zum Wohlfahrtsamt, musste sich einem  eingehenden Verhör unterziehen. Schließlich sagte ihm einer der Beamten: »Mann,  Sie kriegen ja einen Haufen Krankengeld! Nein, bei uns kommen nur Bedürftige  in Frage!«
  Jaschinski dachte voll Grimm und Ratlosigkeit: Was  sind das doch für Idioten, als ob ich nicht bedürftig wäre, und versuchte, es  dem Beamten klarzumachen. Der Beamte wurde ärgerlich. »Wir können Ihnen nichts  geben, da müssten wir noch alle Beschäftigten mit unterstützen. Sehen Sie's  doch ein, Mann!«
  Frau Jaschinski rechnete mit bestimmt dreißig Mark.  Sie verstieg sich in ihren Hoffnungen bis auf fünfzig Mark, lachte sich aber  selbst aus und dachte: Wenn er auch nur zwanzig Mark bringt, ist's auch schon  'ne Hilfe.
  Jaschinski kam zurück. Sie sah ihn erwartungsvoll an.  »Na?« Er sagte nichts und ging wieder in den Stall. Frau Jaschinski wurde ganz  still. Sic war in die Kammer gegangen, hatte das Kind an die Brust genommen  und sagte bitter: »Da, du Wurm, kommst auch zur unrechten Zeit an, trink von  dem Gift, und schrei nicht!«
  Jaschinski war am Nachmittag zum Arzt gegangen und meldete  sich gesund.
  Steiger Schacke steckte ihn in die Kohlenrutsche neun.  Die Rutsche galt als die Hölle des fünften Reviers. Kusmiers, ein Hauer, der  auch vom Krankfeiern kam und in die Rutsche neun versetzt worden war, sagte  gleich während der ersten Schicht: »Man hat mir einmal von der Hölle erzählt,  ich glaub, ich sitz drin!« Er schleuderte nach ein paar Stunden seine  Kohlenschippe fort, fuhr heraus und nahm sich wieder einen Krankenschein. Böß  machte kurzen Prozess und kündigte ihm.
  An Kusmiers' Stelle kam Jaschinski. Es war ein schreckliches  Loch, in das er hinein musste. Das Kohlenfeld war über zweihundert Meter lang,  kaum achtzig Zentimeter hoch, backofenheiß und gefährlich, weil der Stein kreuz  und quer zerrissen war. Die Kameradschaft, die alle vierzehn Tage wechselte,  war in den letzten zwei Monaten von achtundzwanzig Mann auf einundzwanzig  verringert worden. Vierzehn Mann waren an der Kohle, während die übrigen sieben  Mann auf Mittagsschicht die frei gewordenen Felder mit Steinen zuwarfen und,  sobald ein neues Kohlenfeld ausgeraubt war, die Rutschen umlegen mussten. Das  Fördersoll war das gleiche geblieben wie bei den achtundzwanzig Mann.
  Die Hauer und Gedingeschlepper, die in die Kohlenrutsche  neun versetzt worden waren, kamen nur in zwei Fällen wieder heraus: entweder  sie arbeiteten ohne Widerspruch unter den Bedingungen, die ihnen die  Verwaltung vorsetzte, bis sie nicht mehr konnten und einen Krankenschein  nahmen, oder sie standen bei den nächsten Gekündigten auf der Liste an der  Markenbude.
  Jaschinski traf es sehr schlecht an. Sein Kohlenstück  war festgebrannt. Schon in der halben Schicht platzten die Blutblasen an  seinen Händen. Er kam nach der Schicht kreuzlahm nach Hause. Seine Frau musste  ihm den Rücken mit Öl einreiben und mit Lappen verbinden, weil er des Nachts  nicht schlafen konnte. Die Schrammen verkrusteten ein wenig über Nacht.
  In der nächsten Förderschicht riss sich Jaschinski die  Schrammen noch tiefer auf. Das behinderte ihn bei der Arbeit. Zudem war das  Kohlenstück noch härter geworden.
  »Lass es doch langsamer gehen, Kumpel!« sagte Dränger,  der ihn während der Schicht besuchte. »Geht nicht«, sagte Jaschinski ängstlich,  »dann krieg ich die Papiere!«
  Auch die Hand schwoll wieder an. Er quälte sich und  zitterte vor Angst, wenn Schacke herankam, denn der war sehr ungehalten, weil  Jaschinski mit seiner Kohle zurückblieb. Kurz vor Schluss der zweiten Schicht  jagte ihn Schacke in Entsetzen. »Ich hab es mit Ihnen gut vorgehabt«, sagte er,  »ich merk aber, dass Sie's nicht mehr schaffen!«
  »Ich schaff es schon!« erwiderte Jaschinski  erschrocken und wühlte drauflos, um Schacke zu überzeugen, dass er es noch  zwinge.
  »Sie dürfen mir nicht mit der Kohle zurückbleiben,  sonst muss ich Sie aus der Rutsche tun!« warnte Schacke und kroch fort. Das  bedeutete soviel wie Entlassung.
  »Mensch«, sagte Jaschinski nach der Schicht zu  Dränger, »hier krepier ich bestimmt!«
Ein Sonntag. Kinder spielten in Trupps in der Sonne.  Die Jungen frische Hemden und Hosen an. Die Mädel in saubergewaschenen  Kleidern, mit bunten Schleifen im Haar. Die Kumpels trugen ein sauberes  Sonntagshemd, die Ärmel aufgekrempelt, die Pfeife im Mund. Sie betätigten sich  in ihren Gärten, begossen das wenige Grün, unterhielten sich ernsthaft über ihr  Gemüse, ihre Kaninchen oder Tauben. Oder sie sprachen über die Arbeit im Pütt.
  Der Vorfall mit Plaschewski schien ausgelöscht zu  sein. Brand lag halbtot im Krankenhaus; Plaschewski saß im Gefängnis. Marie  Plaschewski hockte trübsinnig in ihrer Wohnung und schämte sich hinauszugehen.  Nur ihre Kinder saßen draußen vor der Tür und erzählten sich mit andern Kindern  über den bösen Mann, den der Vater gehauen hat.
  Die Frauen hatten noch keinen Sonntag. Hier und dort  sah eine aus dem Fenster, rief den Kindern warnende Worte zu, die Haare  versträhnt, schwitzig im Gesicht; denn der Mann und die Kinder bereiteten ihnen  am Sonntag mehr Arbeit als an Wochentagen. Nach dem Frühstück sollte das  Geschirr gespült werden. Hernach das Mittagessen aufsetzen. Gemüse reinigen,  Kartoffeln schälen. Das macht Arbeit. Die Kleinsten brüllen, sie sind die  letzten, die noch gereinigt werden müssen. Die größeren stürmen mit irgendeiner  Neuigkeit in die Stube. Im Moment liegt alles durcheinander, denn Kinder  wissen wenig von der Mühe, die sie ihrer Mutter machen.
  Aus den Fenstern strömen die verschiedensten Gerüche.  Da und dort riecht es nach verbranntem Essen. Der Hausflur, die Treppe müssen  nachgewischt werden. Eine Weile aus der Küche, schon stinkt es. Der Ofen  qualmt. Heiß ist es in den Buden. Der Sonntag wird den Frauen in der Kolonie  oft zur doppelten Qual. Eine Freude ist da: die ist kurz nach Abschlag. Nicht  alle hatten mehr als vierzig Mark herausbekommen. Aber es reichte für den Sonntag.  An die andern Tage dachte man nicht gern. Es waren Tage voll Sorgen, an denen  Mann und Weib verbittern und sich streiten. Tage voll Trostlosigkeit und  wiederum Hoffnungen auf den nächsten Zahltag, der nichts Besseres brachte.
  Frau Jaschinski stellte das Essen auf, das ihr Mann kochen  sollte, denn sie machte sich für die Kirche fertig; so tat sie es seit Jahren.
  Sie verließ das Haus und ging den gewohnten Weg zur  Stadt. Ihr Gesicht sah recht sorgenvoll aus. Sie wollte sich in der Kirche  neuen Mut erbeten, wie sie es bisher getan hatte, wenn sie nicht ein noch aus wusste.
  Früher einmal ging sie froh, voll gläubigen Herzens in  die Kirche. Seitdem Jaschinski körperlich immer mehr zusammenfiel und immer  weniger Geld brachte, ging sie nicht mehr so froh hin. Sie musste darüber oft  während des Gottesdienstes nachdenken, vergaß das Beten und quälte sich mit  ihrer Erbitterung, sie sah keinen Ausweg.
  Der Geschäftsmann, von dem sie die Küche gekauft hatte,  erschien prompt alle zehn Tage und verlangte Geld. Der Bäcker fragte nicht  danach, wo sie es herbekam; er forderte die Schulden, oder er gab kein Brot  mehr her. Auch die Falzmann war unerbittlich, gab keine Ware, wenn Frau  Jaschinski nicht Geld brachte.
  In letzter Zeit ging sie nur in die Kirche, weil sie  sich schämte auszubleiben, nachdem sie bisher jeden Sonntag dort gewesen war.  Aber ihr Herz war nicht mehr so gläubig. Die Worte, die sie vor sich hinsprach,  erschienen ihr leer, wenn sie in der Kirche kniete; denn an eine Hilfe aus  ihrer Not war nicht zu denken.
  Die Sonne meinte es gut mit denen in der Kolonie. Sie  begann heiß herunterzubrennen.
  Die Männer hockten mit müden Gesichtern in Gärten und  Lauben. Die Luft war erhitzt, roch nach Gasen, die von der Schachtanlage herüber  geweht wurden. Ruß flatterte in Flocken herab, setzte sich auf die sauberen  Hemden, tupfte sie mit schwarzen, hässlichen Flecken, flog in Gesichter und  Augen, brannte lästig. Die Kumpels waren das gewöhnt.
  Frau Ragnitzki steckte den roten Kopf, von dem der  Schweiß floss, zum Fenster hinaus. Ragnitzki hockte vor seinem Haus und spielte  mit Flecks Köter.
  »Schön Wetter, was?« fragte sie und wischte sich den  Schweiß mit der Schürze aus dem dicken glänzenden Gesicht.
  »Dat will eck meinen!« nickte er.
  »Bin bald mit dem Essen fertig, dann kannst du reinkommen!«
  »Mack nur 'nen gehörigen Pott fertig, Olle!« sagte  Ragnitzki nickend und sah in die Sonne.
  Aus der Laube seines Gartens schollen lautes Sprechen  und Streit. Dort spielten seine drei Jungen mit einigen aus der Nachbarschaft  Karten. Sie hatten dazu Bier geholt von der Falzmann, die hintenherum  Flaschenbier verkaufte. Ein paar Mädel waren auch in der Laube und kreischten  und lachten zuweilen.
  In einem Haus wurde Bandonion gespielt. Es war  Bontzeck, der einen neuen Schlager einübte. Dann kam eine kleine Abwechslung:  ein Trupp Hofsänger. Es waren drei junge Leute. Zwei davon begleiteten den  Gesang mit Ziehharmonikas. Die Stimmen waren ungeschult, aber klangvoll. Im  Augenblick bevölkerten sich alle Fenster. In manchem finsteren Gesicht erschien  Freude und Behagen, Hände streckten sich heraus und warfen kleine Geldmünzen  hinunter. Die Lieder waren schwermütig, sie stimmten sentimental und weich.  In manchen Augen schimmerte es feucht.
  Frau Ragnitzki schnaubte, wischte mit der Schürze über  ihre Augen. »Ich schwitz, dat is ein Wetter!«
  Die Sänger verschwanden in eine andere Straße. Ihr Gesang  hinterließ Wehmut.
  Der Jarzack kam aus der Kirche. Seine Frau schickte  ihn immer hin, obwohl er lieber zu Kreibel ging. Jarzack hatte sich trotzdem  einen angetrunken, er versuchte, aufrecht zu gehen. »Na hat's geschmeckt?«  Ragnitzki lachte.
  »Verdammte Hitze!« schimpfte Jarzack und hielt sich am  Zaun fest, um zu verschnaufen. Seine Augen blinzelten gläsern und schläfrig.  »Hast ja die ganze Woche 'n Dreck, Mann, hab mir 'n Halben rausgeholt,  verstehste, Kumpel, der geht auf sechs Räder.«
  »Pass auf, dat dich deine Olsche nich süht!« grinste  Ragnitzki und nickte nach Jarzacks Wohnung hin.
  »Die hat nichts zu sagen!« prahlte Jarzack. Ragnitzki  warnte scherzhaft: »Kriegst Wichse, Pitter, pass nur op!«
  Jarzack schimpfte auf das Wetter und torkelte weiter.  Seine Frau hatte ihn schon gehört und erschien am Fenster. »Der verdammte Hund  kommt wieder besoffen!« rief sie wütend. Kurze Zeit später war der Krach im  Gange.
  Die Sonne schien in die Stuben und verursachte eine unerträgliche  Wärme. Langsam leerten sich die Gärten. In den Wohnungen wurde mit Geschirr  geklappert.
  Am Nachmittag kam Ragnitzkis Hanne. Sie war neunzehn  Jahre alt, ein hübsches, kräftiges Mädel und diente beim Direktor Arisch. Hanne  hatte die Haare onduliert, einen farbigen Hut auf, ein kurzes, blaues Kleid an  und trug seidene Strümpfe und neue Lackschuhe.
  Sie hatte ganz die Manieren eines Fräuleins und  rümpfte das Näschen, als sie die Wohnung ihrer Eltern betrat. »Puh, was 'ne  Luft! Wie könnt ihr's hier nur aushalten!« Der alte Ragnitzki hüstelte. Frau  Ragnitzki wischte mit der Schürze schnell über den Tisch.
  Hanne war etwas Besseres gewöhnt. Direktor Arisch  hatte ein eigenes Haus mit zwölf schönen Räumen voller Teppiche und Blumen.  »Ein einziger Teppich«, erzählte Hanne, »kostet mehr Geld als die ganze  Wohnungseinrichtung der Ragnitzkis.« Der Ring, den Frau Direktor an ihrem  kleinen Finger trug, wog bestimmt zwei Jahreslöhne von Hannes Vater auf.
  Einen Kummer hatte Hanne: Von der ganzen Pracht war  ihr nur ein kleines Dachstübchen eingeräumt worden, in das sie abends spät  hinaufstieg, um für die Arbeit des nächsten Tages auszuruhen, denn zwölf Räume  machen viel Arbeit. Frau Direktor Arisch war eine sparsame Frau und hatte vor  einigen Monaten das zweite Dienstmädel entlassen, ohne ein neues wieder  einzustellen. Hanne bekam für ihren Dienst monatlich fünfundzwanzig Mark und  ein billiges Essen. Ihre Hände waren so rau und aufgesprungen wie die Hände  ihrer Mutter.
  Gegen Abend kam eine Schar Jungen und Mädel und holte  Ragnitzkis Jungen und Hanne zu Mihalleks ab, wo der Willi Verlobung feierte.  Willi hatte trotz Einwänden seiner Mutter von den fünfunddreißig Mark Abschlag  ein paar billige Ringe erstanden und ein kleines Fässchen Bier nebst etlichen  Litern Schnaps besorgt. Für die nötige Tanzmusik wurde der Bontzeck geholt.
  Stefan, der jüngere Mihallek, der mit Fredi Barnik gut  Freund war, hatte den und noch ein paar Schlepper zu der Feier eingeladen.  Stefan Mihallek hatte aus Vorsicht von seinem Abschlag zwei Liter kalt  gestellt. Die steckten wohl verwahrt unter der Kohle im Keller. Die Wohnung  füllte sich. Die Mädel kamen: Fiedlers Lene, Sofie Worbas, Grete und Anna  Szepanneck, Labrachs Luise und andere. Sie schoben sich mit Kichern und Zieren  in die Stube, in der schon ein großer Teil der eingeladenen Jungen saß, die  Willi mit Schnaps traktierte. Sie hatten neue Hüte und Mützen keck auf den  Ohren sitzen und neue Schlipse und Kragen.
  Stefan hatte in einer Ecke in der Küche Fredi und  seine Freunde um sich, die von den älteren nicht beachtet wurden, weil sie noch  »Kroppzeug« waren. Die geringschätzige Behandlung reizte den sechzehnjährigen  Stefan, der schon vor Beginn der Verlobung, die erst kommen sollte, im Keller  war und einen Schluck genommen hatte. Seine Augen glänzten recht verdächtig,  und er begann, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, dem Bahnläufer  Muralla aus seinem Revier nachzusprechen. Muralla sprach ein drolliges Gemisch  von Polnisch und Deutsch. Stefan ahmte nun Muralla äußerst täuschend nach und  erzielte damit Lachsalven, die ihn noch mehr anspornten. »Verfluchter Kaaze,  gääst du ronder von die Kamode, hast pschakreff rondergeschmissen Marie und  Jupp, willst noch ronderschmeeßen Kindchen Gristus? Verdammte Kaaze, raus, sag  ich aus Buuude!«
  Die Mädel kreischten und schüttelten sich vor Lachen.  Der alte Mihallek saß in der Nähe des Herdes auf einer niedrigen Bank, kniff  die Augen zu und lachte gezwungen mit; denn er selbst sprach so wie der  Muralla. Er wurde es endlich leid; denn die Burschen zwinkerten ihm zu und stießen  sich an. »Här auf mit Quatsch, pschakreff!« sagte er ärgerlich. Das gab ein  neues Gelächter. Mihallek stand auf und ging in die Kammer, wo er sich hinterm  Schrank auch einen »Halben« bereitgestellt hatte.
  »Gottverdammich!« Willi Mihallek duckte sich. »Passt  auf, der wird spucken!« Er hatte dem Alten über die Hälfte der Flasche  ausgetrunken. Es ging schon los: Der alte Mihallek kam mit wutentstelltem  Gesicht zurück, in der Hand die halbleere Flasche. »Wer hat, verdammt, hier  gesoffen?« Er sah über die anderen hinweg zu Stefan, der eben Stühle stemmte.  »Stefan, Sau, verfluchtes, hast du gehabt Frässe dran?«
  Es wäre zu einem Krach gekommen, da war aber der  Bontzeck mit seinem Bandonion erschienen, und in dem frohen Lärm der Jugend  blieb der Groll des Alten unbeachtet. Mihallek ging gekränkt hinter die  Kammertür und trank wütend und mit berechtigter Vorsicht den Rest in der Flasche  aus.
  Bontzeck breitete eine abgenützte Samtdecke über die  Knie und präludierte ein Vorspiel, während die anderen verstummten.
  Willi Mihallek holte eine Flasche hervor und goss ein.  Den ersten bekam der alte Mihallek, der sich neben Koßmalla, dem Vater der  Verlobten, niedergelassen hatte. Der große Schnaps versöhnte ihn. Er nahm das  Glas, probierte erst an einem kleinen Schluck, kniff anerkennend die Augen zu  und goss dann das Ganze mit einem geübten Schwung hinunter. Er hielt dem Willi  das Glas hin und sagte schmatzend: »Bin bässer auf zwee Beine, giß noch ein  drinn!« Auch der zweite Schnaps schoss hinunter.
  Darauf kam der Koßmalla auch mit zweien dran. Nach ihm  ging die Flasche in der Runde herum. Auch die Mädel tranken. Sie teilten sich  zu zweit den Inhalt eines Glases.
  Stefan und seine Kumpels, die vor Ungeduld zitterten,  kamen zuletzt dran. Stefan konnte nicht abwarten, bis man ihm einen  einschenkte; er hatte Fredi gewinkt, und sie waren beide in den Keller  gegangen. Dem Fredi, der das Zeug nicht gewöhnt war, stieg das Feuer in den  Kopf, als er einen langen Zug genommen hatte. Stefan nötigte ihm noch einen  auf, dann gingen sie zurück in die Küche.
  Bontzeck riss einen Schlager herunter, dann noch  einen. Die jungen Leute begannen erst schüchtern, dann immer forscher und  wilder drauflos zu tanzen.
  Stefan Mihallek fühlte sich ganz Mann, er schleifte,  als mit ihm kein Mädel mehr tanzen wollte, den mittlerweile völlig betrunkenen  Fredi herum. Beide flogen hin und her.
  Selbst der alte Mihallek nahm sich die halblahme Frau  Koßmalla und schleppte sie im Kreis durch die Stube, stampfte mit den schweren  Stiefeln und jauchzte, bis sich Frau Koßmalla die Ohren zuhielt.
  Um zehn Uhr waren Bier und Schnaps ausgegangen. Fredi  hatte sich heimlich in eine Ecke der Küche verdrückt, hockte, den Kopf auf den  Knien, und schnarchte. Stefan Mihallek war schon zum drittenmal hinaus  getorkelt und hing mit aufgeblähtem Gesicht über den Zaun. Kotzte sich die  Seele aus dem Leib.
  In der Stube wurde noch mal zusammengelegt, und einer  machte sich auf den Weg zu Kreibel. Johlend wurde die frische Ladung  empfangen. Die Flasche kreiste weiter. Bontzeck wiederholte seine Schlager. Der  Tanz und der trunkene Lärm wurden lauter. Gläser klirrten! Zwei eifersüchtige  Burschen hatten sich beim Kragen. Die Weiber schrien. Mit Fäusten schlugen die  erhitzten Burschen aufeinander los. Unter großem Lärm wurde der Streit  geschlichtet; die Streitsüchtigen lachten einander aus, reichten sich die  Hand, umhalsten und küssten sich. Bontzeck spielte einen neuen tollen Schlager.  »Hoi!« schrie er dazu und trat mit den Stiefeln den Takt. Bis der Morgen  graute. »Montag!« sagte einer. Die Freude war aus.
Der Förderkorb rauschte in die Tiefe. Der Maschinist  bremste sorgsam wegen der kostbaren Ladung, die er hinunterbeförderte.  Kompressluft entwich undichten Rohrleitungen, die sich schlangenförmig an den  wassertriefenden Schachthölzern entlangwandern.
  Der Direktor erhob seine Lampe und leuchtete im Abwärtsgleiten  des Korbes die Leitungen ab. »Reparieren Sie nicht?« fragte er.
  »Jawohl, Herr Direktor, jede Nachtschicht!« beeilte  sich Böß zu erklären.
  »Kontrollieren Sie die Leute dabei auch?« Das Lampenlicht  blitzte in Böß' erschrecktes Gesicht.
  »Der Schachtsteiger Baising hat die Aufsicht!«
  »Der schläft wohl?«
  »Baising ist zuverlässig, Herr Direktor!«
  »Wissen Sie das so genau? Ich zweifle noch dran! Nächstens  möchte ich es nicht wieder so vorfinden!«
  Böß stieg wie betäubt aus dem Förderkorb.
  Der Füllort, breit und gewölbt ausgebaut, war  viergleisig und elektrisch beleuchtet. Die Gleise standen voll Förderwagen.  Lokomotiven bimmelten mit ihren Warnglocken aus dem Querschlag, in dessen  Dunkel rote und grüne Lichter blinzelten.
  Als sie eine Weile vorwärts getappst waren, blieb der  Direktor, der jedes Holz mit seiner Lampe beleuchtete, stehen und zeigte mit  seinem Meterstock auf ein zerbrochenes Stück Bauholz, das zwischen zwei  frischen Hölzern eingeklemmt saß. »Was ist das hier? Warum wird das alte Holz  nicht rausgeholt?«
  »Ich werde es dem Steiger sagen!« antwortete Böß verlegen.
  »Das muss jeder Beamte wissen, dass das alte Holz heraus  geraubt wird!« fuhr der Direktor auf. »Das ist Verschwendung; es muss Ihnen  doch einleuchten, oder nicht?«
  Böß biss sich auf die Lippen.
  »Darum soviel Unkosten, die auf die Dauer untragbar  sind!« Die Augen des wütenden Direktors funkelten im Schein des Lampenlichts.  »Ich wette«, setzte er fort, als sie weiter in den Querschlag hineingingen,  »wette, wenn ich den ganzen Querschlag absuche, so finde ich bestimmt für  Hunderte Mark altes Holz, das auf diese Weise vergeudet wird! Bedenken Sie, ein  Holz kostet je nach Länge fünfzig bis sechzig Pfennig und noch mehr! Eine  einfache Strebenzimmerung bringt eine Ersparnis von einer Mark bestimmt, wenn  sie wieder heraus geraubt wird! Wird in jedem Abbaubetrieb darauf Wert gelegt,  so sparen wir auf einer Schachtanlage Tausende Mark! Rechnen Sie,  Betriebsführer Böß!«
  Böß nickte mechanisch.
  Sie gingen in die Förderstrecke vom fünften Revier hinein.  Vor ihren Füßen und über die Streckenzimmerung sprangen Ratten. Aus dem  Bruchholz und den Steinplatten blitzten ihre kleinen Perlaugen den Besuchern  giftig entgegen. Eine Maschine kam mit Hochdruck angedonnert. Hinter ihr eine  Reihe Kohlenwagen.
  Die beiden pressten sich in einen Streckeneinbruch.  Scharf an ihren Leibern vorbei brauste der Kohlenzug.
  Dem Direktor, der seine Lampe hochgehalten hatte, fiel  wieder etwas auf. Einige der Förderwagen waren durch das rasende Jagen der  Maschine nicht ganz voll.
  »Schlecht geladen!« sagte er.
  »Ich bestrafe jeden Tag Leute wegen Mindermaß!« sagte  Böß.
  »Sie sehen doch, dass das nicht genügt! Ein paar davon  rausgeschmissen, und ich wette, dass die Wagen anders geladen sind!«
  Sie klommen ohne Atempause den zweiten Bremsberg hinauf,  durch den die Hauptförderung des fünften Reviers ging, und bogen in die erste  Teilstrecke ein.
  »Was für ein Rutschenbetrieb liegt hier? fragte der  Direktor, der in Schweiß geraten war.
  »Kohlenrutsche zwölf!« erklärte Böß.
  Ein Schlepper hatte den Besuch bemerkt, war in die  Rutsche gelaufen und hatte die Kumpels benachrichtigt.
  Der Ortsälteste stäubte schnell in der Strecke und in  den Örtern mit Steinstaub ab, eine Maßnahme, die man jede Schicht vor Beginn  der Kohlenförderung durchführen sollte. So schrieben es die  bergbaupolizeilichen Verordnungen vor. Es wurde aber selten getan, weil die  gesteigerte Kohlenförderung keine Zeit dazu ließ. Der aufgehäufte Kohlenstaub  war gefährlich bei Entzündung von Schlagwettern.
  Oben im Rutschenfeld erschienen die beiden »roten Lichter«.  Die Hauer trugen elektrische Lampen. Die Benzinlampen, deren Licht rotflammig  war, wurden nur von Wetterkontrolleuren, den Ortsältesten und Beamten benutzt.  -
  Der Direktor blieb im obersten Ort liegen,  verschnaufte und sah dem Hauer zu, der mit der Lufthacke das Flöz bearbeitete.
  »Sie, hören Sie mal!« rief er nach einer Weile dem  Hauer zu und tippte ihm mit dem Meterstock in die Rippen.
  Der Hauer stellte die Maschine ab und wandte sein  schwarzes Gesicht dem Direktor zu.
  »Ihr Abbauhammer ist nicht in Ordnung!« Der Meterstock  tippte gegen die Maschine.
  »Ich hab's schon dem Schlosser gemeldet!« erwiderte  der Hauer mürrisch.
  »Das müssen Sie selbst reparieren! Wir können nicht  für jeden Abbauhammer einen Extraschlosser anstellen, Mann!«
  Böß mischte sich ein: »Das macht der Ortsälteste, Herr  Direktor!«
  »Unsinn! Jeder Hauer muss das lernen! Errechnen Sie  sich das mal: Jede geförderte Tonne Kohle erfordert durch Verbrauch von Pressluft  eine Mehrbelastung von fünfundzwanzig Prozent, wenn wir auf solche Schäden  nicht sehen, das bezahlt sich nicht! Verstanden?« sagte er zu dem Hauer.
  Der Hauer drehte ihm den schwarzen, schweißnassen  Rücken zu und spuckte ärgerlich in den Kohlenhaufen: »Wat Sie von uns nich noch  alles hebben wolln! Gottverdammt!« Die Lufthacke knatterte wieder ins Flöz.
  Der Direktor gab Böß einen Wink. Sie krochen tiefer in  das Kohlenloch hinunter. »Da, da haben wir's!« Der Direktor hatte flink wie  eine Ratte die rasselnde Rutsche überklettert und wies dem sich mühsam hindurchklemmenden  Böß ein paar alte, gebrochene Hölzer im Bergeversatz. »Sehn Sie, so wird das  kostbare Holz vergeudet! Muss ich es Ihnen denn immer und immer wiederholen?«
  Die Luftführung machte durch andere Reviere einen Umweg  und war daher nicht mehr frisch. In den Löchern, in denen die Kohlenhauer  hockten, war es erstickend heiß. Schweiß und Kohlenstaub klebten wie Teer auf  ihren nackten Leibern. Sie schlugen Kohle los oder warfen mit kurzgestielten,  breiten Schippen die losgehauenen Stücke in die Rutsche. Jede sechs Meter  hockte so ein schwarzer Klumpen in einem Loch und stierte die Beamten mit  glühenden Augen an, sobald sie sich in seiner Nähe hinhockten.
  In der Mitte des Kohlenfeldes arbeitete der Hauer  Ferdinand Kruski. Der Ortsälteste hatte ihm Bescheid gesagt, dass Böß mit dem  Direktor hier wäre. Kruski wartete auf sie.
  Als die beiden heran gekrochen, drehte Kruski die Luft  ab und wischte sich mit dem schmutzigen Hemdstück den klebrigen Dreck aus dem  Gesicht.
  »Warum haun Sie nicht weiter?« fragte der Direktor.
  »Sehn Sie sich mal den Bau an!« erwiderte Kruski und  zeigte über seinen Kopf nach dem Gestein hin. Es fehlten die Hölzer. Der Stein  war gesprungen.
  »Baun Sie aus!« sagte der Direktor, der flüchtig hingesehen  hatte.
  »Ich muss Holz haben!«
  »Vergeuden Sie's nicht im Bergeversatz, dann haben Sie  Holz! - Jede Zimmerung ist ein Verlust von einer Mark! Rauben Sie sich das  brauchbare Holz aus dem Bergeversatz!«
  »Ich werd mich schwer hüten!« sagte Kruski. »Ich weiß,  frisches Holz verplempert sich besser!« sagte der Direktor spitz.
  »Nein, ich will mir nur nichts auf den Balg hauen  lassen! Ich hab Familie!« erwiderte Kruski erregt.
  »Sie rauben das Holz raus!« schrie ihn Böß an. »Nicht  Sie bestimmen darüber, sondern wir!«
  »Gehn Sie doch selbst in das Bruchloch rein!« brauste  auch Kruski auf. »Es haben sich wohl noch nicht genug Kumpels die Knochen  kaputtgehauen, was?«
  »Ich will Ihnen was sagen, Mann«, mischte sich der Direktor  ein, »wenn Sie glauben, ohne uns arbeiten zu können, dann bitte, kündigen Sie!«
  Kruski sah den Direktor wütend an. »Den Gefallen tu  ich Ihnen schon nicht!«
  »Den Gefallen können aber wir Ihnen tun!« drohte der  Direktor.
  Kruski merkte, dass er der Schwächere war. Er brummte  vor sich hin, nahm die Lufthacke und begann zu hauen. Die Beamten krochen  tiefer.
  Eine Viertelstunde darauf riss ein harter Ruck die  Luftleitungen herunter. Höher im Feld bumste etwas Schweres. Die Rutsche stieß  unregelmäßig und begann zu schrammen. Grell kreischte die Kompressluft. Die  Leitung schien an mehreren Stellen gerissen zu sein.
  Der Direktor wurde unruhig. »Was ist da los?«
  »Ein Bruch!« schrie der Hauer, bei dem sie lagen, und  zeigte mit der Hand nach oben.
  Böß kroch eine Strecke höher, um besser zu hören. Der  Direktor kroch hinter ihm.
  Böß rief dem Direktor zu: »Das ist wahrscheinlich bei  Kruski!«
  Der Direktor machte ein verdutztes Gesicht und sagte:  »Schaun Sie mal nach!« Böß kroch hinauf.
  Aus der Fördersohle hüpfte ein drittes rotes Licht in  das Rutschenfeld. Es war Steiger Schacke, der nassgeschwitzt hinter den beiden her  suchte. Er näherte sich dem Direktor.
  »Los, rauf!« schrie der. »Sehn Sie zu, dass die  Förderung wieder flott wird!«
  Oben. Kruski lag unter dem Stein, einer breiten  Platte, die bis an die Rutsche abgebrochen war und die Luftleitung  heruntergerissen hatte. Kruskis Brust und Kopf waren frei. Er brüllte, nicht  nur wegen des Schmerzes, über seinem Kopf löste sich ein zweiter Steinbrocken.
  »Aufpassen!« warnte ein Hauer die anderen, die die  große Steinplatte anzuheben versuchten. Dreck fiel von oben herab, beunruhigte  sie. Das Geschrei des Kruski machte sie verrückt. Sie packten wieder an, um ihn  unter dem Stein hervorzuholen.
  »Fort!« schrie Schacke.
  Über ihren Köpfen knallte und bröckelte es noch bedrohlicher.  Kruski zerriss seine Hände an dem Stein, versuchte, sich frei zu machen. Er  hielt die Hände wie zum Schutz gegen den Stein, der sich über ihm löste, und  begann zu brüllen.
  »Packt doch an, zum Teufel!« rief Willi Ragnitzki und  stemmte seine Hacke unter die Steinplatte. »Weg da!«
  Der Steinklotz brach herunter. Auf Kruskis Kopf. Eine  Staubwolke hüllte die Männer ein, die sich oberhalb der stürzenden Steine  geflüchtet hatten.
  »Räumt den Dreck fort!« befahl Böß, als sich das  Gestein etwas beruhigt hatte.
  Die Hauer machten sich mit finsteren Mienen an die Arbeit.  Der Direktor, dem es mit der Pause in der Förderung zu lange dauerte, kam  herauf: »Was ist passiert?« fragte er.
  »Der Kruski liegt drunter!« erklärte Böß.
  Die Hauer warfen die Steine in den Bergeversatz; so bestimmte  es Böß. Mit schweren Hämmern zerschlugen sie die Steinplatte. Keiner wollte im  ersten Moment anfassen.
  »Tot?« fragte der Direktor.
  »Bei der Ladung!« murrte ein Hauer. Er zeigte mit der  Hand nach der Stelle hin, wo Kruskis Gehirn herumgespritzt lag.
  Steiger Schacke hatte mit dem Ortsältesten schnell die  Leitungen geflickt. Der Tote wurde in die Rutsche geladen.
  Ein Hauer gab nach der Fördersohle das Klopfzeichen.  Die Rutsche schob sich mit einem Ruck in die Höhe und krachte zurück. In diesen  Schwingungen blieb sie. Die Leiche rutschte ruckweise in die Eisenmulde  hinunter.
  Der Direktor nahm seinen Meterstock und seine Lampe  und verschwand mit Böß in dem Dunkel des Kohlenfeldes.
Jaschinski schleppte sich müde von der Zeche und wie  zerschlagen zur Zeche. In seinen Rippen saß ein Feuer, das stach bei jedem  Atemholen.
  Nun hockte er wieder in seinem Kohlenloch. Um sieben  Uhr kam Schacke und nörgelte eine ganze Stunde. Schacke kroch fort; dann kam  Bölke, der Ortsälteste, der quälte ihn mit Ratschlägen und Vorwürfen, obwohl  Jaschinski vor Schweiß troff.
  »Du hältst hier nur unnötig die Förderung auf!« sagte  Bölke ärgerlich, als er Jaschinskis Hilflosigkeit sah. »Hau ab!« sagte er. »Es  ist besser für dich!«
  Um zehn Uhr kam Schacke wieder. »Noch nicht weiter,  Jaschinski?« schrie er dicht am Ohr des Hauers.
  Jaschinski zitterte und stieß ohne Unterbrechung mit  der Lufthacke gegen das Flöz. Durst plagte ihn. Sein Gaumen war nur eine dicke  Kleie, und zwischen seinen Zähnen knirschte Kohlenstaub. Jaschinski hatte immer  stärker das Bedürfnis, die Maschine fortzuwerfen und sich hinzulegen. Schacke  lag neben ihm und beobachtete jede seiner Bewegungen mit lauernden Blicken.
  Das Rütteln der Lufthacke übertrug sich auf  Jaschinskis Körper. Auch seine Zähne trommelten mit. Die Kohle kam so schwer!
  Schacke wiegte unwillig den Kopf. »Dranhalten, Jaschinski!«  Jaschinski presste die Hände um den Eisengriff der Lufthacke und stemmte sich  mit der stöhnenden Brust dahinter.
  Sein Schweiß brannte aus. Jaschinski vertrocknete,  hatte die Vorstellung, er wäre kein Mensch mehr; er sei eine Maschine. Nur das  Stechen in den Seiten ermahnte ihn noch daran, dass er der Hauer Jaschinski  war, der in der verdammten Kohlenrutsche neun kniete und Kohle schlug.
  Als Schacke fort war, entfiel Jaschinski die  Lufthacke. Er warf sich auf den Kohlenhaufen und blieb wie tot liegen.
  Dränger kam herunter. Jaschinski sah nur die Kaffeeflasche,  die Dränger bei sich trug. Er entriss sie ihm. »Bin ganz ausgebrannt!« sagte er  heiser und trank.
  Als er die Flasche ausgetrunken hatte, warf er sich  wieder auf die Kohle hin und sagte mit fremder Stimme: »Sind wir noch  Menschen? Wir sind keine Menschen mehr! Wir sind Vieh!« -
  Dränger versuchte ihm zu erklären: »Es liegt an uns!  Wir gehen hier alle zugrunde, wenn wir den Mund halten!«
  Jaschinski war es sterbenselend zumute. Er stierte  stumpfsinnig vor sich hin.
  Bölke kam. Jaschinski erbrach sich mehrere Male. Bölke  sah es: »Hast dir wohl gestern einen angesoffen?« fragte er.
  Jaschinski erwiderte nichts, nahm seine Lufthacke und  quälte sich von neuem.
  »Ich hol mir doch einen Krankenschein!« sagte er zu  Dränger, als sie nach der Schicht zum Schacht gingen. Er stöhnte.
  Nach der Ausfahrt begab er sich zum Büroschalter. »Ich  möcht einen Krankenschein!« sagte er zu Schacke.
  »Was, schlappgemacht?« fragte Schacke.
  »Ich bin schlecht in Schuss!« sagte Jaschinski.
  »Warten Sie!« sagte Schacke und meldete Böß, dass Jaschinski  einen Krankenschein verlange. Böß ließ Jaschinski zu sich rufen.
  »Sie wollen krankfeiern?«
  »Ich bin schlecht in Schuss!« wiederholte Jaschinski.  »Das geht nicht!« sagte Böß entrüstet. »Ich kann keine kranken Leute brauchen.  Ich darf auch nicht krank werden! Wo soll das hin?«
  »Dann will ich lieber mit dem Krankenschein warten!«  sagte Jaschinski und ärgerte sich, dass er wegen des Krankenscheins gekommen  war. »Schlafen Sie sich aus, dann geht's schon wieder!« sagte Böß.
  Als er nach Hause kam, rief Frau Jaschinski entsetzt:  »Mann, wie siehst du denn aus?«
  »Morgen wird's wohl wieder gehn!« entschuldigte sich  Jaschinski. Er ging sofort zu Bett.
  Nachts schwamm sein Bett auf einem großen, schwarzen  Wasser. Er sprang schweißgenässt heraus und schrie blödes Zeug: von  angebrannter Kohle, von Schacke, von Böß, der ihn mit spitzen Eisen stach! Mit  einem Satz war er aus der Kammer und wehrte sich tobend gegen seine Frau, die  ihn zurückzuhalten versuchte.
Die Kumpels der zwölften Rutsche beklagten sich schon  seit langer Zeit über schlechte Luft.
  Schacke hatte wieder einige der Verbauer Böß melden  müssen; denn die Direktion gab Böß den Auftrag, erneut einen Schwung  »Unproduktiver« zu kündigen. Die Strecken wurden dadurch immer verwahrloster.  Schramm, der Ortsälteste, schüttelte bedenklich den Kopf, denn er stellte in  den Löchern im Bergeversatz Anhäufungen von schlagenden Wettern fest, die ihm  Sorge machten.
  Die Wetterstrecke, durch die die frische Luft geleitet  wurde, war derart zusammengedrückt, dass ein Mann nur mit Mühe auf dem Bauch  hineinkriechen konnte. Das Loch brach jeden Augenblick ein. Schramm kroch von  Zeit zu Zeit hinein und scharrte, um die Luft hindurchzulassen, kam mit  zerkratztem Leib und zerschundenen Händen zurück, begab sich zu dem Ort, an  dem die Kumpels hockten und nicht mehr arbeiten wollten.
  Karl Lüdke, der in der oberen Strecke den Stein nachbrechen  und ausbauen musste, kroch in das Kohlenfeld und 
  suchte Schramm.
  »Schramm, was soll ich machen? Ich muss schießen, ich krieg  den Stein nicht fort!«
  »Um Gottes willen, mach keinen Unsinn!« warnte  Schramm. Er schraubte die Flamme seiner Benzinlampe ganz winzig und hielt sie  in ein Bruchholz hinein. Sofort füllte sich der feine Drahtkorb der Lampe mit  einer blauen Flamme. Schramm zog die Lampe vorsichtig zurück, sah Lüdke  bedenklich an und sagte: »Hier, siehst du, es steht alles voll Feuer!«
  Lüdke fluchte und kroch wieder in seine Strecke  hinauf. Dort legte er sich lang hin und machte gar nichts mehr. Er wollte  warten, bis der Steiger kam.
  Erich Ragnitzki, der mit seinen beiden Brüdern in der  Rutsche arbeitete, kam herauf gekrochen. Ein Stein hatte ihm den Kopf  aufgeschlagen. Er sah Lüdke liegen. »Anders kommst nicht aus dem Dreckloch  heraus, als bis sich ein Stein erbarmt!« knirschte er, bewickelte sich den  Kopf, der blutete, mit einem Hemdstück und begab sich zum Schacht, um  hinauszufahren.
  Steiger Schacke kam und sah, dass die Hauer nicht förderten,  sondern herumlagen. Er wurde wild. »Was ist denn mit euch wieder los?«
  »Es hält doch kein Teufel in der Hitze aus!« grollte  Franz
  Ragnitzki.
  »Zum Kuckuck, habt euch doch nicht so! Ihr seid doch  nicht zum ersten mal im Pütt!« brauste Schacke auf.
  Schramm kam hinzu. Sofort brüllte Schacke los:  »Schramm, sehen Sie denn nicht, dass die Leute herumliegen und keine Kohle  fördern?«
  Schramm war vor Staub nicht wiederzuerkennen; denn er  hatte wieder in dem Wetterloch herum gekratzt. »Die ganze Bude steht voll  Feuer!« erklärte er missmutig.
  »Blödsinn!« schrie Schacke. »Die Mütze voll Feuer!«
  »Das Wetterloch fällt immer zu!« sagte Schramm.
  »Kommen Sie mal mit!« sagte Schacke ungehalten. Beide  krochen hinunter zum Wetterloch.
  Die zwei roten Lichter entschwanden den Augen der  wartenden Hauer.
  Der alte Ragnitzki, der eine Strecke ausgebaut hatte  und die schlechte Luft nicht mehr ertragen konnte, kroch aus der Strecke und  begab sich zum Bremsberg. Aber auch dort war die Luft nicht besser, und er ging  den Bremsberg hinunter bis zur Hauptförderstrecke, wo er endlich frische Luft  bekam.
  Aus der Strecke kam Mondreck, ein Gesteinshauer. »Na,  geht's nicht mehr?« fragte er. »Mann, da oben ist es mir zu heiß geworden!«  sagte Ragnitzki.
  »Für dich wär es besser, du ließest dich zum Invaliden  machen, Ragnitzki!« sagte Mondreck und wies mit der Hand nach dessen Brust, die  in Atemnot schnaufte.
  »Bis die Jungens besser verdienen!« erwiderte  Ragnitzki. »Kannst noch lange drauf warten!« Mondreck lachte. »Du kannst froh  sein, wenn man dir später die Rente belässt, denn auch an der wird  herumgedoktert!«
  Ragnitzki hockte eine Weile und begab sich wieder zum  Bremsberg. Er dachte gerade an Mondrecks Worte, als ihn ein harter Stoß mitten  im Berg zurückwarf. Er schlug lang auf die Schienen hin. Donner erschütterte  das Gestein. Ragnitzki hielt sich mit beiden Händen an den Schienen fest. Eine  dichte, heiße Staubwolke hüllte ihn ein. Nochmals erfasste ihn eine furchtbare  Macht, riss ihn von den Schienen los und warf ihn weit fort gegen einen Haufen  Steine. Dort verlor er die Besinnung.
  Die zehnte Rutsche befand sich unterhalb der zwölften.  Die Hauer schlugen Kohle. Ein Sausen zerriss die Hölzer wie Spreu, ergriff den  Ortsältesten, der zur oberen Strecke hinauf wollte, fegte ihn wie einen Lappen  durch das halbe Rutschenfeld und klatschte ihn gegen ein festes Kohlestück.  Ein Lehrhauer, der Steine schaufelte, flog hinter ihm her; sein Kopf riss im  Flug an einer Steinplatte ab. Der Rumpf presste sich unter die Rutsche.
  Die anderen Hauer lagen von dem Luftdruck getötet oder  schwerverletzt in ihren Kohlenlöchern. Ein Stoß nach dem anderen erschütterte  das Gebirge, und Steinmassen brachen krachend herunter.
  Oben, in der zwölften Rutsche, brannte das Feuergrab. Die  tödlichen Schwaden fraßen sich an der Leiche des Lüdke vorüber, brachen kreuz  und quer durch geborstene Strecken, über die toten und tödlich verletzten  Kumpels der sechsten Rutsche, zogen weiter über die Teilstrecke bis zum  Bremsberg hin, darüber hinaus in die fünfte und vierte Rutsche.
  Auf der Flucht wurde ein Kumpel nach dem anderen von  den Schwaden ergriffen und sank um.
  Der alte Ragnitzki erwachte aus der Betäubung und  konnte sich nur schwer besinnen, was vorgefallen war. Sein Kopf war ihm  zentnerschwer. Tiefste Finsternis umhüllte ihn. Beklemmend legte sich die  dumpfe Luft auf seine Brust. Er stützte sich auf seinen Arm, versuchte aufzustehen.  Der Arm war gebrochen und knickte unter furchtbaren Schmerzen ein. Er stützte  sich auf den anderen Arm, versuchte es noch einmal, die Beine gehorchten ihm  nicht, waren steif und schwer wie Eisenklötze. Was war geschehen?
  Mit Hilfe der Ellenbogen schleifte er sich bis zur Förderstrecke.  Als er frische Luft atmete, verlor er wieder die Besinnung.
Die Frauen in der Kolonie hatten das Mittagessen aufgestellt.  Es roch aus den Fenstern nach Kohl, Kartoffeln und Hülsenfrüchten. Frau  Ragnitzki fütterte gerade ihre Ferkel; da brüllte die Sirene vom Schacht in  lang anhaltenden Zügen. Sie hob den Kopf, sah zum Stall hinaus und rief der  Jarzack zu: »Hört mal hin, wat haben die, dat dat Ding mit dem Brummen nich  ophört!«
  Frau Jarzack konnte es nicht erklären. »So brummen die  Dinger, wenn's irgendwo Feuer gibt!« sagte sie.
  Da erscholl aus der Franzstraße Geschrei: »Ein Unglück  auf der Zeche!«
  »Was?« rief Frau Ragnitzki; ihre Beine versagten. Auf  der Straße rannten Frauen und schrien durcheinander.
  Frau Ragnitzki schleppte sich bis zur Gartentür. »Mein  Gott, nu sagt doch, was ist passiert?« Der Gedanke an ihren Mann und ihre drei  Jungen, die Morgenschicht hatten, lähmte sie.
  »Ein Unglück auf der Zeche, schnell, kommt mit!«  schrie ihr eine Frau im Vorbeihasten zu.
  Die Sirene brüllte ununterbrochen. Die Straßen waren  eine laut jammernde und schreiende Menge, die sich über diejenigen, die  hinstürzten, rücksichtslos hinweg wälzte.
  Frau Jung hatte soeben die kochende Wäsche vom Herd herunter  gestellt und schüttete sie mit der kochenden Lauge in das Waschfass. Ihr Kind  kroch in der Küche unter dem Tisch herum und spielte. Eine Faust schlug gegen  ihr Fenster, und jemand schrie: »Frau Jung, mein Gott, hören Sie denn nichts?  Ein Unglück auf der Zeche!«
  Frau Jung war es, als schlüge ihr eine Eisenfaust ins  Gesicht! Die zitternde Krämern ergriff sie am Arm. »Los, unsere Männer sind  in der Grube!«
  Frau Jung ließ sich, halbbetäubt, zur Zeche schleppen.  Vor dem Tor stauten sich Frauen, Männer und Kinder. Grauenhaft wirkte das  Gewimmer der Betroffenen, deren Männer in der Grube waren.
  »Lasst mich durch, ich will zu meinem Mann!« kreischte  Frau Jung, als sie die Menge erblickte. Sie bohrte sich hindurch, ihre Kräfte  waren unbändig gewachsen. Sie stieß einen Polizisten zurück, der ihr den Weg  verstellen wollte. »Geh, ich muss zu meinem Mann!«
  Autohupen lärmten. Wagen mit Sanitätern sausten heran.  Tragen wurden von den Wagen heruntergehoben. Stärker wurde das Jammern der  Menschen um das Tor herum. Feuerwehr, Polizei, Sanitäter, Wagen um Wagen...
  Erich Ragnitzki war gerade am Schacht gewesen, als er  den Donner hörte. Im Moment zitterten die schweren Eisenträger im Füllort und  einige brachen durch. Staub schoss aus dem Querschlag und hüllte alles in  Dunkelheit. Der Anschläger ergriff im letzten Augenblick mit beiden Händen die  Eisenpforte, sonst hätte ihn der Luftstoß in den Schacht hinein gefegt.
  »Das sind schlagende Wetter!« schrie Erich Ragnitzki  und bebte, denn er dachte sogleich an seine Kohlenrutsche, wo seit Tagen die  Gefahr bestanden hatte.
  Die in der Nähe des Füllortes arbeitenden Leute stürzten  sich auf den Förderkorb. Sie zerrten einander herunter, schlugen sich, um nur  den Korb zu bekommen.
  »Verflucht. Seid ihr verrückt geworden!« brüllte der  Anschläger; denn es war unmöglich, den Förderkorb in Fahrt zu bringen, weil  sich die letzten mit beiden Fäusten daran klammerten und nicht losließen. Der  Anschläger schlug mit Gewalt auf die Hände, um den Förderkorb frei zu bekommen.
  Erich Ragnitzki dachte plötzlich an den Vater und  seine Brüder. Er wandte sich um und stürmte zurück. Der Schmerz der Kopfwunde  war vergessen. Er rannte zurück in das verlassene Revier; prallte mit den aus  den übrigen Revieren flüchtenden Hauern und Schleppern zusammen, stürzte hin.  Die Stiefel der Flüchtenden zertraten ihm Hände und Gesicht. Er sprang von  neuem auf und bahnte sich mit den Fäusten einen Weg durch die stauenden und  schreienden Leute; stieß jeden zurück, der ihn aufhalten wollte, bis er wieder  in der Hauptförderung war. Dort waren Leute und schrien um Hilfe. - Hauer, die  sich verletzt aus ihren Örtern gerettet hatten und in der Strecke zusammengebrochen  waren. Sie griffen in Todesangst nach ihm. Er trat mit Stiefeln auf die Hände,  die seine Beine umklammerten.
  Unten am Bremsberg wimmerte einer. Erich sprang über  ihn hinweg. Den Bremsberg hinauf. Nach einigen fünfzig Metern schlug ihm verbrannte  Luft entgegen. Er musste zurück, wickelte das Hemdstück vom Kopf, machte es an  einer Wasserleitung nass, wickelte es um seinen Mund und drang so nach vorn.  Nun fand er die Strecke, wo er seinen Vater wusste, und schrie dessen Namen.
  Der nasse Lappen schützte ihn vor dem Ersticken. Er  leuchtete die zusammengebrochene Strecke ab. Es war gefährlich, einige Schritt  weiter zu gehen. Seine Augen erblickten einen Körper. »Vater!« Er kroch  vorwärts. Es war nicht der Vater. Der alte Schröder war es. Tot.
  Erich konnte es nicht länger aushalten. Schon sauste  sein Kopf. Ein Taumel erfasste ihn. Er musste zurück.
  Im Bremsberg versagten ihm die Beine den Dienst. Er  hatte zu viel Schwaden geschluckt. Nur nicht liegen bleiben!
  Erich kroch auf allen vieren Meter um Meter hinunter,  bis zu der Stelle, wo der Mann wimmerte, den er zuletzt zurückgestoßen hatte.
  »Kumpel«, stöhnte der, »komm hierher, hier ist mehr  Luft!« Die Stimme klang fremd. Doch Erich erkannte sie jetzt, da er bald alles  aufgegeben hatte »Vater!« - »Erich!«
  Die beiden umklammerten sich. Doch sie waren nicht imstande  weiterzukriechen.
  Erich wurde ohnmächtig. Der Vater nahm seinen Kopf in  den Schoß: Einen hatte er... Seine groben, abgearbeiteten Hände strichen zart  und behutsam über das schmale Gesicht des Jungen, wie damals, als er noch in  der alten Wiege lag, klein und hilflos.
  Ein Förderkorb nach dem andern fuhr zutage. Jubel erscholl,  wenn Angehörige ihre Männer und Söhne unversehrt wiedererhielten. Von neuem  brach das wahnsinnige Geschrei aus, wenn Mütter und Frauen umsonst gehofft  hatten.
  Frau Jung, die sich nach vorn hindurch gewühlt hatte,  sah mit brennenden Augen zum Schacht hin. Ihr Mund stieß nur noch heisere Laute  aus. Und wieder kam ein Korb heraus. Die Geretteten erschienen auf dem Zechenplatz.  Frau Jung stürzte vor. »Da ist er ja, seht, da ist mein Mann!«
  Jung durfte nicht mehr in die Waschkaue hin. So  schwarz, wie er herausfuhr, so riss ihn seine Frau mit sich.
  Aus der Kolonie kam eine Frau. »Frau Jung! Sucht die  Frau Jung« schrie sie. Frau Jung hörte es nicht.
  Sie hielt mit beiden Händen ihren Mann umklammert,  ließ ihre Augen nicht von ihm ab.
  »Frau Jung!« Eine Faust riss sie herum. »Schnell, nach  Hause, euer Kind ist verbrüht!«
  Frau Jung begriff nicht.
  Jung hatte es begriffen. »Du hast das Kind allein  gelassen!«
  »Es ist ins Waschfass gefallen; hat sich totgebrüht!«  schrie die Frau, die die Nachricht brachte.
  Frau Jung wurde fahl. Sie knickte in sich zusammen.
Der Förderkorb brachte eine Totenlast nach der andern  zutage. In der Totenbude hinterm Schacht flickte Heinrich Renteleit die Stücke  der Zerrissenen zusammen, bandagierte sie. Träger trugen die Bündel in die  Waschkaue, wo die Toten nebeneinandergebettet wurden. Viele Gesichter waren  nicht mehr zu erkennen. Viele Leiber waren verkohlt. Heinrich Renteleit hatte  Hilfe, er konnte das furchtbare Geschäft allein nicht bewältigen. Mühsam  erforschte er einzelne. Sie waren alle schauderhaft verstümmelt und entstellt.
  Balasz hatte von dem Unglück erfahren und eilte nach  der Zeche.
  Er schloss sich Dränger an, der Nachmittagsschicht  hatte und wie er mit Rettungsarbeiten vertraut war. Es gelang ihm, in dem  Wirrwarr, der überall herrschte, mit der ersten Bergungsmannschaft in die Grube  zu kommen. Die Männer drangen bis zum fünften Revier vor. Unten am Bremsberg  stießen sie auf die beiden Ragnitzkis, die von den Schwaden betäubt waren. Sie  hielten sich noch immer fest umklammert.
  Nun begann das schwierigere Werk: den Bremsberg hinaufzukommen  und die von der Katastrophe betroffenen Strecken und Kohlenbetriebe zu  erreichen. Ohne Sauerstoffapparate war das nicht möglich.
  Balasz erbat sich von einem der Leute einen Apparat,  und sie stiegen mit Steiger Lehrte und noch einigen den Bremsberg hinauf.
  Nach einem mühseligen Hinüberkriechen über Brüche kamen  sie in die erste Teilstrecke. Die Bauhölzer waren mit furchtbarer Wucht  herausgerissen und lagen kreuz und quer. Mächtige Steinblöcke versperrten den  Zugang zu dem Innern der Strecke, durch die man in die zwölfte Rutsche gelangen  konnte. Erst musste der Weg freigelegt werden. Nach einer Stunde war es  gelungen. Dränger stieß im Vorwärtstasten mit dem Fuß gegen einen weichen  Klumpen. Es war ein kleiner Körper. Wer es war, konnte im Augenblick nicht  festgestellt werden.
  Weiter ging das Suchen.
  Hundert Meter tiefer in der Strecke fanden sie wieder  einen Toten. Der war verbrannt. Zwei der Rettungsmänner fassten an, um den  Toten zum Bremsberg fortzutragen; ihre Hände vergruben sich in die breiige  Fleischmasse, die sich von den Knochen löste. Nach ein paar Metern standen sie  vor einem Bruch. Es war unmöglich hindurchzukommen.
  Sie machten kehrt und krochen zurück bis zum Bremsberg;  den hinauf, wobei sie immer wieder Steine aus dem Weg räumen mussten.
  Stunden vergingen.
  Die Apparate ermüdeten sie. Einige fürchteten,  ersticken zu müssen, und kehrten um.
  Balasz, Dränger und der Steiger blieben und drangen  mit schweißdurchnässten Leibern und zerrissenen Händen über die Brüche höher.  Kurz vor der zweiten Teilstrecke klebte zwischen Steinen und Holzstößen ein  Körper. Der Steiger nahm ein Holz und riss ihn heraus. Das Gesicht war bis zur  Unkenntlichkeit zerschlagen. Dränger erkannte den Kumpel nur an einer  Handtätowierung; es war Willi Mihallek. Dreißig Meter höher fanden sie Martin  Swoboda, den Schlepper der zweiten Teilstrecke. Swoboda fehlten das linke Bein  und ein Teil der linken Hüfte, die durch einen fliegenden Stein samt dem Bein  abgerissen worden war. Das Bein mit der Hüfte hing zwischen zusammengewirbelten  Leitungsrohren. Die drei Männer waren zu Tode ermattet. Sie schleppten unter  Aufwand der letzten Kräfte die Leichen der Kumpels den Bremsberg hinunter und  betteten sie in der Förderstrecke.
  »Alles tot!« sagte der Steiger niedergeschlagen.
  Sie hatten die Apparate abgenommen und hockten in der  Nähe eines Wetterüberbaues, um frische Luft zu atmen.
  Nach einer Viertelstunde kam unter Leitung eines anderen  Steigers eine Hilfsmannschaft an. Gemeinsam wurde der Bremsberg wieder  erstiegen. Die Wühlarbeit mit dem Gestein begann von neuem. Meter um Meter musste  unter Schweißströmen und Lebensgefahr erkämpft werden, denn je näher sie den  Unglücksstätten kamen, umso wüster war dort die Verheerung. Nun fanden sie eine  Leiche nach der andern. Die Leute der sechsten Rutsche fanden sie im Bereich  der Gezähkisten zerfetzt und verbrannt. Das Holz war ebenso verkohlt. Tiefe  Brüche gähnten über den Köpfen. Die Rettungsmannschaft konnte es in der  Siedehitze nicht lange aushalten, musste umkehren, um nicht zu verbrennen oder  zu ersticken. Einige Hölzer glommen noch von dem Brand. Dicke Rauchschwaden  entströmten der rückliegenden Strecke, die wie eine Falle zusammengequetscht  war.
  »Zurück!« befahl der Steiger, denn einige der Leute begannen  zu hüsteln. Einer knickte in die Knie und musste von den andern mitgeschleift  werden.
  Unterm Bremsberg waren noch mehr Rettungsleute angekommen.  Sie versuchten von der Förderstrecke aus, sich einen Weg zu den Rutschen zu  bahnen. Mann hinter Mann krochen sie durch die Wetterstrecke, erreichten auf  Umwegen die Schleppstrecke der zwölften Rutsche. An der Wettertür, die, in  Stücke zerrissen, weit in die Strecke fortgeschleudert lag,   fanden sie den Lader Fritz Krainowski.
  Krainowski hatte noch sein Brot in der Faust, und auch  sein Mund war voll Brot. Die Rettungsmannschaft musste sich durch ein  Trümmerfeld von Eisenschienen, Förderwagen, Holz und Gestein hindurch wühlen.
  In einem engen Loch, das noch von der frischen Luft  berührt wurde, wimmerte eine Stimme.
  »Rasch, Kumpels, da lebt noch jemand!« rief einer entsetzt.  Es war ein Wunder, dass so nahe am Herd der Katastrophe einer mit dem Leben  davongekommen war. Und sofort griffen alle Hände zu und scharrten. Sie griffen  in das Loch und zerrten ein kohlenschwarzes Etwas hervor, das eher einem Tier  als einem Menschen glich. Entsetzte Augen stierten die Retter aus einem  gedunsenen Gesicht an. Der schwächliche Körper bebte immerfort.
  »Der Fredi!« erkannte einer den Schlepper.
  Die Retter machten die verzweifeltsten Versuche, der  zwölften Rutsche näher zu kommen. Sie stießen auf unüberwindliche Hindernisse  und mussten, weil sie von Schwaden bedroht wurden, wieder zurück.
  Sie überlegten und drangen einen andern Bremsberg hinauf,  der dritten Rutsche zu, um von dort aus hineinzukommen. Da war es nicht so  wüst zugerichtet, sie hatten jedoch schwer mit den Schwaden zu ringen, die dort  immer wieder herausquollen. Winziger wurden die Lichter, so dicht lag der  Qualm in den Strecken. Dann fanden sie einen Kumpel nach dem anderen. Der Tod  hatte sie mitten auf der Flucht eingeholt. Da lagen der Schrader, der Waitack,  der Jakob Brandes, Pilniack. Ein grauenhafter Anblick: Brese und Salz  ineinander verkrallt. Man konnte sie nicht auseinanderreißen, oder man war  gezwungen, ihnen die Knochen zu brechen. Sic wurden darum gemeinsam fortgeschleppt.  Ein paar Retter blieben zurück. Einer begann zu schreien. Das Geschrei  entsetzte die übrigen. Einer nach dem anderen kehrte um und flüchtete. Sie  hatten in eine Glut hineingeschaut. Von einer Eisenschiene hing ein Körper  herunter und brannte. Das Feuer fraß sich fort, fand neue Nahrung: Kohle, Holz  - Menschen.
  Über Tage war eine Kantine eingerichtet worden. Der  Zechenplatz war voll Sanitäter, Polizei, Kommissionen, Pressevertreter und  eifriger Fotografen, die mit ihren Apparaten umhersprangen. Vom Tor her  wimmerte, schrie und heulte es wie aus einem Rudel gehetzter Tiere.
  Vom Schacht tönten dumpf die Signale. Tote, Tote,  Tote. Hin und wieder ein Glücklicher, der dem Tode entronnen war, der aber  sein weiteres Leben ein Krüppel blieb, ohne Arme, ohne Beine, das Gesicht  unkenntlich entstellt. Viele der Geretteten röchelten unter den zitternden Händen  Heinrich Renteleits, der sie der verbrannten und zerfetzten Lumpen entledigte,  ihre furchtbaren Wunden waschen musste. Er musste stark bleiben. Sanft wie  eine Mutter, so streichelten seine rauen Hände die verzerrten Gesichter der  schreienden und stöhnenden Kumpels.
  Dann kam das Grausigste: Man brachte seinen Jungen. Er  lebte noch. Heinrich hielt zum ersten Mal nach Stunden in seinem entsetzlichen  Werk an. Sein Herz drohte ihm aus der Brust zu springen. Es war sein einziger.
  Mit beiden Armen hob er die wimmernde Last auf, wandte  sich damit zur Tür, rannte hinaus auf den Zechenplatz; mit verzerrtem Gesicht  stand er draußen, seinen Sohn auf den Armen und heulte. »Blind! Die Augen  fort!«
  Man musste Heinrich Renteleit mit Gewalt den Sohn  entreißen. Er wehrte sich rasend. »Das ist eure verfluchte Treiberei nach  Kohle! Die Hölle soll euch fressen!«
  Dann saß er auf der Treppe der Totenkammer. Das Gesicht  in seine Hände vergraben. Nur zuweilen entrang sich seiner Brust ein Stöhnen.  Alle, die vorüberkamen, wichen ihm scheu aus. Heinrich Renteleit hatte beim  Anblick seines blinden Sohnes seinen Gott begraben.
Frau Ragnitzki schien es, sie befände sich in einem  großen Grab, in dem sie langsam erstickte. Von ihrem Mund, dessen Unterlippe  tief herunterhing, floss der Speichel. Ihre Augen waren leergebrannt und  unverwandt nach dem Schacht gerichtet. Sie wartete auf die Ihren. Man hatte  ihren Mann und Erich herausgebracht. Ein Hauer teilte es ihr mit. Sie nickte  mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck. »Tot?«
  »Nein, der Alte hat einen Arm und die Beine gebrochen.  Erich hat Schwaden abgekriegt!«
  Ihr starrer Körper bekam Leben. »Ich will sie sehen, lasst  mich durch!« Sie brach sich Bahn durch die Menge. Ein Polizist versperrte ihr  den weiteren Weg. »Ich will meinen Mann und meinen Jungen sehen!« schrie sie  und schüttelte die Fäuste vor dem Gesicht des Polizisten.
  »Es darf niemand auf den Zechenplatz!« Sie wurde zurückgedrängt.
  Frau Ragnitzki begann zu jammern. Ihr Jammer übertrug  sich auf die anderen. Und wieder vergingen Stunden.
  Ein Wagen nach dem andern verließ verdeckt den Zechenplatz  mit Verletzten, die nach den Krankenhäusern gebracht wurden. Hinter einem  Wagen ging mit schweren Schritten Heinrich Renteleit.
  Der Förderkorb brachte neue Ladung. Tot. Die Rettungsmannschaften  lösten sich ab. Balasz war nicht darunter. Auch Dränger nicht. Sie waren noch  in der Grube.
  Der Nachmittag ging seinem Ende zu. Die Kolonie lag  wie ausgestorben. Aus den offenen Fenstern drang der Gestank von verbranntem  Essen.
  In einer Wohnung jammerte eine Frau und sah stier auf  die Leiche ihres verbrühten Kindes. Frau Jung. Er hockte am Fenster in der  Küche und starrte unentwegt zum Schacht. Eine Frau, die ununterbrochen  wimmerte, wurde von zwei anderen Frauen vorbeigeschleppt. Es war Frau  Ragnitzki.
  Jung sah es. Teilnahmslos. Seine Frau schluchzte, über  ihr Kind gebeugt: »Du - du - warum musste das geschehen?« Das war nicht mehr  die Stimme seiner kindlichen Frau. Eine fremde, müde Stimme voller  Verzweiflung.
  »Ach!« Jung heulte auf. »Wofür bin ich der Hölle entkommen?«
  »Sei still, ich weine ja nicht mehr!« bettelte die  müde Stimme. »Ich bin ja schon ruhig. Es ist nur so furchtbar, so unfassbar,  ich will ja nicht mehr weinen!«
  Im Nachbarhause kreischte ein Weib, auch in einem anderen  Hause. Aus vielen Häusern kamen Schreie wie von Wahnsinnigen. Die Straße  entlang schreit und stöhnt es. Kinder weinen, an die Röcke der Mütter gehängt.  Kinder an Brüsten brechen in klägliches Weinen aus. Hin zur Zeche. Zurück von  der Zeche. Hin und her, her und hin, bis die Nacht hereinbricht. In die Nacht  hinein stöhnt und weint es aus den Häusern. Die Straße weint.
  Mitternacht. Vor den Häusern hocken zusammengesunkene  Gestalten. Mütter mit ihren Kindern. Ohne Schlaf. Leichenblasse Gesichter  erheben sich aus der Starre, wenn jemand vom Schacht kommt.
  »Wie weit sind sie?«
  »Kann mehrere Tage dauern.«
  »Wie viel sind raus?«
  »Einhundert und einige mehr - alles Tote!«
  Nach Mitternacht kam ein Förderkorb mit neuer Fracht  herauf. Neben einem Toten hockte der lange Dränger. Der stille Kumpel, der auf  der Bahre lag, war Balasz.
  Balasz war bis zur dritten Rutsche vorgedrungen und  hatte dort jemand um Hilfe rufen hören. Dränger und die anderen warnten. Balasz  kroch in das zusammengebrochene Loch hinein. Die Rutsche hatte von den Schwaden  weniger abbekommen. Der größte Teil der Kumpels drinnen war durch den Luftdruck  und das stürzende Gestein getötet worden.
  Er wühlte sich bis zu dem Verletzten hindurch und  zerrte ihn unter dem Gestein fort. Es war ein schwerer Transport, denn der  Hauer hatte Knochenbrüche und konnte sich selbst nicht helfen. Bis zum Umfallen  erschöpft, kam Balasz mit ihm hervor. Es war nicht der letzte. In dem Loch  ächzte noch jemand. Es musste höher sein.
  Dränger versuchte, um Balasz zu schonen, hineinzukriechen.  Sein Leib war zu stark, und er musste umkehren.
  Balasz kroch noch einmal hinein. Sein schmaler Körper  erlaubte es, dass er tiefer hineinkriechen konnte. Das Ächzen erscholl höher,  je weiter er in den Bruch hineinkroch. Dränger warnte. Balasz hörte nicht auf  die Warnung, vor ihm bettelte ein Schwerverletzter um Hilfe. Er schob sich vorwärts.
  Über ihm knackte der Stein. Dreck rieselte herunter.  Balasz wäre gern umgekehrt, der Verletzte vor ihm begann angesichts der  nahenden Lampe zu jammern: »Hier, Kumpel, hierher.«
  Dränger hörte es. Er hörte aber auch das Brechen des  Gesteins. »Komm zurück!« schrie er in das Loch hinein.
  Balasz hörte den sich lösenden Stein und begann  zurückzukriechen. Einige Meter vor den Kumpels, die ihn voll Angst erwarteten,  brach der Stein durch und begrub ihn.
  Es war die bitterste Arbeit, die Dränger beim Bergen  seines Freundes verrichten musste.
  Nun hockte er auf dem Förderkorb und brachte den toten  Kumpel hinaus.
  Balasz wurde neben die vielen andern Toten in der großen  Waschkaue gebettet. Dort herrschte Grabesstille. Ein großer Teil der Toten lag  bis übers Gesicht vermummt; das waren die Verbrannten. Es roch entsetzlich.
  Lange weiße Bündel lagen zwischen denen, die noch ihre  Grubenkleidung anhatten; das waren die Zusammengeflickten.
  Um zwei Uhr nachts lagen einhundertneununddreißig  Leichen nebeneinandergereiht; zwei Drittel davon verbrannt.
  Nur Berufene hatten Zutritt. Betriebsführer Böß wurde  kreideweiß, sobald er in den Raum musste. Und er musste es oft; denn es kamen  hohen Besuche und wollten die Leichen sehen. Er war froh, wenn er aus der  Waschkaue war.
  »Denen könn Sie kein Gedinge mehr kürzen!« hatte ihm  jemand zugerufen, als er einmal aus der Waschkaue kam. Er tat so, als ob er es  nicht gehört hätte.
  
  Das Knappschaftskrankenhaus lag mitten in der Stadt.  Im Zentrum von mehr als zwanzig Schachtanlagen, die dorthin ihre Kranken und  die im Pütt Verunglückten brachten.
  Jaschinski hatte seine Lungenentzündung überstanden  und durfte, noch sehr erschöpft, jeden Tag einige Stunden aufstehen. Auf seinem  Zimmer lag ein Hauer von einer Nachbarzeche namens Brauneisen, der wegen  Steinstaublunge feierte.
  Brauneisen führte Jaschinski auf seinen Spaziergängen  im Krankenhaus umher und zeigte ihm die verschiedenen Säle und Stuben, die voll  gazebepackter Menschen lagen.
  In einem Zimmer fand Jaschinski einen Kumpel aus seiner  Rutsche, den Gartmann. Gartmann hatte Jaschinski zuerst erkannt und angerufen,  als dieser seinen Kopf zur Tür hineinsteckte.
  »Fritz, komm näher. Was machst du denn hier?« rief  Gartmann mit gepresster Stimme und winkte ihn heran. Jaschinski erschrak vor  dem mageren Gesicht, das weiß war wie der Verband, mit dem der Kopf umwickelt  war.
  »Mensch, Gartmann, wie kommst du denn hierher?« fragte  er bestürzt.
  »Du siehst es«, ächzte Gartmann und verzog sein  Gesicht im Schmerz, »einen Bruch hat's gegeben. Beide Beine haben sie mir  abgesägt!«
  »Beide Beine, das ist schrecklich!« entsetzte sich Jaschinski.
  »Nicht wahr?« Gartmann richtete sich auf den Ellenbogen  empor und sah Jaschinski mit fiebrigen Augen an. »Du sagst es richtig, das ist  schrecklich, Kumpel, ich bin erst dreißig; beide Beine ab, das ist nicht nur  schrecklich, es ist Wahnsinn!«
  Gartmann steigerte seine Stimme und schrie: »Das ist  der Irrsinn, den man mit uns vor Kohle treibt. Ich bin ja nur noch ein halber  Mensch, Jaschinski, ein erbärmlicher Krüppel!«
  Jaschinskis Kehle quoll zu. Es ging ihm kalt und siedeheiß  durch den Leib.
  »Siehste«, fuhr Gartmann fort, »so geht es, immer lag  einer hinterm Rücken, hat getrieben und getrieben. Kohle raus. Ausbauen - kein  Gedanke, bis du drunter liegst. Der Tod wäre mir lieber. Was tu ich nun mit den  Stumpen, die mir geblieben sind? Hätte mich der Stein erschlagen, wäre ich  besser dran. Wie ein Säugling, so hilflos bin ich jetzt.«
  Gartmann erschütterte ein Schluchzen. Jaschinski stand  vor dem Bett, noch ratloser als Gartmann.
  Aus einem Nachbarbett erhob sich ein Knabengesicht,  das so klein war, dass es Jaschinski mit einer Hand zudecken konnte. »Und mir  haben sie hier den Arm abgesägt, schau her, Kumpel!« Der Knabe hielt Jaschinski  einen bewickelten Armstumpen entgegen. »Ich hab ihn mir zwischen Wagen  viermal gebrochen. Nun soll ich noch mal dran, denn die Wunde heilt nicht und  eitert!«
  »Sei doch froh, dass du nicht so dran bist wie ich!«  quäkte ein schwarzstoppliges Gesicht aus einem dritten Bett. Zwei glühende  Augen wandten sich Jaschinski zu. »Ich hab Wirbelsäulenbruch«, erzählte der  Mann mit schwacher Stimme, »bleibe gelähmt, sagt der Arzt. Ich soll mich damit  abfinden« - ein kurzes verzweifeltes Lachen -, »abfinden, mit achtundzwanzig  Jahren, wenn man nicht leben noch krepieren kann! Alles geht unter mich, ich  lieg im eigenen Dreck und kann's vor Gestank nicht aushalten! Betteln muss ich,  dass man mich reinigt!«
  Jaschinski schluckte und fand keine Worte. Er hätte so  gern etwas Tröstendes gesagt. Es erschien ihm lächerlich, denn aus einem  vierten Bett kam ein Stoßhusten und ein grässlicher Fluch. »Was erzählt ihr ihm  denn alles?« schrie ein wutverzerrtes Gesicht, das nur Haut und Knochen war.  »Jedem erzählt ihr immer dasselbe. Es kotzt mich schon an!«
  Jaschinski entwand seine Hand der des Gartmann. »Ich  komm ein andermal«, sagte er und lief wie gejagt hinaus. Er roch noch immer den  faulen Kotgeruch des Zimmers, das er
  verlassen hatte.
  Brauneisen kam die Treppe herunter und schnaufte ohne  Atem: »Komm schnell raus, auf Zeche »Hoffnung« sind schlagende Wetter  ausgebrochen. Man bringt Verbrannte.«
  Er zerrte Jaschinski ins Freie. Ein Sanitätswagen war  vorgefahren. Tragbahren wurden von dem Wagen abgeladen. Ein paar völlig  verhüllte Körper wanden sich darauf. Wieder das furchtbare Ächzen, das  Jaschinski bei Gartmann so erschüttert hatte. Der Wagen war noch nicht  abgeladen, ein zweiter rollte vor das Krankenhaus. Tragbahren mit Kumpels,  wieder verhüllt. Es roch nach verbranntem Fleisch.
  Einer der Kumpels hatte sich während des Transportes  losgewickelt. Das Gesicht war nur rohes Fleisch, in dem die Augen wie ein paar  Glaskügelchen zitterten.
  Die Verbrannten wurden sofort in das Operationszimmer  getragen. Ärzte und Krankenschwestern alarmiert. Der Aufzug, der die  Stockwerke miteinander verband, ging ununterbrochen wie der Förderkorb im  Schacht.
  Zimmer sechzehn, in dem Jaschinski lag, bekam vier frische  Betten, die mit Kumpels von Zeche »Hoffnung« belegt wurden. Ihre Köpfe und  Gesichter waren bis an die Nasenspitze in Verbänden eingepackt.
  Unten vor dem Portal fuhren immer wieder Wagen vor.
  Brauneisen, der zusah, wandte sich an Jaschinski.  »Das, was wir bisher erlebt haben, das war wüst; aber was da herauskommt, das  ist wie nach einer Schlacht!«
  Im Operationszimmer ging es zu wie auf einem Verbandplatz  während einer Offensive im Kriege. Es wurde geschnitten und genäht, verbunden  und geschleppt. Tragbahre um Tragbahre, immerzu, immerzu, bis die Nacht kam.  Aber die Nacht minderte die Qualen nicht. Gellendes Schreien und Jammern  erscholl in allen Räumen.
  Jaschinski lag, sein Gesicht in die Kissen vergraben, und hielt sich die  Ohren zu. Er fieberte vor Aufregung. Schlief ermüdet ein. Schreckliche Träume  rissen ihn aus dem Schlaf. Dann hörte er wieder das Winseln der Kumpels.
Von den Schächten der Zeche »Hoffnung« flatterte  schwarzes Tuch auf Halbmast. Die Waschkaue hatte einen schwarzen Behang. An  der hinteren Wand war ein Altar errichtet mit einem großen Bildnis des  Gekreuzigten, vor dem riesige Kerzen brannten. In langen Reihen lagen in Särgen  die Kumpels - einhundertneunundsechzig Tote.
  Zwischen den Reihen der Särge gingen Angehörige, die  die Erlaubnis hatten, die Waschkaue betreten zu dürfen. Auch befrackte Herren,  den Zylinder in der Hand, schritten mit würdevollen Mienen einher, ließen sich  halblaut über den Vorfall berichten.
  Balasz lag mitten unter den Toten. Betriebsführer Böß,  der eine Besichtigungskommission führte, hielt vor dem Sarg und erzählte von  Balasz, dass dieser als Arbeitsloser an dem Rettungswerk mit teilgenommen hätte  und dabei verunglückt wäre.
  »Ein Held!« Einer der Herren nickte teilnahmsvoll.
  Im Verwaltungsgebäude lag ein Berg von Kränzen.
  In einem Zimmer des Gebäudes befanden sich eine Anzahl  Herren. Sic waren nervös, rauchten viel und verhörten Kumpels über die  Katastrophe. Es wurden Fragen gestellt, kreuz und quer.
  »Können Sie sich nicht entsinnen, ob nicht einer der  Hauer unvorsichtig mit der Munition umgegangen ist?« fragte einer der Herren  einen älteren Kumpel, der mit einem unbehaglichen Gesichtsausdruck vor ihnen  stand und seine Mütze knäulte.
  Der Kumpel verneinte es.
  Der Frager wandte sich zu der Kommission: »Ich kann  Ihnen aus Erfahrung erzählen, meine Herren, wie unverantwortlich manche Leute  mit dem Sprengstoff umgehen. Ein Fall zum Beispiel: Ein Steiger findet im  Bergeversatz eine ganze Kiste Dynamit. Denken Sie sich, was da für ein Unheil  entstehen könnte!«
  Der Hauer räusperte sich. »Dat muss aber schon lange  her sein, denn heute geht dat nicht so leicht!«
  »Warum denn nicht?«
  Die Blicke der Kommission richteten sich gespannt auf  den Hauer.
  »Weil wir jeden Sprengschuss buchen müssen, und am  Schichtschluss wird die Restmunition in der Schießbude verrechnet!«
  »Ja, wie denken Sie sich, wie das Unglück hier  entstehen konnte?« fragte ein anderer der Herren. »Die zwölfte Rutsche war uns  doch als ein Musterbetrieb bekannt!«
  Der Hauer schwieg mit düsterem Gesicht.
  »Na?«
  Der Hauer sah ihn an. »Die Kumpels, die drin  gearbeitet haben, sind tot - die könnten es am besten erzählen!«
  Nach einem kurzen, peinlichen Schweigen sagte der  erste der Herren: »'s ist gut, Sie können gehen!«
  Man forschte hin und her, um die Ursache  festzustellen. Und wieder wurde ein Kumpel hereingerufen.
  »Haben Sie vielleicht bemerkt, dass der Ortsälteste  schon mal seine Lampe nicht in Ordnung gehabt hatte?«
  »Das kann ich nicht behaupten, ich weiß nur, dass  Schramm ein sehr vorsichtiger Mensch war. Er war nicht so dumm, wegen einer  schlechten Funzel sein Leben aufs Spiel zu setzen, wo er sechs Blagen hatte!«
  »Wie war es denn mit dem Bergeversatz? War der in  Ordnung?« wandte sich der Frager an Böß, der seit einiger Zeit der Verhandlung  beiwohnte.
  Böß fuhr erschreckt zusammen. Er erwiderte hastig:  »Sieben Mann verpacken auf Mittagsschicht Steine, Herr Assessor!«
  »Waren keine Hohlräume vorhanden?« »Soviel ich weiß,  nicht!«
  »Na, so ganz in Butter war's doch nicht!« sagte der  Kumpel. »Da war manches Loch, so groß wie ein Pferdestall, drin!« Böß' Gesicht  verzog sich.
  »Woher wissen Sie das?« fragte der Assessor den Kumpel.
  »Na, ich war im Verbauen, und da musste ich oft hin  vor Kohle, und da hab ich's gesehen!«
  »Also, Sie meinen, dass die Steineverpacker sehr  nachlässig gearbeitet haben!«
  »Jaa, wann konnten die denn richtig verpacken? Die mussten  doch die meiste Zeit an die Kohle!«
  Der Assessor wandte sich an Böß: »Stimmt das?«
  »Nein!« sagte Böß.
  »Doch!« sagte der Hauer aufgebracht. »Ich kann's beweisen!«  und schlug dabei mit der Faust gegen seine Brust.
  »Sie können gehn!« sagte der Assessor zu dem Hauer.  Ein dritter wurde hereingerufen.
  »Sie haben noch vor dem Unglück in der zwölften  Rutsche gearbeitet?« fragte der Assessor. Der Hauer nickte. »Haben Sie dort  Feuer bemerkt?«
  »Mehr wie einmal!«
  »Wo, im Bergeversatz?«
  »Ja, auch vor Kohle und in den Strecken. Es war oft so  heiß und stickig, dass wir's nicht aushalten konnten!«
  »Stimmt das, was der Mann sagt?« wurde Böß gefragt.
  »Nicht der Rede wert, Herr Assessor«, erwiderte Böß,  »die Leute übertreiben gern!«
  »Ich übertreib schon nicht!« sagte der Hauer  ärgerlich. »Die Wetterstrecke war ja nie in Ordnung, und wenn wir es dem  Steiger meldeten, dann sagte der, er hätte keine Leute zum Ausbauen!«
  »Unsinn, der Steiger hatte Leute genug!« sagte Böß unwillig.
  »Wie war denn der Steiger in seinem Dienst sonst?«  fragte der Assessor. »Konnten Sie sich auf ihn verlassen? Trank er nicht? Es  gibt Steiger«, wandte er sich lächelnd zu den andern Herren, »die gern einen  über den Durst nehmen und dann im Pütt alles laufen lassen, wie's läuft!«
  »Steiger Schacke war ein tüchtiger Beamter, er hatte  aber einen eigenen Schädel und umging gern meine Anweisungen«, sagte Böß.
  »Können Sie den Steiger herbeiholen?« fragte der Assessor,  der den Herren einen bedeutungsvollen Blick zuwarf.
  »Steiger Schacke ist tot!« erwiderte statt Böß der  Hauer.
  »Hm - schade, da hätten wir was erfahren.«
  Die Untersuchung musste vorläufig resultatlos abgebrochen  werden.
  
  Bei Schleihmann war öffentliche Versammlung. Die Direktion  versuchte, die Versammlung zu verhindern, begründete, dass sie die Trauer der  Bevölkerung störe. Die Kumpels hatten die Versammlung aber durch einen  stürmischen Protest erzwungen. Der Saal war so voll, dass ein großer Teil  draußen bleiben musste. Ein junger Hauer eröffnete die Kundgebung. »Wir  untersuchen vor der Öffentlichkeit, wer der Schuldige an den Unglück ist!«
  »Ich möcht was sagen!« meldete sich ein alter Hauer.  Im Saal schluchzten Frauen. »Zwei Jungen hab ich bei dem Unglück verloren«,  erzählte der Alte mit erschütternder Stimme, »der eine einundzwanzig, der  andere neunzehn Jahre alt. Im Krieg ist der älteste gefallen. Ich bin auf mein  Alter ohne Brot, wer gibt mir was? Von der Rente kann ich beim besten Sparen  nicht leben. Wofür hab ich die Kinder großgezogen?« Er schrie empört: »Konnte  die Treiberei noch ein Mensch aushalten? Wie mit 'm Vieh ist man mit uns  umgegangen! Zwanzig und dreißig Mark Abschläge und drauflos gejagt, als wenn  man ein Ochse wäre! Nun sucht man den Schuldigen! Unter den Toten! Meine  Jungens sind tot, ich bin ein alter Mann, was nun?«
  »Seht her!« Frau Ragnitzki, die sehr gealtert, lenkte  durch den Zuruf die Augen aller auf sich. »Da, seht, was zwei Tage Gram aus mir  gemacht haben!« Sie griff mit beiden Händen nach ihrem Haar, das weiß geworden  war: »Mein Mann ein Krüppel, zwei Jungens verbrannt!« Sie konnte nicht weiter,  stöhnte und brach zusammen.
  Ein Weinen ging durch den Saal.
  »Sie suchen den Schuldigen«, begann ein anderer Hauer,  »Steiger Schacke ist verbrannt, er kann sich nicht verteidigen.« Die Stimme  des Hauers wurde hart und lauter. »Böß hat ihn verrückt gemacht! Wenn ein  Steiger sein Soll nicht brachte, dann wurde auf ihm herumgeritten! Dann mussten  wir es ausfressen! Die nach Kohle gejagt haben, die gehören vor den Richter!«
  »Wenn man jeden Moment Leute entlässt, die Förderung  hochtreibt, das Gedinge herabsetzt, dann muss so was geschehen!« sprach noch  einer. »Sonst hat Böß keine Augen, nur wenn der Direktor oder sonst jemand  kommt!«
  »Wir klagen die Schuldigen öffentlich an!« nahm  Scheck, der junge Hauer, der die Versammlung leitete, das Wort. Er kam nicht weiter,  Polizei kam in den Saal und forderte die Auflösung der Versammlung. Es durfte  niemand mehr sprechen. Die Menge wurde gewaltsam hinausgedrängt. Ein Sturm der  Empörung brach los. Draußen saß ein größeres Kommando Polizei ab und löste die  Menge auf, die sich vor dem Saaleingang staute.
  
  Die Beerdigung der Opfer hatte stattgefunden. Särge särge  - Särge. Ein unendlicher Zug von Särgen.
  Frau Ragnitzki stieß die ihr von Böß gereichte Hand zurück,  als er ihr sein Beileid sagen wollte. »Du bist schuld, dass ich meine Jungen  verloren hab!«
  Böß verließ unter Murren der Masse den Friedhof.
  Auf einem Grabhügel hockte Heinrich Renteleit. Sein  Junge war unter den Toten. Es war für ihn eine Erlösung; denn blind sein ist  entsetzlich. Er sah nicht zu, als die Toten in die Gruben gesenkt wurden. Er  hielt den Kopf in die Hände gestützt und sprach halblaut vor sich hin. Eine  Hölle hatte sich vor ihm aufgetan und seinen Jungen, sein Altersbrot und  seinen Glauben gefressen.
  Eine Stunde später kam eine kleine Trauergemeinde.  Kinder trugen einen weißen, winzigen Sarg. Hinter dem Sarg schritt die  gebrochene Frau Jung, ihr Mann neben ihr.
  Frau Jung weinte nicht. Ihr Gesicht hatte die Starre  einer Toten. Erst als der kleine Sarg in die Grube gesenkt wurde, zerschnitt  ein wilder Schrei das Gejammer, das von den andern Gräbern herüberkam.
  Der Nachmittag verging. Die Kolonie weinte. Die Nacht  kam. Es weinte ein jedes Haus. Der Morgen kam. Die Häuser wimmerten.
  Die Sonne stieg hoch, ein strahlender roter Ball. Sie  schien auf die Kolonie herab, vermochte aber den Menschen drinnen keine  Linderung zu bringen.
  Einhundertneunundsechzig tot...
Mit Schutzapparaten arbeiteten die Kumpels Tag und  Nacht, um die eingestürzten Kohlenbetriebe frei zu buddeln. Mancher  grauenhafte Fund erschreckte sie: ein Arm, ein Kopf, ein Fetzen verkohltes  Fleisch.
  Rutsche um Rutsche wurde freigelegt, die Motoren instand  gesetzt, Gleise, Leitungen, Haspeln und Seile ausgebessert.
  Der erste Abbauhammer bohrte sich in Kohle. Der  zweite. Der dritte.
  Eine Maschine schnaubte im Revier. Eine Rutsche  rauschte los. Noch eine. Noch eine. Der erste Wagen Kohle. Der zweite. Der  dritte. Mehr, mehr - immer mehr.
  Dränger musste die neunte Rutsche von neuem aufbauen.  Ins fünfte Revier kam ein junger Steiger mit einem spitzen, blassen Gesicht und  sehr dürren Gliedern. Das Gegenteil von Schacke, äußerlich wie auch in seiner  Art, die Kumpels zu behandeln.
  »Ich will mit dem Alten reden, dass er Sie was  verdienen lässt, Dränger!« sagte der Steiger, der Bein hieß.
  »Es wird doch wieder abgezogen, wenn wir die Bude in Schuss  haben!« sagte ein Lehrhauer.
  »Ich sorge dafür, dass Ihnen nichts abgezogen wird!«  versicherte Bein. Er duldete sogar in den ersten Tagen, dass die Kumpels  gemeinsam Pause machten, um zu »buttern«. Er tat noch mehr. Oft setzte er sich  zu den Kumpels und unterhielt sich mit ihnen.
  Bein scheute sich nicht, über die politischen Vorgänge  zu sprechen, was wenige Steiger wagten; denn Böß litt keine Beamten, die mit  Kumpels politisierten.
  So kam während einer Pause das Gespräch auf die Gedingeregelungen,  die stets zum Schaden der Kumpels vorgenommen wurden.
  »Geduld!« meinte Bein lächelnd. »Es wird schon anders,  wenn wir erst den verwirtschafteten Laden wieder flott haben. Wenn wir den  Krieg nicht verloren hätten, brauchten wir gewiss nicht so einzusparen.
  Scheck lachte spöttisch, doch Bein sprach unbeirrt  weiter: »Lachen Sic nicht, Scheck, Sic dürfen die Geschichte nicht durch Ihre  Parteibrille sehen. Dann selbstverständlich erscheint Ihnen alles zu düster  und als einzige Lösung ein Umsturz, dessen Folgen Ihren jugendlichen  Optimismus sehr ernüchtern würden!«
  »Es ist an den Fingern abzuzählen, wohin diese Wirtschaft  führt«, unterbrach ihn Scheck, »die Löhne werden gedrückt, dass man mit dem bisschen  Brot kaum ausreicht, dafür verdoppeln sich die Profite der Zechenbesitzer.  Jeden Monat gehen Hunderte Kumpels mehr stempeln, aber die Generaldirektoren  beziehen weiterhin ihre Fünf- und Siebenhunderttausendmarkgehälter. Die werden  nicht arbeitslos. Die brauchen in keine Drecklöcher wie in der Ludwigsgasse,  wo die arbeitslosen Kumpels von Wanzen angefressen werden!«
  »Na, sag ich's nicht?« Bein wandte sich lächelnd zu  den Kumpels. »Scheck ist Parteimensch und sieht alles nur schwarz!«
  »Seh ich zu schwarz?« entgegnete Scheck, der sich  nicht aus der Fassung bringen ließ. »Rosig ist es verdammt nicht, wenn man erst  vor kurzem über zweihundert tote und verkrüppelte Kumpels aus dem Loch raus  geschleppt hat, deren
  Schuld es gewiss nicht war, dass sie so elend vernichtet  wurden!«
  Bein schüttelte den Kopf. »Mit Ihnen lässt sich's  schlecht reden, Mann. Ich weiß, dass man Ihrerseits stets versuchen wird, alle  Schuld auf die verdammten Kapitalisten zu wälzen, die von alledem nichts  wissen und im Grunde genommen ganz harmlose Menschen sind.« Und er setzte  ironisch hinzu: »Hängen Sie die Kerle nur getrost weiter, es tut ihnen nicht  weh. Die Hauptsache ist, es denken nicht alle wie Sie, sonst hätten wir das  richtige Tohuwabohu bald im Gange!«
  »Sie sollten eigentlich Jesuitenpater werden!«  erwiderte ihm Scheck, den auch die leicht hingeworfenen Worte des Steigers  nicht beirren konnten.
  Bein geriet in Verlegenheit. Die Kumpels lachten los,  denn das mit dem Jesuitenpater gefiel ihnen gut.
  Bein sah nach der Uhr, bemerkte, dass es spät geworden  war, stand auf und sagte: »Ich bleibe dabei, dass sich alles nur durch Geduld  ändern lässt!«
  »Und ich«, erwiderte Scheck überlegen, »ich weiß  genau, dass die Hungerwirtschaft nur durch den zähen Kampf der Arbeiter zum  Teufel gehauen wird, und da helfen Ihre ganzen hübschen Worte nicht, uns eines  andern zu überzeugen. Was meint ihr, Kumpels?«
  »Aber sicher!« rief Fiedler, der noch im Christlichen  Gewerkverein war.
  »Was, auch Sie?« fragte Bein unangenehm überrascht.
  »Ja, auch ich!« trumpfte Fiedler auf. »Gute Worte  helfen nichts mehr, wenn's einem nicht so ergehen soll wie den Kumpels, die wir  soeben eingebuddelt haben!«
  »Hab ich's ihm nicht gut gegeben?« fragte Fiedler  stolz, als sie allein waren.
  Dränger war nicht dabei gewesen. Man hatte ihn kurz  vor der Pause zu einer anderen Arbeit gerufen, um Rutschen aus einem Bruch  herauszuholen. Als er zurückkam, waren die Kumpels in ihren Örtern. Scheck  erzählte ihm von der Auseinandersetzung mit Bein.
  »Nimm dich vor dem in acht!« warnte Dränger, der  schlüpfrigen Menschen, wie der Steiger einer war, nicht traute. Warneck  gesellte sich hinzu. »Das ist so einer, der so hintenherum kömmt«, meinte er,  »er fängt mit Zuckerbrötchen an und hört mit dem Knüppel auf.«
  Auch Fiedler kam herbei gekrochen. »Ich hab ihm genau  Bescheid gesagt, das ist so 'n Scheinheiliger. Scheck hat ihn richtig  gestempelt, ein Jesuitenpater. Ich kenn die Sorte!«
  Oben in einem Loch fluchte Worbas. Dort war es sehr  stickig, und er musste öfters heraus, um frische Luft zu schnappen. Worbas war  Altverbändler und Regers Parteifreund. Bis zu dem Unglück war mit ihm über die  Politik der Verbandsführer nicht zu reden. Er wartete wie viele seinesgleichen  auf das Wunder, das die Treiberei in der Grube und die größer werdende Not  beheben sollte.
  Die Kumpels munkelten, dass Worbas sich mit Reger  überworfen hätte. Das hieß schon genug, denn die beiden waren jahrelang  unzertrennlich. Worbas getraute sich früher nicht, Reger Vorhaltungen zu  machen, bis er das Elend der Frauen und Kinder während der Unglückstage  miterleben musste. Sein Junge war mit unter den Schwerverletzten und lag im  »Bergmannsheil«. Sein früherer Widerwille gegen alles Arbeiterfeindliche bäumte  sich in ihm auf, und er ging Reger an, eine Protestversammlung einzuberufen.  Reger lehnte brüsk ab.
  Was ihm Worbas darauf vorwarf, wussten wenige. Die  wenigen aber erzählten in der Grube, dass es zwischen den beiden zu einer  erbitterten Feindschaft gekommen wäre.
  Worbas kam in der neunten Rutsche mit Dränger zusammen.  Und einmal sprachen sie sich darüber aus. Worbas begann zuerst damit. Er  suchte Dränger in seinem Ort auf.
  »Mit mir und Reger ist es aus!« erzählte er unsicher.
  »Na!« machte Dränger erstaunt.
  »Der ist froh, dass er seinen dicken Posten hat!«  Worbas spuckte umständlich in die Kohlen.
  »Auf einmal?« wunderte sich Dränger. »Es war ja dein engster  Freund. Mann, wie ist das denn gekommen?«
  »Alles hat seinen Anfang und sein Ende«, entgegnete  Worbas finster. Er schob den Kautabak von der rechten nach der linken  Mundseite. »Ich kann das auf die Dauer nicht mitmachen!«
  Dränger hätte es von Worbas am wenigsten erwartet. »Du  wolltest ja früher nichts davon wissen«, sagte er, »es überrascht mich doch ein  wenig, dass es so plötzlich kommt!«
  »Wir haben uns nach dem Unglück gehabt!« erzählte  Worbas. »Ich war dafür, dass wir eine Versammlung machen. Reger wollte sich  herausreden. Ich bestand aber drauf, dann kam es. Verrückt wäre ich. Unsinn sei  es, die Kumpels noch mehr zu beunruhigen. Darauf hab ich ihm meine Meinung  gesagt. Ich bin es leid geworden!«
  »Wie lange?« fragte Dränger leichthin.
  »Es ist Schluss, sag ich dir!«
  »Und was weiter?«
  »Ja, was?« Worbas zog die Schultern. »Vorläufig hab  ich den ganzen Kram satt!«
  »Müde?« Dränger leuchtete ihm mit der Lampe ins Gesicht.
  »Das nicht, aber aus dem Gleis!« meinte Worbas. »Es  geht mir wie einer alten Karre, die weder vor noch rückwärts kann!«
  Dränger nickte verständnisvoll.
  »Ich hätt nicht geglaubt, dass es mal soweit kommen  würde«, fuhr Worbas fort. »Jetzt weiß ich, dass sie alle keinen Schuss Pulver  wert sind!«
  »Gut, dass du es jetzt einsiehst!« nahm Dränger das Gespräch  wieder auf, als Worbas verdrossen schwieg.
  »In dem Dreh finde sich noch einer zurecht!« murrte Worbas.
  »Immer links halten, Kumpel!« meinte Dränger. Worbas  kämpfte mit sich. »Es ist verdammt nicht so leicht!«
  Nein, leicht war es ihm nicht, eine Partei zu  verlassen, unter deren Führung er vor dem Kriege begeistert vor die Tore der  Zechen gezogen war. In den Streiks neunzehnhundertundfünf und  neunzehnhundertundzwölf. Auf der schwarzen Liste stand er, hatte das Opfer gern  gebracht. Welche Demütigungen, wenn er um Arbeit fragte!
  Er erzählte es Dränger, stockend, voll Unmut, dass es  so ganz anders geworden sei. Dass ihn die Disziplin, die er seiner Partei und  dem Verband durch Jahrzehnte gehalten, so unfrei und willenlos gemacht habe.  Einer der Ärmsten war er und elend, weil die Führer nicht mehr die alten waren.  Sie verhandelten. Waren gegen Streiks. Ließen Lohnordnungen gelten, die ihn  zum Hungern brachten.
  Lang ist es her.
  »Komm zu uns Kumpel!« warb Dränger.
  »Was wollt ihr denn?« erwiderte Worbas. »Ihr seid zu  schwach! Und wieder von vorn anfangen.« Er machte eine wegwerfende Gebärde.
  »Wir schwach?« Dränger lachte dröhnend. Er hob sich  ein wenig höher. »Wenn wir schwach wären, würde man vor uns keine Angst haben.  Aber sie haben Angst, sag ich dir!«
  Worbas äußerte Zweifel.
  »Nicht?« Drängers Stimme wurde rau. »Dann würden sie  uns nicht aus den Verbänden und aus den Betrieben rausschmeißen. Wo sich einer  von uns hören lässt, da passen sie auf wie die Hunde. Aber fressen werden sie  uns nicht, drauf kannst du dich verlassen!«
  Aus einem Kohlenloch lachte ein Kumpel. »Gib es ihm,  Dränger, bis er gescheit wird!«
  Es war nicht leicht, sich längs des Bruchgesteins an  die Kohle hinaufzuarbeiten. Dränger war es überhaupt nicht recht, dass er  Ortsältester war; denn er trug für die Arbeit der ganzen Mannschaft die  Verantwortung.
  Die Kohle kam schwer. Nur mühsam bröckelte man Wagen  um Wagen voll heraus, und immer unter Beins Aufsicht, der einen, wenn er auch  nicht herumbrüllte wie Schacke, mit seinen Ratschlägen und seinem  Dazwischenreden nervös machen konnte. Scheck pumpte Steine um und zog eine  Steinmauer vor die Bruchstelle, nachdem der Rest der alten Rutschen geborgen  war. Bein lag oft bei ihm und sah zu.
  Es vergingen acht Schichten. Steiger Bein kam frühmorgens  in die neunte Schicht und sagte, dass Böß die Arbeit befahren werde.
  Böß kam um sieben Uhr an. Er sprach sehr freundlich  mit den Hauern und gab Ratschläge, wie sie die Rutschen am besten  vorwärtstreiben könnten.
  Dränger erinnerte den Steiger an sein Versprechen  wegen des Lohns. Bein wandte sich an Böß.
  »Selbstverständlich wird hier der Lohn so gestellt, dass  ihr was verdienen könnt!« erklärte Böß bereitwillig. »Haltet euch nur feste  dran, dass Kohle kommt!«
  Böß ging fort.
  Scheck kroch zu Dränger hin. »Das ist Speck, Kumpel, pass  auf, was kommt, wenn wir mit dem Aufhauen fertig sind!«
  »Ich glaube, dass er sich durch das Unglück gebessert  hat!« sagte Dränger. »Ich glaub es nicht!« sagte Scheck.
  Und wieder vergingen acht Schichten. Die Rutsche war  durchgebaut.
  Steiger Bein kam mit Böß und Benzberg an. Man probierte  den Motor aus. Es ging gut. Das Gestein war wohl noch sehr geborsten, aber man  hatte das Feld gut ausbauen können, und es bestand keine Gefahr, dass es  durchbrach.
  »Mann, wie zu Hause, wa«, scherzte Böß und klopfte  Dränger auf die Schulter.
  »Wenn es wieder so losgeht wie vor dem Unglück, dann  ist es in kurzer Zeit derselbe Stall!« brummte Fiedler.
  »Wenn Sie Ihre Arbeit einzuteilen wissen, dann haben  Sie immer eine feine Arbeit!« erwiderte Böß.
  Darauf ließ er die Rutsche in Gang setzen. Er selbst  blieb die ganze Schicht im Feld und beobachtete die Hauer, wie sie Kohle  schlugen und in die Rutsche schaufelten.
  »Wir können es hier ruhig bei dem früheren Gedinge belassen!«  sagte er am Schluss der Schicht, als Steiger Bein mit den Hauern aus dem Felde  kroch.
  »Siehste!« sagte Worbas aufgebracht. »Warum denn nicht  gleich Gedingeabzug?«
  »Mann, Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, dass  Sie hier keinen Lohn verdienen?« sagte Böß unwillig. Worbas sah Dränger an.  »Hörst es?« »Wir wollen es mal versuchen!« beruhigte Steiger Bein. Die Kumpels  kannten solche Versuche schon zur Genüge.
Frau Jaschinski war in Aufregung. Sie hatte nach der  schweren Erkrankung ihres Mannes die Raten für ihre Küche nicht einhalten  können und eine Aufforderung bekommen, entweder sofort die fünf rückständigen  Raten zu bezahlen, oder das Geschäft lasse ihr binnen achtundvierzig Stunden  die Möbel fortholen.
  Sie lief zu den Nachbarn, um sich das Geld  zusammenzuleihen. Was war aber ihr Missgeschick gegen das Unglück, das die, an  die sie sich in ihrer Verzweiflung wandte, betroffen hatte. Wo sie hinkam,  traf sie Trauer, rotgeweinte Augen, vergrämte Gesichter.
  Sie packte ihres Mannes Sonntagszeug, Bettwäsche, ihre  und der Kinder Kleider zu einem Bündel und eilte damit zur Pfandleihe. Sic  bekam für alles zwölf Mark. Fünfzig Mark hatte sie aufzubringen. Woher nehmen?
  Eine Frau riet ihr, sich an den Pfarrer zu wenden.  Neue Hoffnung. Frau Jaschinski eilte zu dem Pfarrer.
  »Liebste Frau«, sagte der Pfarrer, »wer hat Ihnen das  eingeredet? Ich hab auch nicht eine Mark übrig! Sehn Sie doch zu, ob man Ihnen  nicht in der Wohlfahrt was geben kann!«
  Frau Jaschinski rannte zur Wohlfahrt.
  »Sie müssen einen Antrag stellen!« sagte ihr dort ein  Beamter, »es muss erst geprüft werden, ob Bedürftigkeit vorliegt!«
  »Man holt mir doch die Küche fort!« erbebte Frau Jaschinski.  »Ich muss das Geld sofort haben!«
  »Wir können es beim besten Willen nicht, Frau! Ich  kann Ihnen wohl einen Lebensmittelschein ausstellen!«
  »Es geht um die Küche!« brach Frau Jaschinski in  Tränen aus.
  »Aber, liebe Frau, erlauben Sie mal«, sagte der Beamte  ärgerlich. »Sie können von uns doch unmöglich verlangen, dass wir jedermann die  Brocken abzahlen!«
  Frau Jaschinski schleppte sich heim. In ihrem Kopf  kreiste nur der Gedanke an das Geld, mit dem sie ihre Küche retten konnte.  Wohin gehen?
  Am nächsten Morgen hatte sie bei Apothekers Wäsche.  Übernächtigt stand sie auf, versorgte das älteste Mädel für die Schule, brachte  die drei kleineren Kinder zu der alten Schadowski und begab sich zur Apotheke.
  »Sie schauen nicht gut aus, Frau Jaschinski«, sagte  Frau Bajer, »fühlen Sie sich nicht gesund?«
  »Ich hab die Nacht nicht schlafen können!« erwiderte  Frau Jaschinski müde.
  »Da weiß ich wirklich nichts von«, erzählte Frau Bajer  und lachte vergnügt, »ich schlafe immer gut, und wenn Sie mich mit dem Bett  heraustragen würden, ich wach nicht auf!«
  Das Lachen tat Frau Jaschinski weh. Ach, wie lange  hatte sie nicht mehr so fröhlich gelacht. Nur grübeln und grübeln, bis der Kopf  schmerzte. Würde Frau Bajer verstehen, warum sie nicht schlafen konnte? Sie  verschwieg ihre Sorge und erzählte Frau Bajer nichts davon. Von der hätt sie  doch keine Mark bekommen, die sie nicht verdiente, denn Frau Bajer war sehr  sparsam, fast geizig und handelte mit ihr um jeden Groschen, wenn sie mit der  Arbeit fertig war. Sic quälte sich mit der Wäsche. Ihre Arme wollten diesmal  nicht so recht mit, waren steif und ungeschickt, versagten übermüdet. Sie  hatte während des Umherrennens am vorigen Tage das Essen vergessen, das spürte  sie erst jetzt bei ihrer Arbeit.
  Frau Bajer wurde unfreundlich und hielt sich mehr als  sonst in der Waschküche auf. Sie machte Einwände wegen der Wäsche und prüfte  Stück um Stück. Frau Jaschinski hörte nur halb auf die Nörgeleien hin; es war  ihr alles so gleichgültig. Sie dachte nur an das, was man ihr für den nächsten  Tag angedroht hatte, dass ihr die Küche fortgeholt werden sollte.
  Im Geschäft ging die Schelle. Frau Bajer begab sich  dorthin. Sie kam nach einer Weile in die neben der Waschküche liegende Stube  und holte eine kleine, hölzerne Lade hervor, der sie Kleingeld entnahm. Die  Lade blieb auf dem Tisch stehen.
  Frau Jaschinski hörte das Klirren der Geldmünzen und  erschrak. Sie sah nach der Geldlade hin. Musste immer wieder hinsehen.  Irgendeine Gewalt zwang sie dazu.
  Frau Bajer unterhielt sich im Geschäft mit einem Kunden.  Frau Jaschinski wünschte, die Geldlade wäre von dem Tisch fort. Wenn sie sich  auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie hineinblicken. Es zog sie näher heran.  Ihr Gesicht brannte, sie musste immer näher an das Geld, und ihre Hände  griffen, ohne dass sie sie zurückzureißen vermochte, hinein. Die Hände hielten  Münzen und einige geknäulte Geldscheine. Sie erschauerte vor Freude und wieder  vor Angst. Werden es fünfzig sein? dachte sie und wagte nicht, auf das Geld zu  sehen, das ihre Hände hielten.
  Frau Bajer lachte drüben im Geschäft ihr sorgloses Lachen.  Frau Jaschinski entsetzte sich und wäre fast zusammengesunken. Sie floh zu  ihrem Fass zurück und steckte hastig das Geld in den Unterrock. Lauschte mit  stockendem Herzen hinüber, verfärbte sich kreideweiß bei dem Gedanken, man  hätte sie beobachtet. Frau Bajer kam aus dem Geschäft und betrat die Stube, in  der die Geldlade stand. Frau Jaschinski war vor Schrecken halbtot und hätte  bald losgeschrien. Frau Bajer kam. »Wie weit sind Sie?« fragte sie.
  Frau Jaschinski brachte kein Wort hervor. Sie wagte  nicht aufzuschauen.
  »Sie scheinen doch krank zu sein!« sagte Frau Bajer.  Sie blieb in der Waschküche, und Frau Jaschinski verlor vor Angst bald den  Verstand.
  »Kommen Sie Kaffee trinken!« rief Frau Bajer nach  einer Weile.
  »Ich kann nichts essen!« ächzte Frau Jaschinski und hütete  sich, ihr Gesicht zu zeigen. Es schien ihr erfroren zu sein. Sie empfand die  Kälte an ihrem Körper.
  Erst gegen Mittag, Frau Jaschinski glaubte, es wäre  nicht herausgekommen, kam Frau Bajer mit empörtem Gesicht in die Waschküche.  »Frau Jaschinski, haben Sic was gesehen? Geld ist mir verschwunden!«
  Frau Jaschinski traf es wie eine Axt. Sie fiel neben  dem Waschfass hin und begann zu jammern.
  »Was ist mit Ihnen?« fragte Frau Bajer bestürzt.
  Frau Jaschinski sah sie verzweifelt an.
  »Haben Sie's etwa?« fragte Frau Bajer eisig.
  Frau Jaschinski zog das Geld mit bebenden Händen aus  dem Unterrock.
  »Schämen Sic sich!« sagte Frau Bajer im Tone tiefster  Verachtung. »Pfui, das hätt ich von Ihnen nicht erwartet!« Sie nahm das Geld  mit einem Ruck an sich und sagte noch immer mit einer Miene des Abscheus: »Sie  sind sehr undankbar. Ich will Sie nur um Ihrer Kinder willen nicht zur Anzeige  bringen, sonst würde man Sie auf der Stelle einsperren! Verlassen Sie aber  sofort meine Wohnung!«
  Frau Jaschinski hatte nun alle Hoffnung aufgegeben.  Sie saß teilnahmslos in ihrer Wohnung, das Kleinste schrie an ihrer Brust.
  Das zweite kratzte im Kohlenkasten den Schmutz, das  Gesichtchen verweint, den Mund voll ekligem Dreck. Das dritte presste sich an  sie, das vierte stand vor ihr. »Mama, Mama, wat haste?«
  Die Nacht verging ohne Schlaf.
  Der nächste Morgen kam. Frau Jaschinski war eine alte,  vergrämte Frau geworden. Und als der Wagen kam, wischte sie mit müden Händen  die Möbel, zärtlich, es sollte niemand sagen, dass sie ihre Sachen nachlässig  behandelt hätte. Nach einer halben Stunde stand sie in dem leeren Raum. Sogar  den Herd hatte man ihr fortgeholt. Nur ein Schränkchen, eine Bank und einen  Stuhl hatte man ihr gelassen. Sie schleppte aus der Kammer einige alte Sachen  in den Küchenraum, damit es nicht so entsetzlich kahl und leer aussah; blieb  den ganzen Tag in der Wohnung, ließ sich draußen nicht sehen, sie schämte  sich.
  Der Sonntag kam. Sie hatte sich sonst, auch in harten  Zeiten, fertig gemacht und war in die Kirche gegangen. Diesmal machte sie  sich nicht fertig. In der Kammer hing ein Kruzifix, sie nahm es herunter, sah  lange darauf hin und sagte bitter: »Du bringst mir keine Hilfe.« Sie stellte  das Kruzifix in den brüchigen Kleiderschrank. »Es hat doch keinen Sinn, dass  du an der Wand hängst, du machst mich nur müde und unfähig. Ich bin ja selbst  gekreuzigt!«
  Ihre kleine Welt war tot.
An einem Abend war der Pfarrer zu den Kranken gekommen  und hörte einige, die nicht aufstehen konnten, flüsternd ab.
  »Sie beichten doch auch?« fragte die Schwester den  Jaschinski, und als er zusagte, um die Schwester nicht zu verärgern, schrieb  sie in die untere Ecke seiner Tafel ein kleines »b«. Das bedeutete für den  Pfarrer, dass Jaschinski beichten wollte.
  Brauneisen lehnte es ab. Er musste während des  Abhörens der anderen das Zimmer verlassen.
  Im Korridor näherte sich die Schwester dem Brauneisen.  Sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Sagen Sie mal, Brauneisen, warum wollen Sie nicht  beichten?« fragte sie.
  »Wat soll eck denn? Eck hew keene Sünden!« erwiderte  Brauneisen.
  »Sie lästern!« sagte die Schwester erzürnt.
  »Seggen Se dem Pfarrer, he soll de Dicken abhören, de  hebben 'n ganzen Sack voll Gemeinheiten binnen!« sagte Brauneisen grob und  setzte seinen Spaziergang fort.
  Jaschinski war von der Beichte nicht befriedigt. Er  hätte es dem Pfarrer gern so erzählt, wie er es gewöhnt war, dem Brauneisen zu  erzählen, zumal ihn seine Frau mit der Nachricht, dass man die Küche  fortgeholt, noch mehr niedergeschmettert hatte. Er antwortete dem Pfarrer auf  die ihm gestellten Fragen das, was er seit dreißig Jahren so einem Geistlichen  her geflüstert hatte.
  Brauneisen, den er wegen seines Spotts fürchtete, ließ  Jaschinski in Ruhe. Jaschinski hatte aber das Bedürfnis, sich vor dem älteren  Kumpel, der über alles so genau Bescheid wusste, zu entschuldigen. »Mensch«,  sagte er, »ich bin so froh, dass die Geschichte vorbei ist. Ich wusste nicht,  was ich dem Pfarrer sagen sollte!«
  »Sollst ehm gesagt hebben, dat he im Pütt anfangen  soll. Dann löt he uns schon in Ruh!«
  Jaschinski nickte mit unsicherem Lächeln. »Das hätt  ich ihm sagen sollen!«
  »Man sucht uns nach Sünden ab, wie man früher im  Schützengraben een Hemd nach Läusen abgesucht hat!« meinte Brauneisen, so dass  es alle im Zimmer hören konnten, auch die Schwester, die hereinkam. »Dat se  uns halb krepierte Proleten danach absuchen, dat is mehr wie Sünde!«
  Die Schwester hörte es voll Entsetzen. Sie rief den Jaschinski  heraus. »Jaschinski, ich bitte Sie, unterhalten Sie sich nicht mehr mit dem  Mann!« bat sie. »Tun Sie mir den Gefallen, alles, was er sagt, ist gottlos und  Frevel!«
  Jaschinski versprach es ihr, sich mit Brauneisen nicht  mehr in ein Gespräch einzulassen. Als die Schwester fort war, wurde er wütend.  Er kam sich vor wie in einem Karussell. Nicht ein einziges Mal behauptete er  eine eigene Meinung. Die anderen hatten ihre Meinung, verteidigten sie mit  aller Entschiedenheit, zerrten an ihm herum - und er stand da, entschuldigte  sich vor jedem, musste sich allen unterordnen, denn er besaß ja keine eigene  Meinung. Nun durfte er nicht mit dem Kumpel sprechen, den er seinen einzigen  Freund nannte. Brauneisen hatte bisher das beste Verständnis für seine Not  gezeigt. Jaschinski fühlte sich recht unglücklich.
  Er lag auf seinem Bett und döste vor sich hin.  Brauneisen kam und setzte sich auf einen Stuhl neben ihm. Er sprach ihn an.  Jaschinski erschrak und schämte sich.
  »Was ist mit dir los, Fritz?« fragte Brauneisen.
  Jaschinski hätte es ihm um nichts in der Welt sagen  können, dass er mit ihm nicht sprechen durfte.
  Brauneisen sah ihn besorgt an. »Fühlst dich nicht  gut?« »Ich möcht hier gern raus!« seufzte Jaschinski. »Mann, im Pütt geht's  wieder ran, auf Deuwel komm raus!« sagte Brauneisen.
  »Ich möcht hier aber trotzdem raus!« sagte Jaschinski  niedergedrückt.
  »Du bist 'n Kerl!« sagte Brauneisen. »Es geht dir wie  einem Hasen, der nicht ein noch aus weiß.« »So ist es!« nickte Jaschinski.
  »Mann, so fang doch endlich an, härter zu werden!«  Brauneisen wurde ärgerlich. »Du kommst mir wie ein Klumpen Lehm vor, den jeder  nach Belieben drückt und knetet!«
  Jaschinski richtete sich auf. »So ist es. Seit Jahren  schon. Die Menschen machen mit mir, was sie wollen!«
  »Gottverdammich, dann wehr dich doch!« brauste Brauneisen  auf. »Wenn du dich nicht wehrst, wirst du aufgefressen! Denkst du denn  überhaupt nicht?«
  »Ich denke wohl, aber ich kann nicht mit, wenn die  anderen mit ihren Redensarten kommen. Der Dränger hat recht, die Schwester  will recht haben, du hast recht - ich weiß wirklich nicht!« Jaschinski machte  eine Gebärde der Hilfslosigkeit und vergrub wieder seinen Kopf in dem Bett.
  »Organisier dich, so bist du nicht allein. Allein  macht man dich zu einem Hund!« sprach Brauneisen eindringlich.
  Jaschinski atmete schwer und wagte nicht aufzuschauen.  »Ich möcht hier fort!« sagte er dumpf.
  »Wohin?« fragte Brauneisen.
  Das wusste Jaschinski nicht. Das war das Hindernis, gegen  das er immer anrannte, bis er nicht mehr konnte.
  Einige Tage später kam der Chefarzt. Er musterte die  Insassen des Zimmers, ließ die Genesenden die Hemden ausziehen, horchte auf  der Brust, klopfte auf dem Rücken und gab der Schwester Notizen. Zu einigen  Kranken sagte er: »Na, ich glaube, es wird schon wieder gehen, nicht wahr?«
  Das sagte er auch zu Jaschinski, den er ebenso untersuchte.
  Jaschinski sah ihn ängstlich an, er hatte nicht recht  verstanden.
  »Ich meine, Sie können noch einige Tage zu Hause feiern,  und dann wird's wohl wieder gehen!« wiederholte der Chefarzt.
  »Ja« nickte Jaschinski, von dem freundlichen Ton des  Arztes beeinflusst. Es war ihm eingefallen, dass er zu Hause mehr Krankengeld  bekam. Die Hälfte des ihm zuständigen Geldes hatte bisher die Krankenanstalt  für seine Pflege eingezogen.
  Als der Chefarzt fort war, meinte Brauneisen zu Jaschinski:  »Weißt du, das tun sie wegen der Überfüllung. Sie wissen nicht mehr, wo sie mit  den verkröppten Kumpels hin sollen. Die Förderung macht sich!«
Der Knappschaftsarzt Doktor Bernau hatte die Hauskranken  unter sich. Morgens um zehn Uhr war sein Wartezimmer voller Patienten. Obwohl  sich Doktor Bernau mit allem Eifer dranhielt, sie abzufertigen, wurde der  Warteraum nicht leer. Immer wieder humpelten und hüstelten frische Zugänge auf  der Treppe.
  Jaschinski war auch darunter. Er musste fast drei  Stunden warten, bis er an die Reihe kam. Doktor Bernau hieß ihn sich ausziehen.  Er untersuchte ihn peinlichst genau. »Na, meinetwegen«, sagte er am Schluss  seiner Untersuchung zu Jaschinski, »wir lassen Sie noch ein paar Tage zu Hause.  Vielleicht bis zum Letzten, und dann können Sie wieder arbeiten gehen!«
  Bis zum ersten Oktober waren noch drei Tage. Jaschinski  fühlte sich sehr schlapp und zitterte schon jetzt vor der Arbeit, die ihn im  Pütt erwartete.
  Drei Tage später ging er wieder zu Doktor Bernau. Der  schrieb ihn gesund.
  »Das weiß ich, dass Sie sich noch nicht kräftig  fühlen«, sagte Doktor Bernau, »ich weiß es, das bringt jede Krankheit nach  sich. Was soll ich aber erst mit denen machen, die noch kränker sind als Sie?  Die Knappschaft kommt mir auf den Kopf, wenn ich Sie noch länger krankfeiern  lasse.«
  »Wenn es noch wenigstens acht Tage ginge!« bat Jaschinski.
  »Das geht auf keinen Fall!« erklärte Doktor Bernau,  »in einer Zeit, wo jeder zweite Mann einen Krankenschein hat! Ich schreib Ihnen  einen Vermerk für leichtere Beschäftigung!«
  Damit gab sich Jaschinski zufrieden. Wenn er leichtere  Arbeit verrichten durfte, dann war es nicht so schlimm, und er würde sich  wieder einarbeiten.
  Jaschinski begab sich mit dem Krankenschein zum Pütt  und meldete sich damit bei seinem Reviersteiger.
  Bein sah ihn erstaunt an. »Leichtere Arbeit? Mann  jetzt muss jeder ran!«
  »Ich kann aber noch nicht vor Kohle!« sagte Jaschinski  betroffen.
  Bein hieß ihn einen Moment warten und ging mit dem  Schein zu Böß ins Büro.
  Auch Böß schüttelte den Kopf. »Das gibt's nicht. Entweder  vor Kohle oder raus. Invaliden haben wir genug!«
  Bein teilte das Jaschinski mit. »Sie können aber  mittags Steine verpacken gehen!« sagte er nach kurzem Überlegen.
  Jaschinski kam voller Sorgen nach Hause, erzählte  seiner Frau, dass man für ihn keine leichte Arbeit hätte. »Beim Steineverpacken  ist's ebenso schwer«, klagte er verzagt, »ich möchte am liebsten in den Sack  haun!«
  »Tu, was du willst!« sagte sie gleichgültig.
  Jaschinski schlich den ganzen Nachmittag, bis spät in  den Abend hinein, wie ein Schatten umher. Nirgends fand er Ruhe. Er ging in den  kleinen Stall hinter dem Haus, saß dort auf einem Hauklotz und grübelte. Er  stand auf, ging in die Küche, hockte sich ans Fenster hin, stierte teilnahmslos  auf die Straße, grübelte. Stand auf, zog den Rock an, setzte sich die Mütze  auf, ließ sich vorn auf der Treppe nieder, grübelte. Er wusste nicht ein noch  aus. Die Furcht vor der schweren Arbeit hetzte ihn ruhelos hin und her.
  Am nächsten Mittag fuhr er ein. Unten am Schacht traf  er den Mittagssteiger, bei dem er sich zu melden hatte. Der schickte ihn in die  neunte Rutsche. Die Rutsche förderte wieder Kohle. Im Querschlag traf er  Dränger, der aus dem Revier kam.
  »Gottverdammich, Fritz, biste wieder da?« sagte Dränger  erfreut, »ich hätt keinen Groschen mehr um dich gewettet!«
  »Ich bin noch nicht ganz in Schuss!« erwiderte  Jaschinski. Er ließ sich von Dränger über das Unglück erzählen.
  »Mann, kannst von Glück reden, dass du nicht mehr drin  warst, als die Geschichte passierte!« sagte Dränger.
  »Ja, bestimmt, ich hatte Glück!« freute sich  Jaschinski.
  »Alle Kumpels, die drin waren, sind tot!« erzählte  Dränger.
  »Wenn ich nur aushalt!« seufzte Jaschinski, der an die  Steinarbeit dachte.
  »Mach nur keinen Unsinn, und jag dich nicht wieder so  ab!« ermahnte Dränger; sie trennten sich.
  Jaschinski kam ans Steineschleppen in der Kippstrecke.  Er quälte sich eine Stunde lang. Mit dem fünften Wagen kam er nicht weiter,  blieb damit in der Strecke stehen und bekam ihn weder mit der Brust noch mit  dem Rücken auch nur einen Meter vorwärts. Er hockte sich neben den Wagen und  döste.
  Ein anderer Schlepper kam. »Mensch, du kannst hier  nicht schleppen«, sagte der ärgerlich, »sag doch dem Steiger, er soll dich raus  tun, wenn's dir hier zu schwer ist!«
  Der Steiger schickte Jaschinski, der es ihm meldete,  in die Rutsche, Steine verpacken.
  Jaschinski kroch in das Feld. Er versuchte mit seiner  schwachen Kraft, den Steinhaufen, der sich vor dem Rutschentrichter türmte, zu  bewältigen.
  Die Luft im Bergeversatz war sehr heiß und machte ihm  das Atmen schwer. Er war in Schweiß gebadet und klebrig von dem Steinstaub, der  sich dick auf seinen nassen nackten Körper setzte.
  Oben in der Strecke krachten die Wagen um. In der  Rutsche sausten ununterbrochen die Steinmassen herunter. Der Steinhaufen wurde  immer größer. Jaschinskis Hände waren schon längst wieder wund. Die Schippe  entfiel ihnen vor Ermattung.
  Die Rutsche schrammte und setzte aus, weil die Steine  zu hoch aufgelaufen waren. Jaschinski warf die Schippe beiseite, stierte den  Steinhaufen an und klagte: »Es hat keinen Zweck!«
  Der Steiger kroch zu ihm hin, sah, was los war. »Wenn  Sie wissen, dass Sie die Arbeit nicht tun können, dann hätten Sie noch feiern  sollen!« brummte er ärgerlich.
  »Ich kann ja nicht dafür, wenn mich der Arzt gesund  schreibt«, entschuldigte sich Jaschinski.
  Der Steiger schickte ihm einen zweiten Mann zur Hilfe,  sagte: »Aber nur heute, morgen müssen Sic zusehen, wie Sie allein fertig  werden. Ich hab keine Leute übrig!«
  Von der neunten bis zur achten Sohle war ein Blindschacht  durchgehauen worden. Die Förderung der oberen Teilstrecken ging durch den  Blindschacht. Die Leute der dort nächstliegenden Rutschen hatten es zum  Blindschacht bedeutend näher, mussten jedoch fünfzehn Eisenfahrten klettern,  weil die Seilfahrt auf dem Förderkorb für Leute verboten war.
  Jaschinski ging nach Schichtschluß mit den Kumpels  hin. Er stieg nach ihnen die rostigen Fahrten hinunter zu der neunten Sohle.  Nach den ersten drei Fahrten befiel ihn ein Zittern in den Knien, und es wurde  ihm schwarz vor Augen. Erschrocken klammerte er sich mit beiden Armen um die  Sprossen der Fahrten und wartete eine Weile, bis die Schwäche vorüber war.
  Als Jaschinski auf dem Förderkorb saß, nahm er sich  vor, die nächste Schicht nicht ohne den zweiten Mann zu arbeiten. Es war das  erste verzweifelte Aufflackern eines Widerstandes in ihm.
Die andere Schicht musste Jaschinski wieder klettern,  weil alle den alten Weg über den zweiten Bremsberg scheuten, der nach der  Katastrophe stillgelegt worden war.
  Die jungen Leute, die hinter ihm kletterten, trieben  ihn, weil ihm jeden Augenblick die Luft ausging und er mitten auf den Fahrten  verschnaufen musste.
  Er kletterte beiseite, ließ die Eiligen vorüber und  kam mit den letzten oben in der Förderschale an.
  Der Steiger hatte Wort gehalten, Jaschinski bekam  keinen zweiten Mann hinzu.
  Die Wühlerei begann wie bei der ersten Schicht. Die  durchgeriebenen Hände mussten sich erst wieder an die schwere Schippe gewöhnen.  Nach einer Stunde war Jaschinski so in Schweiß, als ob man ihn mit Wasser  begossen hätte. Die Rutsche wälzte unaufhörlich Steine herunter. Er schippte  immer- und immerzu. Staub verklebte ihm Augen und Kehle. Der Steinhaufen lief  immer größer an, behinderte die Rutsche, die zu holpern begann und aussetzte.
  Sofort wurde oben an der Kippe in der Strecke ungeduldig  geklopft. Jaschinski quälte sich mit den Steinen und zerstieß sich in der Eile  die Ellenbogen am Gestein, bis ihm das Blut herunterfloss. Das Klopfen oben  wurde hartnäckiger, hielt so lange an, bis die Rutsche wieder in Gang war.
  Nach zehn Minuten lag wieder ein großer Haufen Steine  vor dem Trichter.
  »Gottverdammich!« fluchte Jaschinski verzweifelt.
  Rrrammm - rrrammm - rrramm schrillte die Rutsche, dass  Jaschinski der Kopf zu platzen drohte, bäumte sich wie ein Riesenwurm oberhalb  des Trichters und schlug gegen das mürbe hangende Gestein, bis das ganze  Rutschfeld zu Bruch zu gehen schien. Die Rutsche wurde stillgelegt, bis  Jaschinski die Steine fortgeworfen hatte. Er holte ein wenig Atem, hatte das  Empfinden, als verbrenne er innerlich.
  Schrapp - schrapp - schrapp rappelte die Rutsche von  neuem los.
  Jaschinski warf einen flüchtigen Blick auf die Taschenuhr,  die er auf einem Holz hängen hatte. Es war erst vier Uhr nachmittags. Er hatte  noch fünf Stunden zu schippen. Sein Leib klebte voll ekelhaftem Brei, seine  Zunge war vor Durst geschwollen. Die Augen brannten vom Schweiß, der ihm von  der Stirn hineinlief. Die Haut an den Händen riss. Das rohe Fleisch brannte.
  Rrammm - rrrammm schrammte schon wieder die Rutsche.
  Bamm - bamm schlug sie gegen das Hangende, bis das  ganze Gestein erschauerte, und die Hölzer herum zerbrachen.
  Jaschinski hockte allein, zum Sterben ermüdet, in der  kreischenden und dröhnenden Staubhölle und wünschte sich, er wäre im  Krankenhaus krepiert. Er verfluchte den Arzt, der ihn für die rasende  Schufterei gesund geschrieben hatte. Das half ihm jedoch alles nichts, die  Rutsche wälzte Steine herunter, und er musste, wie ein Hund mit hängender  Zunge, schippen, schippen und nochmals schippen.
  Er nahm immer weniger Steine auf die Schaufel; denn  sie wurde für ihn schwerer und schwerer. Der Lärm der Rutsche machte ihn  verrückt. Hielt die Rutsche, rauschte und schrillte es in seinem Schädel weiter  fort.
  Die zweite Schicht war zu Ende. Als Jaschinski aus der  Rutsche herausgekrochen kam, waren die Kumpels schon vorausgegangen. Er zog  sich an und stolperte hinter ihnen her. Beim Laufen ergriff ihn ein Schwindel.  Er musste sich hinsetzen.
  Am Blindschacht sah er die Lampen der Kumpels in den  Fahrten verschwinden.
  »He, Kumpels, wartet doch!« rief er.
  Sie hörten ihn noch und riefen zurück. »Komm, beeil  dich!«
  Jaschinski begab sich auf die Fahrten. Die Knie  knickten unter der Last seines Körpers ein.
  In seinem Kopf strudelte es. Er klammerte sich  erschreckt an die Sprossen. Die Schwärze vor seinen Augen wurde
  Feuer. Beim Tieferklettern empfand er, als ob sich die  Sprossen unter seinen Füßen fortbewegten.
  »He! Kumpels!« begann er zu schreien.
  Die Kumpels waren schon unten auf der neunten Sohle.  Dumpf und undeutlich vernahm er ihre Stimmen. Er kletterte vorsichtig weiter.  Auf der vierten Fährte versagten ihm die Knie. Er hing, die Brust von Angst  zusammengeschnürt. Alles begann um ihn zu kreisen. Oben erschienen einige  Lichter, Kumpels eines anderen Kohlenbetriebes, Jaschinski hörte sie, wollte  nachpacken - griff mit den Händen neben die Sprossen, überschlug sich und  sauste hinunter. Er schlug auf eine Eisenbühne auf.
  
  Der Arzt hatte bei der Untersuchung der Leiche  Herzschlag festgestellt. Die Ursache dazu wäre Herzfehler älteren Ursprungs  gewesen, meinte er.
  Frau Jaschinski hatte den Arzt verächtlich angesehen.  »Ihr seid alle gleich!« sagte sie.
  Die folgenden Tage waren wie Steine, die hart auf sie herab  schlugen. Aber sie weinte nicht. Hart und grob wurden ihre Worte. Sie begab  sich zu Böß hin. Der wurde sehr unruhig, als sie sein Büro betrat.
  »Was wünschen Sie?« fragte er.
  »Sie haben meinen Mann in den Tod getrieben. Sie sind  ein Mörder!« rief sie. »Das wollte ich Ihnen sagen!«
  Böß sprang empört auf. »Verlassen Sie sofort das  Büro!« »Ich bin ohne Brot!« kreischte sie.
  »Sie bekommen Rente. Gehen Sie, ich habe keine Zeit!«  entgegnete Böß.
  Frau Jaschinski schrie: »Das weiß ich, für uns habt  ihr keine Zeit mehr, wenn ihr unsere Männer zugrunde gerichtet habt!«
  Böß fasste sie am Arm und schob sie zur Türe hin. Da  verkrallten sich ihre Hände in seinen Hals und würgten ihn. Er riss sich  gewaltsam los und stieß sie zur Tür hinaus.
  Jetzt saß sie jeden Tag an ihrem Fenster, wenn die Männer  von der Schicht kamen. Wenn sie Böß sah, zitterte sie vor Hass. Sie überlegte,  wie sie ihn am empfindlichsten kränken oder verletzen könnte. Sie hatte schon  daran gedacht, einem seiner Kinder, die unweit vor ihrem Hause spielten, ein  Leid zuzufügen, es zu erwürgen oder ihm sonst etwas anzutun. So tief wurzelte  in ihr der Hass gegen diesen Mann.
Es war hoch im Herbst. In den Gärten der Kolonie wurde  es kahl. Hier und dort zupfte eine Ziege an dem wenigen Grün und an dürren  Kohlstümpfen.
  An einem Morgen lief flink und mit gerötetem Gesicht  ein junges Weib durch die Franzstraße, nahm aus einer braunen Tasche Zeitungen  und steckte sie unter die Türen.
  »He, langsam, Lotte!« rief Dränger aus seinem Fenster.
  »Immer wie 'n Dzug!« lachte die Frau und verschwand  wieder in einem Haus.
  Lotte Burmeister trug die kommunistische Zeitung aus.  Sie wohnte unten am Schlackenberg in einer alten, baufälligen Bude. Vor  einigen Wochen hatte sie den Jakob Dinta, mit dem sie drei Jahre lang zusammen  gewirtschaftet hatte, raus gejagt; denn Dinta soff und hatte ihr an dem letzten  Tag die Möbel zerschlagen. Nun bewohnte sie allein die beiden engen,  verräucherten Räume.
  Lotte verlor nicht den Mut, denn sie hatte sich im  Leben schon viel schlimmer durchhauen müssen. Wohl hatte es bei der Trennung  von Dinta in ihrem Innern einen schmerzlichen Riss gegeben, denn drei Jahre  Zusammenleben mit einem Menschen binden auch dann, wenn der eine oder der  andere nicht das war, was man sich unter einem verträglichen Menschen  vorstellte.
  Dinta war in seiner Trunkenheit wüst und roh. Lotte  hatte in den Tagen, in denen er seine Sauftour bekam, viel auszustehen. Bis sie  es endlich satt bekam.
  Lotte war mit dem Zeitungaustragen fertig und schritt  den Weg hinauf, der sich an den Schächten entlang wand.
  Hinter den Schächten lag die Steinhalde. Sie betrat  ihre Wohnung und warf den Mantel und die Zeitungstasche ab. Dann ging sie ans  Aufräumen.
  In dem Haus wohnte der arbeitslose Rogger. Roggers  Frau ging jeden Abend in die Stadt und verdiente zu der Wohlfahrtsunterstützung  ihres Mannes ein paar Mark hinzu.
  Lotte wischte gerade den Tisch ab, als Frau Rogger in  ihre Stube trat. Frau Rogger konnte den ganzen Tag von ihren nächtlichen  Abenteuern erzählen. Auch jetzt hatte sie sichtlich was auf dem Herzen. »Es  wird immer schlechter, Lotte«, begann sie. »Man kann sich die Beene in den Hintern  stehen, die Männer haben einfach keene Marie, weißte. Da mäckt keen Minister  wat dran!« Sie lachte. »Heute morgen hab ich mal Schwein gehabt, hab eenen  mitgebracht, 'nen Ferkelhändler; besoffen wie 'ne Sau, natürlich; nun pennt er  mit meinem Ollen im Bett!«
  Frau Rogger wurde noch vertraulicher. »Ich muss das  Aas mal auf 'n Arm nehmen, der hat die Patte voll, sag ich dir!«
  In ihrer Wohnung erhob sich ein Grunzen. Sie lauschte  durch die offene Tür hinüber. »Ich muss aufpassen, dat sich die beiden nich  beißen!« sagte sie. »Wat möckste, wenn die Kerls nichts mehr verdienen?« fuhr  sie entschuldigend fort, als sie in Lottes Gesicht Widerwillen bemerkte.
  Rogger musste Bier holen, das hörte Lotte. Frau Rogger  brachte ihre beiden Kinder in Lottes Stube und ging mit dem Händler ins Bett.  Die Kinder hatten große Tüten mit Bonbons, von denen sie mit schmutzigen  Fingern aßen.
  Drüben bei Roggers wurde tüchtig getrunken. Nachmittags  kam die Frau zu Lotte herein. Sie schwankte. »Ich bin wieder kanonenvoll,  Lotte, wat sagste dazu. Mein Gott, mäck doch nich son blödes Gesicht, Mädel;  der eine verdient seine Marie mit dem Maul oder mit seinen Händen; ich verdien  sie mit meinem Hintern. Was is denn viel dabei, ha?« Sie schüttelte sich vor  Lachen.
  »Komm mal 'nen Augenblick mit bei mich rein, es geht  lustig zu, Lotte, der Kerl will Weiber sehen, dann rückt er erst recht mit den  Kröten raus!«
  Lotte wehrte ab.
  »Ach ich weiß, wir sind dich nicht koscher genug!«  sagte Frau Rogger ärgerlich, »Mensch, Lotte, bist du eine blöde Trine!« Sie  schwankte hinaus.
  Lotte hatte die Kinder in ihr Bett gelegt, hieß sie  schlafen und verließ ihre Wohnung. Sie hatte eine Versammlung. Es dauerte bis  in die Nacht. Als sie heimkam, war es in Roggers Wohnung still. Sie hörte  Schnarchen.
  Lotte zündete ihre Petroleumlampe an und nahm sich ein  Buch vor. Sie wartete.
  In der Versammlung war beschlossen worden, nachts Plakate  zu kleben. Auf allen Zechen im Ruhrgebiet gärte es, und es drohte, mit den  Zechenbesitzern zu einem Zusammenstoß zu kommen. Nicht nur, dass in den Pütts  jeden Monat die Löhne reduziert wurden - die Zechenbesitzer hatten nach Ablauf  des Tarifabkommens zwölf Prozent Lohnabbau als Forderung aufgestellt. Darüber  fanden Verhandlungen mit den Gewerkschaftsführern statt, von denen jedoch die  Kumpels wussten, dass sie nichts Besseres brachten. Der Streik war  unvermeidlich.
  Um zwei Uhr nachts klopfte jemand an Lottes Fenster.  Sie war ein wenig eingenickt, sprang aber sofort auf, als sie das Klopfen  hörte. Draußen standen Dränger und Scheck mit einigen Männern.
  »Kommst mit, Lotte?« fragte Dränger.
  »Sicher!« sagte Lotte und rieb sich den Schlaf aus den  Augen.
Frau Krämer entriss sich als erste dem  niederdrückenden Brüten. Sie hatte ihren Mann verloren, doch sie sah ein, dass  es nichts nützte, sich damit länger zu quälen. So schüttelte sie mit Gewalt das  lähmende Grübeln von sich, ging wieder hinaus vor die Tür ihres Hauses und  suchte Menschen, mit denen sie sich unterhalten konnte.
  Sic traf Marie Plaschewski, die mit gesenktem Blick an  ihr vorübereilen wollte, und rief sie an. Marie blieb, brennendrot im Gesicht,  stehen und sah sie unsicher an.
  »Wie geht es deinem Mann?« fragte die Krämersche.
  »Er sitzt noch immer in Untersuchung!« erwiderte Marie  und sah an der Krämern vorbei.
  »Tröste dich mit mir, ich bin auch gestraft genug!«  sagte die Krämersche. Marie wurde gesprächig, als sie merkte, dass die andere  nicht mit Vorwürfen kam. Sic erzählte, was sie alles durchgemacht hatte und dass  sie vom Wohlfahrtsamt leben musste, das so bitter wenig hergab.
  Die Wochen, in denen sie sich vor den Blicken der anderen  verbergen oder scheu ducken musste, hatten scharfe Spuren in ihr Gesicht  gegraben. Es war blass und schmal geworden, und die früher lebensfrohen Blicke  forschten unruhig in dem Gesicht der Nachbarin.
  »Warum versteckst du dich denn so?« tadelte die  Krämer. Und als Marie schuldbewusst ihren Kopf senkte: »Du bist dumm, es hätt  dich niemand wat getan!«
  »Dat sagst du so«, entgegnete Marie beklommen, »ich  weiß doch, dass nicht alle so denken wie du!«
  Ihr Gespräch lockte einen grauen Kopf ans Fenster. Die  alte Ragnitzki. Sic hörte eine Zeitlang den beiden zu und hüstelte, um sich  bemerkbar zu machen.
  »Wat meint ihr, Frau Ragnitzki«, wandte sich die  Krämer zu ihr, während Marie beim Anblick der Alten wieder die Glut ins Gesicht  schoss. »Die Marie dachte, wir hätten sie gemieden; als ob wir nicht unser  eigen Kreuz hätten!«
  Frau Ragnitzki seufzte. »Hätt ich dat geahnt, dat es  so kam, dann hätt ich dem Kerl kein Wort von die Geschichte erzählt, Marie!«
  »Einmal hätt er es doch erfahren«, entgegnete Marie,  die noch immer zu Boden sah, »ich war schuld, dass ich mich drauf eingelassen  hab!«
  Gemeinsames Unglück spült manches Hässliche fort. Maries  Tat, die anfangs den anderen so abscheulich und verwerflich erschienen war,  erschien ihnen jetzt verständlich und entschuldbarer. Das schamhaft gesenkte,  verängstigte Gesicht der hart gestraften Frau rührte die alte Ragnitzki, die  sich ihr nun vollends zuwandte. »Du bist recht herunter, Mäken«, sagte sie  besorgt, »hast wohl nichts zu beißen?«
  »Wat 'ne Frage!« antwortete statt Marie die Krämer.  »Wat gibt denn die Wohlfahrt für 'n Geld her?«
  »Achtzehn Mark die Woche, mit drei Kindern!« erklärte  Marie, »davon muss ich aber die Miete zahlen!«
  »Du kannst mal deine Blagen rüberschicken«, sagte die  Ragnitzki, die angestrengt nachgedacht hatte, »ich koch ein paar Löffel voll  mehr, dann könn'n sie mitessen!«
  Marie machte Einwände.
  »Sei doch nicht so blöde, Mensch!« entrüstete sich die  Krämer. »Schickst die Kinder hin und damit fertig!« »Mir gleich!« sagte Marie  zu.
  »Und dann hockst du nicht wieder so allein in deiner  Bude, kommst zu mir rüber. Wirst ja dösig, wenn du den anderen Menschen aus dem  Weg gehst!«
  Marie erhob ihren Kopf und sah erleichtert in die gutmütigen  Augen der Nachbarin. »Und trägst mir wegen der Geschichte nichts nach?«
  »Was gewesen ist, ist gewesen«, wehrte die Krämer energisch  ab, »es kann dem besten Menschen vorkommen, wat dich passiert ist. Komm nur  rüber!«
  Marie machte ein glückliches Gesicht, als sie weiterging.
  »Armes Luder!« seufzte die alte Ragnitzki.
  »Dem Kerl knallen sie bestimmt ein paar Jahre auf!«  meinte die Krämer.
  »Sie sollen lieber die Bande einsperren, die unsere  Männer in den Tod gejagt hat!« fuhr ihr die Ragnitzki ins Wort.
  Die Breimann kam herbei. »Was habt ihr?«
  Die Ragnitzki wiederholte: »Den armen Teufel sperren  sie ein, und für die Treiber unserer Leute findet sich kein Gericht!«
  »Wer 'n Sack voll Geld hat, der findet auch gnädige  Richter!« warf die Gleich ein, die aus einem oberen Fenster zugehört hatte.
  Immer mehr Frauen kamen herbei und machten ihrem bedrängten  Herzen Luft.
  So fanden sie sich jeden Tag.
  Bontzeck sah, dass die Frauen nach dem Tode ihrer Männer  ohne Freude waren. Er zog eines Morgens unterm Bett seinen verstaubten Kasten  hervor, in dem seit langer Zeit das Bandonion unberührt gelegen hatte, strich  mit behutsamen Händen den Staub fort und probierte an den Tasten.
  »Mein Gott, der Bontzeck spielt!« entsetzte sich die  Breimann und kreuzte die Hände über der Brust.
  Bontzeck spielte von nun an jeden Morgen, bevor er zur  Mittagsschicht musste. Begann er nicht zur gewohnten Zeit, sahen die Frauen  ungeduldig zu seiner Wohnung hinauf.
  »Ich hör so gern Musik!« sagte die Ragnitzki eines  Tages, und ihr Gesicht entspannte sich.
  »Wir haben genug geheult!« meinte die Krämer. Sie zog  sich sonntäglich an und ging in die Stadt, versuchte so, dem wiederkehrenden  Gram zu entgehen. Sie nahm die Marie mit, mit der sie sich mehr befreundete.
  So kam nach furchtbaren Tagen nach und nach Leben unter  die vom Unglück heimgesuchten Einwohner der Kolonie.
  Die Trauer milderte sich, doch nicht der Hass; denn  drüben die Schächte bargen Männer und Söhne, die morgens und mittags  einfuhren, um Kohle zu hauen.
Es war der dreiundzwandzigste November. Auf Zeche  »Hoffnung« war Lohntag. Steiger Bein brachte die Lohnbücher und  Abschlagscheine in die Grube, da beides, Restlohn und Abschlag, vom letzten  Monatsdrittel zugleich ausgezahlt wurde.
  Warneck besah beim Lampenlicht sein Lohnbuch. »Dat  ahnte eck!« rief er empört. Unter der Summe fünfundzwanzig Mark dreißig stand  ein blau unterstrichenes »Bleibt schuldig«. Auf dem Vorschussschein hatte er  vierzig Mark.
  Dränger hatte mehr Glück. Er bekam achtzehn Mark  fünfundsiebzig an Lohn heraus; dafür bekam er aber nur fünfunddreißig Mark  Abschlag.
  Plenge, der bei dem Unglück mit leichteren Brandwunden  davongekommen war, war seit vierzehn Tagen wieder eingefahren. Er bekam noch  keinen Lohn und nur zwanzig Mark Abschlag.
  »Sie konnten mir doch mehr Abschlag schreiben!« wandte  sich Plenge erregt an Bein.
  »Sie arbeiten ja erst ein paar Tage!« erwiderte Bein.
  »Ich habe über zehn Schichten gemacht!«
  »Ein Teil muss für die Abzüge verbleiben!« sagte Bein.
  »Gottverdammich«, fluchte Plenge, »dann konnten Sie  auch noch die zwanzig Mark fressen!«
  »Wenn es Ihnen nicht passt, bitte!« meinte Bein und  zeigte nach der Sohle hinunter.
  »Mehr können Sie auch nicht, als Leute brotlos  machen!« grollte Plenge.
  »Fördern Sie jetzt Kohle!« herrschte ihn Bein an.  »Sonst gehn Sie aus der Rutsche!«
  »Du!« Plenge kroch näher zu ihm heran. »Ich bin's  satt, sag ich dir!« Seine Hand griff nach dem schweren Hammer.
  Bein sah es und nahm seine Lampe. »Plenge, seien Sie  vernünftig!« schrie er erschrocken, denn in Plenges Augen brannte die Wut.
  »Hunde verfluchte!« keuchte Plenge und warf den Hammer  fort. »Treibt es nur weiter so, dann erlebt ihr was!«
  Bein kroch fort.
  »Wir sind Idioten!« tobte Plenge. »Ich tu keinen  Schlag mehr!« Er schleuderte seine Schippe beiseite und kroch zu Dränger hin.  »Du, Dränger, wollen wir das alles so hinnehmen, ohne die Fresse aufzumachen?«  fragte er wild.
  Dränger war es nicht minder satt. Sie beratschlagten.  Die Kumpels waren alle unzufrieden. Es bedurfte nur eines Anstoßes, und die  zurückgehaltene Empörung brach durch.
  »Geh, ruf die Kumpels hierher!« sagte Dränger und ging  zu Scheck.
  Fiedler, der am nächsten arbeitete, kam zuerst. »Was  ist denn los, Dränger?«
  »Wir haun die Brocken hin!« sagte Scheck.
  »Mach nur keinen Blödsinn!« warnte Raschewski, ein  furchtsamer älterer Hauer. »Man kündigt uns alle. Böß wartet ja nur drauf!«
  »Willst du denn hier in dem Dreck krepieren?« fragte  Plenge.
  »Was habt ihr denn?« fragte Worbas, der schwitzig  herankam.
  »Es muss etwas getan werden«, erklärte Dränger, »das  geht auf keinen Fall, dass man uns hier für die Ochsenarbeit mit den paar Mark  Abschlag nach Hause schickt!«
  »Macht keine Dummheiten, Kumpels!« warnte Raschewski.
  »Halt die Fresse!« zürnte Plenge. »Wenn du für das  Geld schuften willst, dann schufte, aber nicht hier! Hier wird erst Ordnung  gemacht!«
  »Ihr macht gar nichts!« mischte sich Pielka ein. »Was  wollt ihr denn anfangen? Streiken? Na, einer macht mit, der andere nicht, schon  ist die Karre aus!«
  Sie umringten Dränger und Scheck. »Was meint ihr? Mit  den paar Mann schaffen wir genau nichts!«
  »Wenn wir sofort zupacken, ja!« erklärte Scheck.
  »Gehst du mal nach der zwölften Rutsche?« wandte sich  Dränger zu Plenge.
  Plenge nahm seine Lampe und kroch hinauf.
  »Wenn die anderen Kumpels mit einverstanden sind, dann  bin ich dafür, dass wir die Brocken hinhauen!« sagte Warneck.
  Worbas saß stillschweigend da. Er hatte Bedenken.
  »Was meinst du, Worbas?« fragte Dränger.
  »Es ist mir nicht recht, wenn die ganze Belegschaft  nicht hinter uns steht«, sagte Worbas, wurde aber von Fiedler brüsk unterbrochen:  »Einer muss doch anfangen!«
  »Meinetwegen!« sagte Worbas.
  Sie warteten, bis Plenge zurückkam. Plenge hatte die  zwölfte und die achte Rutsche rebellisch gemacht. Die Kumpels machten mit,  wenn die neunte Rutsche streikte.
  »Entschließt euch!« sagte Dränger.
  Sie beschlossen, den nächsten Tag zu streiken.
  Ein verzweifelter Entschluss, aber es musste was unternommen  werden. Auf der Mittagsschicht hatte sich ein Lehrhauer durch das Treiben des  Steigers schwer verletzt, ein Bein gebrochen und den Schädel an mehreren  Stellen aufgeschlagen.
  Am Schacht bei der Seilfahrt fanden kurze Besprechungen  der Kumpels statt. Auch unterwegs im Querschlag und bis vor die Gezähekisten.  Die Hauer schüttelten die Köpfe. »Es gelingt nicht! Wenn alle mitmachten, dann  wohl!«
  Es war schwer, sie zu überzeugen. Die von der Rutsche  zwölf, Rutsche acht und ein Teil der Rutsche sechs sagten, wenn auch mit  einiger Scheu, zu, einen Versuch zu machen.
  Es wurde vereinbart, vor Ort zu gehen, aber keine  Schippe und Lufthacke anzurühren.
  Bein wartete unten in der Förderstrecke, sah' empört  auf seine Uhr, weil plötzlich eine Rutsche nach der anderen zu fördern  aufhörte.
  »Verfluchte Schweine!« Mit einigen Sätzen war er im  zweiten Bremsberg und schoss in die neunte Rutsche hinein. »Was ist hier los?  Warum geht die Rutsche nicht?«
  Er sah verbissene Gesichter.
  »Los, die Rutsche in Gang!« brüllte er und schlug  gegen die Leitung. Die Rutsche stand. »Was fällt euch ein?« Er begriff nicht,  stierte den Hauer an. »Was ist los?« -
  »Zu wenig Gedinge!« rief ihm einer von unten zu.
  »Was? Wer hat das gerufen?«
  »Wir sind die Dreckmaloche satt!« -
  Bein rutschte hinunter und suchte den, der das gerufen  hatte. Die Hauer saßen überall untätig. Er merkte endlich, was los war, und  bekam Angst wegen des Förderausfalls. »Los doch, zum Donnerwetter! Geht an die  Kohle! Ich will mir wegen euch nicht die Fieppen geben lassen!«
  »Wenn das Gedinge anders gestellt ist und die  Treiberei aufhört!« meldete sich Scheck, der schon vorhin die Zurufe gemacht  hatte.
  »Ach so, Sie sind's!« Bein riss sein Buch aus der  Tasche. »Sie haben mir die Geschichte angedreht?« Er schrieb einen Wisch, riss  ihn aus dem Buch, reichte ihn Scheck hin und brüllte: »Raus aus der Rutsche!«
  »Deshalb geht die Förderung noch immer nicht rund!«  rief einer von oben.
  Bein stierte mit erhobenem Licht hin.
  Der Muralla kam schwitzig und ohne Atem von unten.  »Rutsche sechs streikt!«
  »Was?«
  »Die Kumpels fördern nicht!« Bein erstickte fast vor  Wut. »Sie sind ein Narr!« »Was soll ich denn tun, wenn sie nicht anfangen?«  wehrte sich Muralla.
  Bein rannte davon. Muralla hinterher. Die Hauer in den  Örtern lachten und krochen zueinander.
Bein begab sich in die neunte Rutsche. Die Hauer  hockten in ihren Örtern und schlugen keine Kohle. Die Rutsche stand. Es war  eine fremde Stille, in die Bein hinein brüllte. Die Hauer fuhren aus ihrer  abwartenden Ruhe erschreckt auf und griffen in der ersten Verwirrung nach ihren  Werkzeugen.
  In dem Augenblick hüpfte noch ein rotes Licht das Feld  hinauf. Bein, der den Fahrsteiger Benzberg erkannte, wurde noch verrückter.  »Was ist hier los?« fragte Benzberg.
  »Ich weiß nicht, was den Kerlen eingefallen ist!«  berichtete Bein in höchster Erregung.
  »Wegen dem dicken Abschlag«, kam eine Stimme aus einem  Kohlenloch.
  »Ha, der verfluchte Schweinekerl, der Plenge!« schrie  Bein. »Der ist schuld!«
  Benzberg schnaubte los: »Raus mit dem Schwein aus der  Rutsche. Wo steckt er denn?«
  »Hier ist er!« meldete sich Plenge.
  »Auf der Stelle raus!« brüllte ihn der dicke Benzberg  an und kroch bis dicht vor Plenge hin. »Sie sind entlassen!«
  »Ho, langsam!« warnte Plenge.
  »Raus, sonst geschieht was!« schrie Benzberg.
  »Was geschieht denn, he?« brauste Plenge auf. Seine  Hände umspannten mit einem Griff den vorgestreckten Hals, ein Ruck, und der  dicke haarlose Schädel schlug in den Kohlenhaufen, schlug, von Plenges wütenden  Fäusten gestoßen, immer wieder hinein, dass es aufstäubte.
  Benzberg jedoch besaß breite Knochen und nicht minder  Kräfte, er war nur durch das plötzliche Zupacken überrumpelt worden. Nun  griffen seine wulstigen Hände zu, verkniffen sich in Plenges nacktem Fleisch,  rissen die Haut auf. Sein schwerer Körper schwang sich über den kleineren,  leichteren des Hauers. Plenge kam zuunterst zu liegen, er hielt aber die Kehle  fest und würgte. Er stieß mit den Beinen am Flöz ab, ruck - lag er wieder  obenauf. Mit der Linken drückte er dem schnaubenden Benzberg die Kehle zu und  schlug mit der Rechten wie mit einem Hammer in das unter ihm sich blähende  Gesicht. »Du Hund! Das, das und dies, für die Maloche und die zwanzig Mark  Abschlag, du verfluchtes Aas!«
  Benzberg heulte und keuchte. Plenge ließ ein wenig  locker. Mit einem Ruck entriss sich Benzberg seinen Händen, schnappte seine  Lampe und floh ohne Lederkappe und ohne Meterstock in das untere Rutschenfeld.
  Plenge sah ihm mit einem verzerrten Lachen nach. »So,  nun kann er mich entlassen, ich weiß wenigstens, wofür!«
  Die Hauer der bestreikten Rutschen hatten bis zur  halben Schicht durchgehalten. Bein war zum Schacht gelaufen und hatte Böß  telefonisch berichtet, was in seinem Revier vorgefallen war.
  Böß rannte nach der Waschkaue hin, zog sich im Galopp  um und fuhr ein.
  Bein wartete unten am Schacht.
  »Sic sind blödsinnig geworden!« fuhr ihn Böß an. »Wie kommen  die Leute dazu, die Förderung stillzulegen? Weil Sie dösen!«
  Bein suchte nach einer Entschuldigung.
  »Sie fliegen, drauf wett ich!« schnaubte Böß und lief  ins fünfte Revier. Bein keuchte hinterher.
  Sie waren in der zwölften Rutsche. Böß übersah sofort  die Geschichte. Die Mienen der Hauer waren nicht danach, sich noch mehr bieten  zu lassen. Zudem hatte Bein von der Prügelei zwischen Benzberg und Plenge  erzählt.
  Das bewog Böß, vorsichtiger zu sein. Er brüllte nicht  gleich los, wie er es vorhatte, sondern ließ die Hauer zusammenrufen.
  »Warum fördern Sic nicht?« fragte er. Es klang sehr  vernünftig.
  Die Hauer erklärten ihm, warum sie nicht fördern wollten.  »Die Arbeit ist schwer und gefährlich und der Lohn immer schlechter!«
  Böß war ein Fuchs. Er wurde freundlicher und  versprach, sofort alle Maßnahmen zu treffen, um die Geschichte zu prüfen. »Wenn  Sie sich zu beschweren haben, dann kommen Sie bitte zu mir ins Büro! Dort kann  man die Sache ruhiger regeln! Die Dummheit, die Sie heute gemacht haben, kostet  uns Tausende Mark! Den Schaden haben Sie!« betonte er zum Schluss.
  Die Hauer sahen sich an. Ein Teil war eingeseift und  begab sich an die Kohle. Die übrigen mussten mit. So war der Streik in Rutsche  zwölf zu Ende.
  »Sic sehen es«, trumpfte Böß gegenüber Bein auf, »so  wird's gemacht. Die Leute lassen schon mit sich reden!«
  Auch in der neunten Rutsche wurden die Hauer zusammengeholt.  Böß erkundigte sich nach der Ursache des Streiks. Dränger sagte das gleiche,  was man in Rutsche zwölf gesagt hatte. Auch hier versprach Böß nachzuprüfen.  Dränger forderte schriftlich, dass das Gedinge höher gestellt werde.
  Böß wurde grob. »Wenn die Förderung nicht binnen fünf  Minuten im Gange ist, sind Sic alle entlassen!«
  Er legte sich hin und wartete, die Uhr in der Hand.  Die Hauer sahen sich an. Einer ging, der zweite ging, der dritte, der vierte.  Dränger zitterte vor Ärger. »Verflucht noch mal, lassen sich bluffen!«
  »Na!« sagte Böß und hielt ihm die Uhr hin. »Sie besinnen  sich recht lange!«
  Dränger musste nachgeben, sonst waren ihm die Papiere  sicher. Böß kroch in Plenges Kohlenort.
  »Und Sie verschwinden sofort aus der Rutsche!«
  »Langsam!« sagte Plenge.
  Böß wartete weit von Plenge ab, bis der aus seinem  Loch und aus dem Rutschenfeld herausgekrochen war.
  Niemand konnte jedoch verhindern, dass die Kumpels von  dem kurzen Widerstand erfuhren. Man wusste, auf Zeche »Hoffnung« war dicke  Luft.
  Und dicke Luft war an der ganzen Ruhr. Über einhundert  Zechen, in denen sich die Kumpels gegen die gesteigerte Förderung, gegen die  Kündigungen und die immer schlechter werdenden Löhne auflehnten.
  In Essen bildete sich nach einer Konferenz der  Schachtdelegierten ein vorbereitender Zentraler Kampfausschuss.
  Der Kampfausschuss erließ an die Ruhrkumpels und an  alle benachbarten Kohlenreviere Aufrufe:
  »Jeder Anschlag auf den Lohn der Bergarbeiter, sei es  durch Schiedsspruch oder ohne Schiedsspruch, wird mit Streik beantwortet.«
  Die Kumpels von Zeche »Hoffnung« bedrängten nun Dors  Reger. Reger sollte eine Belegschaftsversammlung abhalten. Reger besprach sich  mit den anderen Betriebsräten; berief eine Belegschaftsversammlung ein. Er  bestellte dazu einen Sekretär des Bergarbeiterverbandes, der sich auf einen  Vortrag über Öl- und Kohleverwertung eingestellt hatte.
  Die Kumpels der RGO stellten den Antrag, er solle zu  den Lohnverhandlungen  sprechen.  Der Referent lehnte es ab mit der Begründung, die Kumpels wären schon so  gereizt, dass man das Thema ruhig lassen könnte, bis die Verhandlungen  getätigt wären. Das war das Signal, den Sprecher nicht mehr zu Wort kommen zu  lassen. Die Kumpels übernahmen darauf selbst die Versammlung. Reger, der  bremsen wollte, musste hören, dass fast alle Kumpels für den Streik waren.
  Böß hatte herausgefunden, dass die gefährlichsten RGOnester  in den Kohlenrutschen des fünften Reviers waren. Er versuchte, mit einem Schlag  die RGO dort unschädlich zu machen.
  Am vierzehnten Dezember fuhr er ein, nahm Bein mit und  besuchte die Kohlenrutschen neun und zwölf. Die Hauer wurden zusammengeholt,  und Böß machte ihnen bekannt, dass die Betriebsleitung gezwungen wäre, die  beiden Kohlenbetriebe wegen Unrentabilität einzustellen. Da es keine  Möglichkeit gäbe, die Hauer in anderen Arbeiten unterzubringen, weil alles  überfüllt sei, müsse er allen kündigen!
  Der Kumpels bemächtigte sich starke Unruhe. Böß  bemerkte es.
  »Es ist nur in einem Falle möglich, Sie länger zu  beschäftigen: Wenn Sie bereit sind, die Solleistung in den Rutschen um  mindestens zwanzig Wagen pro Förderschicht zu erhöhen!«
  »Das ist doch der pure Blödsinn!« sagte Fiedler. »Wir  können ja so nicht mehr hinten hoch. Zwanzig Wagen mehr - das grenzt schon an  Verrücktheit.«
  »Wer damit einverstanden ist«, unterbrach ihn Böß,  »der kann sich bei mir im Büro melden! Wem's nicht passt, dem muss ich  kündigen!«
  Er ließ die Hauer in größter Bestürzung zurück. Sie beratschlagten,  konnten aber keinen Ausweg finden.
  »Er will uns auf eine billige Art loswerden!« sagte  Warneck.
  »Wir dürfen auf keinen Fall auf seine Bedingungen eingehen!«  warnte Dränger, der wusste, warum Böß so vorging.
  »Mann, wenn wir's nicht tun, dann kriegen wir die Fieppen!«  murrte Raschewski.
  »Wir wollen mal bis morgen warten!« sagte Worbas.
  Am anderen Tage war ihre Kündigung - wegen Betriebseinschränkung  - vor der Markenbude öffentlich bekanntgemacht. Böß ließ den Gekündigten durch  Bein mitteilen, dass er bis Mittag warten werde, ob sie sich besonnen hätten;  wenn nicht, bleibe es bei der Kündigung.
  Worbas entschloss sich, mit Reger, trotz des  Widerwillens, den er gegen ihn hatte, zu sprechen.
  »Wenn es wegen Betriebseinschränkung ist, dann kann  ich nichts dran tun!« sagte Reger.
  »Du musst die ganze Belegschaft gegen diese Kündigung  aufrufen!« drängte Worbas. »Ich rate dir, wenn du dich vor den Kumpels nicht  ganz bloßstellen willst, tu es!«
  »Ich werd mich hüten!« sagte Reger. »Die RGO nutzt ja  jede Gelegenheit aus, ihren Streik zu predigen! Ich will eine  Belegschaftsversammlung nicht zum Tummelplatz von Parteiauseinandersetzungen  machen!«
  »Jetzt scheidet alles andere aus!«
  »Ich kann's aus den erwähnten Gründen nicht, versteh  mich doch!« Reger wand sich.
  Worbas ging recht enttäuscht nach Hause. Er schämte  sich für seinen Genossen.
  Reger hatte, trotz der Ablehnung einer Belegschaftsversammlung,  etwas unternommen. Er war zu Böß hingegangen und hatte für Worbas ein gutes  Wort eingelegt.
  Böß ließ Worbas zu sich bestellen.
  Worbas ging erstaunt hin.
  »Sie sind in der Rutsche neun?« fragte Böß.
  »Ja!«
  »Wie ist das, wollen Sie unterschreiben?« »Fällt mir  nicht ein!«
  »Seien Sie vernünftig, Worbas!« ermahnte ihn Böß freundlich.  »Ich gebe Ihnen Gelegenheit, sofort in eine bessere Arbeit zu kommen! Es ist  nur der Form halber, dass Sie unterschreiben!«
  »Ich hab kein Interesse daran, mir ins Gesicht spucken  zu lassen!« erwiderte Worbas.
  »Worbas«, Böß blieb auffallend ruhig, »Ihr  Parteigenosse Reger war hier und bat mich, bei Ihnen wegen Ihrer Familie  Rücksicht zu nehmen! Überlegen Sie sich's doch!«
  »Ich unterschreibe nicht!«
  »Also nicht?«
  »Nein!« sagte Worbas mit einer Miene, in der der Abscheu  zum Ausdruck kam. »Ich bin kein Verräter!«
  Böß lachte spöttisch. »Aber am ersten Januar  arbeitslos!« »Besser als ehrlos!«
  Worbas ging nach Verlassen des Büros noch mal zu der  Markenbude. Dort las er mit bitterem Grimm seinen Namen. Aber nachgeben -  nein!
  Raschewski jammerte Dränger die Ohren voll. Dränger  aber blieb dabei, nicht nachzugeben. Die RGO organisiere eine neue  Belegschaftsversammlung, erklärte er. Raschewski begab sich gegen elf Uhr  einen Ort höher zu Pielka und sagte dem, dass er sich entschlossen habe, zu  unterschreiben.
  »Du bist blödsinnig!« sagte Pielka.
  »Ich hab schon drei Jungen arbeitslos zu Hause  liegen!« entschuldigte sich Raschewski. »Wo soll dat hin, wenn ich auch noch  arbeitslos werde?«
  »Wir müssen abwarten, was die Versammlung beschließt!«  riet Pielka.
  »Die bringen doch nichts fertig!« jammerte Raschewski.  »Wenn ich flieg, muss ich auch noch aus der Koloniewohnung raus!«
  Pielka hatte auch eine Koloniewohnung, ein Stück Land  und einen Stall am Haus, in dem er jedes Jahr etwas Vieh gehalten hatte. Das  ging durch eine Zwangsräumung verloren. Diese Aussicht machte Pielka, auf den  Raschewski unermüdlich einredete, auch verrückt. Er nahm sich aber vor, erst  mit Reger zu sprechen.
  »Unterschreibe pro forma, es bleibt dir nichts anderes  übrig!« sagte Reger.
  »Mann, und die anderen Kumpels?«
  »Sie sollen unterschreiben, sonst kriegen sie ohne  weiteres am Ersten die Papiere!«
  Pielka wusste, als er Reger verließ, nicht mehr als  vordem. Er gab Raschewski nach und beschloss, mit zu unterschreiben.
  Dränger war sehr überrascht, als er hörte, dass Worbas  nicht unterschrieben hatte.
  »Was tun wir nun?« fragte Worbas.
  »Wir organisieren den Streik!« erwiderte Dränger. »Was  denn sonst?«
  »Aber sicher!« sagte Worbas.
  Die Kumpels, die unterschrieben hatten, rieten  Dränger, auch nachzugeben. Er lehnte es ab. »Den Gefallen tu ich Böß nicht!«
  Böß ließ ihn zu sich bestellen. »Na, Dränger, Sie  haben wohl keine Lust, zu unterschreiben?« »Nein«, entgegnete Dränger.
  »Dann sind Sie mit Ihrer Kündigung einverstanden?«
  Dränger stand vor einer harten Entscheidung. Er gab  aber nicht nach. »Nein, ich bin auch mit meiner Kündigung nicht einverstanden!«
  »Was wollen Sie dagegen tun?« fragte Böß verdutzt.
  »Wir werden streiken!«
  »Steht Ihnen frei! Schneiden Sie sich nur nicht dabei  in die Finger! Sie sehen ja, wie Ihnen die Kumpels folgen! Der beste Beweis ist  Ihre Rutsche!«
  Böß spielte mit empfindlichen Mitteln. »Ich rate  Ihnen, Dränger, lassen Sie Ihre Hände von solchen gefährlichen Geschichten, wir  leben in einer anderen Zeit als achtzehn!«
  »Das werden wir sehen!« sagte Dränger hartnäckig.
  »Hm!«
  »Die Kumpels sind's leid!«
  »Ich bin gespannt, Dränger, nur mal zu!« höhnte Böß.
In der Franzstraße der Kolonie stand ein Wagen mit  einem Überbau von grobem, braunem Leinen. Es war ein Zechenfuhrwerk. Marie  Plaschewskis Wohnung wurde durch ein paar Übertagearbeiter, die der neue  Wohnungsverwalter mitgebracht hatte, ausgeräumt.
  Den Wagen umstanden Kinder, die ihr Spiel in den Straßen  unterbrochen hatten. In den umliegenden Fenstern lagen Kumpels und Frauen. Ihre  Mienen waren ungehalten, denn man wusste, dass die Räumung nur ein Racheakt  gegen die Marie war. Die Wohnungsdirektion, bei der mehrere Beschwerden wegen  Belästigungen von Frauen durch den alten Wohnungsverwalter eingelaufen waren,  unternahm nichts gegen ihn, sie tauschte ihn nur gegen einen anderen um.
  Marie Plaschewski stand draußen am Wagen und half ihre  Möbel hinaufsetzen.
  Im jenseitigen Fenster lag die alte Ragnitzki.  »Siehste«, rief sie der Marie zu, »wenn du dich für die Schweine hinlegst,  dann sind sie zufrieden, wenn man ihnen aber eins auf die Dreckklauen haut,  dann hat man ausgedient!«
  Der Wohnungsverwalter, der aus dem Hause herauskam,  warf einen feindseligen Blick zu der Ragnitzki hinüber. Er wagte aber nicht zu  antworten, denn die anderen Einwohner warteten darauf, dass er was sagte, und  die Räumung hätte bestimmt einen anderen Verlauf genommen.
  Die Ludwigsgasse war ein verrauchter, dreistöckiger  Häuserzug. Der Verputz fiel in breiten Flächen von dem unterhöhlten Mauerwerk.
  Vor dem Hause Nummer dreiundzwanzig stapelten Männer  den Hausrat der Familie Meinert auf. Meinert war aus dem Gefängnis gekommen, wo  er wegen Kohlendiebstahl drei Monate abgebüßt hatte. Seine Familie lebte in  dieser Zeit sehr erbärmlich und war mit der Miete zurückgeblieben. Die  Wohnungsverwaltung, die Meinert beim Räumen der Koloniewohnung die Räume in der  Ludwigsgasse bereitstellen musste, hatte infolgedessen eine zweite Klage  angestrengt. Meinert wurde dazu verurteilt, die Wohnung zu räumen, ohne dass  Ersatzräume für ihn zur Verfügung standen.
  Meinert gab sich mit der Zwangsräumung nicht  zufrieden.
  Als Marie Plaschewski mit ihrem Hausrat ankam, liefen  die Leute der umliegenden Häuser vor dem Haus Nummer dreiundzwanzig zusammen.
  Im Treppenflur krachte es. Meinert warf Gegenstände  auf der Treppe zu Trümmer, um die Räumung zu verhindern.
  Der Wohnungsverwalter, der ins Haus gelaufen war, erschien  wieder auf der Straße und rief einen Polizisten heran.
  Aus dem Treppenflur waren Meinerts Toben zu hören und  die bittende Stimme seiner Frau.
  »Nehmen Sie ihn mit!« sagte der Wohnungsverwalter zu  dem Polizisten. »Der Kerl ist rasend, er belästigt meine Leute!«
  Die Leute, die herbeiliefen, wurden von dem Polizisten  zurückgejagt. Als der Polizist mit dem Wohnungsverwalter im Haus verschwunden  war, lief die Menge wieder hinterher und drängte in den Hausflur nach.
  Der Polizist und der Wohnungsverwalter warfen sich auf  Meinert und überwältigten ihn, weil er keine Kraft hatte, sich gegen die beiden  zu wehren. Unter Geschrei stob die Menge wieder auf die Straße; denn der  Polizist schleppte Meinert an einer kurzen Eisenkette heraus. Er hatte ihm die  Kette um das Handgelenk gedreht, und die Hand, der durch eine Drehung der Kette  das Blut abgeschnürt worden war, stach kalkweiß von dem blaugedunsenen  Handgelenk ab.
  Daraufhin wurde die Räumung fortgesetzt. Die Wohnung  wurde für die Marie Plaschewski frei gemacht.
  Es war der Lohntag vor Weihnachten. Die Kumpels standen  bei Kreibel an der Theke oder saßen an den Tischen, fluchten und überschrien  einander in der Erregung, denn die Abschläge waren beschämend klein.
  Frauen erschienen in der Wirtschaft und holten ihre  Männer. Sie wollten zur Stadt, um für die Feiertage einzukaufen. Es gab enttäuschte  Gesichter, als sie von ihren Männern hörten, was sie an Lohn herausbekommen  hatten.
  Dränger war nicht mit in die Wirtschaft  hineingegangen. Er ging mit Worbas und Fiedler nach Hause.
  »Es ist höchste Zeit, dass die Granate platzt!« sagte  Worbas finster, als sie sich trennten. Er hatte zwanzig Mark Abschlag in der  Tasche.
  Frau Dränger hatte auf ihren Mann gewartet. Sie  wollten noch schnell zur Stadt, er hatte aber die Lust dazu verloren. Zu Hause  zu sitzen jedoch graute ihn, und er ging mit ihr, obwohl er wusste, dass sie  von den dreißig Mark, die er Abschlag bekommen hatte, nicht viel kaufen  konnten. Es reichte gerade, einen Teil der lästigen Schulden zu bezahlen.
  Frau Dränger schleppte ihn in der Stadt von einem  Schaufenster zum andern und besah mit neidischen Blicken die Auslagen. Sie  kauften zwei Pfund Rindfleisch und noch einige Kleinigkeiten für ihre zwei  Kinder und gingen wieder nach Hause.
  Auf dem Heimweg trafen sie Jarzack, auf dessen Stirn  ein großes Heftpflaster klebte. Seine Frau hatte ihm am vergangenen Zahltag  mit einer Kohlenschaufel vor den Kopf geschlagen, weil er einen Teil seines  Abschlags bei Kreibel versoffen hatte. Und sie brauchte das Geld mit ihren Kindern  so nötig.
  Jarzack hatte die Drängers erblickt. »He, Dränger,  wart mol 'n bettken!« rief er und taumelte auf sie zu. »Eck hew mie van Dage  een angesoppen, weißte, dat tut aber niks tau Sache, segg eck die. Aber eint  segg eck, weißt, miene Olsche is nie sust so gewest, dat se mie met ner Schüppe  an den Kopp gehaun hett, dat is nur wegen dem verfluchten Geld gekommen,  weißte. Un van Tage hew eck all weer nur twentich Mark herutgekriegt. De Hälfte  hew eck versoppen. Nu hewt wie Wienachten - gottverdammich!« Jarzack begann  erschütternd zu lachen. Er lachte, bis ihm die Tränen kamen. »Mann, Mann, wa 'n  Spuk! Nu hew eck mie vor
  Wut en angesoppen.« Er fuhr mit der flachen Hand durch  die Luft. »Ach, scheiß wat drop, lot se mie von Tage dodhauen, eck gew niks  mehr um den ganzen Dreck, wa?«
  Dränger packte Jarzack, der in eine Schenke hinein  taumeln wollte, am Rock und zog ihn zurück. »Du hast heut genug, Jarzack, komm  mit nach Haus, gibt deiner Frau das Geld!«
  »Eck drink den letzten, bestimmt den letzten!«  beteuerte Jarzack. »Mann, eck hew doch Verstand. Oder meinste, eck hätt keinen Verstand  mehr?«
  »Komm, komm!« zog ihn Dränger mit. »Deine Kinder  warten!«
  »Du hast recht, eck sin een unverbesserlicher Schuft!«  heulte Jarzack.
  Vor der letzten Schenke am Ausgang der Stadt riss er  sich trotzdem los und wankte hinein. In der Tür wandte er sich noch mal um und  rief: »Nur eenen, Dränger, eck mot mie Mut ansupen!«
  Frau Dränger ging mit einem Gesicht voll Abscheu neben  ihrem Mann. »Das gibt Mord und Totschlag, wenn der nach Hause kommt!« sagte  sie; denn sie wusste, dass Frau Jarzack auf ihren Mann wartete und ohne Brot  dasaß.
  Kurz vor der Kolonie begegneten sie Frau Jaschinski.  Dränger grüßte hinüber. Frau Jaschinski nickte, sah daraufhin wieder verbissen  zu Boden, als ob sie dort was suchte.
  »Die hat auch ihr Kreuz!« sagte Frau Dränger und sah  ihr nach.
  Frau Jaschinski erhielt ihre Unterstützung aus der  Wohlfahrt, weil ihre Rente noch nicht feststand. Es war noch nicht geklärt, ob  es sich bei Jaschinski um einen tödlichen Unfall oder um einen Herzschlag  handelte. Die Verhandlung darüber ging weiter, und man beabsichtigte,  Jaschinski noch einmal ausgraben zu lassen, um die Leiche erneut zu  untersuchen.
Frau Krämer hatte ihren Kindern für das letzte Geld Kuchen  und Fleisch eingekauft. »Fresst euch wenigstens einmal vernünftig satt, dann  mag kommen, was will«, sagte sie.
  Auch die andern Frauen erstickten die Sorge an die kommenden  brotlosen Tage und versuchten, sich gewaltsam einzureden, dass es nur einmal  im Jahr Weihnachten gäbe, an denen auch sie das Recht hätten, sich satt zu  essen.
  Bei Mihalleks fand am Nachmittag des ersten  Feiertages, zum ersten mal nach Willis Tod, wieder eine Zusammenkunft statt,  in der Schnaps gereicht und getanzt wurde.
  Die Jungen und Mädel aus der Nachbarschaft hatten sich  wie damals, bei Willis Verlobung, eingefunden.
  Bontzeck musste mit dem Bandonion kommen.
  Frau Mihallek hockte am Herd und sah mit trüben Augen  in den Trubel, der die Jungen begeisterte, bis sie auf einmal zu heulen begann  und hinausschlich. »Ich kann den Jungen nicht vergessen«, sagte sie zu ihrem  Mann. »Der fehlt mir auf Schritt und Tritt!«
  In allen Häusern, in denen man sich zusammengefunden  hatte, kam die Erinnerung an das Unglück mit doppelter Wucht. Es konnte keine  Freude aufkommen.
  Die Männer spielten Karten oder tranken. Die Frauen  saßen beieinander, erzählten dies und das, bis sie ungewollt auf das Unglück  kamen. Mihallek besoff sich, um die Selbstvorwürfe zu vergessen, lag auf der  Bank und schlief seinen Rausch aus.
  Frau Mihallek hatte die Jungen unter sich gelassen und  war zu der Ragnitzki hinübergegangen. Dort traf sie auch die Krämersche an. Sie  sprachen von den Toten.
  Die Glocken der Kirche hatten zur Andacht gerufen.
  Frau Jaschinski hatte aufgehorcht. Das Kind in ihrem  Schoß wand sich, sie gab ihm die Brust. Ihr Gesicht war verkümmert. Ach, wie  fern waren ihre einstigen Wünsche. Ihre Blicke glitten über die leeren Wände.  Ein hässliches Insekt kroch schwerfällig daher. Das Insekt war wie ihr Leben,  so hässlich und suchend. Es ekelte sie, aber sie besaß nicht die Kraft, das  Insekt zu erschlagen. Sie fühlte sich mit dem erbärmlichen Wurm eins, sie war  ja nicht mehr als ein Wurm, nach dem man fortwährend geschlagen hatte, um ihn  zu vernichten.
  Frau Jaschinskis Leben war nach der Hetze der Jahre,  die sie mit ihrem Mann zusammen verlebt hatte, nach der Zerstörung ihrer  bescheidenen Träume, nach Jaschinskis Tod zur Hölle geworden.
  Die Glocken hatten alle Macht über sie verloren. Als  man Jaschinski ins Grab senkte, stürzte auch ihr Glaube hinein. Sie betete  nicht mehr.
  »Mama, warum bist du so still?« fragte das älteste  Mädel und schmiegte sich besorgt in ihren Schoß.
  »Weißt du denn nicht«, sagte der vierjährige Junge,  »der Papa liegt ja im tiefen Loch!« Auch er presste sich in Frau Jaschinskis  Schoß und wandte sein dürftiges Gesicht zu ihr hinauf. »Wart, Mama, wenn ich  groß bin, dann kauf ich dich eine Küche, eine so große!« Er machte mit den  mageren Ärmchen eine umfassende Gebärde.
  »Mama, so doße!« plapperte auch das dritte und  streckte die Händchen aus.
  »Mama, warum ist der Papa tot?« fragte das Mädel. Frau  Jaschinski ging ein Stich durchs Herz, sie erzitterte und rang mit sich.
  »Er musste schwer arbeiten!« erwiderte sie gepresst.  »Warum, Mama?« fragte das Mädel. »Warum musste er soviel arbeiten, Mama?«
  »Weil wir sonst kein Brot hatten!« »Dann hat ihn die  Arbeit totgemacht?« »Ja!«
  Das Kind sann nach. »Dann müssen auch die anderen, die  noch auf der Zeche arbeiten, totgehen?« nahm das Mädel wieder das Gespräch auf.
  »Ja!« nickte Frau Jaschinski gedankenverloren.
  »Oh«, sagte das Mädel nachdenklich, »so 'n großen  Friedhoft gibt's ja gar nicht! Wo Papa liegt, is schon alles voll!«
  Nach einer Weile Nachdenkens sah das Mädel wieder auf.  »Sag, Mama, muss man auch sterben, wenn man kein Brot mehr hat?«
  Frau Jaschinski biss sich auf die Lippen. »Ja, Mama?«  fragte das Mädel eindringlich. Frau Jaschinski stöhnte. »Sei still, quäl mich  nicht«, und sie drückte dem Kind mit der Hand den Mund zu, denn sie konnte die  furchtbaren Fragen nicht mehr ertragen.
  In der Beamtenkolonie, die links von ihrer Wohnung  lag, wurde gesungen. Dort waren die Fenster strahlend erleuchtet. Auch bei  Betriebsführer Böß brannten die Lichter am Baum, auf einem Klavier wurden  fromme Weisen gespielt.
  Frau Jaschinski hörte frohen Gesang. Dort sang einer,  der ihren Mann zu Tode gejagt und sie selbst so erbärmlich gemacht hatte. Der  war froh, und seine Angehörigen beglückwünschten und beschenkten einander,  während sie sich den Kopf zerbrach, wie sie für ihre Kinder in den nächsten Tagen  Brot beschaffen sollte. Warum das Unrecht? Warum musste ihr Mann sterben und  sie in der bittersten Not zurücklassen? Gerechtigkeit? Gott...?
  Ihr Gesicht wurde hart. »Warum dann dies Unrecht?« Die  Dunkelheit quälte sie. Sie nahm das Kind von der Brust, das wieder zu schreien  begann, legte es hin und suchte mit den Händen nach dem Lichtschalter. Sie  atmete erleichtert auf, trank wie eine Verdurstende das Licht in sich, denn die  Dunkelheit hatte sie entsetzt.
  Sie nahm wieder das Kind auf, nachdem sie die andern  gebettet hatte, und saß lange..., lange...
  Bis tief in die Nacht spielte Bontzeck auf dem  Bandonion. Bei Jarzacks weinte die Frau. Sie hatten sich geschlagen. Bei  Ragnitzkis hockte eine Gruppe Frauen; sie tranken Kaffee und unterhielten sich  noch immer von ihren Toten.
  Am nächsten Tage. In den Straßen der Kolonie gellte  das Horn. Eine Gruppe junger Leute kam, stellte sich mitten in der Straße auf  und rief gemeinsam: »Arbeiter, Frauen, wir halten eine öffentliche Versammlung  ab!«
  Die Einwohner erschienen mit erstaunten Gesichtern an  den Fenstern.
  Scheck sprang auf eine Treppe und sprach über die Massenkündigungen,  über die Unfälle im Pütt und die Lohnabzüge. »Bereitet den Streik vor!« rief  er. »Wenn ihr nicht alle elend zugrunde gehen wollt, ist der Kampf der einzige  Ausweg!«
  Darauf wieder das gellende Horn, wie bei einem Feueralarm.  Der Schrei der Trompete drang bis in die letzten Räume der Kolonie, riss die  Zaghaften heraus, neue Hoffnung leuchtete in ihren Augen.
  Scheck sprach von Straße zu Straße. Eine ganze Schar,  Jugend, Kinder und Erwachsene, folgte ihm, hörte immer wieder zu.
  Die Glocken begannen zu läuten. Der Mann, der Scheck  begleitete, setzte seine Trompete an den Mund. Blies hinein: die  Internationale!
  Die Gruppe, die die Versammlung bekanntgab, sang mit.  Und einer um den anderen der Kumpels und Frauen, die der Schar folgten, sangen  mit.
  Die Kolonie wurde lebendig. In den Häusern sprang  Licht auf. Alle Sorgen, enttäuschte Hoffnungen, Schmerz und Hass brandeten  hoch.
  Weit entfernt erklang das Horn. Scheck sprach in einer  anderen Kolonie.
  »Mama, hast du die Männer gesehen?« fragte Jaschinskis  Mädel.
  Frau Jaschinski hatte die Männer gehört. Wenn alle so  wären! hatte sie gedacht. Das war es: wenig Lohn, Treiberei, bis die Menschen  umfielen oder bis sie unterm Bruch begraben wurden! So war es!
  Die Feiertage waren vorüber. Die Kumpels fuhren wieder  ein. Böß forderte von den Hauern der neunten und zwölften Rutsche die  vereinbarte Kohle. Die Kumpels jagten drauflos, waren jedoch nicht imstande,  es zu leisten.
  Bein ging nicht aus den Rutschen, lag hinter den  Hauern und trieb an. So hatten sie den Bein noch nicht kennengelernt. Er war  wie ein Jagdhund hinter gehetztem Wild, brüllte, wie einmal der Schacke  gebrüllt hatte, und strafte für den geringsten Widerstand.
  Böß wartete jeden Mittag auf Bericht. Es war ihm immer  zu wenig.
  »Verflucht! Ich mach den Dreh nicht mehr mit!« heulte  Pielka eines Tages. Er warf die Schippe in die Kohle.
  »Warum unterschrieben Sie denn?« fragte Bein.
  Pielka sah ihn drohend an: »Ich bin kein Jaschinski!«
  »Sie werden noch aus der Hand fressen, verlassen Sie  sich drauf«, sagte Bein höhnisch, nachdem er sich vorsichtshalber einige Meter  weit höher zurückgezogen hatte.
  Auch Warneck wütete. Er kroch zu Dränger hin. »Verdammt,  es ist für ein Tier zu viel. Peter, wir sind hier wie in einem Tollhaus!«
  Bein traf sie beieinander. »Warum fördern Sie keine  Kohle?«
  »Holen Sie Pferde her, ich bin's satt!« schrie  Warneck.
  »Wer nicht fördert, der kann auf der Stelle ausfahren!«  drohte Bein.
  Die Hauer mussten wieder an die Kohle.
  Böß fuhr selbst ein. Er machte den Hauern bekannt,  wenn sie der Vereinbarung nicht nachkämen, müsste er ihnen zum ersten Januar  kündigen. »Unrentable Kohlenrutschen können wir unmöglich weiter in Gang  halten!« sagte er und kroch fort, ohne sich an den empörten Einwänden der Hauer  zu stören.
  Raschewski zerschlug sich in der dritten Schicht nach  den Feiertagen die Knochen. Das Hangende war schlecht ausgebaut und brach  durch. Es hatte ihm die Rippen eingedrückt. An Raschewskis Stelle kam kein  anderer Hauer, sein Kohlenstück wurde unter die anderen Hauer aufgeteilt.
  »Eher fress ich Stroh, als dass ich mich hier für  nichts tot schinde!« sagte der Pielka, fuhr aus und holte sich einen  Krankenschein.
  Er wusste, dass das seine Entlassung war.
In den Verwaltungsbüros wurde fieberhaft geschrieben.  Kündigungen für alle Kumpels. Das sollte ein neues Schreckmittel sein, um sie  für den Lohnabbau, über den verhandelt wurde, mürbe zu machen.
  Die Verhandlungen wurden auf den einunddreißigsten  Dezember vertagt.
  Die Postboten hatten am ersten Januar viel zu tun. In  die Krankenhäuser kam durch Angehörige die Nachricht, dass den Kranken die  Kündigung durch die Post zugeschickt worden sei.
  Das war der Neujahrsgruß der Zechenverwaltungen.
  Die Verhandlungen vom einunddreißigsten Dezember waren  wieder abgebrochen und auf den siebenten Januar vertagt worden.
  In Gelsenkirchen tagte am Vormittag der Zentrale  Kampfausschuss der Ruhrkumpels.
  In Schecks Wohnung waren am Nachmittag die Funktionäre  der RGO versammelt. Ein Kurier kam. »Schickt sofort Leute nach Essen! Morgen  werden die Pütts stillgelegt!«
  Dränger und Lotte machten sich auf den Weg zur Stadt.  Sic kamen gegen die fünfte Stunde zurück. Die andern hatten voller Ungeduld  gewartet. »Was gibt's?«
  »Streik!« berichtete Dränger. »Sofort alle RGOleute zusammengeholt,  morgen früh darf die Belegschaft von Zeche >Hoffnung< nicht mehr  einfahren!«
  Radfahrer wurden losgeschickt, die RGOkumpels zur  Wirtschaft Kreibel hinbestellt. Der Beschluss des Kampfausschusses wurde ihnen  bekanntgegeben. Es gab nur ein Bedenken: Wer sollte sprechen? Scheck und  Dränger hatten ihre Papiere bekommen.
  Scheck erklärte sich bereit, nach der Waschkaue hinzukommen,  um dort zu sprechen.
  Lotte bat sich Männerkleidung aus, sie wollte mit nach  der Waschkaue hin. »Ich hau mit unter die Kumpels!« sagte sie kampfeifrig.
  Man besorgte ihr die Sachen.
  Die übrigen RGOleute hatten den Auftrag, an der Tür  der Waschkaue zu stehen und während der Belegschaftsversammlung keinen nach  dem Schacht hindurchzulassen.
  Am selben Abend wurden noch alle bekannten Kumpels in  ihren Wohnungen aufgesucht und von dem Streik am nächsten Morgen verständigt.  In der Nacht huschten kleine Gruppen durch die Kolonie, beklebten die Mauern  mit Plakaten und schrieben Aufrufe für den Streik.
  Morgens, gegen drei Uhr, kamen die Genossen von ihrer  Nachtarbeit zurück. Sie wollten sich wieder um fünf Uhr in der Nähe der Zeche  treffen.
  Scheck und Dränger waren mit Lotte nach Hause gegangen.  Lotte kochte schnell Kaffee, den sie gemeinsam tranken. Die Zeit war herum.  Lotte zog die Männerkleidung an, die ihr der Stefan Mihallek geliehen hatte,  schob sich die Mütze auf die schwarzen Haare, hängte die Blechflasche über die  Schulter und ging, wie sonst einer der jungen Schlepper, voraus zur Zeche.
  Die anderen machten einen Umweg, denn die Polizei war  alarmiert und passte in den Straßen auf.
  An der Zeche warnte sie ein Kumpel, der wusste, dass  Böß alle seine Steiger vor der Waschkaue und an der Markenbude zum Achtgeben  hingestellt hatte, damit kein Unberufener auf den Zechenplatz kam. Böß hatte  sich von Zeche »Jakob« Werkfeuerwehrleute ausgebeten, die ebenfalls, vor dem  Zechentor und auf dem Zechenplatz verteilt, aufpassten. Einige hatten Hunde  bei sich.
  »Rauf müssen wir, da mag's kosten, was es will!« sagte  Scheck und überlegte. Es war höchste Zeit, denn die Bergleute gingen schon zur  Schicht.
  »Komm, ich weiß einen Weg«, sagte Dränger, »aber wir  müssen laufen!«
  Sie setzten sich in Trab, immer an der Zechenmauer entlang,  hinten herum waren die Steinhalden. Es war noch sehr dunkel. Dränger suchte in  dem Drahtzaun, der vor den Steinhalden als Sperrschranke diente, nach einem  Loch, durch das sie hindurch schlüpfen konnten. Nach langem Suchen fand er  eine kopfbreite Öffnung, packte mit seinen kräftigen Händen hinein, riss die  Maschen breiter auseinander und hieß Lotte und Scheck hindurchkriechen. Er  nach. Es ging auf allen vieren die Steinhalden hinauf. Der Dreck war durch den  Regen, der nachts gefallen war, glitschig, sie rutschten ständig aus und  gerieten dadurch in Schweiß. Endlich waren sie über die Steinhalden hinweg und mussten  über die Gleise, die voll leerer und voller Kohlenwaggons standen. Während sie  vorwärtshasteten, pfiff eine Lokomotive. Sie erschraken, denn sie durften von  dem Maschinisten nicht gesehen werden. Die Reihe der Waggons setzte sich in  Bewegung. Sie konnten nicht hindurch und mussten warten; eine harte  Geduldsprobe. In der Waschkaue warteten die Kumpels, und Reger war ein Fuchs,  der sie irgendwie bluffen und zum Einfahren überreden konnte. Endlich waren  die Waggons vorüber, und sie huschten wie die Katzen über die Schienen.
  Ein Hund kläffte in der Nähe des Schachtgebäudes. Die  Feuerwehr suchte den Zechenplatz ab. Schnell verschwanden sie zwischen  Kohlenhaufen, die sie in der Dunkelheit gegen Sicht schützten.
  Lotte schrie leise auf. Sie war mit den nassen  Stiefeln in brennende Kohlen getreten. Es zischte und roch nach verbranntem  Leder. Hässlicher Kohlenbrandgeruch erstickte sie fast, und sie mussten wieder  aus dem Kohlenhaufen hervor.
  »Kommt«, sagte Scheck wütend, »jetzt geht's aufs  Ganze! Wir müssen eilen, sonst fahren die Kumpels ein!«
  Sie sprangen geduckt zwischen den Holzstapeln, die herumlagen,  wanden sich zwischen alten Förderwagen und Eisenschrotthaufen hindurch und  waren im Rücken der Waschkaue. Drinnen rasselten die Kleiderketten. Sie wussten,  die Kumpels zogen sich zur Schicht um.
  »Wie nun hinein?« fragte Dränger.
  »Durchs Fenster!« riet Lotte und zeigte hinauf. »Bück  dich, Langer!« Sie bog Dränger den Nacken und kletterte ihm auf die Schultern.  Scheck half nach. Hopp!
  Lotte saß oben auf dem Fenster. Hopp! Sie schwang sich  hinüber und war im Innern der Waschkaue verschwunden. Auch die beiden anderen  turnten durchs Fenster hinein.
  »Hooo!« ging es sofort in der Waschkaue los. Die Bergleute,  die wussten, dass jemand zu ihnen in der Waschkaue sprechen sollte, hatten  gewartet. Als es ihnen aber zu lange wurde, begannen sie sich umzukleiden. Die  RGOleute befürchteten, dass Scheck und die anderen Genossen von den  Werkposten, die Böß aufgestellt hatte, abgeschnappt worden wären. Sie  versuchten auf die Bergleute einzureden, noch mit dem Umziehen zu warten. Böß  selbst erschien in der Waschkaue und hatte die Kumpels unter Androhung von  Strafe aufgefordert, sich sofort umzuziehen und einzufahren. Ein Teil war  schon zur Seilfahrt umgezogen und drängte sich zur Tür, als das Geschrei am  Fenster, wo Lotte, Scheck und Dränger hindurch geklettert waren, erscholl. Alle  drängten rasch nach der Mitte der Waschkaue hin, wo Scheck auf eine Bank  gesprungen war. »Nicht ein Kumpel darf einfahren!« rief er. »Beschließt den  Streik!«
  Ein Betriebsrat war auf eine andere Bank gesprungen  und warnte vor einem unüberlegten Schritt. »Meine Gewerkschaft kann die  Verantwortung nicht übernehmen, einen wilden Streik zu billigen!« rief er und  ermahnte die Kumpels, doch noch abzuwarten, was die Verhandlungen ergeben  würden, dann wäre immer noch Zeit genug, an einen Streik zu denken.
  Da fuhr ihm aber die Lotte dazwischen. »Sicher, Kumpels,  damit es euch wieder so geht wie im Mai neunzehnhundertvierundzwanzig. Die  Kapitalisten holten die dicken Brocken weg, und euch hat man den Lohn  fortgestohlen! Geschuftet habt ihr wie die Hunde, und nun sollt ihr wieder  abwarten, bis es den Bonzen gefällt, euch wieder an der Nase herumzuführen.«  Die Kumpels waren überrascht, in der Waschkaue eine Frau zu sehen. Sie hörten  gespannt auf Lotte, die sich neben Scheck auf die Bank gestellt hatte und in  ihrem sprudelnden Temperament, so wie ihr der Mund stand, die Worte herab  feuerte.
  Die Kumpels nickten ihr anerkennend zu und schrien Beifall,  als Lotte zu Ende war. Der Betriebsrat versuchte es noch einmal und schrie den  Kumpels zu: »Was haben denn Weiber in unserer Versammlung zu suchen? Wir sind  doch Manns genug, Kumpels.«
  »Ohooo! Ohaa! Haut ihn von der Bank herunter!« Der  Lärm ging los.
  Warneck, von Freude erfüllt, machte einen Satz auf die  Bank. »Kumpels, wer gegen den Streik ist, einen Arm hoch!«
  Drei, vier, die den Arm erhoben.
  »Streik!« brüllte Warneck. »Heraus aus der Waschkaue  !«
  Böß war mit zorngerötetem Gesicht in der Tür erschienen,  hinter ihm die Steiger und ein paar Werkfeuerwehrleute. Sie wurden durch die  hinausdrängenden Bergleute in den Flur gestoßen. Die Bergleute verhinderten  deren Absicht, Scheck, Dränger und Lotte festzuhalten.
Auf dem RGObüro schrillte das Telefon fortwährend. Ein  Kumpel, den Hörer am Ohr, notierte. Er berichtete den ihn umringenden Kumpels,  die atemlos warteten. »Wieder ein Pütt hinzu!«
  Rrrrr... Telefon!... Meldung.
  Rrrrr... Telefon!... Meldung.
  Die Gesichter glühten. Fragen. »Wie viel?«
  »Achtzehn!«
  Meldung aus dem Recklinghäuser Gebiet: vier Schächte  hinzu!
  Meldung! Meldung! Meldung!
  Kuriere stürzten mit erhitzten Gesichtern herein. Meldung.
  Um acht Uhr: dreiunddreißig Schachtanlagen. Ein  führender Kumpel des Kampfausschusses: »Sofort zurück in die Orte!  Belegschaftsversammlungen mit den
  Streikenden! Alles, was streikt, muss auf die Zechen,  die noch nicht streiken! Erzwingt Waschkauenversammlungen!«
  Vor dem Hause der RGO hingen in Telegrammform die  Streikmeldungen. Es war noch früh am Morgen, aber die Aushänge wurden von  Neugierigen umdrängt, die mit gespannten Gesichtern lasen.
  Gespräche!
  Ein Arbeiter: »Dreiunddreißig Schächte, das ist ein  Schlag, was!«
  Ein Angestellter: »Dreiunddreißig, eine Handvoll nur  von über hundert Schächten!«
  Arbeiter: »Das sind fünfzigtausend, eine nette Handvoll!«
  Ein anderer Arbeiter: »Die anderen Schächte kommen  auch noch, warten Sie erst mal ab!«
  Der Angestellte: »Das wird schwerfallen!«
  Bürger kamen herbei. Ihre Mienen besagten, dass ihnen  der Streik ungelegen kam. Sie sahen die Freude der Arbeiter, hörten den  Wortwechsel. Eine Hupe schrie. Autos mit Schupos sausten vorüber.
  Arbeiter zu den Bürgern: »Da geht's schon wieder auf  die Kumpels los!« -
  Bürger: »Um Ausschreitungen zu verhindern!«
  Arbeiter: »Das kennen wir!« Er zeigte eine Narbe über  seiner Stirn. »Von der letzten Demonstration!« sagte er.
  Die Bürger wagten nicht, durch Widerspruch zu reizen.  In den Augen der Arbeiter lag etwas, was sie vorsichtig machte. Die Stadt  bevölkerte sich immer mehr. Kumpels, die ihre Pütts stillgelegt hatten, eilten  in Belegschaftsversammlungen. Überall Gruppen im Gespräch über den ausbrechenden  Streik. Vor den Toren der bestreikten Zechen blaue Uniformen.  Arbeiteransammlungen. Gespräche. Kuriere auf Fahr- und Motorrädern zu dem RGObüro,  zurück zu den Zechen.
  Meldungen: Im Hamborner Revier Zusammenstöße mit  Streikbrechern und Polizei.
  In den Straßen marschieren Trupps, Staffeln der  Arbeitslosen und Wohlfahrtsempfänger. Sie ziehen vor die Pütts Streikposten  stehen.
  Dränger und Scheck kamen vom RGObüro zurück.
  »Los«, sagte Dränger, zu Schleihmann, wir müssen um  zehn Uhr den Saal haben!«
  Schleihmann verlangte eine Kaution.
  »Du kriegst was mit 'm Hackenstiel, dann hast du eine  Kaution«, sagte ein Kumpel grob.
  Schleihmann maulte, gab aber den Saal her.
  Um zehn Uhr kamen die Kumpels. »Zwei Körbe voll sind  eingefahren!« berichtete einer dem Scheck.
  »Es sind aber nur die Gelben!« sagte ein anderer.
  »Reger hat seine Leute aufgefordert, mit einzufahren!«
  Die Spannung stieg. Alle waren neugierig, was die Kumpels  der anderen Zechen machten.
  Dränger gab Bericht. Scheck erzählte von der Wucht des  ersten Vorstoßes der Kumpels. »Erst dreiunddreißig Schachtanlagen, aber es  wirkt wie ein Donnerwetter!«
  Das machte Freude. Die Kumpels spien in die Hände.  »Denn mal los! Alles muss aus dem Loch!«
  Ein Kumpel meldete sich zu Wort. »Kumpels, nicht eher  in den Dreckpütt, bis wir was erreicht haben! Es war eine verfluchte  Schufterei, die wir in unserer Rutsche hatten!«
  Er setzte sich, nachdem er angestrengt in die Faust  gehustet hatte; er konnte wohl Kohle hauen, aber keine langen Reden halten.
  Einer rief laut: »Die Gelben versauen uns ja die ganze  Geschichte!«
  »Rausholen!« erhob sich Lärm.
  Es wurde beschlossen, Streikposten zu stehen.
  Die Bergleute begaben sich vor die Zeche und stellten  sich dort am Wege auf, um die Kumpels, die mittags einzufahren hatten, vom  Einfahren abzuhalten. Böß hatte zum Schutze der Arbeitswilligen Polizei  angefordert. Die Polizei kam und trieb die Kumpels, die Streikposten standen,  vom Tor fort. Der größte Teil der Mittagsschicht konnte trotzdem  zurückgehalten werden, bis auf die Leute, die Böß am
  Vormittag durch seine Boten für den Streikbruch  geworben hatte.
  »He, ihr Schweineknechte!« riefen ihnen die  Streikposten nach und spien aus.
  Der Lotte, die mit an der Zeche zugegen war, war einer  aufgefallen. Der Kerl wollte nicht erkannt werden und hatte sich von ihr  abgewandt. Lotte hatte ihn aber doch erkannt, es war der Dinta, mit dem sie  drei Jahre zusammen gewirtschaftet hatte. »Na, du verfluchter Hund!«
  Ohne Rücksicht auf die Schupo sprang Lotte auf die  paar Leute zu, die mit gesenkten Köpfen vorbeigingen, und ergriff den Dinta am  Rock. »He, drück dich nur nicht, bist erkannt, du versoffenes Aas!«
  »Lass los, verdammte Hure!« brüllte Dinta und riss  sich los.
  »Hau ihm doch wat auf 'n Kopp!« riefen die Kumpels,  die dabeistanden. Sie drängten drohend vor. Die Schupo sperrte rasch hinter dem  flüchtenden Dinta ab und machte die Gummiknüppel los.
  »Zurück!«
  »Nicht hinreißen lassen!« beschwichtigte Dränger die  erzürnten Kumpels, obwohl es ihm selbst in den Fäusten juckte.
  »Den kauf ich mir alleene!« rief Lotte voll Wut. Sie  hatte Dintas versoffenes Gesicht gesehen. Abscheu stieg in ihr hoch. Mit so  einem Kerl hatte sie zusammen gelebt. »Pfui!« Sie spuckte laut ihren Ekel aus.
  »Hat sich für Schnaps zum Streikbruch kaufen lassen,  das stinkige Aas!« schimpfte sie laut und sah dabei zornig auf die Polizei.  »Und so 'n Kerl wird in Schutz genommen!«
  Den Polizisten war das peinlich, sie wandten Lotte den  Rücken zu und stellten sich wieder am Zechentor auf.
  Böß hatte die Direktion von dem Streik auf Zeche »Hoffnung«  verständigt. Direktor Arisch war aufs höchste empört. Die Direktion beschloss  einzugreifen.
  Am nächsten Tage sah es vor der Zeche gefährlicher  aus. Vor dem Tore standen Polizeiposten. Ein Polizeiauto umkreiste die Zeche.  Die Polizisten auf dem Wagen hatten die Kinnriemen herunter. Vorn am Sitz neben  dem Führer saß der Leutnant mit nervösen Bewegungen, jeden Augenblick den Kopf  zur Mannschaft gedreht.
  Innerhalb der Tore der Schachtanlage wurde bewaffnete  Feuerwehr bereitgehalten. Die Steiger standen wie beim Ausbruch des Streiks  vorn im kleinen Tor an der Markenbude und an der Waschkaue. Böß lief wie ein  Kommandeur von Wache zu Wache.
  »Jetzt fehlt nur noch Drahtverhau!« sagten die  Bergleute.
  Die Streikbrecher kamen nicht mehr so zahlreich. Der  größte Teil war auf der Zeche geblieben und wurde dort mit Essen und allem  Nötigen versorgt.
  Dränger hatte Flugblätter mitgebracht. »Die letzte Warnung  an die Streikbrecher!« Ein Polizist nahm dem Kumpel, der die Blätter verteilen  wollte, den Packen ab und trieb ihn fort. Der Kumpel wollte Einwände machen.  Zwei Polizisten sprangen hinzu und nahmen ihn fest.
  Die Kumpels drängten näher und forderten Freilassung  ihres Kameraden. Die Polizei machte die Gummiknüppel frei und drang auf die  erregten Kumpels ein.
  »Hooo! Was is nu los?« riefen die Kumpels und versuchten  stehenzubleiben.
  »Räumen!« kam ein Befehl.
  Ein Pfiff. Das Auto raste herbei. Hopp! Die Polizisten  waren herunter, verteilten sich über die Straße und rollten auf. Bis in die  Kolonie wurden die Kumpels zurückgeprügelt.
  Die Frauen steckten die Köpfe zu den Fenstern hinaus  und schrien: »Lasst es euch doch nicht gefallen! Nehmt doch Steine!«
  »Räumen!« rief der kleine Leutnant, der nervös hinter  den Polizisten auf der Straße hin und her sprang.
  Warneck fiel, durch einen Schlag getroffen, betäubt in  die Knie. Schläge jagten ihn auf.
  »Los, laufen Sie!«
  »Ich kann doch nicht!«
  »Laufen Sie!« Ein Fußtritt traf ihn in die Kniekehle.  Warneck stürzte wieder hin, umklammerte im Fallen die Beine seines Verfolgers.  Die beiden Körper rollten im wütenden Ringen auf der Erde.
  »Los, helft ihm!« schrien Kumpels. Eine Gruppe kehrte  um und drang vor. Ein Schuss krachte. Pielka warf die Arme in die Luft und  schlug hin.
Dränger ließ abends die Schlepper zusammenholen. Er besprach  mit ihnen, dass sie des Nachts um die Zeche herum wachen sollten, weil die  Streikbrecher im Dunkeln in den Betrieb und aus dem Betrieb schlüpften und auf  Umwegen ihre Wohnungen aufsuchten. Stefan Mihalleks Augen leuchteten vor  Eifer. »Dat gib wat Toftes!«
  »Feine Sache.« Walter Smolka, ein strammer Bursche,  nickte. Sie holten die ganze Rotte zusammen. Abends um zehn Uhr sammelten sie  sich unterhalb der Kolonie, an einem Abhang, wo sie nicht beobachtet werden  konnten.
  Die Polizei hatte gegen Abend die Kolonie abgesucht  und mit Scheinwerfern die Hauseingänge und Fenster abgeleuchtet.
  »Es gibt Keile, wenn uns die Blauen kriegen!« erklärte  Walter Smolka, der sich mit einem kurzen Hackenstiel bewehrt hatte.
  Es war ein kleiner Streit entstanden, wer die Führung  des Ganzen übernehmen sollte. Die Wahl fiel auf Smolka, weil er einer der  Unerschrockensten war. Der verteilte nun die Trupps dorthin, wo es ihm wichtig  schien. Sie begaben sich daraufhin nacheinander aus der schützenden Deckung heraus  und schlichten vorsichtig den Abhang entlang. Das Herz schlug ihnen höher vor  Ungeduld und Spannung. Sie mussten eine Straße überqueren. Geduckt, nach rechts  einen Blick, nach links einen Blick, gelauscht, hopp, hopp, hopp, hinübergesprungen.
  Jenseits der Straße, ging es in flottem Schritt  weiter.
  Walter Smolka ließ nach einigen hundert Metern halten,  und sie berieten im Flüsterton, denn sie befanden sich in der Nähe der  Zechenmauer.
  »Ich weiß, wo der Muralla immer durchkriecht!«  flüsterte einer.
  »Sag, wo ist dat?« - »Ich geh mit!« - »Los, sag, wo  das ist!« Die anderen wurden laut vor Ungeduld.
  »Haltet doch die Fresse. Ihr brüllt die Feuerwehr  zusammen!« schimpfte Walter Smolka. »Wenn schon einer hingeht, dann gehen ich  und der Stefan Mihallek hin!«
  Der Schlepper, der von dem Mauerloch wusste, übernahm  die Führung. »Los, gehen wir, aber vorsichtig, sonst kriegen wir eine  gebrannt!«
  Die übrigen Schlepper verteilten sich im Gelände. Der  kleinere Trupp mit Walter Smolka und Stefan Mihallek arbeitete sich bis an die  Mauer heran und schlich im Dunkeln an der Mauer entlang, bis zu der Stelle,  nach der Smolka hingedeutet hatte.
  »Pst!«
  »Wat is?«
  Die Nachfolgenden erbebten vor Erwartung. »Ich glaub,  die Feuerwehr!«
  Walter Smolka schob sich mit Stefan Mihallek und dem  Schlepper, der sie führte, einige Meter vorwärts. Sie nahmen Wurfsteine auf, um  den Wächter, falls er einen Hund mit sich führte, nicht an sich herankommen zu  lassen. Der Feuerwehrmann, der aus einem kleinen Tor in der Mauer hervorgekommen  war, spähte ängstlich in das Gelände und verschwand nach einer Weile wieder.
  »Hier müssen wir aufpassen!« sagte der führende Schlepper.
  »Hier ist dicke Luft!« sagte Stefan Mihallek.
  »Aber die Streikbrecher kommen hier durch!«
  Die Schlepper warteten recht lange. Sie standen an das  kleine Eisentor gepresst und lauschten fiebernd hinüber. Es kam niemand.
  »Soll die Bande doch vorn rausgegangen sein?«  flüsterte Walter Smolka. Stefan Mihallek wurde schon wütend.
  »Es kommt jemand!« flüsterte einer der Schlepper. Sie  sprangen rechts und links von dem Tor zur Seite und lauschten angestrengt  hinüber.
  Sie hörten Schritte, bemerkten aber nicht, dass die  Schritte von außen herkamen.
  Ein schriller Pfiff erschreckte sie, und ehe sie sich  versahen, standen sie im grellen Lichtkegel einer Blendlaterne.
  »Was suchen Sie hier?« herrschte sie jemand barsch an.
  Die drei waren sprachlos.
  »Wir fragen Sie, was Sie hier suchen?« brüllte sie der  eine Wächter noch einmal an.
  Eine Gruppe von sieben, acht Wächtern umringte sie.  Sic waren mit Gummiknüppeln bewaffnet.
  »Das sind Streikposten!« sagte ein anderer der Wächter  und gab Stefan Mihallek einen Fußtritt. »Kein Laut, mein Junge!« schrie er  aufgebracht und schlug mit dem Gummiknüppel auf den Schlepper ein.
  Einer der Jungen, der zurückgeblieben war, hörte, was  am Tor vorging. Er rannte zu den anderen hin, die im Gelände lagen, und  berichtete, was vorgefallen.
  »Los, wir müssen sie freikriegen!« Einer übernahm die  Führung, und die Schar stürzte auf das Tor zu, wo die Wächter immer noch auf  die drei einschlugen.
  Die Wächter bemerkten es, ergriffen die drei und  zerrten sie hastig in das Tor hinein.
  Die Schlepper, die herangestürmt kamen, prallten gegen  das jetzt verschlossene Tor und versuchten es zu sprengen.
  Jenseits der Mauer ertönten Pfiffe.
  Die Schlepper rissen noch immer an dem Tor, das sich  schon bedenklich bog und krachte. Da knatterte auf der Straße, die rechts an  der Schachtanlage vorbeiführte, der Motor eines Autos, das in rasender Fahrt heran  sauste. Grelles Licht sprang aus Scheinwerfern über den Acker, sprang links  hinüber nach der Mauer hin und belichtete taghell die erregte Gruppe vor dem  Tor.
  Ein kurzes Kommando. Polizei sprang von dem Wagen  herunter und stürmte im Laufschritt vor. Die Feuerwehrleute, die gehört  hatten, dass die Polizei zur Verstärkung da war, rissen das Tor auf und ließen  ein Rudel Hunde los, das sich wütend auf die auseinanderstiebenden Schlepper  stürzte.
  Es entspann sich ein verzweifelter Kampf. Die  Schlepper mussten trotz ihrer weitaus größeren Anzahl nachgeben. Über die Äcker  stürzte die wilde Jagd: um sich schlagende, hastende Burschen, die sich der  Hunde erwehrten, dahinter die Polizei.
Der dritte Januar war ein Sonntag. Die misshandelten  Schlepper waren Mittelpunkt der Gespräche in der Kolonie.
  Walter Smolka trug sein dickgehauenes Gesicht zur  Schau und forderte jeden Kumpel auf, sich zur Rache bereitzuhalten. »Schad  nichts«, sagte er, »ich hab meinen Teil weg; acht gegen drei und dann noch ein  paar Bullen, Hunde, Knarren und wat noch, da mäkst einfach nichts gegen! Aber  jetzt sind wir dran!«
  Stefan Mihallek sah nicht besser aus. Seine Augen  bewegten sich in zwei schwarzen Säcken, die ihm die Fäuste der Feuerwehrmänner  gehauen hatten. Und die Lippen waren so aufgedunsen wie die Würste bei Kreibel.  Stefan Mihallek brütete erst recht Rache.
  Am Nachmittag um drei Uhr sollte eine öffentliche Kolonieversammlung  stattfinden.
  Um zwei Uhr war die Kolonie auf Geheiß von Böß durch  Polizei besetzt.
  Worbas kam und erzählte: »Auf der Zeche haben sie Maschinengewehre  aufgestellt!« Das steigerte noch die Erregung. »Das ist ja wie im Krieg!«  ereiferte sich die alte Ragnitzki, die sich wieder mehr auf der Straße  aufhielt. In ihren Augen erschien ihre ehemalige Streitlust.
  Der plötzliche Streik hatte sie alle wie ein  Wirbelwind ergriffen und aus den Häusern gejagt.
  Die Polizei raste mit ihren Wagen von Straße zu  Straße. Die Frauen wichen nicht aus, sie mussten mit Gewalt in die Häuser  gestoßen werden.
  Die Schlepper fanden sich zusammen. Walter Smolka organisierte  unermüdlich, stellte Gruppen zusammen und bestimmte den Führer. Er selbst und  Stefan Mihallek übernahmen das Ganze.
  »Nun aber Einigkeit, Kumpels!« sagte Walter Smolka,  teilte die Wachen für die Nacht ein und ließ Steine und Flaschen in  verschiedene Häuser hineinschaffen. »Dat sind unsere Handgranaten!« erklärte  er den Kumpels.
  Gegen Abend kam in der Franzstraße mit Hilfe der Jugend  doch noch eine größere Versammlung zustande. Alle Kumpels waren damit  einverstanden, am nächsten Mittag zur Zeche zu ziehen.
  »Wir müssen trotz der Maschinengewehre hin«, drängte  Worbas, als einzelne Kumpels Bedenken äußerten. »Die Streikverräter, die sich  Böß gekauft hat, müssen heruntergeholt werden!«
  »Dein Genosse Reger verübt auch Streikbruch!« rief ihm  einer der Kumpels zu.
  Worbas Gesicht glühte. »Es ist mein Genosse nicht  mehr! Ich habe mit Streikbrechern nichts zu tun!«
  Der Fiedler erkletterte einen Zaun und schaufelte mit  den Händen in der Luft, um Ruhe zu bekommen, konnte sich aber nicht  verständlich machen, denn die vorausgeschickten Schlepper kamen eilig zurück  und meldeten: Polizei.
  Scheck befahl allen, auf die Höhe zu gehen. Die  Polizei kam mit dem Auto angesaust. Aus allen Fenstern erhob sich ein drohender  Lärm. Der Wagen fuhr ein paarmal durch die Straßen und sauste zurück zur Zeche.  Die Menge strömte wieder auf die Straße hinaus.
  Bis spät in die Abendstunden hinein ging der Alarm von  Haus zu Haus: »Morgen gehen wir alle zur Zeche hin!«
  »Mutter, vor unserem Fenster stehen soviel Männer!«  rief
  Jaschinskis Mädel. »Sie standen erst auf der Straße  bei Falzmann, dort hat sie die Polizei fortgetrieben!«
  Frau Jaschinski ging ans Fenster. Sie hörte das laute,  empörte Sprechen der Leute. Frauen standen bei den Männern. Sie zog die  Gardine beiseite und machte das Fenster auf. »Ist was passiert?« fragte sie.
  »Die ganze Kolonie ist voll Polizei«, erklärte ihr  eine Nachbarin, »und auf der Zeche stehen Maschinengewehre!«
  »Weshalb denn?« fragte Frau Jaschinski bestürzt.
  »Sie wissen es noch nicht? Mein Gott, unsere  Mannsleute streiken doch!«
  Frau Jaschinski sah sie verständnislos an.
  »Wat die für 'n Gesicht mäkt, die Blöde!« lachte die  Nachbarin. »Weil die Kerle einen Dreck verdienen und sich nicht tot jagen lassen  wollen!« erklärte sie.
  Frau Jaschinskis Gesicht wurde düster. All ihr Jammer  fiel ihr wieder ein.
  »Wir ziehen morgen alle vor die Zeche!« erzählte die  Nachbarin.
  »Was wollt ihr dort?« fragte Frau Jaschinski. »Den  Männern helfen!«
  »Die Streikbrecher müssen herunter!« erklärte eine  andere Frau.
  Frau Jaschinski verstand nur halb. »Wollen Sie nicht  mit?« fragte die Nachbarin. »Mein Mann ist ja nicht mehr dabei!« »Aber Ihnen  geht's mit an den Kragen, wenn unsere Männer verlieren!«
  »Noch mehr verlieren?« Frau Jaschinski sah auf ihre  schmalgesichtigen Kinder.
  »Ja, es geht uns noch nicht dreckig genug! Kommen Sie  nur mit!«
  Frau Jaschinski nickte. Es war immer noch was anderes,  als allein und ratlos in der leeren Bude zu hocken. »Ich geh mit!« sagte sie.
  Montag früh waren die Kumpels draußen und hatten die  Streikbrecher vor den Häusern abgepasst. Sie überredeten welche. Die Störrigen  wurden in die Häuser gejagt. Trotz der Frühe wimmelte es in den dunklen Straßen  von Menschen, bis der Wagen der Polizei herangerast kam und Scheinwerfer  aufblitzten. Die Polizei musste unter dem schadenfrohen Geschrei der Kumpels  und der Frauen wieder umkehren. Betriebsführer Böß, der die Zeche in Gang  halten wollte und einen größeren Schwung Streikbrecher angefordert hatte, hörte  und sah den verzweifelten Widerstand der Kumpels und hatte zum Schutze der  Arbeitswilligen, die Montag Mittag auf die Zeche gebracht werden sollten, mehr  Hilfe verlangt. Er befürchtete, dass die Kumpels die Schachtanlage stürmen  würden.
  In der Kolonie und den benachbarten Straßenzügen war  alles auf den Beinen. Am Vormittag hatte eine große Arbeitslosenversammlung  stattgefunden, in der beschlossen wurde, den streikenden Kumpels im  Streikpostenstehen zu helfen. Polizei kam und löste die Versammlung auf.
  Von der Stadtseite her kam Stefan Mihallek mit noch  ein paar Schleppern in hastigem Lauf heran. Schon von weitem schrien sie: »Los,  alles nach der Zeche hin, die Streikbrecher kommen!« Sie rannten durch die  Straßen und alarmierten alles.
  Den Abhang nach der Kolonie erklommen, ausgeschwärmt  wie ein riesiger Heuschreckenschwarm, die Kumpels, Frauen mit Kindern und die  Arbeitslosen aus den Baracken. Von oben brauste ihnen der stürmische Jubel der  Koloniebevölkerung entgegen. Auch die Kolonisten schwärmten wie auf Verabredung  aus und rückten über die Felder auf die Schachtanlage zu. Die Polizisten liefen  hastig zusammen, versuchten, sich dem Schwärm der drohend heranrückenden Menge  entgegenzuwerfen. Es war ihnen unmöglich. Sie wurden eingekreist und mussten  flüchten, um nicht erdrückt zu werden.
  »Weiter! Weiter, nicht aufhalten lassen!« Die Anrückenden  trieben sich gegenseitig an. Voran rannte die Krämer, sie schnaufte vor  Aufregung und schrie ein paar zögernden Männern zu: »Vorwärts! Habt ihr Schiss?  Jetzt heißt es nicht nur das Maul riskieren!«
  Die Polizei lief zum Zechenplatz zurück. Die Menschen  überschwemmten die Straße.
  »Halt! Nicht weiter!« schrien die Wächter hinter dem  Tor.
  Die Menge häufte sich vor dem Zecheneingang. Den  Streikbrechern, die von einem Polizeikommando begleitet wurden, war der Weg  abgeschnitten. Als die Arbeiter ihrer ansichtig wurden, erhob sich ein Gebrüll,  alles wandte sich um und zog den Streikbrechern entgegen. Die Polizei kam vom  Platz hinterher gestürmt und versuchte, durch Schläge die Menge zu zerstreuen.
  »Auseinandergehen!« schrie ein Leutnant.
  »Was will der?« Die Frauen kehrten um, blieben wie fest  gerammt stehen.
  »Räumen!« kam ein Kommando.
  Frau Krämer kreischte auf: »Die schießen!« Das verwirrte  die anderen, und sie begannen zurückzudrängen. Die Polizei hatte die Pistolen  frei gemacht.
  »Warum rennt ihr denn zurück?« schrie eine Frau.
  »Nicht zurückgehen! Stehenbleiben!«
  »Räumen!« erklang der scharfe Befehl.
  Die Menge rammte sich fest. Einige nervöse Polizisten  erhoben ihre Pistolen.
  »Was, schießen wollt ihr?« schrie die Krämer. Sie riss  das vierjährige Kind, das sie bei sich führte, hoch und hielt es vor sich hin:  »Los, schießt doch!«
  »Los, knallt doch drauf!« Immer mehr Frauen rissen  ihre Kinder empor, streckten sie, empört und zum Letzten entschlossen, den  Polizisten entgegen. »Schießt doch drauf!«
  Auch auf der Hauptstraße ging ein Sturm los. Die  Streikbrecher, die in einer geschlossenen Abteilung angerückt waren, meist  fremde Gesichter, wurden durch die wütenden Frauen verjagt. Einzelne  versuchten, über die Mauern nach dem Zechenplatz zu entkommen, wurden  heruntergerissen und verschwanden unter den Leibern von über sie her stürzenden  Männern und Frauen. Die anderen Streikbrecher flüchteten, von der Menge  verfolgt.
  Bis zum Abend belagerten Tausende die Straßen, die zur  Zeche führten.
Lotte war mit bei dem Sturm auf die Zeche. Sie hatte,  seit Ausbruch des Streiks, jede Stunde ausgenutzt, um die Frauen zu sammeln,  und rannte müde von Versammlung zu Versammlung. Montag kam sie spät heim. Sie  zog ihre Kleider nicht aus, warf sich, so wie sie gekommen, übers Bett und  schlief mit schweren, stöhnenden Atemzügen.
  Es regnete ununterbrochen. Der Regen klopfte gegen die  Fenster.
  Lotte glaubte, einer der Kumpels hätte geklopft, und  rief: »Ja, warte, ich komm!« Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen, sprang aus  dem Bett und ging ans Fenster. Ihre Hand schob die Gardine beiseite: »Wer ist  dort?«
  Keine Antwort.
  Nur rabenschwarze Nacht. In den Gossen rauschte der  Regen, »'s ist, scheint's, noch früh!« sagte Lotte, legte sich wieder und  schlief von neuem ein.
  Jemand klopfte mit seinem Fingerknöchel gegen die  Scheibe und rief: »Lotte, es wird Zeit!«
  Das war Scheck. Es sollten vor Beginn der Arbeit für  die Streikbrecher Flugblätter in die Häuser gebracht werden.
  Lotte sprang auf: »Ich komm schon!«
  Der Schmutz knatschte in ihren schlechten Schuhen. Sie  wickelte sich fest in das Tuch ein, das sie des Regens wegen mitgenommen hatte,  und schritt tapfer neben dem stummen Scheck den dreckigen Feldweg daher. Der  Regen klatschte nur so herab, durchnässte sie bis auf die Haut.
  »Macht nichts«, sagte die Lotte, als Scheck sie  besorgt ansah. Sie sagte nicht, dass sie fror.
  Sie klopften an die Türen der Kumpels. »Auf, nach der  Zeche hin! Streikposten stehen!«
  Dann brachten sie die Flugblätter in die Häuser, wo  sie Streikbrecher oder Zaghafte vermuteten. Hier und dort wurde noch einer zum  Streikpostenstehen herausgeklopft.
  Als Lotte und Scheck mit ihrer Arbeit fertig waren,  schlichen sie mit einigen Kumpels zwischen einzelnen Polizeiposten hindurch  und stellten sich unweit der Zeche im Dunkel der Bäume auf. Vereinzelt huschten  die Streikbrecher vorüber. Sie wurden angehalten und beredet.
  Ein Schatten drückte sich im Dunkel vorüber.
  »He, du!« Lotte hatte ihn auch schon am Rock. »Wo  willst du hin?«
  Ein Fauststoß traf Lottes Brust. Sie taumelte gegen  den Eisenzaun, besann sich aber schnell, riss unter ihrem Tuch einen Gegenstand  hervor und schlug zu. Der Mann schrie auf und rannte zur Straße zurück.
  »Das war wieder der alte Saufkerl, der Dinta!«  erzählte Lotte den Kumpels, die in ihrer Nähe Streikposten standen und  hinzukamen.
  Dinta kam mit einem Polizisten im Laufschritt an.
  Lotte warf den Gegenstand über den Zaun und blieb stehen.  Dinta zeigte auf sie. »Ein Eisenstück hat sie!«
  »Blöder Hund!« sagte Lotte und hatte Lust, ihm ins Gesicht  zu hauen. Der Polizist griff nach ihren Händen. »Was machen Sie hier?«
  Lotte schob ihn zurück. »Ich will ein bisschen frische  Luft haben!«
  »Sie haben den Mann mit einem Eisenstück geschlagen.  Wo haben Sie das Eisenstück?«
  »Der Kerl ist besoffen!« antwortete Lotte.
  »Los, Sie gehen mit zur Wache!« sagte der Polizist und  zerrte sie am Arm fort.
  »Hoppla, mein Junge, immer gemütlich!« sagte Lotte und  kratzte ihn mit ihren scharfen Nägeln.
  Der Polizist pfiff. Ein zweiter Polizist rannte  herbei. Zu zweit brachten sie Lotte zur Wache.
  Lotte wurde durchsucht. Man fand nichts. Dinta war mit  nach der Wache gefolgt und beteuerte: »Sie hat mich mit einem Eisenstück  geschlagen!«
  »Ich hau dir eins in die versoffene Fresse, dann hast  du ein Eisenstück, du Streikbrecher!«
  »Hast mir den Kopf aufgehauen!« wütete Dinta.
  »Du bist besoffen, rennst im Dunkel gegen die Zäune,  wegen deiner Kurasch!«
  Dinta stieß ihr vor Wut ins Gesicht. Lotto schlug mit  der geballten Faust zurück. Drei-, viermal, blitzschnell hintereinander. Die  Polizisten mussten die beiden auseinanderreißen, so hatte sich Lotte in den  Dinta verkrallt.
  »Wart, du rote Sau! Ich rechne mit dir noch ab!«  drohte Dinta.
  »Und ich mit dir!« erwiderte Lotte.
  Lotte blieb bis Mittag auf der Wache. Sie hockte auf  der Pritsche und horchte auf den Regen, der draußen herunter prasselte. Sie  schlief ein, glaubte einen Fingerknöchel zu honen, fuhr auf - warte, ich komm  schon! -, sie wurde vollends wach, sah die Schutzleute und wusste, dass kein  Kumpel sie gerufen hatte.
  Nachmittags wurde sie freigelassen und suchte sofort  den Scheck auf. »Alles in Ordnung?«
  »Man hat uns wieder von der Zeche runter getrieben!«  erzählte Scheck.
  Nachmittags eine Versammlung. Abends eine Versammlung  bis spät in die Nacht hinein. Ein Kurier hatte einen Packen Flugblätter  gebracht, die sollten schon früh am nächsten Morgen in die Häuser.
  
  Abends gegen zehn Uhr saß Dinta mit einigen angetrunkenen  Burschen bei Schleihmann. Sie berieten flüsternd.
  »Weißt du bestimmt, dass niemand bei ihr ist?« fragte  einer der Burschen.
  »Sie ist bestimmt allein!« flüsterte Dinta. »Ihr  Nachbar, der Rogger, der stört uns nicht. Und sollte er sich melden, dann haut  ihm auch 'n paar drauf!«
  »Abgemacht!« sagte einer der Kerle und erhob sich  schwankend.
  »Im Notfalle halt ich einfach drauf!« sagte ein  zweiter und lachte roh.
  Dinta gab noch einige Runden aus, und sie verließen  die Schenke.
  Ein Kumpel, der mit in der Wirtschaft saß, hatte Dinta  und seinen Freunden zugehört, machte sich darüber seine Gedanken. Er wusste nur  nicht, um wen es sich handelte, weil kein Name genannt worden war.  Unwillkürlich fiel ihm die Lotte ein. Er begab sich zu ihr und erzählte ihr das  eben Gehörte.
  Lotte lachte. »Der wird sich hüten! Das wagt er nicht,  hierherzukommen!«
  Trotzdem war sie wachsamer und nahm ein Küchenmesser  zu sich, um sich im Notfalle wehren zu können. Sie lag wie in der vergangenen  Nacht angekleidet auf ihrem Bett, lauschte hinaus, bis die Müdigkeit sie  übermannte.
  Es klopfte gegen ihr Fenster. Sie dachte, es wäre der  Scheck, stand auf und horchte hinaus. Nichts. Sie legte sich wieder hin.
  »He, Lotte!«
  Lotte schüttelte den schweren Schlaf von sich und  reckte sich. Sie wollte ans Fenster. Ein harter Schlag knallte gegen die  Holzumrahmung. Scheibenstücke spritzten ihr ins Gesicht. Lotte begriff und  duckte sich blitzschnell. Ein schwerer Stein krachte durch die Scheiben gegen  die Wand. Noch ein zweiter Stein und noch ein dritter Stein. Lotte kroch auf  Händen und Knien bis zum Fenster hin. Sie tastete unter das Kopfkissen,  umspannte mit der kräftigen Hand das Messer und wartete.
  Draußen hörte sie hastiges, halblautes Sprechen. Sie erkannte  Dinta.
  »Los, klettert hinein!« hörte sie.
  Lotte hielt den Atem an, denn es scharrte unter ihrem  Fenster. Sie schob sich rechts hinüber an die Wand und richtete sich auf. Das  Scharren wurde stärker, ihr Herz wollte
  vor Aufregung aus der Brust springen, sie sah, wie  sich ein Kopf durch das Fenster schob, holte mit dem Messer aus und stieß zu.  Der Mann am Fenster ächzte, und sie sah, wie er zurückfiel.
  »Die Hure hat ihn gestochen!« hörte sie noch und  gleich darauf das Geschrei der Rogger, die von ihrem nächtlichen Geschäft aus  der Stadt kam.
  Auch in den übrigen Buden erscholl Lärm, und Lotte,  die halb ohnmächtig am Fenster zusammengesunken war, erhob sich zitternd und  sah, wie einige Männer, quer über das Gelände an der Schlackenhalde  fortrannten.
  Frau Rogger betrat tödlich erschrocken Lottes Stube.  »Was war denn hier los?«
  »Der Dinta, der Hund!« erklärte Lotte.
Bisher standen achtundvierzig Zechen im Streik. So  wuchtig der Angriff der Kumpels erfolgt war, so schnell mobilisierten die  Zechenbesitzer und die Gewerkschaftsführer den Gegenstoß. Der Streik verlor  seinen wirtschaftlichen Kampfcharakter, und vor den Zechen, wie überall in  Orten und Städten, sah es nach einer Mobilmachung aus. Uniformen, Wagen mit  Polizei und bewaffnete Abteilungen von Zivilisten, die vom Reichsbanner den  Streikbrechern zum Schutz bereitgestellt waren. An den Zechentoren schwerbewaffnete  Wächter und Maschinengewehre. Alle Belegschaftsversammlungen unter Kontrolle  der Polizei. Verhaftungen von streikenden Kumpels, die Flugblätter verteilen  wollten, und jeden Tag Sprengung von Demonstrationen. Tag und Nacht Krieg in  den Straßen und Kolonien, mit Schusswaffen, Knüppeln, Steinen und  Hackenstielen.
  Der Schiedsspruch wurde am siebenten Januar gefällt.  Lohnabbau von sechs Prozent.
  Panik unter den Kumpels. Empörung. Die sozialdemokratischen  und christlichen Betriebsräte bremsten, rieten abzuwarten. Die Verwaltungen  drohten mit fristloser Entlassung aller Kumpels, die für einen Streik  stimmten.
  »Der wilde Streik, der von den Kommunisten organisiert  war, ist abgebrochen!« schrieben die Zeitungen.
  In der Stadt Essen wälzte sich eine große  Menschenmenge durch die Straßen.
  Polizei vorn, zu beiden Seiten und hinter dem Zuge.  Die Spitze des Zuges stieß überall auf blaue Sperren. Wut bemächtigte sich der  Kumpels, wenn man in eine Nebenstraße abgedrängt wurde.
  »Durch, zum Deuwel!« brüllten die Kumpels.
  An einer Stelle versuchte die Polizei, den Zug in eine  andere Straße abzulenken. Die Kumpels drängten vor. Vorn entstand Lärm.  Pfiffe. Von allen Seiten drangen die Polizisten im Laufschritt in den Zug und  sprengten ihn an einigen Stellen.
  Ein erbitterter Kampf tobte um die Fahnen, die den Trägern  entrissen wurden. Immer wieder stürmten Kumpels drauf zu und holten die Fahnen  aus den Händen der Polizei. Es' war ein Sturm auf die Fahnen, und wo eine  hochstieg, entspann sich Handgemenge.
  Die Bürger flohen erschreckt in die Eingänge der Kaufhäuser  und sahen mit zitternden Gliedern der entfesselten Wut zu, die sich auf der  Straße austobte.
  In einer Straße befand sich unter einer Menge Neugieriger  auch Frau Jaschinski. Sie trug das Kleinste in ein Tuch gewickelt auf dem Arm,  das, durch den Lärm, der auf der Straße tobte, wach geworden, zu schreien  begann.
  »Gehen Sie doch mit dem Kind fort!« sagte eine besser  gekleidete Frau. »Wenn's hier losgeht, dann werden Sie mit dem Kind zerdrückt.«
  Frau Jaschinski blieb trotz der Ermahnung stehen und presste  nur das schreiende Kind fester an sich.
  »Wann kommen die Menschen endlich zur Vernunft!« sagte  jemand neben ihr. Frau Jaschinski sah sich den Mann an: gut beleibt, ein volles  Gesicht mit Hängebacken und Doppelkinn.
  Sie erwiderte ihm: »Wenn die Leute es nicht nötig  hätten, dann würden sie es nicht tun!«
  Der Mann rückte von ihr ab.
  Der Lärm auf der Straße verstärkte sich.
  Frau Jaschinski presste sich weiter nach vorn, durch  die zurückdrängenden Leute hindurch.
  Ein heftiger Streit tobte um ein Transparent.  Polizisten schlugen mit ihren Knüppeln auf die Köpfe der Männer, die das  Transparent nicht hergeben wollten.
  Frau Jaschinski drückte in ihrer Aufregung das Kind in  ihren Armen und schrie auf: »Verdammte Kanaillen, warum schlagt ihr die  Menschen so?«
  Die Empörung riss sie vorwärts. Sie befand sich  plötzlich mitten im Strudel. Ein dumpfer Hieb traf ihren Kopf. Sie griff nach  einem Halt. Das Kind entfiel dabei ihren Händen und schlug auf das  Straßenpflaster.
  Um sie herum wirbelte es von geduckten Köpfen und erhobenen  Händen. Tschakos und blanke Knöpfe sprangen vor ihren Augen. Man brüllte sie  an. Sie besann sich noch im letzten Augenblick und warf sich über das  schreiende Kind, das vor ihren Füßen lag und jeden Moment von den schweren  Stiefeln der rasenden Menschen zertreten werden konnte.
  Über Frau Jaschinski hinweg raste die Jagd. Männer,  jammernde Frauen, Polizei, flüchtende Bürger, die mit in den Strudel hinein  gewirbelt wurden.
  Frau Jaschinski richtete sich auf, hob mit zitternden  Händen das Kind von den Steinen, stand verwirrt da und sah auf die Schrammen  in dem kleinen, faltigen Gesichtchen, denen Blut entquoll. Sic drückte es an  sich und küsste es ab.
  Die Straße war wie leergefegt. Ein Polizist kam auf  sie zu und schrie sie an: »Los, verschwinden Sie jetzt!«
  Frau Jaschinski warf ihm einen Blick voll Hass zu. »Jetzt  erst recht nicht!« sagte sie.
  Einige Straßen weiter hörte sie Gesang. Sie ging der  Richtung nach, wo der Gesang herkam. Musste durch ein Sperrkommando. Die  Polizisten wollten sie zurückhalten, wichen ihr jedoch scheu aus, als sie ihr  verschmutztes, blutiges Gesicht bemerkten. Auch ihre Hände waren blutig, von  Stiefeln zertreten.
  Der Zug kam. Er brüllte wie ein Strom; so breit wie  die Straße wälzte er sich vorwärts.
  Eine Polizeikette stellte sich quer über die Straße  auf. Sie wurde wie dürres Laub fortgespült.
  Der Strom ergriff auch Frau Jaschinski und trug sie  mit wie auf großen grauen Wogen. Vor ihren heißen Augen schwebten wie Flügel  riesiger Vögel rote Fahnen. Um sie herum nur harte Gesichter. Blicke voll  ungebrochenen Mutes und Trotz. Jeden Augenblick reckten sich zahllose Fäuste  vor ihr. So weit sie sehen konnte, Faust an Faust.
  Frau Jaschinskis Gesicht brannte. Sie fühlte sich von  dem mächtigen, brüllenden Menschenstrom vorwärtsgetragen, nicht mehr allein.  Sie sah empor: Sonne! oder war es das Rot der wallenden Tücher vor ihr? Grau  war der Horizont, schneeschwer, aber in den Augen der sie umbrandenden  Menschen, in ihrem Schreien, lag es, das Feuer des Hasses ihr Hass!
Der Schiedsspruch, die fristlosen Entlassungen, die  den Kumpels in die Häuser geschickt wurden, der mörderische Kleinkrieg, der  sich Tag um Tag überall abspielte, zermürbte die Kräfte einzelner  Belegschaften. Eine Zeche nach der anderen fiel ab. Erbittert nahmen die  Kumpels ihre Brocken und gingen zur Zeche, um einzufahren. Der Betriebsrat von  Zeche »Hoffnung« hatte den ganzen Streik hindurch gearbeitet. Die Kumpels  jedoch hielten zähe aus.
  Sechs Prozent Lohnabzug! Zurück in die schreckliche  Kohlenhölle, ohne Recht auf Beschwerde, den rücksichtslosen Treibern  preisgegeben - das war noch mehr als Mord!
  Sie warteten auf den Beschluss der RGO. In der Stadt  tagte eine Konferenz.
  Drängers Wohnung war voller Kumpels. Sie warteten auf  Scheck, der Bericht bringen sollte.
  Worbas saß ungeduldig am Fenster und passte auf. »Er  kommt!« rief er plötzlich. Schecks Miene versprach keine gute Nachricht. Die  Kumpels sahen ihm unruhig entgegen, als er in die Stube hereintrat. »Was gibt's  denn?«
  »Wir streiken weiter!« erklärte Scheck. Er sah sehr  müde und abgespannt aus. Es verging keine Nacht, in der er nicht zu arbeiten  hatte, und die letzten Nächte mussten sie mehr zusammenbleiben, weil sich die  Überfälle auf einzelne Funktionäre mehrten. Sie mussten auch wachen, um die  übermüdeten Kumpels morgens zu wecken, damit das Streikpostenstehen nicht  vernachlässigt wurde.
  »Es ist doch schon ein Teil der Belegschaften wieder  eingefahren«, meldete sich einer der Kumpels verdrossen, »ich meine, wir  schaffen nichts mehr!«
  Scheck wandte ihm sein Gesicht zu und sagte hart: »Die  werden wieder rausgeholt. Der Streik geht weiter. Jetzt nach dem Schiedsspruch  erst recht!«
  Fiedler saß in einer Ecke. Es fraß in ihm. Er hatte  immer noch gehofft, dass die Gewerkschaften mit dem Lohnabbau nicht  einverstanden seien. Nun war es mit der Hoffnung aus. Seine Führer halfen noch,  dass sich die Kumpels noch mehr schinden mussten. Er stand auf, zog sein  Verbandsbuch aus der Tasche seines Rockes, verzog in aufsteigender Wut das  stopplige Gesicht und zerriss das Buch mit einem Fluch in Stücke.
  »Da!« Er warf die Reste in den Kohlenkasten. »Es tut  mir nur leid, dass ich mein sauer verdientes Geld unnütz fortgeworfen habe!«
  Abends fand die Belegschaftsversammlung statt. Scheck  berichtete und gab bekannt, dass Delegierte gewählt werden sollten für die Gründungsversammlung  des »Einheitsverbandes der Bergarbeiter Deutschlands«.
  Tobender Beifall unterbrach ihn.
  Fiedler, Worbas und noch einige zwanzig Kumpels wurden  als Delegierte gewählt.
  Ein Sonntag. Schönes, frostiges Wetter. Vom Bahnhof in  Duisburg kamen ganze Scharen Kumpels mit freudigen, fast feierlichen Mienen.  Mit Autobussen und Straßenbahnen, aus den nächstliegenden Orten zu Fuß. Alle  strebten zu dem großen Saal hin, der mit Inschriften auf rotem Tuch und  mächtigem Fahnenschmuck die Ankommenden grüßte. Beiderseits des gewaltigen  Saales, in den Nebenräumen, lagen Abteilungen der Polizei in Bereitschaft. Im  Saal, mitten unter den Kumpels, die aus allen Orten des Ruhrgebiets erschienen  waren, saßen mit ängstlichen Gesichtern Kriminalbeamte. Sie wurden bald als  fremde Vögel erkannt, und die Kumpels rückten aus Protest von deren Stühlen ab.
  Dränger war mit Scheck und anderen Kumpels erschienen.  Sie nahmen als Gäste teil. Die Delegation von Zeche »Hoffnung« war noch nicht  da. Die sollte mit Lotte fahren.
  Dränger wendete ungeduldig den Kopf nach der Tür, aus  Angst, der Kongress könnte beginnen und die Kumpels von Zeche »Hoffnung« zur  Eröffnung zu spät kommen.
  Die Tür ging nicht zu. Immer neue Delegationen schoben  sich unter Gesang und fröhlichem Lärm in den Saal, in dem schon alle Plätze  besetzt waren.
  »Ho! Ho! Hierher, Lotte! Worbas!« schrie Dränger plötzlich  und winkte mit der großen Hand über seinem Kopf.
  »Hallo, da sind sie!« rief Lotte, lachte und drängte  zu ihnen hin. Ihr nach der ganze Trupp der Delegierten von Zeche »Hoffnung«.  Darunter auch Worbas, der sich den sonst in den Mund hängenden Borstenbart  frisch aufgedreht und beschnitten hatte. Hinter Worbas stieß sich Fiedler nach  vorn. Fiedler machte große Augen und schnaubte vor Freude. »Gottverdammich, dat  is wirklich wat feinet! Hier mot eck aber ock tau Wort kommen!« Er drückte und  schüttelte Dränger und den anderen mit aller Kraft die Hände. »Eck hew schon  wat geholt, Kumpels«, erzählte er mit leuchtenden Augen. »Eck hew feste for de  RGO opgeschriewen. Neunundzwanzig hew eck all schon!«
  »Was, neue Mitglieder?« Dränger machte ein ungläubiges  Gesicht.
  »Na, war denn?« lachte Fiedler. »Dat is doch nich voll! Eck hal noch eene Portion!«
  Scheck erzählte den staunenden Kumpels, dass in der  letzten Woche allein auf Zeche »Hoffnung« über einhundert neue Mitglieder  gewonnen worden waren.
  Ein kleiner Kumpel eröffnete den Kongress. Auf einen  Wink erhoben sich die Kumpels im Saal von ihren Plätzen.
  »Ich frage euch, Bergarbeiter des Ruhrgebiets, seid  ihr gewillt, heute den >Roten Einheitsverband der Bergarbeiter  Deutschlands< zu gründen?« fragte der Leiter.
  »Ja«, kam es aus zweitausend Mündern.
  »Kameraden, im Namen der Revolutionären Gewerkschaftsopposition  entbiete ich euch die heißesten Grüße! Der Rote Einheitsverband ist im Feuer  des Ruhrkampfes geschmiedet worden!« sprach der Führer der RGO. Er sprach über  die bisherige Politik der Gewerkschaftsführer, über den Terror gegen  revolutionäre Arbeiter auf der Straße, in den Fabriken und Schächten.  Kritisierte die Arbeit der reformistischen und christlichen Betriebsräte und schloss  mit einem stürmischen »Hoch« auf den jungen Verband, der schon seine Pioniere  vorausgeschickt hatte, bevor der Streik begann.
  Das Präsidium wurde von Kumpels aus den verschiedenen  Verbänden besetzt. Darunter waren auch Fiedler und Worbas.
  Die Kumpels sprachen. Ihre Reden waren kurz, aber ein  einziger Vorwurf gegen ihre Führer. Auch Fiedler kam zu Wort. Als er vor sich  in Tausende Augen sah, die auf ihn gerichtet waren, begannen ihm plötzlich die  Knie zu zittern. Er wollte nur kurz etwas sagen, denn er war nicht auf lange  Reden zu Recht gehauen. Nun hatte er das Empfinden, seine Worte wären ihm wie  eine Schar Vögel aus dem Munde geflogen. Ein Sturm raste durch den Saal. Hände  winkten und klatschten. Er sprach noch immer. Er hörte seine Stimme im Saal  aufprallen. Ja doch, er sprach. Alle seine Empörung brach durch, unter  jahrzehntealten Schlacken, die sich im Gehorsam zu seinen ehemaligen Führern in  seinem Inneren verkrustet hatten. Hier durfte er doch einmal sein Herz öffnen.  »Wir haben geschuftet, Kumpels, und gewartet, bis man uns einen Schiedsspruch heraus  gehandelt hat. Sechs Prozent Lohnabbau! Wie Maschinen haben wir vor Kohle gejagt  und hatten oft nichts mehr in den Mund zu tun. Unsere Führer haben es nicht  nötig, ihre Brotgeber mit einem Streik zu beunruhigen, ihre Bäuche sind voll!  Ich habe meine Beiträge fast zwanzig Jahre fortgeworfen, und ich bin ärmer und  ärmer geworden! Aber heute weiß ich, dass ich durch die Politik der  christlichen Gewerkschaftsführer auf den rechten Weg geführt worden bin. Ich  gehöre mit meinem ganzen Herzen zu euch! Es lebe der Rote Bergarbeiterverband,  der uns die wirtschaftliche Befreiung bringen wird!« Fiedlers Herz glühte, als  er in dem darauffolgenden Sturm seine Faust erhob.
  Nach der Rede des Vertreters der Kommunistischen Partei  erhoben sich wieder alle Kumpels im Saal. Sie standen mit entblößten Köpfen und  glänzenden Augen und sangen trotzig die Internationale.
  
  Der Zug, der die Kumpels zurückbrachte, fuhr an  Stahlwerken vorüber. Die Höllen der Ruhr. Lohende Glut schoss aus den  Hochöfen. Rauch verdunkelte die Umgebung. Die Stahlwerke entschwanden. Schächte  tauchten auf. Kohle. Überall Kohle. Stinkender Qualm jagte in die Wagenabteile.  Kohlenstaub spritzte in die Augen. Flimmernder Stahlstaub und Kohle tanzte in  der Luft.
  Der Zug fuhr an grauverstaubten und verrußten Häusern  entlang.
  Worbas saß mit blinzelnden Augen am Fenster, sah hinaus  und hörte dem rebellischen Gesang zu, der aus anderen Wagen zu hören war.  Fiedler saß neben ihm und paffte seine Pfeife. In seinen Augen lag ein  Freudenschimmer. »Kumpels«, sagte er auf einmal, »ich hab heut den schönsten  Tag miterlebt!« Er stieß Worbas mit dem Ellenbogen an. »Wat meinst du, Worbas?«
  Worbas nickte und wandte sich um. »Wisst ihr, mehr als  die Schinderei im Pütt drückte das Bewusstsein, mich nicht auf dem richtigen  Wege zu befinden!«
  »Und jetzt?« fragte Dränger. »Bist du jetzt drauf?«
  »Ja!« Worbas nickte fest und wandte sich wieder zum  Fenster.
Böß hatte mit seinen Leuten einen Plan beraten, durch  den er die noch immer streikende Belegschaft loswerden und mit der Förderung  beginnen konnte. Steiger Bein wurde beauftragt, sich mit noch einigen  Vertrauten auf die Suche nach Arbeitswilligen zu begeben. Man wandte sich an  die Stempelstellen, an die Leitungen des Stahlhelms und der Nationalsozialisten  um Vermittlung von Leuten, die bereit waren, unter den Bedingungen, die im  Schiedsspruch vereinbart waren, auf Zeche »Hoffnung« zu arbeiten. Es gelang  ihrem Bemühen, einige hundert Mann aufzutreiben, meist außerhalb wohnende, die  man frühmorgens mit dem 5uhrzug zur Zeche befördern wollte.
  Durch die Arbeitslosen kam es den Streikenden zu  Ohren, und der Kampfausschuss forschte sofort nach.
  Am Dienstag sollte der Transport herangeschafft  werden. Das hätte für die Kumpels nicht nur gewaltsamen Streikabbruch, sondern  auch Verlust ihrer Arbeit bedeutet.
  Dränger schlug vor, die folgende Nacht zu wachen,  damit man am Dienstagmorgen früh auf den Beinen war, um die anderen alle zu  wecken.
  Den ganzen Nachmittag hindurch gingen Kumpels von Haus  zu Haus und warben um Unterstützung beim Streikpostenstehen.
  Weil der größte Teil der Kumpels bedroht wurde, war die  Erregung sehr groß, und alle waren entschlossen, den Streikbrecherzug  aufzuhalten und ihn nicht bis zur Zeche kommen zu lassen.
  Lotte hatte alle ihre Freundinnen zusammengeholt und  vereinbarte mit ihnen, alle Frauen zu benachrichtigen, um diese mit zum Wachen  zu veranlassen.
  Meinert, der sich den Arbeitslosen, die den Kumpels  beigestanden hatten, anschloss, übernahm die Benachrichtigung der  Stempelstelle und der Baracken, in denen er seit seiner Räumung wohnte.
  In der Ludwigsgasse, in den Baracken und in der  Kolonie saßen, als es Nacht wurde, Hunderte Kumpels und Frauen. Immer wieder  knarrten die Treppen unter den schweren Tritten heraufsteigender Männer. Um  vier Uhr sollten die andern geweckt werden.
  Frau Dränger hatte sich von den Nachbarn Bänke und  Stühle ausgeliehen. Es reichte nicht aus. Küche und Stube waren voll. Man musste  die frischen Trupps bei Ragnitzkis unterbringen. Aber auch dort füllte sich die  Wohnung so stark, dass Scheck zu Jarzacks und Frau Krämer hinüberging, um Platz  für die Kumpels zu bekommen. Dabei wickelte sich alles möglichst unauffällig  ab. Alle hatten ein Interesse, nicht zu verraten, was sie vorhatten, damit man  nicht aufmerksam wurde und ihren Plan nicht vereiteln konnte.
  Dränger begab sich nach Mitternacht zum Schlackenberg,  wo Lotte wohnte. Dort versammelten sich die Frauen, die die Nacht durchwachen  wollten. Schon von weitem hörte Dränger das lustige Lachen von Lotte und  anderen Frauen, die sich aus Langeweile Männerkleidung angezogen und  Schnurrbarte angemalt hatten.
  Dränger klopfte gegen ein Fenster. Lotte kam hinaus.  Hinter ihr erschienen mehrere Frauenköpfe.
  »Holla, Dränger!« Sie umringten ihn.
  »Rin in die gute Stube!«
  Dränger ging mit hinein.
  »Geht's bald los?« fragten einige kampfeifrig.
  »Wir sagen euch noch Bescheid!« sagte Dränger und überblickte  die Insassen.
  Die Frauen begannen zu quietschen. Ein paar  versuchten, sich hinter anderen zu verbergen. Das waren die, die sich bemalt  hatten. Eine Dicke in Männerkleidung sah so prall und rund wie eine Riesenwurst  aus. Sie trat hervor, stemmte die starken Arme in die Seiten und sagte: »Wat  meinste, Dränger, wenn eck so mitgehe?«
  »Mensch, Suse, dann müssen wir dich rollen!« Eine andere  lachte. »Du kannst ja nicht laufen!«
  Gelächter.
  »Wat, eck nich laufen?« wehrte sich die Dicke, und sie  machte einen Satz nach vorn.
  Neues Gelächter. Die Hose war ihr bei dem Sprung aufgeplatzt.
  Dränger wurde mit Fragen bestürmt. Er beruhigte und musste  gleich wieder fort. Er begab sich zurück zur Kolonie. Dort berieten die  Funktionäre, wo sie den Zug anhalten konnten, ohne mit der Polizei, die  bestimmt stark vertreten sein würde, zusammenzustoßen.
  Sie entschlossen sich, auf der Zwischenstrecke der  Stadt und dem kleinen Bahnhof von H. aufzupassen. Aber der Zug musste irgendwie  zum Halten gebracht werden.
  Ein Kumpel riet, die Schienen aufzureißen. Ein anderer  schlug vor, Balken heranzuschleppen und diese quer über die Gleise zu packen.
  »Ich weiß Rat!« meldete sich Walter Smolka. »Lasst das  nur mich mit dem Stefan Mihallek machen, und der Zug steht, wo ihr ihn haben  wollt!«
  Walter Smolka erklärte den Kumpels seinen Plan. Der  Plan wurde begeistert aufgenommen. So musste es bestimmt gelingen.
  Eine Abteilung Kumpels wurde bestimmt, nach dem  Bahnhof in H. zu gehen, um die dort wartende Polizei und Schutzabteilungen, die  Böß stellte, zu täuschen.
  
  Walter Smolka nahm den Stefan Mihallek und noch einen  Schlepper mit, und sie fuhren auf Fahrrädern nach M., der nächsten Station, wo  die Streikbrecher einsteigen mussten.
  Vor dem Bahnhof waren die Trupps der Streikbrecher  angetreten. Die Schlepper versuchten sich anzuschließen, befürchteten jedoch  eine Kontrolle und ließen den Plan fallen.
  »Wie kommen wir nur in den Zug?« fragte Mihallek, besorgt,  dass die »feine Sache« nicht gelingen könnte. »Über den Zaun!« sagte Smolka.
  Der dritte Schlepper nahm die Fahrräder der beiden  Kumpels in Verwaltung. Smolka und Mihallek gingen hinten um den Bahnhof herum,  um über den Zaun zu klettern. Die Bahnbeamten passten überall scharf auf. Es war  nicht leicht, hinüber und in den Zug zu kommen.
  »Los, und wenn sie uns schnappen!« trieb Smolka; denn  die Streikbrecher bestiegen schon nacheinander den Zug. Es war eine ansehnliche  Zahl.
  Mihallek kletterte als erster hinüber. Er warf sich  rasch auf der anderen Seite des Eisenzaunes zu Boden, weil er einen Bahnbeamten  sah, der sich ihnen näherte. Mihallek blieb am Zaun in der Hocke sitzen, bis  der Beamte das Gleis überquerte und verschwunden war. Smolka schwang sich mit  einem leichten Sprung über den Zaun. »Los, aber aufgepasst, dat uns keiner  sieht, wo wir herkommen!« flüsterte er Mihallek zu. Sie krochen erst eine  Strecke im Schatten von Güterwagen bis in die Nähe des Streikbrecherzuges, passten  einen Augenblick auf, und als ein Gedränge vor einem Wagen entstand, mischten  sie sich, innerlich zitternd, unter die Leute.
  Es gelang ihnen, mit in den Wagen zu kommen. Ihre Gesichter,  die wegen der Aufregung sehr blass waren, konnten sie nicht verraten, denn die  Gesichter der Streikbrecher, die sich prahlerisch großtaten, waren nicht minder  blass.
  Die beiden Schlepper pressten sich auf eine Bank zwischen  die Streikbrecher. Es waren meist jüngere Leute. Ein ganz wüster Bursche zog  sein Taschenmesser hervor, klappte es auf, strich damit über die linke Hand und  fuhr darauf mit dem. Messer stoßartig in die Luft. »Wenn mie eener wat well,  dem schnied eck die Strote af!« Mihallek stieß den Smolka mit dem Ellenbogen  an. Smolka sah ihn verständnisvoll an. Bevor der Zug abfuhr, lief ein  gutangezogener Mann den Zug entlang und rief in die Fenster: »Schaut euch gut  an, dass keine fremden Gäste drin sind!«
  Beunruhigt musterten die Insassen einander. Auch die  beiden Schlepper taten es.
  Smolka, der bemerkte, dass der Kerl, der vorhin das  Messer geschwungen hatte, der misstrauischste war, nahm seine Kaffeeflasche  von der Schulter, spuckte den zerkauten Kautabak vor seine Füße, setzte die  Kaffeeflasche demonstrativ an den Mund und trank einige Schluck. Er wandte sich  zu seinem Nachbarn, dessen Augen ebenso argwöhnisch in den Gesichtern der  anderen forschten, und tuschelte mit einer leichten Kopfbewegung zu dem  »schweren Jungen« hin: »Du, kennst du den? Dem trau ich nicht!«
  Der Nachbar drehte sich zu dem besorgten Smolka um und  lachte überlegen: »Mann, der is gut, den kenn ich!«
  »Na, dann is gut!« sagte Smolka beruhigt und kniff im  Übermut dem ihn heimlich boxenden Mihallek in den Oberschenkel.
  Der Zug fuhr ab. Bis nach H. war es etwa eine halbe  Stunde. Noch eine Gefahr bestand: Kontrolle der Fahrkarten! Die Schlepper mussten,  wenn ein Kontrolleur kam, auffallen, denn sie hatten keine Fahrkarten. Smolka  ließ es darauf ankommen. - Mehr als die Fresse vollhauen und aus dem Zug  schmeißen können sie uns nicht, dachte er und sah heimlich nach der Notbremse,  die heruntergerissen werden musste, sobald sich der Zug an der verabredeten  Stelle zwischen der Stadt und H. befand. Er drängte sich zum Fenster, um den  richtigen Augenblick nicht zu verpassen. Über ihm war die Notbremse. Auch  Mihallek schob sich erregt in Erwartung bis an die Tür des Wagens und starrte  durch das Fenster ins Dunkel. Der »schwere Junge« im Wagen erzählte von  Schlägereien und prahlte immer lauter, je mehr sich der Zug H. näherte.
  Smolka sprang das Herz in der Brust. Der Zug fuhr auf  die auftauchende Anhöhe der Kolonie zu, über der die hellen Brandflecke der  Zeche »Hoffnung« aufstiegen. Sie rückten immer näher. Smolka trat dem Mihallek  auf den Fuß. Sie sahen sich an. Ein Blick zu den andern hin, die sich noch  immer im lauten Gespräch befanden - ein Griff nach der Notbremse - ein Ruck -  es zischte betäubend - und der Zug hielt mit harten Stößen. Die Insassen flogen  übereinander.
  Auf Umwegen waren die Kumpels und ihre Frauen zu der  Stelle hingegangen, wo der Zug erwartet werden sollte.
  Von Minute zu Minute wurde die Schar größer. Auch der  Lärm. Die Frauen waren die ungeduldigsten und mussten oft zur Ruhe ermahnt  werden, denn oben am Bahnhof stand Polizei und erwartete die Streikbrecher.
  Die Streikposten spähten erregt zur Stadt. Der Zug musste  jeden Augenblick kommen. Hände zerrten Taschenuhren hervor. »Noch fünf  Minuten!« - »Drei Minuten!«
  »Ob es den Jungens gelingt?«
  Ein greller Maschinenpfiff.
  Die Spannung stieg aufs äußerste. »Jetzt kommt er!«  -»Gelingt es?« - »Steine bereithalten!«
  Die Leute suchten Steine, umklammerten sie fest mit  den Händen. Der Zug fauchte heran. In der aufgespeicherten Phantasie erschienen  die Lichter der heran donnernden Maschine wie ein paar mächtige Feuerräder.
  »Er hält nicht! Die Jungens sind nicht drauf!«
  »Er hält!«
  »Der Zug fährt durch! Los, die Steine bereit!« Die  großen Feuerräder waren zum Greifen nahe. »Gottverdammt, er hält!« Schsssssss!
  Die Bremsen schrillten. Der Maschinist gab Konterdampf.  Das Geschrill betäubte die Ohren der wartenden, vor Aufregung zitternden  Kumpels. Frauen schrien in das Kreischen des Zuges hinein: »Er hält! Los!«
  Mihallek hatte, als der Zug bremste, die Tür  aufgerissen, und ehe die anderen zur Besinnung kamen, sprangen die Schlepper  ins Freie. Rechts und links vom Zuge strömten die Scharen der Streikposten  heran.
  »Runter!« - »Raus aus dem Zug!« Fäuste und Hackenstiele  flogen hoch. »Raus!«
  Im Zug erhob sich lauter Lärm. Alles schrie durcheinander.  »Ein Überfall!« - »Nicht rausgehen, drin bleiben!«
  An den Fenstern und Türen erschienen die erschrockenen  Gesichter der Streikbrecher. »Was wollt ihr denn von uns?« »Los, runter, sonst  hauen wir euch heraus!« -»Holt sie raus!« schrien die Frauen.
  Die Menge erkletterte die Waggons. Wie Säcke wurden  die sich sträubenden Streikbrecher hinausgeworfen.
  Ehe die Polizei eingreifen konnte, hatten die Kumpels  entschieden. In voller Auflösung flohen die Streikbrecher, von den empörten  Streikposten verfolgt, der Stadt zu.
  Ein voller Erfolg!
  Betriebsführer Böß wartete vergeblich auf den  Streikbrechertransport. Er sah ein, dass er, der geschlossenen Front der  Kumpels gegenüber, der Schwächere war.
  Die Kumpels von Zeche »Hoffnung« zwangen ihn nachzugeben.  Böß erklärte sich bereit, mit dem Streikausschuss zu verhandeln. Die  Maßregelungen mussten zurückgenommen werden.
  Die Belegschaft fuhr als letzte nach dem Streik ein,  ohne einen Mann verloren zu haben.
  An der alten Zechenmauer stand, von den tapferen  Schleppern in großen Buchstaben geschrieben:
  »Wir sind nicht geschlagen! Wir bleiben unbesiegt!«