Kurt Kläber - Barrikaden an der Ruhr (1925)
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DIE ERSTEN FLUGBLATTER

Wir waren sieben: Willi, Peter, Michel, Alfred, Fritz, Hans und ich. Wir waren alle in der gleichen großen Fabrik in der Lehre und alle in der Arbeiterjugend. Es war eine schöne Zeit. Die Lehre war nicht schlimm. Wir arbeiteten genau acht Stunden. Danach warteten wir vor dem großen Fabriktor aufeinander, und dann stiegen wir auf die Berge, warfen mit Steinen, blagten uns oder tobten über die Hänge.
Bis der Juli 1914 kam. Wir hatten von der Erschießung des österreichischen Thronfolgerpaares in Sarajewo gehört. Wir waren uns auch über die Folgen klar, denn wir hatten einen guten Lehrer in Imperialismus, einen kleinen Rohrschlosser, den alten Bacher. Er war ein Kampfgenosse des alten Liebknecht, und wir kannten Liebknechts Worte: "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!" besser als die zehn Gebote, die uns der Rektor Bärmann acht Jahre lang eingebläut hatte.
Es waren harte und stürmische Tage. Wir hockten zusammen wie ein Spatzenschwarm. Wir verschlangen unsre Zeitungen. Wir lasen, was die Genossen in Paris sagten und die Genossen in Wien. Wir hörten auch auf das, was im Parteihaus gesprochen wurde, was unsre Bonzen in den Versammlungen sagten. "Nieder mit dem Krieg!" sagten sie. "Wir wollen uns nicht mit Frankreich schlagen!" schrie der alte Bacher. Wir, die Jugend, machten selber eine Versammlung gegen den Krieg, und zwei Tage später war eine Demonstration. Es war die erste, die wir mitmachten, und sie war auch gegen den Krieg.
Willi und Peter marschierten mit den Fahnen an der Spitze. Dann kamen wir anderen. Breite Reihen, überall unsere hellroten Wimpel, überall unsere Losungen. Willi sang: "Wacht auf, Verdammte dieser Erde!" Wir sangen mit. Der ganze Zug sang. Es war ein großer Tag. Wir wuchsen aus unsrer Kleinheit und wurden Riesen. Wir schlugen alles in Scherben, die Häuser, die Straßen, die Stadt, jeden, der uns entgegenkam. Wir zertraten, was an Krieg in der Luft war. Wir zerstampften es. Wir zerrissen es zu Spreu, streuten es in die Luft und
freuten uns, wie es der Wind erfasste und gegen die Berge warf.
Umso tiefer sollten wir drei Tage später fallen. Ich arbeitete mit Willi in der gleichen Abteilung. Wir hatten die Hobelbänke eingeschaltet und hobelten große Platten. "Ruck-schnurps!" machte die Hobelmaschine. "Ruck-schnurps!" und jedesmal schälte sie einen großen Span von der Platte und warf ihn, heiß und glühend wie er war, mitten in den Saal.
"Die Glocken läuten!" sagte Richard, unser Botenjunge, und schoss damit von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz.
"Die Glocken?" sagte Willi und riss das Fenster auf.
Wirklich, sie dröhnten wie Gongschläge in die surrenden Töne der Transmissionen und das harte Stoßen der Maschinen. Die Maschinen wollten das Gebrumme nicht hereinlassen. Aber es blieb. Es hielt sich. Es wurde zwar leiser, aber es war da, ein dicker, brummiger Ton, der langsam in uns hineinkroch und uns ganz schwer machte.
"Was ist los?" fragte Willi.
Keiner wusste es, bis es die kleine Lohmeyer, die beim Meister saß und unsre Lohnkarten führte, erfuhr. "Mobilmachung!" schrie sie. "Deutschland hat Frankreich den Krieg erklärt! Auch Russland!" Sie schrie es so laut, als hätte sie schon seit Tagen auf diese Nachricht gewartet. "Es geht los", sagte sie noch. "Es geht los!"
Willi lachte. "Denkst du", sagte er und schielte das Mädchen an. Ich lachte auch. "Nichts geht los, wenn der Arbeiter nicht will, und der Arbeiter will nicht!"
Aber es ging los. Fürchterlich ging es los. Zwei Stunden später trampelte und schrie die halbe Stadt durch die Straßen. Studenten, Schüler, kleine Beamten. Alle, die wir vor ein paar Tagen zerstampft und zerfetzt hatten. Standarten an der Spitze, Helme auf den Köpfen, geschulterte Regenschirme, Trommeln, Kapellen. Ein Karneval von Menschen und Gesichtern.
Willi beugte sich weit aus dem Fenster und sah hinab. Er lachte noch immer. Aber er lachte nicht mehr lange. War das nicht der dicke Hebrecker da vorn, und direkt neben ihm Preller? Preller war
Kriminalbeamter in unserem Nest. Diesem Nest, das plötzlich für uns so furchtbar und erbärmlich wurde. Sicher, es war Hebrecker, unser Verbandssekretär, und hinter ihm war Ehrler, und hinter Ehrler war Beilicke. Und Ehrler war Redakteur an unserer Zeitung, und Beilicke kassierte die Beiträge. Jede Woche kassierte er sie. Er war Parteikassierer, und jedes Kind kannte ihn.
"Hunde", sagte Willi. "Hunde", sagte Hans. "Schweinebande!" sagte Alfred. Ich sagte auch etwas von "Hunden und Dreckkerlen", aber die Kerle waren damit nicht wegzuwischen, sie blieben da. Ja, sie kamen näher. Hebrecker neben Preller. Ehrler Arm in Arm mit einem kleinen Studenten. Uns wurde ganz sonderbar unter der Herzgrube.
"Na", sagte Willi dann, "es sind ja nur die Bonzen!" Aber es waren nicht nur die Bonzen. Da waren ein paar Schlosser aus der Werkzeugmacherei. Da war der Portier von Portal 2, der immer schmunzelte, wenn wir vorbeigingen. "Unsre Jugend", sagte er. "Unsre Jugend!" Da war Karl, der in unsern Turnstunden den Vorturner machte, und da war sogar Eilert. Der lange Eilert, der schöne Eilert. Er war es wirklich, unser Jugendsekretär.
"Pfui!" sagte Willi. "Pfui!" Aber ich glaube, er wusste gar nicht, warum er das sagte. Er wollte einfach vor so viel Gemeinheit einmal ausspucken. Hans sagte: "Wir gehen nicht mit, und wenn uns der lange Eilert auch dazu prügeln würde!" Und als gleich danach der alte Fritz, unser Meister, kam und sagte, wir sollten uns auf die Straße scheren, machten wir einen Bogen um den Zug und gingen auf die Berge.
Wir wollten uns erst einmal aussprechen. Wir wussten ja noch gar nicht, was eigentlich gespielt wurde. Wir wussten nur: wir waren Sozialisten und wir waren gegen den Krieg. Vor drei Tagen hatten wir sogar noch gegen den Krieg demonstriert, die ganze Partei, und heute... Heute demonstrierten Hebrecker und Ehrler und alle anderen dafür. Mit Fahnen und Musik, mit Liedern und mit Hurra, mit Polizisten und Studenten.
Willi sagte noch einmal: "Pfui!" und spuckte aus. Hans heulte beinahe. Fritz zertrampelte den Rasen. Ich war etwas ruhiger geworden. Ich sagte: "Warten wir ab. Man muss ja erst sehen, was überhaupt daraus wird."
Am nächsten Tag wussten wir, was daraus wurde. Der Kaiser hatte gesagt: "Man will nicht dulden, dass wir in entschlossener Treue zu unserem Bundesgenossen Österreich stehen!" Und dann: "In aufgedrungener Notwehr ergreifen wir das Schwert!" Und dann: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!" Auch unsre Reichstagsabgeordneten hatten gesagt: "Wir kennen keine Parteien mehr!" und dann stimmten sie mit den anderen Parteien für die Kriegskredite: Scheidemann und Ebert, Haase und Dittmann und Ledebour - alle.
Da standen wir nun. Gestern hatten sie uns gelehrt: "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!" und heute bewilligten sie diesem System Milliarden. Gestern mussten wir "Nieder mit dem Krieg!" rufen, und drei Tage später schrieb Ehrler in der Arbeiterzeitung: "Der alte Bebel hat einmal gesagt, wenn es gegen Russland ginge, nähme er auch die Flinte auf den Buckel!" Ja, da standen wir, klein, ganz klein, sieben winzige Kerle, und da war Hebrecker und Eilert, da war die große Partei, ein Riese, und da war unsre Jugendorganisation, und alle sagten dasselbe und alle marschierten plötzlich für den Krieg. Man konnte es nicht zu Ende denken.
Wir ließen die Hobelbänke sausen und sahen uns an. Wir machten fast nur Bruch, und Tränen saßen in unsern Augen. Ja, ihr könnt es glauben, Willi heulte sogar. "Heute dafür und morgen dagegen, und das sind wir. Das sind die Kämpfer für den Sozialismus, für die Menschheit! Das ist die junge Garde! Scheiße ist das alles. Gottverdammte Scheiße!" Da brach das Hobeleisen ab, und der alte Fritz kam, und der alte Fritz pfiff uns einen, und dann ging es wieder für eine Weile.
Michel sagte: "Gehen wir doch einmal zum alten Bacher." Aber wir hatten auch da Pech. Der alte Bacher hatte schon seinen roten Zettel bekommen und war nach Eisenach in die Kaserne gefahren. Seine Frau saß in der Küche. Sie hatte große verquollene Augen und konnte uns kaum ansehen. Sie heulte.
Wir wollten wissen, ob Bacher gern nach Eisenach und zu seiner Kompanie gegangen sei. "Nein", sagte die Frau, "er hat geschimpft, furchtbar hat er geschimpft, und er hat auch von euch gesprochen. Ihr seid jetzt seine Hoffnung und ihr sollt ihm so schnell wie möglich schreiben!"
Natürlich wollten wir ihm schreiben. Morgen schon. Aber das war im Augenblick kein Trost, und wir gingen zum kleinen Henner. Der kleine Henner war unser Bester, und er war erst vor zwei Jahren von der Jugend in die Partei gekommen.
Wir klopften bei ihm an. "Was soll ich euch sagen", knurrte er, nachdem wir alles, was an Zweifeln in uns saß, vor ihm ausgeschüttet hatten. "Da ist kaum etwas zu machen. Die Bonzen sind alle dafür, und wir kleinen Tiere zählen ja nicht. Ich war gestern bei Hebrecker. Er hat mich hinausgeschmissen. Natürlich machen wir mit, hat er gesagt. Wir müssen doch den feinen Pinkels einmal zeigen, dass wir genau so gute Deutsche sind wie sie, wenn das Vaterland in Gefahr ist. Sogar noch bessere als sie. Sie werden' s schon erleben!"
"Und du?" fragten wir.
"Ich? Da ist mein Wisch. Morgen muss ich mich melden." "Du gehst!" Wir sahen ihn an, aber er merkte es nicht, dass wir ihn ansahen.
"Ich gehe", sagte er nur. "Was kann ich allein machen."
Wir zogen weiter. Aber keiner gab uns einen besseren Rat. Jeder hatte außerdem mit sich zu tun, hatte den roten Zettel schon bekommen, oder der rote Zettel konnte im nächsten Augenblick hereingereicht werden. Wir sparten keine Worte. Wir sagten dem einen, was der andere gesagt hatte. Messer, ein alter Schreiner, sagte: "Wenn
man alle schnell noch einmal zusammenbekäme, wäre vielleicht etwas zu machen. Aber bekommt sie zusammen! Es ist ja, als hätte der Teufel alle und alles auseinandergeschissen!"
Das war ein sonderbares Wort. Der alte Messer lachte auch, als es ihm aus den Zähnen rutschte. Aber es half uns auch nicht weiter, und zuletzt gingen wir zu Eilert.
Willi wollte nicht mit. Aber schließlich war Eilert unser Jugendsekretär. Wir schoben in seine Kammer. Er saß am Tisch und hatte eine große Karte ausgebreitet. Er sah rund und rosig aus. Er rauchte, und wir wussten gleich: Willi hatte recht, hier hatten wir mit unsern Zweifeln nichts zu suchen. Wir waren an der falschen Adresse.
Wir sagten ihm trotzdem, was wir auf dem Herzen hatten. Aber Eilert lachte nur. Lachte uns groß und fröhlich aus. "Was seid ihr für dumme Kerle!" sagte er. "Habt ihr nicht gelesen, was die Reichstagsfraktion gesagt hat: wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich! Dass außerdem...", und wir hörten, was wir alle schon wussten und was uns das Leben ja so schwer machte. Eilert sagte zu dem allen nur sein großes und breites Ja. Er fand es herrlich: "Jetzt beginnt auch für uns Jungsozialisten eine große Zeit!"
Wir wurden durch jedes seiner Worte kleiner. Dann krochen wir aus seinem Zimmer wie Mäuse, die man ins Wasser geworfen hat. Nur nicht so ängstlich waren wir. Willi sagte wieder: "Pfui Teufel!" Michel: "Dieser Saukerl!" und ich, ach, ich weiß es nicht mehr.
Dann nahm uns langsam das Leben und die Arbeit wieder gefangen. Wir hobelten und ließen unsre Maschinen laufen. Wir feilten und drehten. Wir lernten, wie man ein Zahnrad einpasst und wie man eine Nute fräst. Wir waren ja nebenbei junge Kerle, die etwas zu lernen hatten. Lehrlinge im vierten Jahr, und im nächsten Jahr wurden wir, wenn wir nicht vorher den roten Zettel bekamen oder freiwillig totgeschossen wurden, Gesellen.
Dazwischen hörten wir von großen Schlachten und Siegen. Richard ging und der kleine Meyer. Unsre Schar wurde immer kleiner, und wir wussten noch immer nicht, was wir dagegen machen sollten. Am
Abend saß Eilert hinter dem Pult und las uns das Bekenntnis von Bröger vor. Er stieß es mit abgehackten Sätzen aus seinem runden Gesicht, dass Deutschlands ärmster Sohn auch sein getreuster sei, ließ Speichel dabei, und der Schweiß rann über seine Stirn. Die Mädchen machten runde Augen, bis auf Bertha, die es mit uns hielt, und die jüngeren lernten den Quark auswendig. Dann sangen sie vaterländische Lieder. Wir verzogen das Maul und spuckten wieder aus, aber das war alles, was wir gegen diesen Rummel taten.
Zuletzt gingen wir einfach nicht mehr hin, blieben oben auf den Berghängen, lagen im Gras und dachten nach. Michel sagte: "Maubeuge ist gefallen." Hans sprach von Tannenberg. Manchmal wurden wir schon ein wenig stolz, dass wir auch zu diesen Siegern gehörten. Einmal sagte Hans sogar: "Dieses Russenpack, sich so einfach ersäufen zu lassen!" Aber danach war es ganz still, und Willi sah ihn von unten an, Hans schämte sich. Wir schämten uns alle, und dann sagten wir nichts mehr.
Und plötzlich wurden wir wieder nüchterner. Da kam, zwei Tage nach dem großen Sieg an der Marne, die Mitteilung, dass unser alter Bacher tot sei, und mitten in die Nachricht von seinem Tod kam die Antwort auf den Brief, den wir ihm geschrieben hatten. Wir lagen gerade unten an der Saale, wo wir immer mit ihm gesessen hatten, wenn er vom alten Liebknecht und vom alten Bebel erzählte. Bertha brachte uns den Brief. Es waren drei winzige Zettel. Sie hatte sie von Bachers Frau erhalten.
Bacher schrieb uns: "Ihr fragt, was ihr tun sollt. Was habe ich euch immer gesagt? Was haben wir alle Tage besprochen? Was haben wir uns Stunde für Stunde eingehämmert? Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Krieg! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!" Dann schrieb er uns noch, dass er auch an der Front alles tue, um gegen den Krieg zu kämpfen. "Es ist noch ein kleiner Lehrer auch Sachsen da, auch ein Kumpel aus Essen. Prächtige Kerle. Wir sind zwar nur eine winzige Zelle in dem großen Regimentsbauch, aber ihr erinnert euch sicher noch, wie wir einmal im botanischen
Museum unter dem großen Mikroskop das Wachsen von Zellen beobachtet haben. Sie wachsen zusehends, teilen sich, vergrößern sich, aus einer werden zehn, aus zehn hundert." Weiter hatte er nichts geschrieben.
Wir saßen lange über dem Brief, dem Brief eines Toten, und jedes seiner Worte wurde lebendiger, wie wenn er es gesprochen hätte, kroch in uns hinein, in den Kopf, in den Leib, fasste uns an und wirbelte uns hoch.
Aber es wirbelte uns nicht so hoch, dass etwas geschehen wäre. Nein, ich muss es heute gestehen, wir waren schon recht angefressen. Von dem, was Hebrecker alle Tage predigte, von dem, was Eilert jetzt von Lersch deklamierte: "Deutschland muss siegen, und wenn wir sterben müssen!" Die vielen Siege. Das ganze Leben. Wir waren erst siebzehn und durften plötzlich bei der Arbeit rauchen. Der alte Fritz sagte "Sie" zu uns. Wir lernten auch nicht mehr. Wir kamen an große Revolverbänke und drehten kleine Hülsen, bis zu 60 Stück in der Minute. Wir waren beinahe Gesellen. Wir hatten Akkord, bekamen dicke Lohntüten und bildeten uns auf das alles etwas ein. Es mussten schon gröbere Stöße kommen. Sicher nicht bei allen. Bei Willi sogar bestimmt nicht. Aber bei Hans, bei mir, bei Michel und bei Fritz.
Der zweite Stoß kam drei Wochen später. Durch Pullmann. Gott, Pullmann war eigentlich weiter niemand. Ein kleiner Genosse unter vielen. Aber er hatte auch einmal zu unserm engsten Kreis gehört, war schon am zweiten Mobilmachungstag eingezogen worden, und nun hatte er uns einen Brief geschrieben.
"Liebe Genossen!" schrieb er. "Wir hatten gestern einen furchtbaren Bajonettkampf mit Belgiern, und ich habe einem von ihnen mein Bajonett durch den Leib gestochen. Es war furchtbar. Man kann das gar nicht beschreiben. Ich habe es gespürt, wie wenn das Bajonett durch meinen eigenen Leib ginge. Dann habe ich mir den Mann angesehen. Es war ein blasser, bärtiger Mann. Er sah genau so aus wie einer von unsern Glasbläsern, hager, ausgebrannt. Dann habe ich seine Tasche aufgemacht, und er war tatsächlich einer. Aus Gent. Ein Kollege von mir. Er hatte sogar die Karte semer Gewerkschaft in der Tasche. 11 Jahre organisiert, und ich habe ihn erstochen. Der Glasbläser Pullmann den Glasbläser Limon. Ja, so hieß er. Und warum?"
Das war es. Über das Warum war er sich nicht klar. Aber jedenfalls saß es so in ihm, dass er nicht mehr schießen und nicht mehr stechen wollte, "und morgen werde ich es meinem Leutnant sagen!" Er hat es ihm auch wohl gesagt, denn wir hörten eine Woche später, dass Pullmann wegen Feigheit vor dem Feind vor ein Kriegsgericht gekommen sei.
Das hat uns alle sonderbar berührt, und ausgerechnet mit dem kleinen Pullmann musste das passieren. Er ging sonst jeder Mücke aus dem Wege, und jetzt stand er vor dem Kriegsgericht. Wir sahen ihn stehen, klein, mager, ängstlich. Vor ihm drei Offiziere, rechts und links von ihm Unteroffiziere mit aufgepflanztem Seitengewehr. Willi lachte laut: "Feigheit vor dem Feind, weil der Glasbläser Pullmann den Glasbläser Limon nicht mehr durch den Leib stechen will." Ja, es packte uns, irgendwie innen, und wir waren zum ersten mal seit jenem Demonstrationszug wieder stolz. Wir trugen die Köpfe höher. So ein Kerl gehörte zu uns. Wir hatten einmal neben ihm gesessen. Wir hatten ihm die Hände gedrückt.
Den letzten Stoß bekamen wir, als wir einmal mittags durch die Straßen strichen. Es war Pause, und wir bummelten an den Redaktionen vorbei, hinauf zum Bahnhof, um etwas Neues zu erfahren. Auf dem Bahnhof wurden Verwundete ausgeladen. Das erste mal Verwundete. Es waren Deutsche, Belgier und Franzosen. Sie sahen schlimm aus. Manchmal sah man vor lauter Mull nur die Augen oder die Nase. Sie stöhnten und jammerten. Aber das war es nicht.
Auf den Bürgersteigen stauten sich die Menschen. Bürger, Arbeiter, viele Frauen. Gegenüber von uns standen ein paar "Gestöckelte". So nannten wir damals die vornehmen Leute in unsrer Stadt. Da war eine dicke, rundliche Frau mit einem großen Busen. Um sie drei andere. Sie sahen genau so auf die Verwundeten wie wir. Aber immer wenn ein Deutscher vorbeigetragen wurde, hoben sie ihre Taschentücher an die Augen, stellten sich auf die Zehen und winkten, und immer wenn ein Franzose oder ein Belgier vorbeigetragen wurde, verzogen sie ihre Gesichter. Die Dicke spuckte sogar manchmal aus und sah auf die Seite.
Neben den vieren stand eine Arbeiterfrau. Wir kannten sie. Sie sah auf die Verwundeten. Aber sie sah mit ganz dem gleichen Gesicht auf die Deutschen und die Franzosen, und wenn einer lächelte, lächelte sie auch, und wenn ein Verwundeter stöhnte oder verzweifelt mit seinen Händen in die Luft griff, kamen ihr Tränen in die Augen und sie wandte sich ab.
Wir sahen eine ganze Stunde wie gebannt auf die verschiedenen Gesichter. Dann mussten wir wieder in die Fabrik. Aber am Abend gingen wir nicht zu Eilert, wie es besprochen war, wir gingen auf unsre Berge, und dort lagen wir bis Mitternacht. Wir lagen ganz still. Wir sahen in die Luft oder hinunter in die Stadt. Willi zog Gräser durch die Zähne. Hans hämmerte mit den Schuhspitzen auf den Boden, und es sah aus, als lägen da nur ein paar Jungen und freuten sich, weil der Mond am Himmel stand und sie leben und atmen konnten.
Aber wir freuten uns nicht. In jedem von uns brannte ein Feuer, und jeder von uns schürte das Feuer. Wir wussten jetzt, Bacher hatte etwas Richtiges gesagt: wir wollen keinen Krieg, deswegen "Nieder mit dem Krieg!" Und der Pullmann, der vor dem Kriegsgericht stand, war ein größerer Held als der Pullmann, der den belgischen Glasbläser durch den Leib gestochen hatte. Wir sahen jetzt auch wieder: es ging, obwohl der Kaiser gesagt hatte, er kenne keine Parteien mehr, und obwohl unsere Bonzen es bestätigt hatten und wollten, dass wir uns für diesen Kaiser totschießen ließen, eine breite Linie durch die Welt. Aber keine, die mit Grenzpfählen und Marksteinen aufgerichtet war, die man mit Worten wie Nation, Vaterland oder Heimat abstecken konnte. Sie ging mitten durch die Nationen hindurch. Es war unsere Linie, die Klassenlinie, und es war höchste Zeit, dass wir sie wieder ausrichteten.
Es dauerte lange, bis wir, jeder auf seine Weise, zu dieser Erkenntnis gekommen waren, aber dann war es so weit. Willi fing an: "Man müsste etwas tun."
Hans uns Michel nickten. Fritz schlängelte sich näher. "Irgend etwas Richtiges, damit sie es einsehen, die Rindsviecher." Wen er damit meinte, wussten wir nicht genau. Ob die Bonzen oder all die anderen, die den Bonzen jetzt nachliefen.
Alfred, der immer der realste von uns war, sagte: "Aber was?"
"Tja, was!" Wir lagen im Gras und dachten weiter. Es wurde kalt und immer kälter. Tau fiel, aber wir merkten es nicht. Wir dachten ja, und das Feuer in uns wurde immer größer.
Plötzlich sagte Willi: "Einfach überall anschreiben, was uns Bacher alles gesagt hat." Aber Alfred sagte: "Wie sollen wir das machen. Wenn wir es anschreiben wollen, muss es kürzer sein. Und wohin und wie?" Ja, es war nicht so einfach, einen guten und wichtigen Gedanken in die Tat umzusetzen.
Aber dann ging doch alles ziemlich schnell. Eines Tages war Köster da. Köster war ein kleiner, buckliger Schneider. Er war auch bei uns in der Jugend gewesen. Immer ein wenig störrisch, immer ein wenig oppositionell. Er war, gleich nachdem er ausgelernt hatte, auf die Wanderschaft gegangen, und wir hatten ihn aus den Augen verloren. Er kam aus Erfurt, und in der nächsten Versammlung meldete er sich zum Wort. Er sprach gegen den Krieg, auch davon, dass man etwas tun müsse.
Eilert pfiff ihn an wie ein Korporal seinen Rekruten. Die Mädchen kreischten, und die Kleinen warfen mit Papierkugeln nach ihm. Aber Köster pfiff und kreischte wieder. Nun schrie Eilert, aber Köster schrie auch, und zuletzt warfen sie ihn hinaus. Es war ein Glück, dass Eilert nicht noch weiter ging und Köster denunzierte, denn später hat er das oft getan.
Köster war von dem Tag an unser Mann. Er erzählte uns, dass sie in Erfurt, wo er in einem großen Betrieb Zuschneider für Soldatenmäntel gewesen war, Flugblätter verteilt hatten. Winzige Flugblätter. Nichts weiter drauf als "Nieder mit dem Krieg!" oder "Arbeiter, schießt nicht auf eure Brüder!" Sie hatten auch einige in die Mäntel gesteckt, und mit den Mänteln waren die Zettel in die Kasernen und an die Front gekommen. Drei Wochen hatten sie es gemacht. Im Betrieb war nichts passiert, aber plötzlich war eine Anzeige aus Flandern gekommen, und da man nicht erfahren konnte, wer die Attentäter waren, hatte man die Werkstatt aufgelöst, und auch Köster war auf die Straße gesetzt worden.
"Also Flugblätter", sagte Willi. "Also Flugblätter", sagte Hans. Aber das Herstellen war schon schwieriger. "Ihr müsst selber einmal nachdenken!"
Wenn wir früher ein Flugblatt brauchten, gingen wir zum alten Heinemann. Der setzte es, zog den Satz ab, dann überlasen wir alles noch einmal. Heinemann schickte es eine Treppe tiefer, der Satz lief durch eine der großen Druckmaschinen, und das Flugblatt war fertig. Aber jetzt war Heinemann irgendwo an der Front. Wo Heinemann gestanden hatte, stand der lange Kunze. Kunze war ein Freund von Eilert. Nein, Kunze konnten wir nichts von uns zum Drucken anvertrauen. Am nächsten Tag hätte es Eilert gewusst, am übernächsten der Parteivorstand und dann die Polizei.
"Schreiben", sagte Hans.
Alfred: "Du bist wohl verrückt. Jeder kann doch dann sehen, wer die Blätter gemacht hat!" "Zeichnen!"
Das war genau so dumm. Wer sollte außerdem so viele Blätter zeichnen. Wir mussten uns schon etwas Besseres ausdenken.
Wir fragten Köster, wie sie es in Erfurt gemacht hatten. "Mit einer Schreibmaschine." Aber eine Schreibmaschine hatten wir auch nicht. Wir saßen in den nächsten Tagen jede freie Stunde zusammen und
überlegten. Auch während wir drehten, überlegten wir. Es war zum Verzweifeln. Da wollten wir endlich das Richtige tun, und nun hatten wir keine Möglichkeit, es durchzuführen.
Bis Willi eines Morgens sagte: "Es ist alles in Ordnung. Ich habe da etwas ausbaldowert." Wir sollten nur entschuldigen, dass es so lange gedauert, aber der Mann, den er bearbeitet hatte, habe zuerst nicht recht gewollt.
"Was ist es denn?" fragte Hans.
"Eine Handdruckmaschine!"
Wir rissen das Maul auf. "Wo?"
Aber Willi wollte es nicht sagen: "Der Mann, der sie hat, will nur, dass ich und noch einer zu ihm kommen, und wenn nur zwei bei der Arbeit gebraucht werden, müssen es auch nur zwei sein, die es wissen."
Wir sahen ihn an. Traute er uns nicht? Auch ich war nicht einverstanden. Gerade das Gefährliche und Geheimnisvolle war es ja, was uns alle aneinander band, und je mehr wir die weiteren Schritte gemeinsam taten, umso stärker und unlösbarer hingen wir zusammen. Dann war da noch eine Frage: wer sollte der zweite sein? Aber Willi kanzelte uns ab wie Schuljungen. Er sagte etwas von höchster Vorsicht. "Wir sind doch keine Heldenjüngelchen. Keine Studenten, die eine Verschwörung vorhaben. Wir haben einfach unsere Pflicht zu tun, und da schon die russischen Arbeiter wussten, dass fünf lauter pfeifen als zwei, bleibt die Sache bei zwei." Er gab uns allen Strohhalme, und wir mussten ziehen. "Wer den längsten hat, ist der zweite!"
Ich hatte ihn und ich wusste im Augenblick nicht recht, ob es Pech war, dass ich ihn hatte, oder ob ich mich freuen sollte, denn es war ja eine gefährliche Arbeit. Aber Willi fragte gar nicht weiter. Die ganze Sache hatte ihm schon viel zu lange gedauert. "Wir müssen noch heute mit der Arbeit anfangen", sagte er. Wir ließen also die anderen sitzen und zogen los.
Wir mussten durch die halbe Stadt. "Wir gehen zum alten Bauer", sagte Willi. Ich kannte ihn. Er hatte unten am Markt einen kleinen Antiquitätenladen, verkaufte Münzen, Dolche, alte Teller, druckte außerdem Karten und Holzschnitte, die er an Sonn- und Feiertagen in den Restaurants verkaufte. Er war weiß und wohl schon achtzig Jahre alt.
"Der alte Bauer will uns also helfen", sagte ich.
Aber der Alte war es nicht. "Sein Enkel", sagte Willi. Er hieß Karl und arbeitet auch bei uns in der Fabrik. "Ich kenne ihn schon aus der Schule", erzählte Willi weiter. "Wir haben früher oft den halben Laden auf den Kopf gestellt. Karl hockt auch jetzt noch bei seinem Großvater. Seitdem der Alte die Siebzig überschritten hat, muss er sogar bei ihm schlafen. Allerdings nicht in der Kammer, sondern in der Werkstatt auf dem Kanapee." In dieser Werkstatt stand auch die Druckmaschine. Willi hatte sich plötzlich wieder ihrer erinnert. Er wusste sogar, wie sie bedient wurde. "Ich habe dem Alten oft bei dem Druck seiner Karten und Holzschnitte geholfen."
Es war nicht leicht gewesen, den Jungen in die Sache einzuweihen und ihn dazu zu bringen, dass er uns half. Willi erzählte mir noch, wie viel Zigaretten und wie viel Bier es gekostet hatte. "Ich habe ihm sogar meine Briefmarkensammlung versprechen müssen, bis dieser triefäugige Kerl damit einverstanden war, dass wir abends in die Werkstatt können, um etwas zu drucken, was nichts kosten soll."
Ich fragte ihn noch, ob Karl auch wüsste, was wir drucken wollten. "Rindvieh", sagte Willi - so grob konnte Willi werden - "natürlich nicht."
Ich verzog den Mund. "Na, gute Nacht!" Denn ich konnte mir nicht denken, dass uns Karl einen Augenblick aus den Augen ließ, wenn wir vor der Druckpresse standen. Aber dann sah ich, dass Willi auch das einkalkuliert hatte und dass alles besser ging, als zu erwarten war.
Es war ja noch einer da, der nichts wissen durfte. Nicht einmal, dass wir an die Handpresse gingen. Der Alte. Wir konnten also nur in die Werkstatt, wenn Vater Bauer die Werkstatt verlassen hatte. Er verließ sie abends zwischen acht und zehn. Er saß dann im benachbarten "Bären" und trank mit dem alten Gerber seinen Abendschoppen. Es war aber nie gewiss, ob Vater Bauer pünktlich um zehn ging. Oft krachte er sich mit dem alten Gerber, dann stieß er einfach sein Bier auf die Seite, ließ den alten Gerber sitzen und schaukelte heim. Das wusste Karl, aber auch Willi. Beide hatten nun ausgemacht, dass Karl ab neun vorn in den Laden ging und hinter den Gardinen Schmiere stand. Kam Vater Bauer, so wollte er pfeifen. Wir mussten dann alles zusammenpacken und auf den Hinterhof gehen. Wenn der Alte im Bett war, wollte uns Karl durch den Laden wieder hinauslassen. Wir hatten also immer eine Stunde, wo wir unbeobachtet waren, und von acht bis neun mussten wir etwas anderes drucken. Ich war erstaunt, wie gut Willi auch das vorbereitet hatte.
Karl stand schon hinter der Tür, als wir klopften. "Schnell", sagte er. Wir gingen hinein, und er brachte uns gleich in die Werkstatt. Es war ein sonderbarer Raum, voller alter Dinge und Gerüche. Und mitten in dem alten Krempel, unter Bildern und Statuetten, stand auf einem schweren Unterbau die Presse.
Aber wir hatten keine Zeit, uns umzuschauen. Willi zog schon einen dicken Karton aus der Tasche. Ich hatte ihn vorher nicht gesehen, und ich konnte auch nicht erkennen, was darauf war. Ein paar sonderbare Schnörkel und Löcher. Karl half zuerst. Er brachte eine schwarze Schmiere, schmierte sie über den Karton, dann klemmte er die Presse auseinander, schob den Karton darunter, ein Stück weißes Papier darüber, eine Platte darauf, und dann warf sich Willi auf die große Schraube und ließ sie mit einem Schwung auf Platte, Karton und Papier hinunter sausen.
Wir drehten sie beide wieder auf, Karl hob die Platte. Auf dem weißen Papier waren vier sonderbare Vögel, um die Vögel ein paar geschwungene Linien, inmitten der Linien stand "Bund der Falken".
"So", sagte Karl. "Einen neuen Bund wollt ihr also gründen. Das ist das Geheimnis."
Willi kniff nur das rechte Auge zusammen, ich blinzelte mit, dann druckten wir schweigend weiter. Plötzlich rasselte die Uhr, "Neun", sagte Karlchen. "Ich will mal lieber gehen. Der Kleine wird' s ja nun wahrscheinlich auch können!" Und wie ich es konnte! Einmal sah mir Karl noch zu, dann ging er wirklich.
"Schnell", sagte Willi. Er hatte schon einen anderen Karton aus der Tasche genommen. Er war größer als der erste. Willi strich zweimal mit der Schwärze darüber. Ich legte das Papier bereit, Willi die Platte über beides, dann knallte die Schraube nach unten. Wir drehten sie mühsam wieder nach rechts. Willi hob die Platte hoch, und wir konnten es beide lesen: "Nieder mit dem Krieg!" stand groß und mit seltsam schweren Lettern auf dem weißen Papier.
Es war zu zweit schwerer als zu dritt. Wir konnten auch nicht lange drucken. Zehn vor zehn kam Karl sicher wieder herein. Außerdem mussten unsere Blätter ja auch trocknen, Wir konnten also kaum dreißig Blätter drucken.
Fünf Abende druckten wir so. Es war eine harte Arbeit. Die anderen bekamen uns in dieser Zeit kaum zu sehen. Nur in der Mittagspause lachten wir uns geheimnisvoll zu, und ich zischte: "schon sechzig!" "Schon neunzig!" "Schon hundertzwanzig!"
Willi. nahm die Blätter immer mit. Wir hatten in unserer Schulzeit in einem alten Steinbruch einen Geröllhaufen, den wir mit Brettern und Ästen zugedeckt hatten und unsere Burg nannten. Darin versteckte Willi sie. Hundertfünfzig hatten wir nun. Das war fürs erste genug, und ich musste die anderen benachrichtigen, dass wir fertig waren.
Am nächsten Abend kamen wir alle in der Burg zusammen. Es waren kleine Sitzplätze da. Jeder hatte einen, und Willi saß in der Mitte auf einem erhöhten Platz. Er war schon früher unser Häuptling gewesen.
"Na, zeigt sie einmal her", sagte Alfred, und alle drängen sich um Willi und mich.
Wir zeigten sie ihnen. Sie sahen die Blätter sonderbar überlegen an. Sicher, sie waren nicht schön. Es war altes, vergilbtes Papier. Wir hatten auch manchmal gewackelt. Die Buchstaben waren verschwommen. Der Druck saß auch nicht immer in der Mitte. Hans, dieser Schweinehund, zog sogar die Augen in die Höhe und die Lippen auseinander.
Willi sagte ihnen, wie schwer das Drucken war. Was für Mühe und Arbeit es gemacht hatte. Er sprach auch von den Gefahren: "Steckt also gefälligst euer Lachen ein. Das nächste Mal könnt ihr es übrigens besser machen!"
Sie lachten schon nicht mehr. Es kam ja auch gar nicht darauf an, wie die Zettel aussahen, die Hauptsache war, dass sie überhaupt da waren und dass sie so schnell wie möglich verteilt wurden.
Hans sagte: "Wir werden sie morgen auf die Werktische legen." "Ja", sagte Alfred, "wir gehen ein paar Minuten früher hin und verteilen sie." Michel: "Oder wir streuen sie in die Garderobe." Fritz: "Ich klebe meine in unsre Klosetts." Jeder wusste etwas und jeder gab es zum Besten.
Aber Willi hatte wohl andere Pläne. Er sagte zu allem bloß: "Ja, ja", oder "Vielleicht", oder er wiegte nur seinen Kopf hin und her. Alfred wurde ärgerlich. "Mach doch bessere Vorschläge", knurrte er.
Willi sagte: "Hauptsache ist, dass die Zettel ziemlich viele bekommen, und noch wichtiger ist es, dass die Zettel auch gelesen werden. Wenn wir sie aber auf die Plätze legen, sieht sie der erste, der kommt, macht ein Geschrei, und bevor die anderen kommen, haben sie die Meister schon zusammenklauben lassen, und sie sind zum Teufel!"
"Und in der Garderobe", sagte Michel.
"Wenn wir sie hinstreuen, hebt sie der erste auf, zeigt sie dem Portier und der kehrt sie zusammen."
Michel: "Dann müssen wir sie eben jedem in seinen Spind stecken." Hans: "Und in der Werkstatt jedem in seinen Werkzeugkasten."
Willi nickte: Wenn dann einer seinen Kasten aufzieht und den Zettel sieht, schiebt er den Kasten sicher im ersten Schreck wieder zu, besieht sich später den Zettel zum zweiten und dritten Male, und sein Nachbar macht es bestimmt genauso. Jeder hat doch zuerst das Gefühl, vielleicht habe ich allein so einen Wisch im Kasten, und wenn ich ein Geschrei mache, sitze ich in der Patsche!"
Wir lachten. Willi hatte sicher recht. Hans sagte: "Ich sehe sie schon. Vor allen Dingen unsern kleinen Angermann. Der wird sicher Blut schwitzen."
Willi verteilte die Zettel. Michel war in eine Großdreherei gekommen. Er musste die meisten haben. "Steckt sie in die Jackentasche", sagte Willi", und behaltet ja keinen bei euch. Sie suchen dann sicher in allen Spinden und allen Taschen."
Wir brummelten etwas, als wir wieder ins Tal stiegen. Wir waren trotz aller Aufregungen und allem, was passieren konnte, wieder froher. Wir wussten übrigens kaum, dass auch jeden Zettel, den wir bei uns trugen, zehn Jahre Zuchthaus oder Arbeitshaus standen. Wir wussten nur, wir taten wieder etwas. Wir saßen nicht mehr herum und ließen uns von Eilert beschwatzen und von Ehrler Siegesmeldungen ins Hirn träufeln. Wir waren wieder auf dem Marsch.
Es geschah dann alles so, wie es Willi vorausgesagt hatte. Ich hatte über Nacht meine Zettel unter dem Kopfkissen. Früh stopfte ich sie in die Hosentaschen. Es fiel nicht weiter auf, dass wir mit die ersten waren, die durch die Tore kamen. Wir waren es sonst auch. Ich zog mich hastig um; auch das war wichtig, dass wir in unseren Arbeitskitteln in die Werkstatt gingen.
Ich schob meine Zettel ohne große Mühe zwischen Werkbank und Schubfachleiste in die Werkzeugkästen. Immer einen, denn wir hatten ja so wenig. Die letzten vier für die Dreher kamen in ihre Garderobeschränke, die Dreher hatten keine Arbeitskästen. Dann ging ich aufs Klosett und kam nach ein paar Minuten wieder.
Es war kaum etwas zu merken. Laatsch saß an seinem Platz und stierte in seinen Kasten. Der dicke Ackermann machte seinen Kasten
einmal auf und einmal zu. Meier 2 hatte sich, um besser zu sehen, seine Brille auf die Nase geschoben. Der alte Michel hatte den Mund offen. Prohaska lachte sogar, dieser Himmelhund. Er freute sich sicher. Ja, Willi hatte recht, jeder saß vor seinem Kasten, wie ein Vogel, der ein falsches Ei in seinem Nest gefunden, oder wie einer, den ein Schlag getroffen, kein harter, aber einer, der es in sich hat.
Meier 2 war der erste, der seinen Schock überwand. Er ging in die Meisterbude zum alten Fritz und bat ihn, er möchte einmal mitkommen. Der alte Fritz kam mit. "Da", sagte Meier und zeigte auf seinen Kasten. Der alte Fritz sah hinein, nahm den Zettel heraus und hielt ihn vor seine Augen. Dann sah er Meier 2 an, dann schaute er in die Abteilung, und dann ging er genau so langsam, wie er gekommen war, wieder an seinen Platz. Dann kam Wulf und brachte seinen Zettel, und dann kamen noch mehr. Es war ein ewiges Gehen und Kommen, und ich nahm auch den meinen und brachte ihn zum alten Fritz, und der alte Fritz wurde immer blasser und wusste kaum noch, was er sagen sollte.
Dann kam der Obermeister und sah die Zettel an, dann der Betriebsingenieur, dann der Betriebsführer, und dann kam Preller, der Kriminalbeamte Preller, mit noch einem Mann, den ich nicht kannte, und dann kam ein Schutzmann in Uniform mit einer Mappe. In diese Mappe kamen die Zettel alle hinein.
Unterdessen sprach sich' s herum: "Auch in Abteilung 4 sind solche Zettel gefunden worden!" "In Abteilung 1!" "Bei Bollert in der Fräserei!" "Bei Immich, in der Optik!" Es waren überall dieselben Zettel. Es war eine große Aufregung, und man sprach von Vaterlandsverrat und von Untersuchungen, von Schande für die Firma und von schlimmen Folgen. Ich drehte und drehte und sah mich kaum um und wartete nur, dass es Mittag wurde und dass ich auf die Straße kam.
Wir trafen uns wie immer am Tor. Aber jeder blinzelte nur mit den Augen. Dann mischten wir uns unter die anderen, auch das hatte Willi mit uns besprochen. Überall tuschelte man von schlimmen Sachen, die passiert waren. Dass es sich um Flugblätter gegen den Krieg handelte, sagte man nur ganz geheimnisvoll. Einer sagte: "Das waren sicher Franzosen oder Engländer, die die Flugblätter verteilt haben. Sie haben sich gestern Abend eingeschlichen und sind heute Morgen mit der Frühschicht wieder hinaus." Ein anderer sagte: "Nein, es waren Russen." Jeder wusste etwas anderes. Der kleine Ernemann: "Man hat schon einen bestimmten Verdacht." Unser Portier: "Man hat schon zwei verhaftet." Alfred sprach manchmal mit, und wir mussten die Zähne zusammenbeißen, um nicht heraus zuprusten.
Einer wusste sogar, wer die Kerle waren, die die Flugblätter in seiner Abteilung verteilt hatten, und Michel, der danebenstand, kniff mich dabei zweimal in den Arm, so heftig, dass ich beinahe geschrieen hätte. Fritz, der Schweinehund, hatte wirklich ein paar Zettel in die Klosetts geklebt. Der dicke Hahnemann erzählte es. Er hatte den kleinen Heinrich gesehen, wie er, die Hose in der Hand, aus dem Klosett geschossen kam. Der dicke Hahnemann lachte: "Ich glaube, er hätte lieber in die Hosen geschissen, als mit so einem Plakat eine Minute allein zu sitzen." Fritz stand hinter dem dicken Hahnemann und hörte zu. Er hätte sich beinahe die Zunge abgebissen.
Dann war die Pause vorbei, und wir mussten noch einmal hinein in den Kasten, drehten und schrubbten, nahmen eine Kapsel nach der anderen von der Drehscheibe und warfen sie in die Körbe. Preller kroch noch immer durch die Abteilungen, und der Polizist schrie und suchte noch immer nach Flugblättern. Dann schlug es endlich fünf, und wir konnten uns waschen, die Kittel ausziehen und die Bude verlassen. Wir ließen alles hinter uns, die Fabrik, die Straßen, die Stadt und zogen wieder auf unsre Berge.
Da lagen wir nun. Wir sagten noch immer nichts. Willi zog wieder Gras durch die Zähne. Hans trommelte mit den Schuhspitzen auf den Boden. Michel spuckte ein paarmal durch die Luft. Aber das alles war keine richtige Ruhe. In uns sah es ganz anders aus. Wir waren irgendwie durchgeschüttelt, aufgeplustert, gehoben. Wir wussten nur noch
nicht, wie wir das alles aus uns heraus brausen lassen sollten, und dann kam es. Ganz plötzlich. Alfred brummte das Lied von der "Jungen Garde". Drei Monate hatten wir es nicht gesungen, und jetzt kam es wieder aus uns heraus. Irgendwie von ganz unten. Es war wie ein Wind, wie ein Sturm. Wir sangen es bis zu Ende.

 

LEGIONÄR BLÉROT

In Kong, einer Stadt in Indochina, war unter den Arbeitern einer Fabrik wegen einiger Cents Abzüge eine Revolte ausgebrochen. Sie war weder schlimm noch blutig, da aber die Arbeiter bereits den dritten Tag feierten, telegraphierten die Behörden von Kong in eines der benachbarten Militärlager, und noch am gleichen Tag marschierte in Kong ein Bataillon Legionäre ein, das die Aufständischen auseinandertrieb und fünf von ihnen, die die örtliche Verwaltung als Rädelsführer bezeichnet hatte, verhaftete.
Diesen fünf machte das Kriegsgericht, das aus dem Bataillonskommandeur, einem weiteren Offizier und zwei Beamten der Stadt Kong bestand, noch am gleichen Tag den Prozess. Nach kurzer Verhandlung wurden die fünf, wie das allgemein in Kolonialländern üblich ist, zum Tode verurteilt, und zwar sollten sie erschossen werden.
Da aber schon die sechste Abendstunde vorbei war, als das Gericht seine Verhandlungen beendete, und das Bataillon, das die Exekution vollziehen sollte, bereits in die Ruhequartiere abgerückt war, musste die Erschießung der fünf auf den nächsten Morgen verschoben werden. Der Kommandeur ordnete nur noch an, dass die Gefangenen in die Hände seines verlässlichsten Unteroffiziers kamen, eines gewissen Limon, der den Auftrag bekam, sie mit vier seiner besten Leute bis zum nächsten Morgen zu bewachen.
Dieser Limon ließ die fünf, um eine Flucht oder eine gewaltsame Befreiung zu verhindern, in Eisen legen und brachte sie außerdem auf eine Sandbank, die in dem Fluss Me Kong lag, der die Stadt Kong in der Mitte wie ein Messer zerschneidet. Auf der Insel teilte er seine Leute für die Wache ein. Jeder hatte zwei Stunden zu wachen, und die erste Wache übernahm Limon selber.
Unter den vier Leuten, die Limon unterstanden, war nun ein junger Arbeiter namens Blérot, den nur die Arbeitslosigkeit von seiner Drehbank in diese Truppe und nach Indochina verschlagen hatte. Er war
erst 22 Jahre alt, aber durch eine gute proletarische Schule gegangen, und er wusste, dass die fünf Gefangenen kein "lausiges, dreckiges Annamiten- und Chinesenpack" waren, wie der Major bei der Verkündigung des Urteils gesagt hatte, sondern Arbeits- und Klassengenossen von ihm, und es war eine Schande, dass er sie bewachte. Er gehörte eigentlich an ihre Seite,
Den Soldaten Blérot beschäftigte das von dem Aufgenblick an, da er zu der Bewachung kommandiert wurde, und wenn er sich auch klar war, dass es eine Dummheit gewesen wäre, wenn er offen aus der Wachmannschaft herausgetreten wäre und sich neben die Gefangenen gestellt hätte, so dachte er doch unaufhörlich darüber nach, wie er den Gefangenen helfen und sie aus ihrer misslichen Lage befreien könnte.
Er war noch immer zu keinem Entschluss gekommen, als er plötzlich an der Schulter gefasst wurde. Es war sein Kamerad Lacour, der sich niederlegen wollte, weil Blérots Wache begann. Blérot sprang auf, wartete noch, bis Lacour zwischen den beiden anderen einen Platz gefunden hatte, dann schulterte er seinerseits das Gewehr und ging zu den Gefangenen hinüber.
Die Sandbank war nur spärlich mit Gras und Gebüsch bewachsen. Die Gefangenen lagen, etwas erhöht, nebeneinander. Er ging zweimal an ihnen vorbei. Sie lagen alle zusammengekrümmt im Sand. Limon hatte ihnen nicht nur Hände und Füße in Eisen legen lassen, zwischen die Eisen war noch ein kurzer Strick gebunden, der die Füße an die Hände heranzog.
Blérot sah die Gefangenen eine Weile an. Es waren große, athletische Kerle. Sie hatten nichts weiter wie einen Tuchfetzen um den Leib und über der gewölbten Stirn ihre buschigen, kurzen Haare. Als jetzt der Mond aus den Wolken trat, sah er auch ihre Augen. Die Männer schliefen nicht, wie er zuerst gedacht hatte. Sie sahen ihn sogar an, aber nicht klagend oder ängstlich, sondern ruhig, abschätzend, ja beinahe ein wenig mitleidig.
Das berührte den Soldaten Blérot so sonderbar, dass der Wunsch,
den fünf zu helfen, alles andere in ihm überstimmte, und wie das manchmal geschieht, in dem Augenblick, als ihn das überfiel, hatte er auch schon einen Plan, und er war selber erstaunt, dass ihm das nicht früher eingefallen war.
Das Wichtigste dabei war Schnelligkeit und dass ihm die Gefangenen keine Schwierigkeiten machten. Das war nicht leicht, denn er kannte kein Wort von ihrer zischenden Sprache und musste sich ganz auf seine Mimik und ihren Verstand verlassen. Aber er versuchte es. Er trat an die fünf heran, legte dabei einen Finger auf den Mund und zog ein Messer aus der Tasche. Mit dem Messer schnitt er die Stricke durch, die die Hände und Füße zusammenbanden. Dann hob er den ersten in die Höhe, schob ihn über die Schulter und ging mit ihm zum Wasser. Am Wasser zeigte er nach links, dann nach rechts, und als der Mann bei rechts nickte, ging Blérot tiefer ins Wasser, legte sich auf den Rücken, hielt den Gefangenen drei Handbreit von sich ab und versuchte nach der Stadt hinüberzuschwimmen.
Es war nicht leicht. Der Mann war schwerer, als Blérot gedacht hatte, außerdem war das Wasser kalt und reißend, und es dauerte beinahe zehn Minuten, bis er das Ufer erreichte. Er sah sich um. Es war niemand in der Nähe. Er zog den Gefangenen hinter sich her, legte ihn behutsam zwischen ein paar Bohlen, winkte ihm noch einmal zu und schwamm dann eilig nach der Sandbank zurück.
Als er die Sandbank wieder betrat, merkte er, dass die Gefangenen ihm vertrauten. Sie hatten bereits das wenige getan, was sie tun konnten, um ihm bei seinem Rettungswerk zu helfen. Er musste nicht wieder hinauf zu ihnen steigen, der zweite hatte sich schon ans Wasser gerollt, und Blérot musste ihn nur unter die Arme nehmen, ihn tiefer ins Wasser ziehen, und dann konnte er abstoßen. Er versuchte, an der gleichen Stelle zu landen wie das erste Mal. Es war auch nicht schwer. Aber gerade als er den zweiten neben den ersten legen wollte, merkte er, dass der Platz leer und der Mann in der Zwischenzeit verschwunden war.
Blérot hielt sich nicht lange bei dieser Tatsache auf und lief wieder ins Wasser, um auch den dritten zu holen. Als er auch diesen glücklich am Ufer hatte, sah er noch, wie der zweite fortgetragen wurde. Die Gefangenen hatten also trotz ihrer Fesseln schon eine Verbindung zu ihren Kameraden hergestellt. Blérot war das recht, denn der Weg durch das Wasser war ja erst der Anfang der Rettung, und er hatte sich schon viel Gedanken darüber gemacht, wie er die Gefesselten weiterbringen sollte, Nun wurde ihm das von den Kameraden der Gefangenen abgenommen.
Er schwamm das dritte Mal zurück. Dabei merkte er, dass er langsam müder wurde und dass seine Arme schon ganz steif waren; auch das Herz hämmerte sonderbar hart gegen die Brust, und er machte sich ernstliche Sorgen, ob er den vierten und den fünften noch an das Ufer bringen würde. Nun, er wollte es versuchen.
Mit dem vierten glückte es auch, als er aber den fünften hinter sich herzog, spürte er, dass er nicht mehr bis ans Ufer kommen würde. Hatte der vierte nun etwas von Blérots Müdigkeit gemerkt, oder waren die Männer, die die Gefangenen in Empfang nahmen, selber auf den Gedanken gekommen, aber von der Stadt kam ein Floß mit zwei Ruderern. Blérot rechnete schon damit, mit seinem Gefangenen von einem Strudel in die Tiefe gezogen zu werden, da war das Floß an seiner Seite. Einer der Ruderer griff nach dem Gefangenen, und der zweite wollte ihn aus dem Wasser ziehen.
Aber das stand nicht im Plan unseres tapferen Soldaten. Er schob die helfende Hand zurück und schwamm langsam mit seinen letzten Kräften wieder zur Insel, Er wartete noch, bis das gebrechliche Fahrzeug die Mitte von Insel und Ufer erreicht hatte, dann nahm er sein Gewehr und schlich auf den oberen Teil der Sandbank. Dort schoss er zweimal in die Luft und warf sich rücklings das sechste Mal ins Wasser.
Durch die Schüsse, die wie eine Kanonade durch die Nacht knallten, wurde alles geweckt, was noch auf der Insel war. Limon riss sich als erster die Decke vom Leib. "Die Gefangenen!" schrie er. Auch die anderen sprangen in die Höhe und stierten auf den Platz, wo die fünf gelegen hatten, dann sahen sie, die Hände an den Flinten, auf die Wellen des Me Kong.
Auf dem Fluss war aber nichts weiter zu sehen als ein entschwindendes Fahrzeug und die Montur eines ihrer Kameraden, die gerade vor ihren Augen von den Wellen vorbeigetrieben wurde. Limon, der noch immer schimpfte und schrie, schoss einige Male nach dem Floß, die anderen sprangen ins Wasser, um zu sehen, ob in der Montur noch ihr Kamerad Blérot steckte oder ob ihn die verdammten Annamiten massakriert und die Montur und den Kerl, der darin war, gesondert ins Wasser geworfen hatte.
Blérot stak noch darin, aber er sah grau und käsig aus, und es nützte auch nichts, dass sie ihm Branntwein einflößten. Er schlug zwar einmal die Augen auf, aber dann fiel er in eine tiefe Ohnmacht.
Durch die Schießerei war die halbe Stadt und auch das Bataillon geweckt worden, aber obgleich nun das ganze Hafenviertel Hütte um Hütte durchsucht wurde, fand man keinen der Ausreißer wieder, nur in einer alten Schmiede die Fuß- und Handeisen der Gefangenen. Jemand hatte die Fesseln mit einem Meißel auseinandergeschlagen, und den Gefangenen war es dann wohl nicht schwer gewesen, allein weiterzufliehen.
Auch aus dem Soldaten Blérot war, als er am späten Nachmittag endlich vernehmungsfähig war, nicht viel herauszubekommen. Er entsann sich nur dunkel, bei einem seiner Wachgänge plötzlich bemerkt zu haben, dass um die Gefangenen ein paar Männer schlichen. Er sei langsam näher gekommen, aber in dem Augenblick, als er Lärm schlagen wollte, sei er von hinten umkrallt, zu Boden gestoßen und niedergeschlagen worden. Wieder zur Besinnung gekommen, habe er noch gesehen, wie die Männer die Gefangenen auf einer Art Floß fortbrachten. Er habe sofort zu seinem Gewehr gegriffen, zweimal auf das Floß geschossen, wohl auch getroffen, dann sei er aber erneut von ein paar Gelben angegriffen worden, die ihm das Gewehr entreißen wollten. Da er das Gewehr nicht losgelassen habe, sei er von ihnen ins Wasser gestoßen worden, und dann wisse er nichts mehr.
Da er wirklich sehr erschöpft war, fiel er nach dem langen Reden das zweitemal in Ohnmacht, und da sein Körper auch sonst alle Symptome von Müdigkeit und Erschöpfung zeigte, wurde er noch am gleichen Tage in das örtliche Krankenhaus gebracht. Er blieb dort zehn Tage, und als er wieder entlassen wurde, war bereits so viel Gras über die ganze Geschichte   gewachsen, dass sich sein Truppenteil seiner nur noch als eines unerschrockenen, tapferen Soldaten entsann, Er wurde sogar für seine Unerschrockenheit vor dem ganzen Bataillon gelobt und mit einer Medaille ausgezeichnet.
Nun, Blérot war klug genug, die Medaille genau so ruhig entgegenzunehmen, wie er eine Degradierung oder Beschimpfung entgegengenommen hätte. Nur wenn man ihn später fragte, nachdem er schon lange aus Kong und aus Indochina zurück war und im dreizehnten Bezirk von Paris wieder an einer großen Revolverbank Räder drehte, was ihm in jenen Tagen in Indochina die größte Freude gemacht hätte, dann sagte er nicht seine Medaille oder die Tage in der Legion, sondern er zeigte ein zierliches Messer mit einem silbernen Griff, in dem mit sonderbaren Schriftzeichen: "Dank an den Genossen Blérot" stand. Es war ihm, als er in Kong im Krankenhaus lag, von fünf annamitischen Arbeitern geschenkt worden.

 

DER MARSCH NACH GIRGENTI

I.

"Es scheint wirklich Krieg zu geben", sagte der alte Aprile zu Giorgio, stöhnte und stemmte sich langsam in die Höhe, denn es war heiß, die Erde kochte, und von den Hängen des Canicatti kroch eine kalkige Staubwand herunter. Giorgio, er war ein langer, sehniger Kerl und der Gehilfe des Alten, nickte nur. Sie bedienten beide die kleinen Öfen, in denen der Schwefelkies, den sie vorher in der Sonne zu länglichen Broten gebacken hatten, langsam zu einer zähen, flüssigen Masse gebrannt wurde.
"Man müsste doch etwas gegen ihn tun", sagte der Alte wieder. "Aber was?" fragte Giorgio und wischte sich den Dreck von dem schweißigen, braunen Gesicht. "Ja, was", wiederholte der Alte und fasste nach den gelben Schwefelbroten. Es war sicher auch schwer, etwas gegen den Krieg zu tun, denn vorläufig wurde die Nachricht, dass der Duce in Abessinien einfallen wolle, von den Leuten in Canicatti verhältnismäßig ruhig aufgenommen.
"Dio mio", sagten sie, wenn der alte Aprile davon anfing, "wo liegt denn dieses Abessinien?" Oder: "Warum machst du dir überhaupt Sorgen, Alter?" Der Krieg selber lag für sie in weiter Ferne. Er war tot, und sie wollten gar nicht wissen, dass er einmal wiederauferstehen könnte. Als die Zeitungen alle Tage vom Krieg schrieben, schüttelten sie allerdings auch die Köpfe. Aber dann überblätterten sie die ersten Seiten, und als eine Woche später beinahe alles in den Zeitungen mit Kriegsmeldungen angefüllt war, sahen sie einfach nicht mehr hinein. Man erfuhr ja das, was wichtig war, auch auf der Straße, beim alten Pedro oder unten in der Grube.
Aber plötzlich stand überall, dass die Jahresklassen 1913 und 1914 zurückgehalten werden und dass die ersten Soldaten bereits nach Afrika unterwegs seien. Das machte auch die Ruhigsten unruhig. "Soso", sagten sie, "der Duce möchte also doch anfangen." Oder: "Als ob wir nicht vom letzten Kriege noch genug auf dem Pelze hätten."
Da liefen auch schon die Mädchen aufgeregt von Tür zu Tür. "Der Nello kommt nicht nach Hause", sagte die Tochter des alten Pedro, "und wir wollten doch im Sommer heiraten!" Die Tochter des alten Baretta sagte: "Der Renatus schreibt", und sie las den Brief vor: "Liebe Angeletta! Wir müssen nach Obbia fahren, und das ist weit in Somaliland!" Auch die alte Soala weinte und zeigte einen Brief ihres Sohnes. "Er ist schon auf dem Schiff, und wer soll mir in diesem Jahr den Wein hochbinden! 1916 haben sie mir den Mann genommen, und nun nehmen sie mir noch den Sohn!"
Die Männer trösteten sie: "Wir haben dir den Wein im vorigen Jahr hochgebunden, wir werden ihn dir auch dieses Jahr hochbinden, und dein Junge kommt schon wieder. Es ist ja noch nicht Krieg. Er", und sie meinten den Duce, "will mit den Soldaten, die er nach Somaliland schickt, die Schwarzen nur schrecken!"
Aber sie waren nun ernstlich beunruhigt, und sie wurden es noch mehr, als eines Morgens mit großen Buchstaben an dem Tor, das in ihre Schwefelgrube führte, stand, dass der Jahrgang 1911 einrücken solle. Das war nicht mehr etwas, was sie nichts anging. Das waren sie selber. Das war Mario, der Strohkopf, das war Giorgio. Das waren zwei von der Nachmittagsschicht, Und so hatte es auch 1915 angefangen. Jahrgang 1890, Jahrgang 1891, sogar den Jahrgang 1900 hatte man am Schluss eingezogen. Und einer nach dem anderen war gegangen und einer nach dem anderen war nicht wiedergekommen, oder wenn er wiederkam, fehlte ihm ein Bein wie dem alten Lazarri oder das Augen licht wie dem alten Ruffino. Sie waren Krüppel geworden und keine Männer mehr, und es war furchtbar, sie anzusehen.
Der alte Aprile sah den roten Zettel zuerst. Er las ihn von oben bis unten, schneuzte sich dann umständlich und ging weiter. Er hatte es kommen sehen und die anderen gewarnt. Der alte Baretta konnte leider nicht lesen. Er wartete, bis Mario kam. Aber Mario las nur die Überschrift, dann stockte er, sagte "O Madonna!", stopfte sich seine große Wasserflasche in die Tasche, ließ den alten Baretta stehen und rannte davon. Anselmo und Peppo, die nach ihm kamen, lasen dem Alten den ganzen Aufruf vor. Der alte Baretta, der im Kriege zwei Finger verloren hatte und dem in der Hüfte noch ein großer Eisensplitter saß, verstand jetzt den jungen Mario, und er ging heim, als wäre er geschlagen worden.
Sie hatten es nach und nach alle gelesen, die noch ihr Brot beim alten Madrazzi fanden. Und alle waren still geworden, still und schweigsam, und waren heimgesegelt wie übervolle Schiffe. Daheim saßen sie in der Küche, wuschen sich nicht, zogen sich nicht aus, tranken nicht, schoben den Napf mit der Suppe auf die Seite. Nein, auch Wein wollten sie nicht. Sie dachten. Sie dachten ganz langsam und stückweise. Der alte Aprile sagte wieder: "Man müsste etwas machen!" Aber was sollten sie machen? "Man muss!" sagte auch der alte Baretta, stand auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. Alle sagten es, und dann schoben sie ihre Schüsseln noch weiter von sich, nahmen die Kappen und stampften hinaus.
Sie stampften nur hinaus, um zu sehen, was draußen war. und siehe da, da stand Giorgio vor seiner Tür und dort der alte Renato, und dann schoben sie sich alle zusammen und gingen durch ihre kleinen, armseligen Gassen hinüber zum Fluss und zum alten Ferdinando. Beim alten Ferdinando saßen schon viele. Es wurde auch da wenig gesprochen. Jeder dachte noch, und jeder wartete darauf, dass vielleicht ein anderer schon zu einem Entschluss oder zu einem Ende kommt. Sie saßen beinahe den ganzen Abend so zusammen, tranken in kleinen Schlucken von ihrem Wein, rauchten und spuckten aus und blickten mit halb zusammengekniffenen Augen durch die blinden Fensterscheiben auf die Straße.
Die Unruhe der Männer war unterdessen auch über die Frauen gekommen. Was war mit diesen Kerlen, dass sie nicht einmal den Wein tranken, den man ihnen vorgesetzt hatte? "Ich habe Polenta und Piselli im Topf", sagte die alte Aprile, "und der Kerl hat einfach nichts gegessen, nicht einmal einen Löffel voll." "Ja", sagte Anna, Peppos Frau, "es ist wie damals, als sie die beiden Sartoris aus der Grube brachten. Wisst ihr es noch, die beiden, denen der Stein das Gedärm aus dem Leib geschlagen hatte. Damals saß der Alte genauso da." Die anderen erzählten dasselbe. Dann sprach es sich herum, was geschehen war. Marios Braut erzählte es. Stoßweise brachte sie es heraus, die Hände auf die Brust gepresst, die Augen rot und verschwollen. "Mario soll einrücken! Morgen schon! Aber Mario ist in die Berge gegangen. Der Duce soll selber nach Abessinien fahren, wenn er durchaus den Schwarzen ihr Land stehlen will, hat er gesagt. Ich fahre nicht. Ich nicht!"
Die Frauen zogen ihre Gesichter zusammen, als hätten sie Essig getrunken. "So", sagten sie, "der Mario soll einrücken?" Plötzlich schrie die kleine Maria, die Tochter des alten Aprile: "Aber wenn der Mario einrücken muss, muss doch auch Giorgio einrücken. Sie waren zusammen in Messina, und dein Mann auch, Charlotta, und auch der Vincens !"Aber Maria brauchte gar nicht so zu schreien, es hatte die anderen ohnedies schon gepackt. Sie wussten auch genau: wenn erst einer der Männer aus ihrer Reihe ging, gingen auch die anderen; und als wäre ihnen auf einmal ein Messer in den Leib gefahren, schrien sie alle durcheinander. Sie hoben die Hände dabei. Nein, sie stießen sie in die Höhe, und es sah aus, als wären sie irre geworden oder als wüssten sie vor Schmerzen nicht mehr, was sie tun sollten.
Da läuteten über Canicatti die Glocken. Das Geläut kam aus der Kirche des heiligen Giorgio, in der der Pater Robertus amtierte. Der Pater Robertus war ein alter Mann. Die Frauen kannten ihn alle und hatten ihn gern, und wenn er vor dem Abendläuten die Glocken läuten ließ, war es sicher etwas Wichtiges, was er ihnen zu sagen hatte. Vielleicht wusste er schon, dass man wieder einmal nach ihren Männern griff, und er wollte deswegen zu ihnen sprechen?
Der Pater Robertus hatte vom örtlichen Fascio den Auftrag bekommen, eine Messe für die Männer zu lesen, die am nächsten Morgen nach Girgenti fahren sollten. Er hatte bereits nach den Männern schicken lassen, aber es war keiner von ihnen daheim gewesen. Nun kamen wenigstens die Frauen. Sie kamen recht zögernd in den großen dunklen Raum, zögernder als sonst, denn es ist nicht einfach, mit
einem Schmerz im Leibe in diese große Dunkelheit hineinzugehen. Aber langsam füllte sich die Kirche, und als der Pater Robertus die Kanzel betrat, waren es beinahe dreihundert Mütter und Bräute, Frauen und Kinder, die auf den Bänken und Stühlen saßen.
Pater Robertus erhob seine Stimme und sagte: "die Messe, die wir heute Abend abhalten wollen, ist eigentlich eine Messe für die Männer, die der Duce zu den Fahnen gerufen hat, und die morgen nach Girgenti und von Girgenti nach Afrika fahren. Aber da die Männer nicht da sind, wollen wir sie zusammen für die Männer halten. Wir wollen für sie beten und ihnen alles Gute und Gottes Segen wünschen!"
Die Frauen hielten einen Augenblick den Atem an. Es war ihnen, als müssten sie plötzlich verstummen. Wie Frierenden war ihnen, denen man Eis statt Wärme auf Herz presst. Aber sie verstummten nur für ein paar Minuten, dann schrien sie auch hier auf: "Wir wollen kein Abschiedsmesse für die Männer!" "Die Männer sollen hier bleiben!" "Hier in Canicatti!" "Nein, wir lassen sie nicht gehen, damit wir sie als Krüppel wiederbekommen!" "Nie!" schrien sie. "Nie!"
Pater Robertus hob die Hände: "Meine Lieben! Meine Kinder! Aber sie müssen doch gehen. Der König hat sie gerufen. Der Duce!" "Nein!" schrien die Frauen weiter. "Sie müssen nicht gehen. Nie müssen sie gehen!" Die alte Aprile und die kleine Maria drangen sogar zu ihm hinauf. "Hör auf!" schrie die alte Aprile und stemmte sich vor dem Pater in die Höhe. "Hör auf! Wir wollen das nicht! Unsere Männer bleiben da! Keiner darf gehen! Weder einer von den Jungen noch einer von den Alten!"
Aber der alte Robertus hörte nicht. Er versuchte weiterzureden. Da stürmten die Frauen wieder von der Kanzel herunter. "Hinaus!" schrie die alte Aprile, "soll er den Eulen und Fledermäusen predigen!' "Aber wohin?" rief die dicke Charlotte. Da sagte die kleine Maria: "Wenn uns der alte Robertus und der heilige Giorgio nicht helfen wollen, vielleicht hilft uns die heilige Mutter Maria." "Ja, ziehen wir zur Kapelle der Mutter Maria!" sagten auch die anderen.
Sie drängten und schoben sich gegen die Tür. Vorher holten sie alles, was sie sonst mitnahmen, wenn sie von der Kirche des Heiligen Giorgio zur Kapelle der Mutter Maria zogen. Die zerschlissenen Fahnen und die neuen Standarten. Die Blumensträuße, die auf die vergoldeten Stecken gebunden waren. Die Schärpen und die Bilder. Sogar die Totenfahne riss Marios Braut aus ihrem Versteck, und die anderen nahmen die dicken Kerzen, die sonst nur die Männer trugen. Alles nahmen sie mit, und als sie wieder auf dem Platz vor der Kirche standen, waren sie wir überschwemmt von dieser sonder baren Buntheit und dem Flackern der Kerzen.
Sie bildeten einen Zug und setzten sich, die Fahnen und Standarten an der Spitze, nach der Kapelle der Mutter Maria in Bewegung. Schon nach den ersten Schritten schrien und sangen sie; es war ein sonderbarer Gesang. "Heilige Mutter Maria", sangen sie "hilf uns und lass unsere Männer nicht fort!" Einige sangen es dumpf und wie gebrochen, die anderen sangen es immer lauter, ja, Marios Braut und dicke Charlotta schrien es so gellend, dass es von den Häusern zurückschallte.
Sie gingen ganz langsam, aber trotzdem stürmte, wogte, brandete ihr Zug wie eine große Welle gegen die kleinen Häuser von Canicatti. Sie riss sie auf, riss sie auseinander, riss die Menschen, die noch in den Kammern und Stuben waren, mit, ließ sie genauso aufschluchzen, aufheulen und ihren Schmerz in den Abend schreien, und als sie sich über den Markt wälzte, waren aus den dreihundert schon beinahe fünfhundert geworden.
Auch die Männer hörten die Frauen. "Das ist Marios Braut", sagte der eine. "Das ist die deine", sagte Anselmo zum alten Aprile. "Was schreien sie wohl?" fragte der alte Baretta. Sie standen auf, gingen an die Fenster und vor die Türen und sahen die schwarze Welle näher kommen. Sie verstanden, was die Frauen sagten. Der alte Baretta lächelte: da hatten sie den ganzen Nachmittag und den ganzen Abend zusammengesessen und überlegt, was sie gegen den Krieg tun können, und die Frauen taten schon etwas. Sie marschierten einfach gegen ihn. "Gehen wir mit", sagte der alte Aprile. "Ja", sagten
Giorgio und seine beiden Nachbarn, auch die anderen reihten sich ein, und der Zug wurde immer größer.
Am oberen Markt stand der alte Ruffino und drehte seine Orgel. "Komm mit, Alter!" sagten die Frauen. "Sie wollen unsere Männer wieder in den Krieg holen!" "Ja, komm mit", sagte der alte Aprile und fasste ihn leicht an der Schulter. Der alte Ruffino packte seine Orgel fester und ging mit. Die Frauen schrien noch immer. "Heilige Mutter Maria, hilf uns!" Oder: "Wir lassen uns unsere Männer nicht nehmen!" Die Männer schrien: "Nieder mit dem Krieg!" "Nieder mit dem Abenteuer von Abessinien!" Die vielen Kinder, die ihre Mütter begleiteten, schrien auch, und dazwischen hörte man die quäkenden Töne der Drehorgel.
Vor der Kapelle der Mutter Maria hatten sich die Gendarmen von Canicatti und der örtliche Fascio aufgestellt. Der Zug stockte einen Augenblick. Nur der blinde Ruffino mit seinem Leierkasten ging weiter. Er sah ja nichts. Er konnte durch das Quäken seiner Orgel auch nicht hören, dass die anderen stehengeblieben waren. Er ging mitten in die Gendarmen hinein. Einer trat vor und schlug ihm mit seinem Knüppel über den Kopf. Ruffino drehte sich langsam um sich selber und sank zu Boden. Die Orgel drehte er dabei weiter, und sie jammerte ihre Töne noch in den Abend hinein, als Ruffino schon auf der Erde lag.
Die Frauen trieb das wieder vorwärts. "Solche Schufte", sagte die alte Aprile. Der Zug marschierte wie Ruffino mitten in die Kette der Gendarmen hinein. Es waren ungefähr zwölf Mann. Sie versuchten wieder zu schlagen, aber die Wellen der Frauen verschluckten sie, als wären sie nicht aus Fleisch und Blut und mit Pistolen und Karabinern bewaffnet, sondern armselige Strohpuppen. Das halbe Hundert Faschisten, das hinter den Gendarmen stand, konnte noch weniger tun. Die Frau des Leutnants, der an der Spitze der Faschisten stand, war in der dritten Reihe des Zuges. Die Frau des kleinen Emilio, der Trommler des Fascio war, schrie genau so wie die Braut Marios: "Unsere Männer bleiben hier!" Was sollten sie machen? Auf ihre
Frauen einschlagen, schießen? Aber bevor sie sich zu etwas entschlossen, hatten die Wellen der Frauen auch sie verschlungen.
Der Meßner hatte die Kapelle der Mutter Maria eilig geschlossen. Aber selbst die schwere, mit Eisenblech beschlagene Tür konnte die Frauen nicht aufhalten. "Ist das unsere Mutter Maria?" rief die alte Baretta, "oder ist das ihre Mutter Maria?" "Unsere!" antworteten die Frauen, "unsere!" Sie warfen sich gegen die Tür, eine nach der anderen, bis die Tür nachgab und sie in die Kapelle hinein konnten. Alle wollten sie hinein. Sie schoben sich vor bis zum Altar. Sie drangen bis in die Krypta. Es waren beinahe achthundert geworden, und die Kapelle fasste kaum die Hälfte.
Der Pater war nicht da oder er wollte sich nicht sehen lasse. Aber die Frauen konnten auch ohne den Pater beten. Sie hoben die Hände. Sie hoben sie immer höher. Die meisten fielen dabei auf die Knie. Ein paar schrien wieder. "Hilf uns, Mutter Maria!" Und alsbald beteten oder schrien sie alle dasselbe. Ein paar versuchten auch zu singen, aber das Beten und Schreien erstickte den Gesang.
Während die Frauen beteten, waren die Männer wieder zusammengekommen. Die meisten hatten sich schon kurz vor der Kapelle auf die Seite gestellt. Das Beten überließen sie, die Männer von Canicatti, auch sonst den Frauen. Sie drängten sich alle unten am Wasser zusammen. "Was machen wir weiter", sagte der alte Baretta und spie hinunter in das spärliche Rinnsal. "Ja, was machen wir", fragten Anselmo und Peppo. Sie wussten es noch immer nicht. Sie wussten nur, die Welle der Rebellion musste weitergetrieben werden, wenn sie wirklich verhindern wollten, dass Mario und die anderen nach Abessinien mussten.
"Das beste ist", fuhr der alte Baretta fort, "wir lassen die Einberufenen überhaupt nicht aus Canicatti heraus." Der alte Aprile nickte: "Keinen." "Aber wie wollt ihr das machen", fragte Giorgio, "wir sollen morgen früh um sechs auf dem Bahnhof sein." "Ich glaube", sagte der Mann von Charlotte, "dass sie uns in einem Extrazug nach Girgenti bringen." Der alte Baretta blinzelte den beiden zu: "Wir werden dann alle am Bahnhof sein und lassen euch einfach nicht in den Zug hinein!"
Die anderen lachten und stimmten dem alten Baretta zu.
"Wir sollten auch ein paar in die Berge schicken", fing der alte Baretta wieder an. "Es ist gut, wenn die Leute auch außerhalb von Canicatti wissen, was wir morgen tun wollen." "Ich will gern hinaufgehen", sagte Anselmo. Auch zwei andere meldeten sich. "Schicken wir auch Boten nach Racalmuto", sagte der alte Aprile, "auch nach Aragona, damit sie dort die Einberufenen aufhalten." Der alte Baretta war damit einverstanden, und die Brüder Bernadoni und Vincens machten sich auf den Weg.
Als die Männer eine Stunde später heimkamen, waren die Frauen noch immer nicht in ihren Kammern. Sie beteten, bis die Nacht kam. Auch als der Meßner sagte: "Ich muss jetzt die Kapelle schließen", ließen sie sich in ihrem Beten nicht aufhalten. Ja, sie beteten noch, als es zwölf schlug und sonst alles in Canicatti zur Ruhe gegangen war, Viele blieben auch die ganze Nacht in der Kapelle der Mutter Maria. Die jungen Frauen hatten sie mit Kerzen und Lampen erleuchtet. Außerdem zogen immer zwei an den Klöppeln der kleinen Totenglocke, und man hörte ihr Bim-Bam bis hinauf nach Serradifalco.

 

II.

Der Morgen war hell und ohne Wolken. Ganz klar stieg die Sonne auf, und sie hatte vorher schon die Bergspitzen und die kahlen Hänge gefärbt. Der alte Baretta war der erste auf dem kleinen Bahnhof. "Wann kommt der Zug, der die Männer nach Girgenti bringen soll?" fragte er den kleinen Alfonso, der Nachtdienst gehabt hatte und langsam wie eine Schnecke auf ihn zukam. "Zwischen sechs und sechs Uhr fünfzehn wird er kommen, und ein paar Minuten später fährt er weiter. Er kommt von Caltanissetta, und vorher werden noch die Einberufenen von Serradifalco eingeladen."
Der kleine Alfonso wunderte sich, als plötzlich immer mehr Männer kamen. Wahrscheinlich wollten sie aber nur von ihren Freunden Abschied nehmen. Auch ein paar Frauen kamen, aber es waren doch in der Hauptsache Männer, die den Bahnhof in seiner ganzen Breite überschwemmten. Sie waren, obwohl es ein Wochentag war, alle in ihren besten Anzügen gekommen. Sonderbar, keiner hatte davon gesprochen, und doch hatten alle es getan. Es war ja auch etwas Besonderes und Feierliches, was sie da tun wollten. Sie wollten versuchen, ob man den Krieg nicht doch noch aufhalten könne, und wenn er schon über ganz Italien gebraust war, über Canicatti sollte er nicht hinwegbrausen.
Die beiden Offiziere und der dicke Feldwebel mit den paar Leuten vom Fascio waren zuerst auch erstaunt, als sie die vielen Menschen sahen, auch beunruhigt. Aber die Gesichter, vor allen Dingen der Ernst und die Feierlichkeit, beruhigten sie wieder. Die Offiziere wurden erst stutzig, als auch eine Viertelstunde vor Abgang des Zuges noch immer niemand zu dem Schild kam, das einer der Milizionäre in der Hand hielt, obwohl auf dem Schild stand, dass sich alle Einberufenen in seiner Nähe sammeln sollten. Die Tochter des Podesta wollte ihnen eine Rosette mit den Farben Italiens anstecken und ihnen kleine grünweißrote Fähnchen geben. Nein, es kam niemand zu dem Schild, auch nachdem der Feldwebel die Namen der Einberufenen aufgerufen hatte.
Aber selbst wenn einer von den Aufgerufenen zu dem Schild gewollt hätte, die anderen hätten es verhindert. Es war ja so einfach, sie zu erkennen und zurückzuhalten. Alle, die einen Koffer in der Hand hatten oder einen Karton, oder deren Frauen weinten, waren Mobilisierte. Man drängte sie auf die Seite, und dann sprachen die Männer mit ihnen. "Du bist einer von den Mobilisierten", sagte der alte Aprile. "Ja" sagte der Junge und sah den alten Aprile an. "Die Mobilisierten aus Canicatti haben beschlossen, der Order nicht Folge zu leisten", sagte der alte Aprile weiter. "So", sagte der Junge und bekam runde Augen.
"Ja", sagte der alte Aprile oder einer der anderen, "und es wäre gut, wenn du auch wieder nach Hause gingst."
Der Junge war dann zuerst erstaunt oder erschrocken, und hie und da musste sich auch noch der alte Baretta oder ein anderer in das Gespräch mischen. Aber meistens dauerten die Gespräche nicht viel länger. Viele von den Jungen ließen sich schnell überzeugen. Die Burschen, die von den abseitigen Weilern kamen, noch schneller als die Burschen aus den nächsten Dörfern. Sie nahmen dann ihre Koffer und gingen, wenn sie nicht zusehen wollten, was weiter geschah, eiliger, als sie gekommen waren, wieder davon.
An der Spitze reckten sich einige. Der Zug kam. Es waren noch immer keine Mobilisierten bei den beiden Offizieren, und der eine von ihnen schlug sich nervös mit dem kurzen Peitschenstiel um die Füße und war schon ganz weißlich im Gesicht, Vor dem Zug war eine kleine, alte Lokomotive, die sonst die Schwefelzüge zur Küste brachte. Aber man hatte sie mit Grün geschmückt und Bänder und Blumen um ihren dicken Leib gebunden. Auch die Wagen waren über und über geschmückt. Unter den Fenstern waren breite Schilder angebracht, auf denen mit großen Buchstaben, die wie weiße Flammen in der Sonne brannten, stand: "Nach Abessinien! Es lebe der Duce! Eviva den tapferen Söhnen Siziliens, die für ihr Vaterland kämpfen wollen!"
Der Zug hatte tatsächlich schon einige Arbeiter aus Caltanissetta, Bauernsöhne aus den Bergen und aus Serradifalco aufgenommen. Aber es war nichts in ihren Gesichtern zu sehen, was im Einklang mit den flammenden Buchstaben stünde. Im Gegenteil, der Junge, der im zweiten Fenster zu sehen war, war so gelb wie eine Wachspuppe. Im dritten Wagen stand ein Mann aus Caltanissetta, den man in Canicatti kannte. Er versuchte zu lächeln, als er einige aus dem großen, schwarzen und beinahe unbeweglichen Meer von Menschen erkannte. Aber er hatte kaum mit seinem Lächeln begonnen, da erstarrte er schon wieder, und es sah so aus, als sei dieser Mann aus Caltanissetta der Spiegel von diesen Hunderten, die da auf ihn sahen, geworden. Er spürte jetzt auch, warum ihn die Männer so anstarrten, denn
er schüttelte sich einige Male, als hätte ihn eine Krankheit befallen.
Der Zug hielt. Ein schmaler, mit Orden geschmückter Offizier Sprang aus einem der mittleren Wagen, Dann zeigten sich auch einige Jungen von der Miliz. Sie sahen in ihren graugrünen, eng anliegenden Uniformen, die auch mit Ordensschnallen und Bändern bedeckt waren, wie Gaukler aus. Ja, mit den großen Rosetten und den Fähnchen, die sie schwangen, sahen sie wie aufgeputzte Äffchen aus, die nun mit allerlei komischen Sprüngen und Kapriolen die angesammelten Menschen begeistern und zu Beifall hinreißen wollten.
Die beiden Offiziere und der Feldwebel, die auf den Zug gewartet hatten, sprachen mit dem Offizier, der aus dem Zug gesprungen war, dann nahm der Feldwebel dem Milizionär das Schild ab, kletterte auf einen der Wagen und hob das Schild noch höher. "Alle Mobilisierten zu mir!" schrie er.
Aber es löste sich auch jetzt niemand aus der schweigsamen Menge. Es geschah nur etwas anderes, und es war so sonderbar, dass alle, die im Zuge waren, es einen Augenblick gar nicht begriffen. Die ganze Menge kam einen Schritt auf den Zug zu. Sie drängte genau so stumm und schweigsam, wie sie dagestanden hatte, gegen ihn, in ihn hinein, auf ihn. Die Männer, die schon im Zuge waren, empfanden dieses langsame Näherkommen mit einer schmerzhaften Angst. Es war ihnen, als kippe der Zug langsam um, langsam, aber unabänderlich, und als stürzten sie dabei mit, tief, immer tiefer, einige stöhnten sogar auf.
Aber es war nichts dergleichen geschehen. Die Männer waren mit ihrem Schritt nur näher gekommen. Der Feldwebel schrie lauter. Auch die Offiziere schrien. Sie rissen ihre Revolvertaschen auf und zielten auf die Männer. Die Milizionäre und die Gendarmen warfen sich gleichfalls zwischen die Menge. Einige versuchten, die Männer, die in den Zug eingedrungen waren, wieder aus dem Zug hinauszudrängen. Der schmale, mit den Ordensschnallen bedeckte Offizier schoss sogar. Der alte Baretta, der in seiner Nähe stand, nahm ihm aber, bevor er zum zweiten Male schießen konnte, die Pistole aus der Hand.
Sonst blieb alles ruhig. Ja, die Menschen standen so unbeweglich wie eine Mauer, Der alte Baretta hatte ihnen nicht umsonst eingeschärft: "Wir tun nichts. Wir sagen nichts. Wir stellen und einfach nur hin!" So blieben sie auch weiter stehen, einer neben dem anderen. Der alte Aprile neben der dicken Charlotta. Anselmo neben dem blinden Ruffino. Und selbst die Kinder, die sich eingefunden hatten, standen stumm und gelassen in der schweigsamen, noch immer wachsenden Menge.
Die drei Offiziere sprachen miteinander. Was sollten sie gegen diese Menge tun? Sie wollten wenigstens versuchen, den Zug und die Mobilisierten aus Caltanissetta und aus Serradifalco ohne zu große Verluste wieder aus Canicatti herauszubringen. Ein paar von den Milizionären schlugen sich schon nach der Maschine durch. Auch der Offizier, der mit dem Zug gekommen war, schwang sich auf die Maschine, und drei von den Gendarmen kletterten über die Wagendächer, um die Maschine zu erreichen.
Der Offizier stieg auf die Kohlen hinauf, hob die Hände und rief: "Zurück!" Und nach einer Pause: "Wir fahren, auch wenn ihr nicht zurückgeht!" Aber auch jetzt sagte keiner von den vielen Menschen ein Wort. Sie sahen nur alle in das winzige, wie ein weißer Punkt in der Luft hängende Gesicht, des Offiziers hinein. Es wurde unter dem Anprall der tausend Blicke noch kleiner und zerging beinahe in der weißlichen Luft,
Der Offizier stieg von dem Kohlenhaufen hinunter und sprach mit den anderen, die auf der Lokomotive waren, dann kletterte er zum zweiten Male auf den Kohlenberg. "Es geht los!" schrie er noch lauter als das erste mal und hob seine Hand. "Es geht los!" Gleich darauf stieg auch grell und misstönend Dampf durch die Pfeife, die kleine, mit Girlanden geschmückte Lokomotive heulte auf, aber die Menge rührte auch das nicht.
Die Männer von Canicatti kannten ja den dicken Faustino, der rund und wie mit Wasser übergossen in dem kleinen Vorbau der Lokomotive stand. Sie kannten ihn so genau, wie sie sich selber kannten. Die, die vorn neben der Lokomotive standen, sahen ihn auch. Sie sahen ihn genau so ernst und schweigsam an, wie sie den Offizier angesehen hatten. Sie hatten auch gesehen, wie einer der Milizionäre Faustino mit dem Revolver in der Hand gezwungen hatte, die Dampfpfeife herumzureißen. Sie sahen jetzt, wie der Offizier ihn zwang, den Bremshebel herumzuwerfen, sein schmales, geiferndes Gesicht hing dabei wie eine Fratze über dem ruhigen, roten Gesicht des Dicken. Sie sahen auch, dass Faustino jetzt Dampf in die Kolben ließ, Er ließ ihn so langsam hinein, dass die Männer, die unmittelbar vor oder daneben standen, ohne sich beeilen zu müssen, zurücktreten konnten.
Aber die Räder drehten sich tatsächlich, und der Zug setzte sich in Bewegung. Der Offizier fuchtelt noch immer mit seinem Revolver um Faustino herum. Aber er kann tun, was er will, Faustino fährt nicht schneller. Er lässt den Dampf nur ruckweise in die Kolben, Er fährt so langsam, dass alle, die neben oder vor dem Zug gehen, mit dem Zug Schritt halten können. So bewegen sich die zwölf Wagen und die kleine Maschine auch vorwärts, als sie schon aus Canicatti hinaus sind. Die Menschentraube bleibt an ihnen hängen. Sie zieht sich nur einmal in der Mitte und einmal am Ende des Zuges zusammen, aber sonst hält sie Schritt, Sie wandert den steinigen Abhang mit hinauf, wirft sich oben in die heiße, wie von einem Feuer zerfressene Hochebene, und sie stößt mit dem Zug auch kurz vor Racalmuto wieder nach unten. Erst nach zehn Uhr fährt der Zug genauso schrittweise, wie er aus Canicatti hinausgefahren ist, nach Racalmuto hinein. Er hat zu der ganzen Strecke, die er sonst in dreißig Minuten durcheilt, beinahe drei Stunden gebraucht.
Als die Männer, die an der Spitze des Zuges gehen, nach Racalmuto hineinkommen, sehen sie, dass sich die Leute von Racalmuto auch am Bahnhof versammelt haben, Die Boten, die der alte Baretta zu ihnen gesandt hat, haben ihre Botschaft nicht vergeblich ausgerichtet. "Wenn die Leute von Canicatti nicht ihre Söhne einrücken lassen, dann lassen wir die unseren auch nicht aus Racalmuto hinaus", haben
die Männer von Racalmuto gesagt. Auch die Bauern, die um Racalmuto wohnen, wollen ihre Söhne nicht nach Abessinien lassen. "Keiner darf nach Girgenti, und wenn wir sie mit dem Knüppel wieder in die Dörfer zurücktreiben!" Groß und schwer stehen sie neben den Leuten von Racalmuto, braungebrannt und wie Statuen, und als der Zug einläuft, gehen sie mit den Leuten von Racalmuto auf die Männer von Canicatti zu, begrüßen sie und geben ihnen die Hand.
In Racalmuto war es schwerer als in Canicatti gewesen, sich auf dem Bahnhof zu versammeln. Die Miliz hatte einen der Boten abgefangen, als er wieder nach Canicatti zurückging, hatte ihn geschlagen und von ihm erfahren, was er den Leuten von Racalmuto ausgerichtet hatte. Als am Morgen die Leute von Racalmuto den Bahnhof besetzen wollten, hatten ihn die Gendarmen und die Miliz in großem Bogen abgesperrt. "Nur die Mobilisierten dürfen vorbei, sagten die Gendarmen, und sie schossen, als auch die anderen gegen die Kette drängten. Sie schossen zuerst in die Luft, dann aber in die Leute von Racalmuto hinein. Es hatte vier Verletzte gegeben.
Die Menge war zurückgewichen. Die Arbeiter hatten mit den Mobilisierten gesprochen, und die Mobilisierten gingen danach allein auf die Kette zu. Sie lachten die Milizleute an. Sie kannten sich ja. "Du hast also wirklich auf uns geschossen, Giavomino", sagten sie. Sie legten noch genauso lachend die Hand auf die Schultern der Milizleute, aber mit der anderen hatten sie schon nach den Karabinern der Soldaten gegriffen. Auf einmal waren auch die Leute von Racalmuto wieder da. Die Mobilisierten gaben die Karabiner nach hinten, und die Miliz und die Gendarmen wurden aus dem Weg gedrängt.
Von Racalmuto fuhr der Zug ganz genauso langsam über Aragona nach Girgenti. Der lange Wagenwurm war schon in der schwärzlichen Masse verschwunden. Er war schon von ihr angefressen, halb verschlungen, und die dünne Rauchfahne, die aus der Lokomotive kam, war das einzige Zeichen, dass noch Leben in ihm war. Es kamen auch fortwährend neue Leute zu dem großen Zug. Sie kamen aus den abgelegenen Bergdörfern. Vom Wasser kamen einige. Es waren Fischer,
Apfelsinenpflücker, Arbeiter aus den Schwefelgruben, die südliche von Favara liegen. Als sich der Zug Girgenti näherte, waren es Tausende, die ihm das Geleit gaben,
Vor Girgenti standen neue Menschenmassen, Sie standen in den Weinbergen und in den Gärten, die sich längs des Gebirges bis hinunter an das Meer ziehen, Sie waren da hinauf geflüchtet, denn in Girgenti war ein Kontingent Miliz gegen sie eingesetzt worden, auch eine Schwadron Kavallerie, Die Miliz hatte außerdem zwei Maschinengewehre am Eisenbahndamm eingebaut, und wenn sich die Männer von Canicatti und Racalmuto reckten, konnten sie vor Girgenti einen Panzerwagen sehen,
Die Miliz und die Kavallerie hatten sich rechts und links von der Bahnstrecke verteilt, und sie gingen sofort, als der Zug in Sicht kam, gegen die Massen, die den Zug begleiteten, vor. Sie schlugen ziemlich brutal auf die Menschen ein, stachen mit ihren Bajonetten, trieben ihre Pferde gegen sie, und es war ihnen gleich, wen sie trafen. Sie schlugen auf Männer und Frauen ein, auf Burschen und Kinder.
Die Menge staute sich einen Augenblick, aber dann wich sie unter dem Ansturm der Soldaten langsam zurück. Ja, was die Miliz von Canicatti und Racalmuto nicht fertiggebracht hatte, die Miliz von Girgenti schälte den Zug frei. Sie hieb ihn wieder aus den Massen heraus, und ehe der Zug die ersten Häuser von Girgenti erreicht hatte, war er von den Menschen befreit. Faustino ließ nun auch den Dampf schneller durch die Kolben gehen, und die Menschen blieben immer weiter zurück,
Sie stießen diesmal nicht nach. Sie nahmen nicht einmal einen Anlauf, obwohl sie sich fächerförmig über die Hänge ausgebreitet hatten und die paar hundert Milizleute leicht umzingeln und entwaffnen oder sie einfach umgehen und von der anderen Seite nach Girgenti hineinstoßen konnten. Sie gingen sogar langsam zurück. Hinauf in ihre Weiler, hinunter in ihre Fischerdörfer, hinüber nach Racalmuto und nach Favara. Wie ein angestautes Wasser plötzlich über alle Hügel rinnt, wenn der Damm reißt, so flossen sie auseinander. Zuerst in Bächen, dann in Gerinseln, dann in einzelnen, kleinen Tropfen.
Der Zug hatte unterdessen den Bahnhof von Girgenti erreicht. Das Gebäude war vollständig von Milizleuten und von Gendarmen abgesperrt. Oben an der Hauptstraße hatten die Soldaten aus Brettern eine Barrikade von einer Häusermauer zur anderen gezogen, und auf der Straße, die hinunter nach Porto Empedocle führte, hatte man wieder Miliz und eine Kompanie Matrosen aufgestellt. Auf dem Bahnsteig stand der General, dem die Streitkräfte von Girgenti und Porto Empedocle unterstanden, mit einigen seiner Offiziere und empfing den Zug der laut und durchdringend pfeifend hereinkam. Der Offizier sprang von der Lokomotive und salutierte.
"So energisch wie hier hätten sie schon in Canicatti gegen die Bande vorgehen sollen", sagte der General. "Einfach draufschlagen, dann pariert der Pieps !" Der Offizier war noch ganz verstört und auch erstaunt, dass die Menge den Zug so plötzlich und ohne Widerstand verlassen hatte und dass er jetzt hier im Bahnhof von Girgenti war. Er verstand es auch erst, als er mit dem General den Zug entlang gingt Der Zug war leer. Die Leute von Canicatti und von Racalmuto hatten nicht nur ihre eigenen Leute abgehalten, nach Girgenti zu fahren, sie hatten auch die Mobilisierten aus Caltanissetta und aus den anderen Orten mitgenommen, als sie von der Miliz auseinandergetrieben wurden.
"Verdammt!" schrie der General und stampfte auf. "Verdammt!" Aber was sollte er machen? Sollte er mit seinen Leuten den Flüchtenden nachsetzen? Wer konnte wissen, ob die Mobilisierte nicht schon lange vor Girgenti in die Berge, in die alten Schwefelstollen oder hinunter in die Klippen geflüchtet waren. Er war aus dem Lande und kannte es. Es war sicher auch besser, er holte sich erst Instruktionen, bevor er weiter gegen die Bevölkerung vorging. Der Zug mit seinen Fahnen und Wimpeln fuhr also leer nach Porto Empedocle, wo die Mobilisierten eingekleidet und auf die Schiffe verladen werden sollten.
Am Hafen stand eine Kompanie Rekruten mit ihrer Musik. Man hatte sie aufgestellt um die Mobilisierten zu empfangen. Auch sonst hatten sich viele Menschen aus Girgenti und aus Porto Empedocle auf Geheiß des Fascio aufgestellt: die Schüler der beiden Schulen, Studenten, eine ganze Anzahl Kleinbürger aus Girgenti mit ihren Frauen und auch sonst allerlei Volk. Sie waren ziemlich erstaunt, als außer den paar Milizionären nur Faustino und sein Heizer aus dem Zug stiegen.
"Wo habt ihr sie denn, eure Mobilisierten?" fragte einer der Rekruten, der mit aufgepflanztem Bajonett vor dem Ausgang der Kaianlage stand. Faustino, der gerade, die Beine weit ausgrätschend, an dem Posten vorbei hinüber zur "Roten Henne" wollte, wo er immer einen Schnaps trank, wenn er seine alte Lokomotive glücklich nach Porto Empedocle gebracht hatte, hob seine Hand und tat so, als spucke er aus. Aber hinter der Hand zischte er dem Soldaten zu: "Sie wollten nicht. Die meisten sind gar nicht erst gekommen, und die doch gekommen sind, haben die Leute aus Canicatti und aus Racalmuto wieder aus dem Zug geholt."
Der Rekrut verzog das Gesicht. Er verzog es nur ganz leicht, und man sah kaum, dass es um seine Mundwinkel zuckte: "Die von Palma", sagte er dann, "sind auch nur zur Hälfte gekommen, und von denen, die man gestern mit dem Schiff aus Terranova gebracht hat, ist heute Morgen auch ein Teil wieder ausgerückt."

 

III.

Die Leute von Canicatti waren unterdessen wieder in Canicatti eingetroffen. Sie waren so truppweise in die Stadt gekommen, wie sie von Girgenti abmarschiert waren, einmal ein halbes Hundert und einmal nur ein paar Dutzend. Der alte Baretta und der alte Aprile waren
mit beim ersten Trupp. Auch ihre Frauen, Marios Braut, Giorgios Braut und die dicke Charlotta,
"Was soll nun weiter geschehen", sagte die alte Aprile, bevor sie sich von den anderen trennte. Der alte Baretta blieb stehen. Darüber musste man wohl noch sprechen, denn es war anzunehmen, dass die Miliz im Laufe des Abends nachrückte, um die Mobilisierten doch noch nach Girgenti zu holen. "Stellt ein paar Jungens auf die Berge, damit wir wenigstens erfahren, wenn sie kommen", sagte die alte Aprile wieder, "und einen auf den Turm der Kapelle der Mutter Maria, er soll dann läuten, wenn ihm die Jungens von den Bergen ein Zeichen geben."
Das wollten die Männer tun. "Aber was machen wir, wenn sie morgen kommen, während wir in der Grube sind", fragte der alte Baretta, "Wir fahren eben die nächsten Tage nicht ein", sagte Peppo. "Also streiken", sagte der alte Baretta. "JA", sagte Peppo, "du kannst es auch so nennen."
Aber die Miliz kam weder in der Nacht noch am nächsten Morgen, ja, es dauerte ziemlich lange, bis sich der General von dem Schlag erholte, den ihm die Männer von Canicatti versetzt hatten. Es hatte sich auch ziemlich schnell auf der Insel herumgesprochen, was in Canicatti geschehen war, und auch in Syrakus und in Trapani kamen die Mobilisierten nur noch tropfenweise in ihre Ganisonen. "In Catania sind sogar ein paar von den jungen Faschisten nicht eingerückt", erzählte ein Mann, der aus Catania kam, und Faustino brachte aus Caltanissetta die Nachricht mit, dass auch dort die Arbeiter der Schwefelgruben in den Streik getreten waren, um ihre Mobilisierten zu schützen.
Als es am vierten Tag immer noch ruhig blieb, nahmen die Arbeiter von Canicatti ihre Blechkannen von der Wand und fuhren wieder ein. "Jetzt werden sie wohl nicht mehr kommen", sagte der alte Aprile. Aber sie kamen doch. Allerdings nicht so, wie es die Arbeiter von Canicatti erwartet hatten. Sie kamen heimlich, um die Mobilisierten zu fassen.
Mario packten sie, als er aus der Grube kam. Er musste wieder arbeiten, denn er hatte einen alten Vater, der von den paar Lire lebte, die Mario verdiente. Giorgio hoben sie bei Maria aus. Sie hatten bereits drei Nächte auf ihn gelauert. Giorgio wusste es auch, aber er wollte Maria noch einmal sehen, bevor er, wie zwei andere, weiter hinauf in die Berge ging.
Die aus den Dörfern fingen sie, indem sie die Dörfer umstellten. Einen großen Teil der Einberufenen haben sie aber auch heute noch nicht. Jeder Schwefelarbeiter hilft ihnen, und die Bauern stecken ihnen heimlich Brot zu, auch wenn die Regierung mit noch so hohen Strafen droht. Jeder in und um Canicatti weiß ja auch bereits, dass sie die große Welle der Mobilmachung durch ihren Widerstand aufgehalten haben. In Oberitalien und in Sardinien hat der Duce schon die Jahrgänge 1910 und 1909 einberufen und nach Afrika geschickt, auf Sizilien noch nicht,
"Weißt du", sagte der alte Aprile zu dem alten Renato, der jetzt anstelle von Giorgio mit ihm die Schwefelbrote in die kleinen Öfen schob, "dass auch die Soldaten in Somaliland schon gehört haben, wie tapfer wir in Sizilien für sie kämpfen?" Und da der alte Renato den Kopf schüttelte: "Der Paolino, der Junge von der alten Scola, hat an seine Mutter geschrieben. Grüße alle Nachbarn und Freunde, hat er geschrieben, und sie sollen weiter so tapfer in Canicatti und in Caltanissetta gegen den Krieg kämpfen. Wir tun es hier auch, und der Duce wird nicht viel Freude an seinen Soldaten haben!"

 

MELISKA

In eine Zellenversammlung der Kommunistischen Partei in Krakau trat eines Abends eine Frau und fragte, ob sie in die Partei eintreten könne. Sie war noch jung, hatte eine elastische, straffe Gestalt, das Gesicht war allerdings schmal und von einer seltsamen Blässe; aber gerade in dem Augenblick, da sie ihr Anliegen vorbrachte, wurde es von einem hellen Rot überflammt, was ihr einen Anflug von Wärme gab und sie beinahe schön machte.
In der Zelle, es war die Straßenzelle eine kleinen Krakauer Vorortes, waren elf Arbeiter, zwei Frauen und ein junger Student, die die Frau ob ihres Verlangens zuerst alle sonderbar ansahen. Man bat sie, sich zu setzen, was sie auch ohne Ziererei tat, und dann fragte sie der Polleiter, ein schnurriger, kleiner Schlosser aus einer benachbarten Garage, warum sie das wollte.
Die Frau antwortete: "Das ist eine einfache Geschichte." Und dann erzählte sie sie. "Ich bin", sagte sie, "die Witwe eines Arbeiters, der in den großen Eisenwerken von R. gearbeitet hat. Ich war nur drei Jahre verheiratet, aber ich führte eine recht glückliche Ehe. Mein Mann war genau so jung wie ich, fleißig, verdiente sein gutes Geld, und er wollte in der Welt vorwärtskommen. Er hatte es schon bis zum Vorarbeiter gebracht und stand überall in Gunst und Ansehen. Er sagte mir, dass wir es bestimmt auch noch weiter brächten und dass er sicher bald Meister und später Abteilungsleiter würde.
Mir war das alles eigentlich gleich, oder vielleicht auch nicht ganz, denn ich freute mich, dass Stephan, so hieß mein Mann, allgemein als ein tüchtiger Kerl galt und dass er beinahe alle halbe Jahre ein paar Zloty mehr heimbrachte, auch wenn wir nichts Besonderes davon hatten, denn Stephan legte den größten Teil von dem, was er verdiente, auf die Seite. Er hielt das für richtiger, weil er das Geld lieber einmal für eine größere Sache ausgeben und nicht verplempern wollte.
Nun passierte es Stephan vor ungefähr drei Monaten, dass er sich bei dem Einrichten einer Kurbelwelle die Hand verletzte und zehn Tage feiern musste. Er nahm das nicht tragisch, denn es war sein erster Krankenurlaub innerhalb von sieben Jahren. Als er aber nach den zehn Tagen wieder in die Fabrik zurückkehrte, sah er, dass an seiner Stelle bereits ein gewisser Wischkowski stand, auch einer von denen, die es zu etwas bringen wollten, und Stephan musste sozusagen in die Reserve rücken.
Er nahm auch das auf die leichte Schulter, weil er das Gefühl hatte, er würde diesen Wischkowski schon wieder einholen. Aber nach den ersten acht Tagen merkte er, dass das nicht einfach war. Wischkowski war flinker und vor allen Dingen gerissener als er. So rückte Stephan immer mehr an die zweite Stelle, und es schien so, als ob ihn dieser Wischkowski nicht nur überflügelt hätte, sondern als wäre er überhaupt auf einen zweiten Platz zurückgedrängt und sein ganzer Vormarsch zu Ende.
Zum Teil kam es allerdings auch davon, dass Stephans Verletzung schwerer war, als es zuerst ausgesehen hatte. Der Arm schwoll durch die Arbeit wieder an, gewisse Handgriffe, die in der Hauptsache Stephans Aufstieg gefördert hatten, wurden schwer oder beinahe unmöglich, und schließlich zeigte sich, dass es Stephan überhaupt unmöglich war, die Arbeit, in der er gerade stand, fortzusetzen, und er war jeden Tag nahe daran, das auch zuzugeben und seine Versetzung an einen anderen Arbeitsplatz zu beantragen. Da das bestimmt eine Lohnherabsetzung bedeutete, ja sozusagen den materiellen Abstieg einleiten musste, war Stephan nicht gerade erfreut darüber.
Aber nicht nur das war es, was ihn kopfhängerisch machte. Ihm war in diesen Tagen und Wochen klar geworden, dass in seinem ganzen Leben ein Riss oder ein Fehler war. Sein Streben nach oben war falsch, und für ihn, der von ganz unten kam - sein Vater war Taglöhner auf einem großen Gut gewesen -, weder richtig noch das Gegebene. Ja, er erkannte: in dem allen war ein Fehler gewesen, und es kam nicht darauf an, dass er als einzelner höher stieg, sondern dass sie, die von unten kamen, als Klasse aufstiegen. Er sagte mir das, und wir sprachen darüber.
Mir war auch das die erste Zeit nicht gerade wichtig. Ich hatte Stephan gern, er hatte mich gern, das war mir genug und füllte mein Leben aus. Jetzt aber, als er davon sprach, als er mir erzählte, dass sein Aufstieg nur durch die Unterdrückung, ja durch die Ausbeutung anderer möglich gewesen sein, fing ich an, darüber nachzudenken, ihm langsam recht zu geben, und wir konnten stundenlang über all diese Dinge sprechen. Wir hatten ja auch Zeit dazu. Es ging Stephan wieder schlechter, sein Arm hatte sich aufs Neue entzündet, und er musste zum zweiten Male zu Hause bleiben.
Wir sprachen jetzt auch über vieles andere. Wir waren beide katholisch, nicht weiter fromm, aber wir hatten alles hinter uns, Firmelung, waren katholisch getraut, und ich war auch manchmal in die Kirche gegangen. Stephan weniger, denn man lacht ja heute darüber, wenn Männer in die Kirche gehen, und Stephan wollte nicht, dass man über ihn lachte. Wir lasen natürlich die katholische Zeitung, auch katholische Bücher. Nun bestellten wir eine Arbeiterzeitung. Es war eine sozialdemokratische, die Gewerkschaftszeitung. Stephan trat sogar einer Gewerkschaft bei, obwohl er vorher noch von ihnen als den Pestbeulen in einem guten Betrieb gesprochen hatte, und dann brachte er auch manchmal die Zettel mit, die eure Genossen in seinem Betrieb verteilten und die er früher im besten Falle als Dreck bezeichnet hatte.
So änderte sich unser Leben. Wir wurden durch die Krankheit auch äußerlich tiefer gedrängt, denn das Geld, das wir von der Krankenkasse bekamen, reichte natürlich lange nicht, um unsern Haushalt zu bestreiten. Aber wir hatten ja noch unsere Ersparnisse und waren so einige Wochen vor Not und Hunger gesichert. Schlimm war nur, dass es Stephan noch immer nicht besser gehen wollte. Die Hand war zu einem schwarzen Klumpen angeschwollen, und die Ärzte bestanden darauf, dass sie abgenommen werden müsse. Da wir beide nichts dagegen tun konnten und Stephan außerdem behauptete, ein Leben ohne die rechte Hand wäre besser als tot mit beiden Händen, ließ sich Stephan die Hand abnehmen. Es zeigte sich leider, dass auch das nichts mehr half. Das Gift, das sich in der Hand gebildet hatte, hatte bereits den ganzen Körper verseucht.
Das war bitter und schwer, aber es musste ertragen werden, und Stephan, der selber der Tapfere war, versuchte auch alles, um es mir leichter zu machen. Wir sprachen wieder viel von dem anderen Weg des Arbeiters und der Arbeiterklasse nach oben. Manchmal kam zu diesen Gesprächen ein Kollege von Stephan, ein gewisser Pawlyk, und dann redeten wir zu dritt vom Klassenkampf, von den Lehren Karl Marx', von der Revolution und von Lenin. Der alte Pawlyk war zwei Jahre als Monteur in der Sowjetunion gewesen, und wir sprachen auch viel über Russland.
Stephan ging es bei all dem schlechter und schlechter, und eines Abends, kurz nachdem die Ärzte wieder bei ihm gewesen waren, rief er mich zu sich und sagte mir, dass es zu Ende ginge. Er war dabei weder traurig noch verzweifelt, und er hatte nur einen Wunsch: ich musste ihm versprechen, auf dem neuen Weg, den wir zusammen beschritten hatten, weiterzugehen, ihn,  Stephan, sozusagen fortzusetzen. Vor allen Dingen weil er selber das Gefühl hatte, dass er durch sein früheres Leben etwas getan habe, was in irgendeiner Form gesühnt werden müsse, und da er es selber nicht mehr könne, müsse ich es tun.
Er starb dann ziemlich schnell. Der alte Pawlyk und ich haben ihn zusammen begraben. Ich habe danach noch lange mit dem alten Pawlyk, der übrigens auch einer von euch ist, über die letzten Worte von Stephan gesprochen. Er hat mir auch eure Adresse gegeben, und da bin ich nun."
Die Frau hatte das alles sehr schlicht gesagt, beinahe monoton, aber es hatte sich über die anderen wie ein Stück ihres eigenen Lebens gelegt, und als die Frau sagte: "Und da bin ich nun", seufzten sie auf, als wäre das alles, was eben gesagt worden ist, nicht aus der Frau, sondern aus ihnen gekommen, und als der Polleiter nun fragte, was man der Frau antworten solle, sagten alle: "Ja, es ist gut, dass du da bist. Du bist auch bestimmt hier richtig", und sie solle nur bleiben.
Die Frau blieb, und sie kam nun regelmäßig jede Woche, einmal dahin und einmal dorthin, denn die Zelle tagte, wie fast alle kommunistischen Zellen in Polen, in der Hauptsache illegal, und die Lokale oder Wohnungen, wo man sich traf, wurden jedesmal gewechselt. Sie beteiligte sich auch sonst an allem, was die Genossen taten. Durch die kleinen politischen Vorträge, die ein alter Metallarbeiter alle vierzehn Tage in einem versteckten Gartenhaus hielt, wurde sie näher mit den Zielen des Kommunismus bekannt. In den Nachmittagskursen für Propagandisten lernte sie das ABC der kommunistischen Agitation kennen, und als sie die ersten sechs Kursstunden hinter sich hatte, holten sie die Genossen auch zur Haus- und Hofpropaganda.
Das war eine schwierige Arbeit. Es war nicht leicht für die polnischen Arbeiter, in die Häuser zu gehen und ihre Zeitungen und Flugblätter zu verteilen. Die Polizei, viele Hausbewohner, die Hausverwalter und auch ein großer Teil der Jugendlichen, die in den nationalen Verbänden waren, passten höllisch auf. Und wer bei dieser Propaganda gefasst wurde, kam ins Gefängnis, wurde geschlagen und geprügelt und meistens auch für Monate und Jahre dort behalten.
Aber die Frau, die jetzt allgemein auf den Namen Meliska hörte, verstand ihre Sache. Ja, es war ganz gleich, ob man sie auf der Straße oder vor dem Haus als Posten aufstellte, ob sie den Anmarsch oder den Abmarsch der kleinen Kolonne - es waren meistens drei oder vier, die zusammenarbeiteten - deckte, immer ging alles gut, immer kamen sie alle wieder zurück, und sie hatten auch immer Erfolge.
Wenn es einmal hart auf hart ging, konnten die verfolgte Genossin oder der verfolgte Genosse ihr Material, wenn sie es nicht schon im Hause weggeworfen hatten, meistens noch an Meliska weitergeben, und Meliska, die einen ausgesprochen bürgerlichen Eindruck machte, verstand es ausgezeichnet, durch den Kordon der Häscher zu kommen, einfach indem sie an den Männern vorbeiging, denn es fiel den Beamten nie ein, in der kleinen, adretten und gut angezogenen Frau eine Kommunistin zu vermuten.
Nach ein paar Wochen ließ man sie auch selber in die Häuser gehen. Sie lernte, wie man anklopfte, wie man mit den Leuten sprach, wie man sich, wenn man zufällig auf renitente Männer oder Frauen stieß oder auf irgendeinen Regierungsbeamten, geschickt aus der Affäre zog. Meliska brachte sogar in diese Arbeit gewisse Neuerungen, die die Genossen und Genossinnen noch besser vor Verdächtigungen und Verhaftungen schützten. Sie hatte zum Beispiel immer ein paar Hefte der katholischen Mission oder der Heilsarmee in ihrer Tasche, und wenn sie plötzlich auf Leute stieß, die gefährlich werden konnten, zog sie diese hervor, entschuldigte sich und sagte: "Ich habe nur prüfen wollen, ob Sie auch zu den Abnehmern der kommunistische Hetzblätter gehören!" und verteilte oder verkaufte dann die Kirchenhefte.
Meliska hatte aber auch sonst Erfolg durch ihre Art und durch ihr einfaches, freundliches Wesen. Sie warb hie und da sogar neue Mitglieder, und die Genossen waren mit ihr zufrieden. Deswegen zog man sie bald zu wichtigeren Arbeiten heran. Sie kam von der Zelle in die Leitung ihres Stadtteils, leitete dort die Arbeit unter den Frauen und half später in der Agitpropabteilung der Stadtteilleitung mit. Sie kümmerte sich da in der Hauptsache um die kleine Zeitung, die der Stadtteil herausgab, um Flugblätter und um ähnliche Sachen. Da sie sich auf der anderen Seite durch kleine Einladungen und durch allerlei Kaffeefeiern eine gewisse Sonderstellung im Block erobert hatte, in dem sie wohnte - sie galt allgemein als eine ihre Freiheit feiernde junge Witwe -, konnte sie sogar einen Teil des Materials in ihrer Wohnung herstellen, denn es wäre keinem Menschen eingefallen, in ihr eine kommunistische Funktionärin, noch dazu eine so wichtige, zu vermuten.
Ein paar Wochen später trat etwas ein, wobei Meliska ihren Mut, ihre Tapferkeit und ihre sonstigen Fähigkeiten noch besser unter Beweis stellen konnte. In der großen Maschinenfabrik, in der Stephan gearbeitet hatte, war ein Streik ausgebrochen. Wie fast alle Streiks in Polen ging er gegen Lohnkürzungen, und er war auch wie alle Streiks sehr heftig.
Die Arbeiterschaft selber war gespalten. Die illegale Kommunistische Partei und die Roten Gewerkschaften hatten die Führung. Es waren aber auch große Teile der in den reformistischen Gewerkschaften organisierten Arbeiter auf Seiten der Streiker; die ersten Tage, bevor es zu größeren Tumulten kam, auch die örtliche Leitung der reformistischen Gewerkschaften. Ja, es war eine schwere Zeit, und die Stadtteilleitung, in der Meliska arbeitete und in deren Gebiet der Betrieb lag, war Tag und Nacht auf den Beinen. Es mussten fliegende Küchen eingerichtet werden. Die Frauen schafften die Kinder der Streiker in andere Stadtgebiete. Eiligst wurde eine Verbandstation geschaffen, denn es war schon am vierten Streiktag zu ernsten Plänkeleien mit der Polizei gekommen. Die Genossen setzten eine Menge Flugblätter auf, ließen sie abziehen und vertrieben sie dann. Der alte Pawlyk und ein anderer Genosse stellten unaufhörlich neue Streikposten und Kontrollstreifen für die Streikposten zusammen, und so gab es noch viele dringende Arbeiten, die alle auf den Schultern der mit der Streikleitung zusammenarbeitenden Stadtteilleitung lagen.
Trotzdem bröckelte der Streik langsam ab. In der Hauptsache, weil die örtlichen Gewerkschaftsfunktionäre nach den ersten Zusammenstößen mit der Polizei auf die Seite der Regierung abschwenkten und zur Einstellung des Streiks und zu Verhandlungen rieten. Aber noch mehr, weil ein großer Teil der Arbeiter gleich vom ersten Tage des Streiks an im Betrieb festgehalten worden war. Die Leute verweigerten zwar auch eine Zeitlang die Arbeit, aber sie wussten ja nicht, dass es draußen noch immer hart auf hart ging, und als ihnen von den Gewerkschaftsfunktionären, zu denen auch ein revolutionärer
Gewerkschaftsfunktionär getreten war - ein Spitzel, wie sich später herausstellte -, mitgeteilt wurde: "Es streikt nur noch ein armes Bäckerdutzend, nebenbei wilde, gefährliche Kerle, und es ist besser, wenn ihr die Arbeit wiederaufnehmt!" gingen sie an ihre Motoren und Maschinen und stellten das Streiken ein.
So arbeitete beinahe ein Drittel der Belegschaft wieder, außerdem die notorischen Streikbrecher, die heute in jeder größeren Fabrik sind, der größte Teil der Beamten und ein paar Kolonnen der Technischen Nothilfe, die aus jungen Studenten und Bürgersöhnen zusammengestellt waren.
Die Streikleitung, die erfahren hatte, aus welchen Gründen die Arbeiter, die im Betrieb zurückgehalten wurden, die Arbeit wiederaufgenommen, beschloss, mit ihnen in Verbindung zu treten. Sie hoffte bestimmt - denn es waren ja auch Genossen dabei -, dass die Leute, wenn sie die Wahrheit über den Streik erführen, die Arbeit von neuem verweigern würden.
Man versuchte diese Verbindung zuerst mit kleinen Vorstößen gegen die Absperrungsketten herzustellen, aber diese Ketten waren dichter, als man gedacht hatte. Auch die sonstigen Mittel, Hinüberwerfen von Aufrufen über die Zäune und Mauern des Betriebes, waren nicht möglich, und so musste man einen anderen Weg suchen. Die ihn fand, war die Genossin Meliska.
Sie suchte die Frauen der Männer auf, die man gewaltsam im Betrieb festhielt, und sagte ihnen, dass man Verbindung mit den Männern herstellen müsse. "Sie brauchen doch sicher saubere Wäsche, Brot und so weiter, und wir müssen ihnen auch mitteilen, wie es daheim zugeht." Es war wirklich nicht schwer, die Frauen von der Notwendigkeit dieser Verbindung zu überzeugen. Sie schickten noch am gleichen Tage eine Petition zur Polizei, und es gelang ihnen auch durchzusetzen, dass sie zu einer bestimmten Stunde ins Werk kommen durften, um mit ihren Männern zu sprechen.
Meliska selber hatte sich als die Frau eines Genossen ausgegeben,
der auch in der Fabrik war. Der Genosse war reichlich erstaunt, als ihm Meliska als seine Frau zugeführt wurde. Aber Meliska zerrte ihn eilig auf die Seite und zischte ihm zu: "Ich komme von der Stadtteilleitung." Jetzt begriff er alles, und als ihm Meliska erzählte, dass der Kampf keineswegs beendet sei oder vor dem Zusammenbruch stehe und dass man sie belogen und betrogen habe, versprach er, sofort mit den anderen Genossen zu sprechen. "Und", sagte er, "wenn ihr weiter mit uns in Verbindung bleibt, wird es uns sicher auch möglich sein, die Arbeiter, die mit uns eingeschlossen sind, wieder zum Niederlegen der Arbeit und zum Weiterstreiken zu bringen."
Meliska brachte aber schon einen bestimmten Plan mit. Nach diesem Plan wollten am übernächsten Tag die Streikenden zwei Scheinangriffe auf die großen Eingangstore machen, zu gleicher Zeit aber einen Hauptangriff auf ein kleines Tor im Süden. "In derselben Stunde - wir werden die Mittagspause dazu nehmen, und auch ich und die anderen Frauen sind dann wieder im Betrieb - musst du und müssen deine Kameraden nun den schändlichen Verrat der Gewerkschaftsfunktionäre und unseres ehemaligen Genossen entlarven, einen Zug bilden und mit dem Zug von innen gegen das kleine Tor vorstoßen!" Die Genossen hofften durch diesen doppelten Angriff die Wachen zu verwirren und zu überrumpeln, ihre Kette und das Torgitter zu durchbrechen, beide Züge zu vereinigen, dadurch das Werk vollständig zum Erliegen zu bringen und die Kraft und die Streikfreude der Arbeiter wieder zu erhöhen.
Es glückte auch. Die Polizei und die Wachtruppen ließen sich durch die beiden Scheinangriffe täuschen, der Hauptvorstoß kam tatsächlich unmittelbar bis an den Betrieb. Hinter der Mauer hörten die Streikenden bereits die Genossen. Auch Meliska sprach und eine andere Frau, und ein paar Minuten später konnten sich die Eingeschlossenen mit den angreifenden Streikern vereinigen.
Da es ein paar Burschen geglückt war, vor dem Auszug aus dem Werk die große Turbine, also die gesamte Kraftquelle des Werkes, zum Erliegen zu bringen, stand das Werk wirklich zwei Tage still.
Allerdings wurde noch immer kein Sieg der Streiker daraus. Die Regierung und die Werkleitung ließen jetzt Genietruppen kommen, die das Kraftwerk wieder instand setzen mussten, und da außerdem zur Unterstützung der Ortspolizei Militär aufgeboten und jede Rebellion und Demonstration im Keim erstickt wurde, mussten die Streiker nach weiteren zehn Tagen in die neue Lohnsenkung einwilligen, allerdings nicht in die volle, das hatte ihre Tapferkeit verhindert.
Während dieser Streiktage hatte sich nun gezeigt, dass die guten Verbindungen, die die Partei früher mit den Kasernen, besonders mit den Rekruten hatte, stark gelitten hatten, ja, sogar gerissen waren. Deswegen konnte es auch geschehen, dass die Dragoner, aber auch die zur Bewachung der Fabrik aufgebotene Infanterie beinahe restlos auf die Befehle ihrer Offiziere hörten und es nur ganz vereinzelt zu Sympathiekundgebungen zwischen der Arbeiterschaft und den Soldaten gekommen war. Das war wirklich ein großer Fehler, und die gesamte Stadtleitung stellte, neben der Aufklärung über den verlorenen Streik, als Aufgabe für die nächsten Monate: die wenigen Verbindungen, die noch zu den Kasernen vorhanden sind, müssen sofort verstärkt und ausgebaut werden.
Meliska, die gerade wegen ihres Verhaltens beim Streik von der Gebietsleitung gelobt worden war und zu gleicher Zeit von der Arbeit in der Stadtteilleitung in die Stadtleitung aufrückte, meldete sich auch zu dieser Arbeit. Sie sollte eigentlich nur einzelne Genossinnen für die Arbeit unter den Soldaten aussuchen. Diese sollten sich, ohne jede Verbindung mit anderen Partei- und Jugendgenossen, die auch unter den Rekruten arbeiteten, an einzelne Soldaten heranmachen, um sie im Sinne der Partei zu bearbeiten. Da es aber nötig war, besonders rasch in die beiden in Krakau liegenden Infanterieregimenter einzudringen, weil dort viele von den Rekruten unmittelbar aus den Großbetrieben kamen, also für eine Propaganda bestimmt zugänglich waren, machte sie selber einen Versuch, auch um die Arbeit und das ganze Milieu dieser Arbeit persönlich kennenzulernen.
Meliska fing das wieder sehr geschickt an. Es war vor allen Dingen nötig, nicht über politisch bekannte Rekruten in die Kasernen einzudringen, sondern auf dem Weg über politisch unbelastete Soldaten. Solche traf man am ehesten in den kleinen Tanzsälen der Vorstädte oder unten am alten Markt in den Kaschemmen. Dabei kamen Meliska wieder ihre Jugend und ihre Frische zu Hilfe. Ja, es gelang ihr sogar ziemlich schnell, zuerst mit einem Gefreiten und dann mit einem Unteroffizier der Genietruppen anzubändeln. Dieser Unteroffizier bat sie schon nach einem Tag, ihn in der Kaserne zu besuchen, und einmal in der Kaserne, war es den Genossen nicht schwer, Meliska Verbindungen zu den Vertrauensleuten, die die Partei bereits in der Kaserne hatte, zu verschaffen.
Mit diesen wurde folgendes besprochen. Meliska bringt jedesmal, wenn sie ihren Unteroffizier besucht, Material, in der Hauptsache Flugblätter, aber auch ein paar von den Broschüren, die für die Soldaten herausgegeben wurden, in die Kaserne. Der Unteroffizier, ein gewisser Marczuk, hatte mit einem Sergeanten zusammen ein Zimmer. Aber der Sergeant, der verheiratet war, saß abends meist bei seiner Frau, und so war Meliska fast immer mit ihrem Unteroffizier allein. Auf dem Wege zu ihm, oder wenn sie von ihm geht, legt Meliska das Material im Korridor auf den Schrank, in dem das Kartenmaterial und die Schießbücher liegen. Am Morgen oder in der Nacht wird das Material von den Genossen auf dem Wege zum Klosett geholt und eilig verteilt.
Es fiel natürlich auf, dass in der Kaserne nun überall Flugblätter herumlagen und dass auch die kleinen roten Broschüren wieder auftauchten, gegen die die Kommandantur von Krakau schon seit Jahren einen harten, aber wenig erfolgreichen Kampf führte. Da die Rekruten immer sagten, sie hätten die Broschüren in ihren Schränken gefunden, mussten sie in größeren Mengen in die Kaserne geschmuggelt worden sein, und bei einiger Kontrolle musste man den Schmuggel unterbinden können.
Aber was man auch tat - man untersuchte die beurlaubten Mannschaften, die Post, die Pakete, Doppelposten wurden um den ganzen Kasernenblock aufgestellt, Offizierspatrouillen nahmen am Morgen und am Abend eilige Untersuchungen der Mannschaftsräume vor -, die Flut der Flugblätter stieg weiter, und auch die Broschüren wurden regelmäßig in größeren Mengen gefunden.
Da tat der Kommandant des Regiments etwas, was schon in anderen Kasernen mit Erfolg angewandt worden war. Er sperrte für alle Mannschaften, auch für die Unteroffiziere, den Urlaub und ließ bekanntgeben: "Diese Urlaubssperre wird erst aufgehoben, wenn man den oder die Flugblattverteiler gefunden hat und die Kaserne wieder von den roten Fetzen gesäubert ist!"
Das war wirklich ein harter Schlag sowohl für die Mannschaften als auch für die Chargen, und es setzte daraufhin eine allgemeine Kontrolle und Bespitzelung der Leute untereinander ein. Keiner traute dem anderen mehr. Sobald nachts einer den Schlafsaal verließ und auf das Klosett ging, wurde er beobachtet, und man ging ihm nach. Die Unteroffiziere stellten sogar verschiedene Posten auf, einzelne versteckten sich die ganze Nacht auf den Korridoren, und bald glückte es auch, zwar nicht Meliska, aber einem der Genossen, die das Material vom Schrank zu holen hatten, auf die Spur zu kommen.
Das war beinahe zufällig geschehen. Ein anderer Soldat hatte beobachtet, wie ein gewisser Kuszko, ein junger Genosse vom Lande, auf den Schrank hinaufgriff. Der Genosse ließ zwar sofort das Bündel, das er gerade gefasst hatte, wieder los, als er Schritte oder vielmehr ein Geräusch hörte, aber der andere, der wohl annahm, Kuszko hätte da oben heimlich etwas untergebracht, Geld oder Lebensmittel, fasste nun auch hinauf und packte die Flugblätter. Er war ziemlich erschrocken, aber er hätte bestimmt nichts verraten, denn er war der Sohn eines Arbeiters, zwar nicht politisch organisiert, aber immerhin soweit Proletarier, dass er das Nützliche solcher Flugblätter anerkannte. Aber gerade er wurde von einem leise heranschleichenden Feldwebel gefasst, auf die Wache geschleppt und einem Verhör unterzogen.
Man bezeichnete ihn natürlich sofort als einen der Täter, und alle Beteuerungen: "Ich bin unschuldig in die ganze Sache gekommen" fruchteten nichts. Als er dann den Hergang erzählte - übrigens immer noch so, dass Kuszko nicht belastet wurde, er sagte nur: "Ich habe da einen gesehen und ich habe mir gedacht, vielleicht hat er da etwas Besonderes versteckt" usw. - war man noch genau so ungläubig. Einer der mit der Untersuchung betrauten Offiziere war aber der Meinung, es könnte nichts schaden, wenn man den größten Teil der Zettel wieder hinauf legte und den Schrank weiter beobachten ließe: "Denn wenn es stimmt, was der Mann gesagt hat, wird ja der andere sicher, sollte er nicht bereits alles für verloren halten, wiederkommen und die Zettel holen."
So war es auch. Kuszko hatte das Gefühl, wenn der Kleine nichts weiter gesehen und keinen Verdacht geschöpft hat - und das war wohl anzunehmen, denn es war auf dem Korridor weder zu einem Geschrei noch zu sonst etwas gekommen - ist es am besten, wenn ich noch einen zweiten Gang zu den Zetteln wage; und nachdem er ungefähr eine Stunde gewartet hatte, um auch nicht durch zu schnelles Herein- und Hinauslaufen in Verdacht zu kommen, kroch er noch einmal aus seinem Bett, um zum zweiten Male nach den Zetteln zu greifen.
Dabei wurde er gefasst und dem jungen Burschen gegenübergestellt. Dieser, wirklich ein tapferer Kerl, erklärte zwar, trotzdem er Kuszko natürlich erkannt hatte, er könne nicht mit Bestimmtheit sagen, ob der erste mit diesem zweiten übereinstimme, denn er habe ja den ersten nur von hinten und in der Dunkelheit gesehen, "und in der Nacht sind alle Katzen grau", aber das war jetzt nicht weiter von Bedeutung. Jedenfalls war dieser zweite einer, der bestimmt mit der Verteilung der Flugblätter zu tun hatte, und da man dem ersten auch nicht ganz traute, behielt man sie beide in Haft.
Es gab nun für Meliska und für die Genossen, die die Verteilung der Flugblätter verantwortlich unter sich hatten, zwei Möglichkeiten
für die weitere Arbeit. Die erste war, die Verhaftung zwar zur Kenntnis zu nehmen, aber die Flugblätter auch weiterhin nach dem alten System in die Kaserne zu bringen. Das wäre nicht schwer gewesen, denn es gab außer Kuszko noch ungefähr ein Dutzend anderer Genossen in der Kaserne, die das Abholen und Verteilen der Flugblätter besorgen konnten, und man musste nur ein neues Versteck ausfindig machen. Die zweite war, vorläufig für einige Wochen keine Flugblätter in die Kaserne zu bringen, um den Regimentskommandeur und die Polizei in dem Glauben zu wiegen, sie hätten mit dem jungen Kuszko nicht nur den Verteiler der Flugblätter, sondern auch den Mann, der sie in die Kaserne gebracht hatte, festgenommen. Denn warum sollte Kuszko die Flugblätter nicht selber auf den Schrank gelegt haben? Die Stuben wurden ja alle Tage überraschend durchsucht, auf dem Schrank waren sie sicherer, und er konnte sie dann beliebig herunterholen und verteilen.
Bei beiden Möglichkeiten hatte man aber ausgeschaltet, dass die Polizei über Kuszko, der allgemein als ein tüchtiger Kerl galt, vielleicht eine Brücke zu Meliska schlagen konnte. Er kannte sie. Das war ein großer Fehler, denn der junge Kuszko hätte die Flugblätter sicher genau so vorsichtig abgeholt und verteilt, wenn er nicht gewusst hätte, wer sie auf den Schrank legte. An diese Möglichkeit hatten die Genossen nicht gedacht, und während man noch zwischen den beiden Varianten schwankte, spannte die Polizei bereits ihre Netze zum zweiten Male aus, und diesmal über Meliska.
Wie sich später herausstellte, war das folgendermaßen zugegangen. Der Regimentskommandeur, aber genau so die Polizei, hatten nach der geglückten Festnahme nur den einen Gedanken: wie sie die Festnahme ausnutzen und auch auf die möglichen übrigen Teilnehmer ausdehnen konnten. Sie begnügten sich deswegen nicht mit der Inhaftnahme und Sicherung des jungen Kuszko, sondern sie setzten ihn sofort unter einen gewissen Druck. Dabei machte der junge Kuszko einen Fehler. Er war selber kaum erschüttert von der Festnahme, ja, er hatte sich in den ersten Stunden der Einvernehmung und als er sah.
was für einen großen Wert sein Kommandeur und die Polizei auf die ganze Sache legten, in eine gewisse Pose und einen falschen Heroismus gesteigert. Anstatt bei den weiteren Verhören und bei den Fragen nach Mitschuldigen einfach nicht zu antworten oder das Vorhandensein von Mitschuldigen abzuleugnen, sagte er: "Ich bin ein Revolutionär, und Sie sollten wissen, dass Revolutionäre ihre Genossen weder angeben noch verraten!"
Auf so eine Antwort hatten die Männer, die das Verhör leiteten, aber nur gewartet. Die überführten den Gefangenen noch in der gleichen Nacht in das örtliche Zuchthaus, wo man mit Hilfe von Maßnahmen, die eigentlich in das Zeitalter der Inquisition gehören, schon tapferere Kerle als den jungen Kuszko zum Reden gebracht hatte. Ja, da nach den Vermutungen der Polizei die ganze Sache eilte, denn man musste annehmen, dass die Verschwörer nach diesem Schlag in ihrer Mitte ihre Spuren so schnell wie möglich verwischen würde, wendete man sofort die schlimmsten und grausigsten Folterungen an, und der junge Kuszko war tatsächlich schon nach zwei Tagen soweit, dass er sagte: "Wahrscheinlich hat eine gewisse Meliska die Flugblätter in die Kaserne gebracht."
Meliska war gerade nach einer Pause von drei Tagen das erste Mal wieder in die Kaserne gekommen. Sie musste es tun, um ihren Unteroffizier nicht aufsässig oder misstrauisch zu machen. Die Beamten versteckten sich, als sie gemeldet wurde, in einer benachbarten Kammer und drangen dann überraschend bei Marczuk ein. Meliska versuchte aus dem Fenster zu springen, aber die Polizei hatte auch unter dem Fenster Posten aufgestellt. Niemand war übrigens erstaunter als der dicke Marczuk, als er aus dem Munde seines Regimentskommandeurs hörte, dass diese spröde junge Frau, um deren Gunst er sich seit Monaten mühte und die er schon zu heiraten beschlossen hatte, weil er mit ihr nicht weiter kam, eine gefährliche Kommunistin sei, die die Kaserne mit Flugblättern überschwemmt habe. Er wurde übrigens auch verhaftet, aber später, nach seiner Degradierung zum Gemeinen, wieder freigelassen.
Meliska wurde sofort dem jungen Kuszco gegenübergestellt. Sie war erschüttert, als sie den Jungen sah. Kuszko stand mit seinem blau unterlaufenen Gesicht an der Wand und zwei Beamte mussten ihn rechts und links stützen, sonst wäre er umgefallen. Er war immer noch so tapfer, auf die Frage der Beamten, ob dieses Frauenzimmer diejenige sei, die die Flugblätter in die Kaserne gebracht habe, "Nein" zu sagen. Da Meliska aber durch ihren Fluchtversuch eigentlich bereits überführt war, die Beamten außerdem, ohne erst ins Nachbarzimmer zu gehen, sofort wieder auf den unglücklichen Kuszko einschlugen, sagte sie: "Lasst den Jungen in Ruhe. Ich gestehe selber, dass ich die Flugblätter in die Kaserne gebracht habe!"
Aber auch Meliska hätte das nicht sagen sollen, denn genau so, wie die Polizei sich zuerst auf Kuszko gestürzt hatte, stürzte sie sich jetzt auf sie, besonders weil sie durch ihre Worte zeigte, dass sie, genau wie der Junge, nicht zu der alten, zähen Sorte der Revolutionäre zählte, die selbst dann nicht sprechen, wenn sie bereits alle Grade der Folterungen und Peinigungen hinter sich haben. Sie wussten ja wohl auch, dass Meliska noch nicht der Schlusspunkt oder die Zentrale der Arbeit unter den Soldaten war, sondern nur ein weiteres Zwischenglied, über das aber der Weg zur Zentrale oder wenigstens zu den nächsten Zwischengliedern führte.
Meliska ging es also in der gleichen Nacht und in den nächsten Tagen nicht viel besser, als es dem jungen Kuszko ergangen war. Erst wurde sie nur verhört, einmal grob und einmal weniger grob, einmal zynisch und einmal mit aller Brutalität; als die Beamten aber merkten, die sie doch härter war, als sie zunächst angenommen hatten, auch mit gewichtigeren Argumenten als nur mit Fragen.
Man schlug sie ins Gesicht, dann auf den Rücken, und auf den Leib. Erst blieb sie angezogen, dann riss man ihr die Sachen vom Leib. Als sie das nicht zum Reden brachte, sondern im Gegenteil, sich alles in ihr verhärtete, schlug man sie schlimmer, riss ihr die Haare aus. begoss sie mit heißem Öl, brach ihr zwei Finger, und das alles, ohne dass sie in der Zwischenzeit auch nur eine Minute zum
Nachdenken oder zum Ausruhen gekommen war. Erst, als sie in Ohnmacht fiel und nach zwei Kübeln Wasser langsam wieder erwachte, hatte sie ein paar Minuten Ruhe vor den Folterknechten.
In diesen Minuten ging ihr nun sogar mit einer gewissen Freude auf, dass es doch ein tüchtiges Stück Arbeit gewesen sein musste, das sie in den letzten Wochen geleistet hatte. Denn wenn man sich danach mit einer solchen Bestialität auf einen Menschen stürzt, der doch nichts weiter getan hat, als ein paar Flugblätter zu verteilen, so muss doch hinter diesen Flugblättern eine Macht stehen und hinter dem Sadismus dieser Polizeischergen eine Angst. Obwohl ihr ganzer Körper wie Feuer brannte, hatte Meliska plötzlich das Gefühl, dass die Sache wert war, für sie so zu leiden, und das gab ihr die Kraft und den Mut, die sie für die nächsten Verhöre brauchte.
Diese waren noch schlimmer als die vergangenen, aber was die vertierten Schergen auch taten - und wir wollen hier nicht all die Schandtaten aufzählen, die die Folterknechte aller kapitalistischen Staaten und vor allen Dingen die des faschistischen Polen sich ersonnen haben, um gefangene Arbeiter und Arbeiterinnen im Auftrag ihrer Vorgesetzten und ihrer Geldgeber zu Sprechen zu bringen - Meliska verriet nichts, weder von wem die Blätter und Hefte stammten, von wem sie sie bekommen hatte, noch ob sie auch von anderen als dem jungen Kuszko abgeholt worden waren, selbst nicht, wie oft sie die Blätter brachte und ob sie noch auf anderen Wegen in die Kaserne gekommen waren. Da trotz neuerlichen Schlägen auch aus dem jungen Kuszko nichts mehr herauszubringen war, blieb der Polizei, nach sechs Wochen Folterungen, strenger Haft und Androhung der weitaus schwersten Zuchthausstrafe, wenn sie nicht antworten würden, nichts weiter übrig, als den ganzen Fall mit der Verhaftung der beiden abzuschließen und sie an das Gericht zur Verurteilung zu übergeben.
Hier hatte Meliska endlich die Möglichkeit, das zu sagen, was sie diesen Richter, Staatsanwälten und den wenigen Zuschauern, die zugelassen waren, schon längst sagen wollte. Wie morsch und faul ihr ganzes System, ja ihr ganzer Staat doch sein müssen, "dass sie einen
so kleinen und armen Menschen" - und sie reckte ihre dürr gewordenen Arme und ihren hageren Hals wie eine Anklage aus ihrem verschlissenen und nur mühsam wieder zusammengeflickten Kleid heraus - "sechs Wochen lang prügeln, martern und auf das sadistischste foltern, nur um zu erfahren, ob außer ihm noch andere am Verteilen von armseligen Flugblättern beteiligt wären. Flugblätter, auf denen nur stand, dass die Arbeiter, wenn sie den Soldatenrock anziehen, trotzdem Arbeiter bleiben sollen. Dass sie, wenn sie bei Streikkämpfen eingesetzt werden und schießen müssen, auf ihre Väter, auf ihre Mütter und auf ihre Brüder schießen. Und dass sie sich nie dazu aufreizen lassen sollen, in den Steikenden Staatsfeinde und Verbrecher zu sehen, denn die Staatsfeinde sind nicht die Arbeiter, sondern", und das schrie sie, so laut sie schreien konnte: "Sie, und Sie, und Sie!" und sie zeigte dabei auf den Richter, den Staatsanwalt und den Hauptmann, der im Auftrage der Militärinspektion dem Prozess beiwohnen musste.
Ja, Meliska schenkte ihnen kein Wort, wenn auch der Richter, der Staatsanwalt und die beiden Polizeibeamten, die rechts und links neben ihr postiert waren, ihren Redestrom immer wieder eindämmen wollten. Sie war auch so schamlos, sich das Kleid von der Brust zu reißen und den Richtern und Schöffen ihre zerschlagenen, blau unterlaufenen Brüste zu zeigen, auch ihren gepeitschten Rücken, ihre gebrochenen Fingergelenke, zu sagen, was man sonst noch mit ihre getrieben hatte, das Schamloseste, was man nicht einmal mit einer Dirne treibe. "Und das alles nicht aus rohem Zynismus", ja, auch das sagte sie ihnen, "sondern aus Angst!" Weil sie wüssten, was hinter ihr stünde: "die große Kraft der Arbeiterklasse, die Millionenbataillone der polnischen Arbeiter und Bauern. Der Gerichtstag nicht über uns, über mich, über den armen Kuszko, sondern über euch!" "Und", sagte sie zum Schluss, "dessen seid gewiss, was ihr auch weiter tut, und ob ihr mich auch für Jahre einsperrt, den Gerichtstag schafft ihr dadurch nicht aus der Welt. Er kommt! Er kommt bestimmt! Und dann: wehe euch!"
Es war eine harte Rede, eine schwere Rede, und die hatte die Richter und die Schöffen auch sichtlich beeindruckt, denn sie saßen lange in ihrem kleinen Beratungszimmer, und als sie wieder herauskamen, ein Mann hinter dem anderen, armselig, dem Staatsanwalt lief sogar der Schweiß über die Glatze, sahen sie wirklich nicht wie Richter oder wie Sieger aus, sondern wie Geschlagene, wie zittrige Greise, die das Schwert des Richters nicht in der Hand halten, sondern über sich spüren, groß und bedrohlich. Und so fiel das Urteil auch aus. Meliska bekam sieben Jahre Zuchthaus, "und wegen Verstocktheit und Unbotmäßigkeit der Angeklagten" bekam sie noch zwei Jahre dazu.
Der Richter fragte Meliska: "Nehmen Sie die Strafe an und haben Sie noch etwas dazu zu sagen?" Da sprang Meliska zum zweiten Male auf. Nein, sie hatte nichts dazu zu sagen, aber sie wollte den fünf zeigen, dass sie auch das ungebrochen überstehen würde, dass sie auch diese Strafe nicht erschütterte. Ungebrochen wie ein Mensch, der wenig zu verlieren hat und für den auch diese neun Jahre Zuchthaus nur ein Zeichen waren, das die Brüchigkeit der Klasse, die diese Strafe diktierte, sichtbar machte. Nein, sie hatte ihnen nichts mehr zu sagen, aber sie sang als Antwort und mit der ganzen Kraft ihrer hohen und feierlichen Stimme die Internationale.
Sie sagen den ersten Vers und sah dabei die fünf an. Sah sie so wild und leidenschaftlich, von ihrem ganzen Hass empor geworfen an, dass die fünf tatsächlich während ihres Gesanges nichts zu sagen wagten und sie nur anstarrten; der kleine Staatsanwalt, als ob da ein Rachegott vor ihnen auferstanden wäre, der Richter, als ob ein Gespenst vor ihm stünde, die beiden Beisitzer mit großen, aus dem Kopf quellenden Augen. Und auch der Hauptmann hätte beinahe seine während des ganzen Prozesses zur Schau getragenen stoische Ruhe verloren, aber da war Meliska schon mit dem ersten Vers zu Ende.
Bevor sie den zweiten anfing, trat sie einen Schritt vor, sah den fünf noch hasserfüllter in die Augen und schrie dem Richter und den beiden Beisitzern ins Gesicht: "Stehen Sie auf. Stehen Sie auf! Haben
Sie denn nicht gehört? Ich singe die Internationale!" Sie schrie das so laut, als knalle sie diesen fünf mit einer Peitsche um die Ohren. Aber jetzt wachten sie auf. "Kanaille!" schrie der Richter. "Hinaus!" Und da wurde sie auch schon gepackt. Es waren die beiden Beamten, die sie packten. Sie drehten ihr die Arme nach hinten und schleiften sie aus dem Gerichtssaal hinaus.
Sie sang weiter, und wenn ihr die beiden Polizisten auch die Arme immer schmerzhafter aus den Gelenken drehten, sie hatte nicht das Gefühl, dass sie verurteilt war und dass sie oder ihre Klasse damit eine Niederlage erlitten hätten. Im Gegenteil, sie ging noch immer wie eine Siegerin dahin. Wie die Genossen vor ein paar Wochen erfahren haben, ist sie auch heute, nach zwei Jahren Zuchthaus, noch ungebrochen. "Sie lässt euch grüßen", sagte der alte Bilewka, der sie im Zuchthaus gesprochen hatte. Er brachte auch einen Zettel von ihr für die Genossen mit. "Kämpft tapfer weiter", stand darauf. "Ich habe wie kaum eine andere erfahren, wie morsch und brüchig die Decke ist, gegen die wir stoßen. Noch ein paar Schläge, und sie bricht zusammen!"

 

DIE TOTEN VON PABJANICE

In den letzten Tagen des großen polnischen Textilarbeiterstreiks im Herbst 1932, in dem weit über hundertachtzigtausend Textilarbeiter um die Erhaltung ihrer kümmerlichen Tarife kämpften, wurde in Pabjanice aus nichtigen Gründen auf die streikenden Arbeiter und Arbeiterinnen geschossen. Achtunddreißig wurden von den Kugeln der Polizei getroffen. Zwei Frauen und fünf Männer waren tot. Diese Schüsse und die sieben Toten entzündeten den aufgespeicherten Explosivstoff, und die Arbeiterschaft von Pabjanice begann sofort mit Gegenaktionen.
Zuerst, indem sie die Zurückhaltung gegen die Unternehmer und die vielen Streikbrecher aufgab und noch in der Nacht, die dem Tag folgte, an dem die sieben erschossen worden waren, auf alle Betriebe Überfälle unternahmen, dergestalt, dass die Arbeiter von der Straße aus die Eingänge der Betriebe bedrohten, zu gleicher Zeit aber kleine Gruppen über die Umzäunungen schickten, die in die Betriebe einbrachen, die Streikbrecher verprügelten und ziemliche Verwirrung stifteten: Straßenlaternen zerschlugen, verschiedene Läden plünderten, in den abgeschiedenen Vierteln Blitzdemonstrationen machten. Einigen gelang es sogar, das große Lichtkabel, das Pabjanice mit der Nachbarschaft verband, zu zerschneiden, so dass Pabjanice eine ganze Nacht ohne Licht war.
Diese lichtlose Zeit benutzten die Arbeiter zu einigen Angriffen auf die Polizei selber. Sie bewarfen die Streifen mit Dachziegeln, mit Steinen, mit Holz. Sie gingen auch gegen die Wachstuben vor, warfen die Fenster ein, drangen ein, entwaffneten einige Beamten, stießen sie zu Boden, verprügelten und bespien sie.
Der Polizei gelang es zwar, am nächsten Morgen die Ordnung wieder einigermaßen herzustellen, die Betriebe von den eingedrungenen Arbeitern zu säubern, und auch das Lichtkabel konnte wieder geflickt werden. Aber sonst blieb die Lage gespannt, und es war nur eine Frage der Zeit, wann die beiden Fronten zum zweiten Male zusammenstoßen und ihre Kräfte aufs Neue messen würden.
Auch am dritten Tag konnte die Polizei, besonders durch Heranziehung von Kavallerie und vier Raupentanks, die wie vorsintflutliche Saurier durch die Straßen polterten, die kleinen Aktionen der Arbeiterschaft niederhalten. Sie hoffte, mit Hilfe dieser Kräfte auch weiter für Ruhe sorgen zu können. Aber die Streikleitung stellt durch einen Aufruf an alle Streikenden und die übrigen Bürger von Pabjanice die mühsam aufgerichtete Ordnung wieder in Frage.
Die Streikleitung teilte mit, dass sie für den nächsten Tag, an dem die sieben Erschossenen begraben werden sollten, das Demonstrationsverbot, das am ersten Streiktag von der Regierung für das Streikgebiet verhängt worden war, nicht anerkenne und als aufgehoben betrachte. "An diesem Tage werden wir demonstrieren, denn es hat sich noch keine Arbeiterschaft der Welt - auch in der schlimmsten Periode des Terrors nicht - nehmen lassen, ihre Opfer im Klassenkampf zu Grabe zu tragen!"
Die Polizei, die nun mit Recht diese Demonstration mehr fürchtete, als den ganzen Streik, denn sie kannte die Arbeiter von Pabjanice, holte sofort zu einigen Gegenschlägen aus. Der erste war, dass sie die ganze Demonstration und das darauf folgende Begräbnis durch einen Raub der Toten unterbinden wollte. Man schickte zu diesem Zweck eine Kompanie Soldaten, unterstützt durch Kriminalbeamte und örtliche Polizei, auf den Friedhof, um die Leichen zu beschlagnahmen und sie schnell selber zu verscharren. Aber die Kriminalpolizei kam zu spät, die Arbeiter hatten sich ein paar Stunden vorher ihre Toten schon geholt. Auch Razzien in den Wohnungen der Angehörigen nützten nichts, die Arbeiter hatten die Leichen anderswo versteckt. Der erste Gegenschlag der Polizei war also ein Schlag ins Wasser.
Der zweite richtete sich gegen die Streikleitung. Die Polizei machte einen überraschenden Vorstoß gegen die Streiklokale, um die Streikleitung wegen ihres Aufruhrs zu verhaften. Aber der Vorstoß glückte nicht. Die Streikleitung hatte auch damit gerechnet und sich bereits in Sicherheit gebracht.
Nun konnte die Polizei nichts weiter machen, als alle Erlasse der Streikleitung durch Polizei- und Militärpatrouillen abreißen und vernichten zu lassen. Oder sie ließ sie mit einer eigenen Erklärung überkleben. In dieser Erklärung hieß es, dass die Regierung im Gegensatz zur örtlichen Streikleitung das Demonstrationsverbot in keiner Weise als aufgehoben betrachte. Im Gegenteil, sie verschärfe es noch. "Morgen sind nicht nur alle Demonstrationen verboten. Wir geben hiermit bekannt, dass es darüberhinaus allen Bewohnern von Pabjanice, ob sie nun Arbeiter, Handwerker oder Bauern sind, ob sie am Streik beteiligt sind oder nicht, für den ganzen Tag verboten ist, ihre Wohnungen, beziehungsweise ihre Häuser zu verlassen. Es ist sogar verboten, vor den Türen zu stehen oder sich an den Fenstern sehen zu lassen. Auf jeden, der es dennoch tut, wird ohne vorherige Warnung geschossen!"
Das war die sonderbarste Bekanntmachung der Polizei, die jemals bei einem Streik in Polen erlassen wurde. Die Polizei war aber im Irrtum, wenn sie glaubte, dass sie die Arbeiter von Pabjanice durch diese Bekanntmachung schrecken konnte. Im Gegenteil, die Streikenden waren nicht einmal ärgerlich darüber, denn durch dieses Dekret erfuhren tatsächlich alle Bewohner der Stadt, und natürlich auf besserem Papier und auf drastischere Art als durch die Flugblätter, dass der nächste Tag ein besonderer zu werden versprach, und dass alle, ob Streikende oder NichtStreikende auf dem Posten sein mussten.
Am nächsten Morgen, als die ersten Polizei- und Militärpatrouillen in das Innere der Stadt vorstießen, um etwaige Wagemutige von den Straßen zu vertreiben, konnten sie sich davon überzeugen, dass die Massen tatsächlich auf dem Posten waren. Die Arbeiterschaft hatte die Straßen der Stadt bereits besetzt.
Die Besetzung war so tausendfältig, dass die Patrouillen nichts mehr gegen sie unternehmen konnten. Die Arbeiter von Pabjanice waren nämlich nichteinzeln oder in Gruppen auf die Straße marschiert, sondern sie waren allesamt auf der Straße. Männer, Frauen, Kinder, Mütter, Großmütter. Sie waren zum größten Teil sogar mit ihrem
Hausrat, mit ihren Haustieren, mit ihren Küchenherden und mit ihren Betten auf die Straßen gezogen. Die ganze innere Stadt sah wie ein Heerlager aus, wie das Lager einer Volksmasse, die mit allem, was sie hat, aufgebrochen ist, um neue Lagerstätte oder eine neue Heimat zu suchen, und die nun gerade Rast gemacht hat.
Eine alte Frau lag mitten auf der Straße in ihrem Bett. Ein paar Kinder saßen auf ihren Töpfen. Mitten auf der Straße wurde gekocht, eine Ziege wurde gemolken, Hühner liefen auf dem Pflaster. Eine Mutter löffelte ihren Kindern, die alle, es waren ihrer vier, um einen wackligen Tisch saßen, die Morgensuppe ein. Ein paar Weber hatten ihre Weberbäume mitten auf dem Straßenpflaster aufgebaut. Ein Tischler stand mit seiner ganzen Werkstatt auf der Straße. So war es überall, in allen Gassen, auf allen Plätzen, in jeder Toreinfahrt, und ein Vorgehen der Polizei und des Militärs hätte diesen Tumult, dieses Durcheinander nur vermehrt.
Die Polizei tat deswegen auch das einzige, was sie tun konnte, sie zog sich zurück. Sie wollte, wenn die Arbeiterschaft doch demonstrieren wollte, wenigstens mit einer gewissen Geschlossenheit dieser Demonstration entgegentreten. Die Arbeiterschaft hatte auch keinen Augenblick daran gedacht, ihre Demonstration aufzugeben, und die Polizei hatte sich kaum zurückgezogen, als sich die lagernden Massen plötzlich erhoben, den Haus rat in der Obhut der Alten lassend, und sich mit Frauen und Kindern in Bewegung setzten. Der Zug schwemmte wie ein Strom in die Hauptstraßen und ergoss sich dann gegen den Markt. Auf einmal waren auch die sieben Toten wieder da. Sie lagen in offenen schwarzen Holzkisten, waren von einer Woge von roten Tüchern und Fahnen umsäumt und wurden von ihren Kameraden dem Zug vorangetragen.
Auf dem Markt stieß der Zug mit der Polizei zusammen. Zuerst nur mit ein paar Aufklärern, die sich zum Gros zurückzogen. Aber dieses Gros war ziemlich stark, ungefähr hundertzwanzig schwerbewaffnete Ortspolizisten, Gendarmen und Kriminalbeamte, dahinter zwei Schwadronen Berittene und hinter den Berittenen Tanks.
Die Polizisten und Gendarmen gingen zuerst gegen die Demonstranten vor. Aber nicht, wie sie es sonst machten, mit gefälltem Bajonett und Schreckschüssen. Sie wussten schon, dass die Streiker von Pabjanice die ja mit oder ohne Arbeit nichts weiter zu verlieren hatten, als ihr armseliges Leben, für dies sie auch sonst keinen Heller mehr gaben, weder mit dem einen noch dem anderen zu schrecken waren. Die Polizisten und Gendarmen gingen mit Hilfe von sechs Straßenbahnwagen gegen die Streiker vor.
Was sie sich von dieser Art Angriff versprachen, wird wohl nie recht aufzuklären s ein, jedenfalls hatten sie ihn sorgfältig vorbereitet, denn die Wagen standen - die Straßenbahn wurde kurz vor der Einbiegung vor dem Markt doppelgleisig - immer drei Wagen hintereinander, mitten unter ihnen. Die Polizisten und Gendarmen sprangen hinauf, dann wurden die Straßenbahner, so behaupteten sie wenigstens später, gezwungen, die Kurbeln herumzuwerfen, und die Wagen jagten auf die Streikenden zu.
Es musste der Polizei wirklich vorher nicht klar gewesen sein, was sie mit diesem Angriff wollte. Sollten die Wagen nun einfach in die Massein hineinfahren? Sollte vorher gebremst werden und wollten die Polizisten dann herunterspringen, herunterschießen und die Demonstranten auf diese Art auseinanderschlagen? Oder wollte die Polizei schon von vornherein schießen und die Wagen einfach als kugelspeiende Feuerwagen anrücken lassen? Nun, was sich die Polizeigewaltigen auch vorgenommen hatten, es kam weder zu dem einen noch zu dem anderen.
Das scharfe Anrücken der Wagen machte keinerlei Eindruck auf die Massen. Es waren schon beinahe 20.000, die sich mit ihren Fahnen, Transparenten und roten Schleifen wie ein Keil in die Straße hineingepresst hatten. Was hätten sie übrigens gegen die anfahrenden Wagen machen sollen? Im besten Falle schreien. Zurück konnten sie ja doch nicht. Vorerst geschah jedoch etwas anderes. Als die Wagen schon bedrohlich nahe waren, sprang eine gewisse Maria, Schwester einer der erschossenen Textilarbeiterinnen, aus der fünften oder sechsten Reihe der Demonstranten und schrie: "Sofja, Rosa, Alexandra, heraus! Wir haben doch das wenigste zu verlieren!" Und sie hatte das kaum gesagt, als sich hinter ihr ein halbes Hundert Mädchen aus den Reihen drängte und sich gegen die Wagen warf.
Waren es nun die Schaffner, die sich auf einmal auf ihre Klassensolidarität besannen oder waren es ein paar von den Polizeibeamten, jedenfalls bremsten die Wagen kurz vor den Mädchen, von denen sich zwei sogar auf die Schienen geworfen hatten. Die Schaffner rissen die Kurbeln aus den Schalttafeln, sprangen von den Wagen herunter und stürzten auf die Streiker zu. Die schweren Wagen, die eben noch wie große gelbe Katzen vorwärts geschnellt waren, rollten jetzt unter dem Gebrüll der Streikenden und unter den ängstlichen Schreien der noch auf den Wagen hockenden Beamten langsam auf den Kordon der Polizei zurück.
Die Streikenden, die, als sie die Polizeimassen gesehen hatten, stehengeblieben waren, spornte das alles so an, dass sie, die Särge noch immer auf den Schultern, wieder einige Schritte weitergingen. Aber nicht lange, denn kaum waren die Wagen hinter die Mauer der Polizisten und der Kürassiere verschwunden, da rückten die Kürassiere gegen die Demonstranten vor, und die Massen duckten sich zum zweiten Male zusammen.
Dieser Ansturm war gefährlicher. Die Kürassiere waren zum größten Teil Bauernsöhne aus der Provinz Posen, also ehemalige Deutsche, die die polnische Regierung, die sonst diese Bauern nicht gerade freundlich behandelte, in solchen Fällen wie diesem gern gegen die eigenen Landsleute ausrückenließ. Vor allen Dingen, weil diese kräftigen, grobschlächtigen Kerle keinerlei Skrupel kannten und, während sie auf die polnischen Arbeiter einschlugen und einritten, das Gefühl hatten, sie gäben wenigstens einen Teil der Schläge, die sie selber von der polnischen Regierung bekamen, auf Umwegen zurück. Ja, es war wirklich gefährlicher, und der alte Pawlyk, ein
Arbeiter, der mit ein paar anderen Genossen von der Streikleitung an der Spitze des Zuges marschierte, kratzte sich verzweifelt den Kopf, als sich die Reiter in Bewegung setzten.
Diesmal waren es er, der alte Stapanjuk und seine Frau, die einen Ausweg vorschlugen. Die Streiker von Pabjanice waren, bis auf die starken jüdischen Kontingente, fast alle katholisch. Auch die beiden Mädchen, die die Streiker zu Grabe trugen. Die Anverwandten hatten es sich deswegen nicht nehmen lassen, die Mädchen katholisch zu begraben, und wenn sich auf der dicke Colian, ihr alter Pfarrer geweigert hatte, mit der Demonstration durch die Stadt zu ziehen, so hatte er doch erlaubt, dass die kleinen Mädchen, die zu Ehren der Toten ganz in Weiß gekleidet waren, mit den Streikenden durch die Stadt zogen. Sie standen auch jetzt zwar eingekeilt in die ersten Reihen, aber unmittelbar neben den Särgen. "Ach", sagte der alte Stepanjuk, der neben der kleinen Rosa, seiner Enkelin ging, "Wenn man die Kerle und ihre Pferde mit nichts aufhalten kann, vielleicht halten die Kinder sie auf. "Ja", sagte die alte Stepanjuk, die hinter ihrem Mann stand: "Kinder haben schon manchmal Wunder getan." Und sie hob die kleine Rosa in die Höhe.
Auch die anderen griffen nach den weißen Mädchen und stemmten sie in die Höhe. Die alte Hanna sagte: "Ob ihnen der Bauch von den Pferdehufen zertrampelt wird oder vor Hunger zerplatzt, ist ja gleich Sie fasste nach der kleinen Bilewka und gab sie an den alten Pawlyk weiter. Alle Kinder wanderten auf diese Weise an die Spitze des Zuges, und als sich die Schwadronen, in vier Reihen hintereinander, aufgestellt hatten, und der dicke Rittmeister gerade den Säbel hob, waren es schon hundert Kinder, denn man hatte jetzt auch die anderen, nicht nur die weißen Mädchen, nach vorn geschoben. Nun standen sie wie eine Sperrkette vor der Mauer der Streiker.
Die Pferde preschten heran, es klang sonderbar, wie ihre Hufe auf dem Pflaster knallten, wie sie sich vorwärts schoben, die weißen, schwarzen und braunen Pferdeköpfe und dahinter die überbuschten Gesichter der deutschen Bauernsöhne. Die Kinder sahen ihnen zuerst einen Augenblick neugierig entgegen. Als aber die Kürassiere immer näher kamen und die Köpfe der Pferde größer und größer wurden duckten sie sich. Ihre Augen wurden rund wie Fischaugen, und da hoben auch schon die ersten ihre Hände und schrien. Vielleicht war es dieses Schreien, vielleicht war es überhaupt diese krüpplige Mauer, denn es waren ja keine Polizeipferde, die auf solche Mauern dressiert sind, jedenfalls kam auch dieser Angriff kurz vor den Streikenden zum Stehen.
Das Pferd des Rittmeisters bäumte sich zuerst auf, drehte sich im Aufbäumen und stand dann quer vor den Streikenden. Aber im gleichen Augenblick bäumten sich auch die anderen Pferde, zum Teil auch herum gerissen von den jungen Reitern. Die waren ja zum größten Teil auch Katholiken, und sie sahen erst jetzt, angesichts der verstörten Gesichter unter den weißen Schleiern das Schändliche dieser Attacke. Und ehe eine Minute vergangen war, war die vierfache Kette der Reiter auseinandergerissen oder besser geborsten, und die einen ritten im Schritt, die anderen im Galopp zurück.
Die Attacke war übrigens doch nicht so ohne Verlust abgegangen. Die kleine Rosa und zwei andere Kinder waren von den Pferden niedergetreten worden. Die kleine Rosa war tot. Ihr weißer Schleier lag wie ein eingeschrumpfter Kinderballon auf dem Pflaster. Aber sonst stand die Mauer noch, Ja. sie setzte sich, die roten Fahnen über den Reihen, zum dritten Mal in Bewegung.
Die Polizei und die Militärkräfte gaben die Schlacht noch nicht verloren. Ein Durchbrechen der Kette und ein Sieg der Streiker wäre für sie außerdem eine große Niederlage gewesen, und diese hätte sich bestimmt auch auf die anderen Orte, in denen gestreikt wurden, katastrophal ausgewirkt. Was sollten sie aber diesmal den Anmarschierenden entgegenwerfen, nachdem zuerst die Polizeikräfte und nun die beiden Schwadronen versagt hatten? Da kamen sie auf die Tanks, Die Tanks waren ja noch da.
Es dauerte allerdings eine Weile, bis sich die vier großen raupenförmigen Ungeheuer in Bewegung setzten. Sie stellten sich zunächst alle vier in eine Reihe, zwei in die Mitte, die beiden anderen schräg zwischen Gehsteig und Fahrbahn. Die vier Motoren schnurrten wie große Dynamos an, und dann kamen sie auf die Massen zu. Ja, sie kamen näher und näher. Es sah unheimlich aus, wie sie, große Raupen oder Kröten, heran krochen. Die beinahe in gleichem Takt laufenden Motoren knurrten und fauchten.
Die Massen waren wieder stehengeblieben. Aber diesmal nicht um zu überlegen oder um Möglichkeiten eines Gegenangriffs zu erwägen. Sie waren zuerst nur erschüttert, dass man nach allem, was man gegen sie bereits mobilisiert hatte, nun auch die Tanks gegen sie aufbot. Sie glaubten vielleicht auch einen Augenblick, dass diese Raupen sie nur schrecken sollten und dann wieder umkehren würden, aber als die Tanks immer näher rückten, wurden ihre Gesichter weiß und durchsichtig wie Fensterscheiben. Es war nicht Angst, wie es zuerst aussah, was über die Menschenmauer kam, es war grausiger, und langsam wurde es zu einem Gefühl von etwas unabänderlichem. Ja, sie standen da, als wären sie dazu verdammt, dass diese Raupen auf sie zu krochen, als müssten sie darauf warten, dass die Dinger näher rückten und sie zermalmten, zerquetschten und zerrissen. Es sagte auch zuerst keiner etwas. Die Massen starrten nur mit großen Augen auf die Tanks, auf die grauen Stahlblöcke, die immer näher kamen, Meter um Meter, Schritt um Schritt.
Sie spürten das kalte Eisen schon leibhaftig an sich, über sich, in sich. Es riss an ihnen, es schnitt in ihre Därme. Da schrien auch schon die ersten auf. Es waren ein paar Frauen. Aber sie drängten nicht zurück. Nein, sie standen noch genauso da, wie sie vorher gestanden hatten. Sie schrien eigentlich auch nicht. Sie jagten sonderbare keuchende Töne aus ihren Kehlen. Einen nach dem anderen, und die meisten schlugen dabei die Hände vors Gesicht.
Aber was sollten die Massen sonst machen? Selbst wenn sie den Tanks auswichen, zurückrasten, fliehen wollten, sie konnten es ja nicht. Die Mauer, die die Demonstranten in die Straße geschoben hatten, war ja viele hundert Meter dick. Sie konnte nicht einmal zurückgedrängt werden. Nein, sie mussten aushalten. Man konnte nur still zusehen, was weiter geschah, wenn diese grauen Blöcke zuerst zertraten, zuerst in das holprige Pflaster quetschten. Man konnte nichts weiter tun, als das, was die Frauen taten, auch schreien, irgendwie ganz innen, irgendwie dort, wo dieser grausige, unabänderliche, wo dieser stechende Schmerz saß.
Auch ein paar von den Kindern schrien wieder, und da waren die Tanks auch schon heran. Ganz bedrohlich standen sie plötzlich vor den Massen. Die vorgeschobene Spitze war ein riesiger Eisenschnabel. Die kantigen, knatternden Raupenräder waren große Bandsägen - die ersten spürten sie bereits in ihren Leibern - der kleine Turm mit dem schwarzen Geschützloch, das sich leicht nach allen Seiten drehte, ein grinsender, übermütiger Teufel. Die Mauer bog sich doch etwas zurück. Nicht viel, vielleicht ein paar Meter. Immer mehr schrien, auch die Männer. Der junge Galinski hielt es nicht mehr aus. Er sprang aus der Reihe heraus und warf sich den Kästen entgegen. Eines der Bänder erfasste ihn. Die Beine schlugen zappelnd noch einmal in die Höhe. Die alte Galinski wollte sich auch vor den Kasten werfen, aber ihr Mann und der alte Pawlyk hielten sie fest.
Furchtbar heulten da wieder ein paar auf. "Diese Bestien!" schrien sie. "Diese Bestien!' "Sie wollten uns wirklich bei lebendigem Leibe zerquetschen!" Auch der alte Bilewka schrie. Einer sprang vor und hieb mit seiner Fahnenstange auf das Eisen. Er wurde auch von einem Raupenband erfasst und niedergeworfen. Da sagte plötzlich die alte Hanna: "Wenn sie uns durchaus ins Pflaster walzen wollen, dann sollen sie wenigstens zuerst die Toten ins Pflaster walzen!" "Ja, die Toten!" schrie der alte Strupp, Pawlyk und andere: "Gebt sie nach vorn!" Man gab sie nach vorn. Die dünnen schwarzen Särge schwankten von Kopf zu Kopf. Erst die Särge der Mädchen, dann die Särge der drei Alten, dann der Sarg mit Szija und der Sarg des anderen Jungarbeiters.
"SO!" schrie die alte Hanna und baute mit ihrem Sohn den ersten Sarg groß vor sich auf, so dass der junge Szija in halber Höhe stand und die Leute im Tank den Toten sehen konnten. "SO!" schrie die Alte nochmals, "erst den, bevor ihr uns hinüber besorgt!" Und Pawlyk stellte den zweiten Toten auf. Die alte Verona und zwei andere Frauen und Mädchen. Und da standen groß und wächsern vor den Lebendigen plötzlich alle sieben Toten von Pabjanice in einer Reihe, und ein paar Meter vor ihnen standen die Tanks.
Sie kamen noch immer näher. Sie rückten noch immer vorwärts. Aber bereits langsamer, beinahe schrittweise. Schon blieb der rechte Tank zurück. Die alte Hanna hob den toten Szija höher: "Ja, seht ihn euch nur an, ihr Saukerle!" schrie sie. "Sieht er nicht schön aus!" Und das gelbe, wie mit einem groben Messer zerhackte Gesicht -Szija war in den Kugelregen des Maschinengewehrs gekommen - wäre beinahe aus dem Sarg heraus auf den Tank gefallen. Auch Pawlyk hob seinen Toten höher, und tatsächlich, auch der zweite Tank hemmte seinen Lauf. "Zeigt ihnen auch die Mädchen!" schrie die alte Verona. "Ja, zeigt sie ihnen!" sagte die Frau von Biwalka, und sie stemmten die Särge der Mädchen noch höher.
"He!" schrie plötzlich die alte Hanna, die den schmalen Spalt sah, der zwischen dem ersten und zweiten Tank entstanden war, "der Teufelsjunge hat ihn tatsächlich aufgehalten!" Sie ließ den Sarg mit Szija wieder nach unten rutschen und drängte sich mit ihrem Jungen durch die Lücke durch. Die anderen drängten nach. Auch zwischen dem zweiten und dritten Tank drangen die Massen durch, und auf einmal brachen sie überall durch die eiserne Reihe, quollen an allen Stellen durch die Lücken. Sie übersprangen die Tanks jetzt schon, sie überdeckten und überschütteten sie mit ihren Fahnen und Transparenten, und ein paar Minuten später, immer noch die Toten wie eine Mauer oder ein Schild vor sich, hatten sie bereits hinter den Tanks ihre Reihen wieder geschlossen und drängten aufs neue gegen den Markt.
Was also den Lebenden nicht gelungen war, den Toten war es gelungen. Sie hatten die Tanks aufgehalten. Sie hatten die Eisenkästen zum Stehen gebracht. Sie hatten außerdem über die Tanks triumphiert, sie im Sturm genommen, und nun konnten die Lebenden weitermarschieren. Auch die dünne Polizeikette, die ihnen noch einmal entgegengeworfen wurde, zerplatzte vor ihnen. Ja, wie Spreu stoben die Polizisten auseinander, und der Weg zum Friedhof war frei. Sie mussten nur noch den Markt überqueren, mussten rechts die breite Allee zu den Kasernen hinauf, und sie waren da.
Sie wurden dort nicht mehr gestört. Die Toten, die eigentlich zweimal für sie gestorben waren, konnten nun ruhig begraben werden. Der alte Pawlyk und die alte Hanna konnten sogar an ihren Gräbern sprechen. Sie konnten ihre Fahnen über die Gräber neigen, konnten ihre Blumen in die Gräber werfen, konnten über den Gräbern singen und den Toten versprechen: "Wir werden euch nicht vergessen! Wir werden weiterkämpfen, gerade jetzt, und auch für euch weiterkämpfen, kämpfen bis zum siegreichen Ende des Streiks."
Die Arbeiter von Pabjanice kämpften auch weiter. Sie hielten aus bis zuletzt. Ja, sie standen immer mit an der Spitze der großen Streikwelle, bis die Textilunternehmer zusammen mit den Gewerkschaftsführern und der Regierung vor der Geschlossenheit und Tapferkeit der Streiker kapitulierten. Sie mussten die Forderung der Streikleitung, die - ohnehin geringen - Tariflöhne auf weitere drei Jahre zu garantieren, bewilligen. Wenn man aber heute in Lodz von diesem gewaltigen und wohl größten Streik im Lodzer Textilgebiet spricht, wenn man von den einzelnen Taten der Streiker erzählt und von dem Heroismus der Frauen und Jungarbeiter, dann spricht man zwar leiser, aber mit noch größerer Hochachtung auch von den Toten von Pabjanice. Von den sieben, die noch im Sarg in der Streikfront marschiert sind, den Streikern im Kampf geholfen und wohl Hunderte, wenn nicht noch mehr, vor den Tanks der Pabjanicer Polizei- und Militärgewaltigen gerettet haben.

 

ROTE  FAHNEN UBER KAWASAKI

Es gab schon oft rote Fahnen in Kawasaki, denn Kawasaki ist eine große Arbeiterstadt in Japan, und die Arbeiter von Kawasaki sind eine Elitetruppe der japanischen Arbeiter. Sie erheben ihre Fahnen oft über ihren Papierhütten, am 1. Mai und wenn man ihnen wieder einen Jen von ihren erbärmlichen Löhnen abzieht. Aber diesmal waren es andere Fahnen, die über Kawasaki wehten. Es waren die Fahnen der Mädchen von Kawasaki. Das war, als flösse in Kawasaki das Wasser plötzlich aufwärts, als schiene die Sonne in der Nacht und der Mond am Tage. Das war etwas, was die Unternehmer in Kawasaki nie erwartet hatten, auch die Arbeiter von Kawasaki nicht, denn zwischen den Mädchen von Kawasaki und Kawasaki selbst war eine hohe Mauer, und vor und hinter der Mauer waren Wächter und Polizisten.
Die Mädchen von Kawasaki sind die Weberinnen und Spinnerinnen der großen Seidenwebereien von Kawasaki. Es gibt viele solcher Webereien in der großen Stadt und in jeder hunderte von Mädchen. Sie haben alle das gleiche Schicksal. Sie kommen vom Land. Sie sind Töchter kleiner Reisbauern. Die Bauern um Kawasaki sind arm, ganz arm, wie alle Bauern in Japan. Der Reis wird von Jahr zu Jahr billiger und das Leben immer teurer, und dann kommen die Aufkäufer von Kawasaki und sagen: "Bauer, hast du keine Tochter?"
Der Bauer sagt weder ja noch nein, denn der japanische Bauer ist wie alle Bauern in der Welt misstrauisch. Der Aufkäufer sagt: "Wir brauchen Weberinnen für Kawasaki, und wir zahlen für jede Weberin achtzig Jen!"
Achtzig Jen. Das ist für einen japanischen Bauern genau so, wie wenn es plötzlich Taler regnete. Kawasaki ist außerdem der Traum jedes Bauern in den Bergen und Tälern um die Stadt. "Kawasaki ist groß!" sagen sie. "Kawasaki ist schön!" sagen sie. "Kawasaki ist beinahe so schön wie der Berg Fudschijama."
"Achtzig Jen hast du gesagt?" fragt der Bauer. "Und die Tochter darf außerdem die Stadt sehen?"
"Ja", antworten die Aufkäufer.
Der japanische Bauer ist auch vorsichtig: "Was muss die Tochter für die achtzig Jen in Kawasaki machen?"
"Für die achtzig Jen soll sie fünf Jahre arbeiten. Sie bekommt dafür Essen und Trinken, Arbeitskleider und einen Schlafraum. Außerdem im Monat noch fünf Jen für ihre sonstigen Bedürfnisse!"
Der Bauer drückt einen Augenblick die Augen zusammen: "Achtzig Jen, und fünf Jen im Monat für die Tochter." Es hieße die Götter versuchen, wenn er nicht Zugriffe, und der Aufkäufer bekommt die Tochter. Der Bauer fragt sie nicht einmal, denn die Mädchen um Kawasaki tun noch ungefragt, was ihnen ihre Väter sagen.
Die Aufkäufer bekommen die Mädchen von den Bauern auch billiger. Einige gehen im Frühjahr als Händler in die Dörfer. "Brauchst du nicht", sagen sie zu dem Bauer, "Stoff für einen Kimono, eine Hacke, Tee?"
Der Bauer kauft das eine und das andere, und dann lässt er es anstehen. Wenn die Ernte schlecht war, und sie ist meistens schlecht, kommt der Aufkäufer wieder und verlangt das Geld für die Waren. "Das Geld oder die Tochter!" Und der Bauer gibt ihm die Tochter, und die Tochter geht dann für dreißig oder vierzig Jen nach Kawasaki.
Sie gehen gern in die Stadt, die Mädchen aus den Dörfern. Kann es ihnen in Kawasaki schlimmer gehen als auf dem Land? Mit fünf Jahren müssen sie schon durch das Wasser stampfen und die Reispflanzen in den lehmigen Boden stopfen. Dann helfen sie die Pflanzen bewässern, und später helfen sie bei der Ernte. Sechzehn Arbeitsstunden hat der Tag, und dabei gibt es früh eine Schale Tee, mittags einen Teller Reis und abends einen Teller Reis.
Die Aufkäufer vergessen auch nie, mit den Mädchen zu sprechen, bevor sie mit dem Vater sprechen. "Es ist schön in Kawasaki", sagen sie. "Es gibt Kinos in Kawasaki, Soldaten, Theater." Sie zeigen ihnen Seidenstoffe, die sie in den großen Seidenwebereien weben werden. Bunt, farbig, wie Feuer, wie Blut. Sie dürfen sie über die Schultern werfen. Ja, sie gehen mit Freude nach Kawasaki, die kleinen Mädchen aus den Dörfern im Gebirge. Sie können es gar nicht erwarten, bis sie einer der Agenten auf seinem Karren mitnimmt oder bis sie die Bahn nach Kawasaki fährt.
In Kawasaki beginnt das Erwachen. Die Mädchen sehen nichts weiter als den Bahnhof und die Straßen, durch die sie der Karren fährt. Dann biegen sie in das Tor der Weberei ein, für die sie der Agent gekauft hat. Diese Webereien sind große Gefängnisse. Wenn die Tore hinter den Mädchen zuschlagen, sind sie für fünf oder zehn Jahre gefangen, und es gibt keinen Weg für sie, der wieder aus diesen Toren herausführt, außer dem Weg auf den Friedhof.
Der Agent führt sie zuerst in ein Aufnahmebüro, wo man ihren Namen und die Summe, für die sie gekauft wurden, genau einträgt. Dann kommen sie in eine große, mit vergitterten Fenstern versehene Halle, wo sie nun ihre Abende und ihre Nächte verbringen. Gewöhnlich leben und schlafen 200 Mädchen in dem länglichen Raum. Jede hat nichts weiter als ein Stück Holz, um den Kopf darauf zu legen. Keine Decke, keinerlei Kissen, denn die Mädchen von Kawasaki schlafen in ihren Kleidern. Nicht einmal einen winzigen Spind haben sie. Was sie anhaben, bleibt alles, was sie besitzen, und erst wenn es zerfällt, gibt man ihnen etwas Neues.
Am nächsten Morgen beginnt das, was die Agenten das neue Leben genannt haben. Es beginnt damit, dass sie ein Aufseher mit groben Worten weckt. Sie werden noch früher geweckt als daheim auf dem Lande, kurz nach vier. Dann drängt man sie alle in einen winzigen Eßraum, wo sie eine dünne Brühe mit Reis bekommen und fünf oder sechs Rübenstücke. Das bekommen sie alle Tage, nur an Feiertagen ist die Brühe dicker und schmackhafter. Vom Eßsaal treibt sie der Aufseher zehn Minuten später in die Maschinensäle. Aber auch da beginnt nicht das, was ihnen die Agenten erzählt haben. Ein Ertrinken in roten, blauen, gelben und grünen Fäden. Sie müssen schwere Spulen tragen, müssen aufwischen, überall zugreifen, und es vergehen Monate, bis man sie an die Webstühle lässt.
Die Arbeit an den Webstühlen ist aber nicht leichter als die andere. Die schweren Eisenschiffchen sausen wie Pfeile hin und her. Da müssen Fäden geknüpft werden. Da drängen die Aufseher. Da rattern die Alarmklingeln, weil sich irgendwo die Fäden verwirrt haben. Die Arbeit wird auch nicht einfacher, wenn sich die Mädchen eingearbeitet haben. Zu dem einen Webstuhl kommt dann ein zweiter, manchmal ein dritter, und die armen Mädchen sind wie tot, wenn sie abends in ihre Schlafsäle zurückkommen.
So vergehen Tage und Wochen. In den Mittagspausen werden die Weberinnen genau so gehetzt wie bei der Arbeit. Es darf auch immer nur ein Teil essen, die anderen müssen inzwischen nach allen Maschinen sehen. In den großen Webereien in Kawasaki werden um die Mittagszeit die Maschinen nicht ausgeschaltet. Die Abendstunden sind beinahe noch schlimmer als die Arbeitsstunden. Die Mädchen liegen mit müden Rücken auf ihren Hölzern, und wenn sie nicht sofort in Schlaf fallen, denken sie.
Sie denken daran, dass erst zwei oder drei oder vier Monate vergangen sind, und dass noch dreißigmal zwei Monate vergehen müssen oder noch fünfzehnmal vier. Dass sie betrogen worden sind, und dass es nichts Schlimmeres gibt als diese Webereien. Dass sie die Hölle sind, und dass jeder Tag auf dem Lande dagegen das Paradies war. Und sie möchten lieber sterben als am nächsten Morgen wieder aufwachen.
Manche denken auch an die Burschen, die sie in den Dörfern zurückgelassen haben. Diese Burschen wandern jetzt durch die Felder. Manche weinen leise. Manche schreien aber auch. Dann schalten die Aufseher das Radio ein, oder man führt die Mädchen in eine Halle, wo ein Kinoapparat steht. Aber auch das macht das Leben nicht leichter. Es macht es noch schwerer, und manchmal stößt dann eines der Mädchen ihren Kopf durch die Matten gegen den Boden, oder es steht auf und stößt ihn gegen die Gitterstäbe. Aber das nützt alles nichts. Nur der Tod sprengt die Gefängnisse der Mädchen von Kawasaki. Der Tod, sonst nichts.
Aber eines Tages sprengte sie nicht der Tod. Eines Tages sprengten sie die Mädchen selber. Das war der große Tag von Kawasaki. Der Tag, den keiner in Kawasaki vergessen wird. Die alten und die jungen Frauen, die Männer, die in den Metallbetrieben arbeiten, und die Straßenbahnarbeiter von Kawasaki, keiner wird es vergessen. An dem Tag wehten auch die roten Fahnen über Kawasaki. Die roten Fahnen, die aus den Toren der Webereien kamen. Aber das alles hat eine lange Vorgeschichte.
Mit den Mädchen, die gleich nach dem Fest der Baumblüte in die Webereien des großen Fujikonzerns gekommen waren, war auch das Mädchen Kane gekommen. Sie kam aus den Bergen und war die Tochter des alten Yamamoto. Sie war noch jünger, als die Mädchen sonst waren. Vierzehn Jahre. Sie war auch nur von dem Agenten gekauft worden, weil der alte Yamamoto gesagt hatte: "Sie ist schon siebzehn." Aber Yamamoto war einer von den ganz armen Bauern. Er hatte nichts weiter als ein paar Acker Pachtland, und die letzte Ernte war ihm durch eine Überschwemmung vernichtet worden.
Kane war, wie die anderen, mit Freude nach Kawasaki gegangen. Sie sah auch noch mit Freude, das Kawasaki schöner war, als es der Agent ihr vorgemalt hatte. Hüpfende Straßenbahnen mit bemützten Schaffnern, Pferde, Autos, bunte Teestuben, große Verkaufsstellen, Menschenmassen, die sich durch die Straßen schoben. Als das Tor hinter ihr zuschlug, wollte sie es zuerst nicht glauben. Ja, sie wandte sich wieder um. Sie wollte hinein in den Wirbel von Menschen und Tieren und nicht in das graue, vergitterte Haus. Man musste sie gewaltsam zurückhalten, und der alte Kuroda ließ sie binden und von den Wächtern in den Saal schleppen.
Da lag sie nun immer, wenn sie nicht arbeitete, Blüten in den schwarzen Flechten. Diese Blüten gibt man den Mädchen von Kawasaki, wie man ihnen die Bilder aus aller Welt zeigt und ihnen die Musik aus den Kaffeehäusern von London, Paris und New York vorspielen lässt. Da lag sie und dachte an das Kawasaki, das hinter den Gitterstäben war. Sie dachte auch an ihr Dorf, an die Reisfelder und
an Nagata, einen jungen Burschen, mit dem sie am Abend durch diese Felder gegangen war. Langsam wurde es dunkler. Sie sah den Mond, denselben Mond, den sie alle Abende im Gebirge gesehen hatte. Sie sah die Sterne und sie hörte kleine Glocken. Sie hätte gerne geschlafen, aber ihr Herz schlug so heftig und ihr kleiner Körper zog sich so sonderbar zusammen, dass sie auch noch wach war, als der Himmel im Westen wieder heller wurde, sich langsam rötete, und als die Sonne durch die Gitterstäbe kam.
Viele Wochen waren schon vergangen. Am Tage musste Kane die schweren Spindeln tragen, und am Morgen bekam sie die gleiche dünne Reissuppe wie am Mittag, und als sie immer zarter und gebrechlicher wurde, schickte man sie in den Raum, wo die Seide gekocht und gewaschen wurde. Aber da war es noch schlimmer als in den Websälen. Das Wasser dampfte aus allen Kesseln. Von den Wänden kam ein süßlicher, dumpfer Brodem. Sie hustete, die kleine Kane, und bald schmerzte ihr alles, wenn sie husten musste, und ihre Nachbarinnen wussten schon, sie hatte Beriberi, das Mädchen aus dem Gebirge. Beriberi war neben der Schwindsucht die einzige Möglichkeit, wenn auch nicht lebend, so wenigstens tot aus diesem
Gefängnis zu kommen.
Aber es war sonderbar: je hinfälliger Kane wurde, um so sehnsüchtiger sah sie nach den Fenstern und um so öfter dachte sie an die Reisfelder im Gebirge, an die kleinen Maulbeerbäume, an Nagata und an ihren alten Vater. Jetzt blieb sie auch nicht mehr liegen, sie stand auf. Sie schlich sich zu den Fenstern hin. Sie wollte dem Mond näher sein. Sie wollte die Nacht näher spüren. Sie wollte beides greifen, den Mond und die Nacht, und wenn auch Kijose, der Aufseher, schimpfte und sie gewaltsam wieder zu ihrem Lager zurückschleppte, sobald Kijose den Raum verlassen hatte, stand Kane
auf und sah wieder hinaus.
Bis sie eines Tages, als der Schmerz in ihrer Brust und in ihrem Leib sie beinahe wie einen Bogen zusammenzog, verzweifelt spürte,
dass sie wahrscheinlich wirklich das alles da draußen nie wieder anfassen und sehen würde. Dass sie, wenn ihre Schmerzen nicht nachließen, wirklich sterben musste. Diese Verzweiflung packte sie so furchtbar, dass sie mitten in der Arbeit - sie stampfte gerade die schweren Gespinste in eine graue Lauge - zu schreien begann. Erst leise, es klang wie ein ärmliches Zirpen, dann lauter, verzweifelter, und zuletzt so, dass die anderen Mädchen ihre Arbeit stehenließen, zusammenliefen und um Kane herumstanden.
Die Aufseher kamen. Der alte Kuroda, einer der schlimmsten Kerle in der großen Kaserne. Aber wenn er auch die Mädchen wieder an ihre Bottiche treiben konnte, Kane konnte er nicht zum Schweigen bringen. Ja, wie er das Mädchen auch beutelte, an den Haaren zerrte, hin und her schob, ihr mit den schwersten Strafen drohte, Kane schrie weiter, schrie noch lauter, und als der Alte ihr die Hand über den Mund schob, biss sie hinein, und zu gleicher Zeit schlug sie ihm ihre Fäuste ins Gesicht.
Kuroda pfiff, und Kijose und Oshima rannten durch den Saal. Kijose packte Kane bei den Armen, Oshima bei den Beinen, und sie wollten sie aus dem Saal hinaustragen. Aber die anderen waren bereits vom Geschrei des Mädchens angerührt. Als man Kane an ihnen vorbeitrug, versuchten sie, das Mädchen den Wächtern zu entreißen, und als das nicht gelang, schrien sie mit. Alle vierzig Mädchen in dem kleinen Saal schrien plötzlich, und als hätten sie durch das Geschrei Mut bekommen, fielen sie nochmals über die Aufseher her. Einige stellten sich ihnen in den Weg, andere fassten nach ihnen, und ehe die Wächter die Tür erreichen konnten, hatten die Mädchen Kane befreit, und die Wächter standen atemlos und verzweifelt beiseite.
Da läutete es Mittag. Die Mädchen nahmen Kane in ihre Mitte und gingen mit ihr in den Eßraum. Da hatte man schon von ihrer Revolte gehört. Alle standen in Haufen und sahen auf die Mädchen aus der Wäscherei. Aber während des Essens beruhigten sich die Mädchen wieder, auch Kane, und es wäre wohl nicht zu einer großen Revolte
gekommen, wenn Kuroda nicht mit vier seiner Getreuen wiedergekommen wäre um zum zweiten Male nach Kane und zwei anderen Mädchen aus der Wäscherei zu fassen.
Kane schrie schon, als der alte Kuroda noch in der Tür stand, und jetzt schrien alle. Nicht nur die Mädchen aus der Wäscherei, auch die Mädchen aus den benachbarten Websälen. Sie schrien sich beinahe heiser, und dazwischen nahmen sie die Holzschuhe von ihren Füßen und trommelten auf den Boden. Als die Wächter trotzdem näherkamen, gingen sie sogar zur Offensive über. Erst warfen sie nur mit ihren Pantoffeln, dann aber auch mit Suppentellern, mit Schüsseln, und es waren noch nicht fünf Minuten vergangen, da hatten Kuroda und die Wächter den Saal wieder verlassen. Die Mädchen waren Sieger geblieben.
Jetzt geschah es aber, dass Matjan einsprang. Matjan und ein anderes Mädchen, das Takae hieß. Matjan war die Schwester eines jungen Arbeiters, und sie hatte sich nur an die Weberei verkaufen lassen, um ihrem Bruder zu helfen, dass er das Technikum besuchen konnte. Ja, sie war wohl die einzige in dem kleinen Saal, die sich wissentlich verkauft hatte und auch wusste, dass die Mauern der Fujiweberei ein Gefängnis waren und dass man, wenn man einmal hineingegangen war, seine fünf Jahre absitzen musste. Sie wusste auch: wenn man dem Mädchen Kane helfen wollte, jetzt, nachdem man einen ersten Sieg über die Aufseher und die Fujikompanie errungen hatte, musste man noch organisierter und konzentrierter vorgehen, und es kam vor allen Dingen darauf an, die errungenen Vorteile auszunutzen.
Aber, was wollten die Mädchen eigentlich? Wie Matjan hörte, hatte das Mädchen Kane, das Beriberi hatte und wohl sterben musste, geschrien, und Kuroda hatte sie schlagen wollen. Dann hatten alle geschrien, die Wächter waren gekommen, und die Wächter waren in die Flucht geschlagen worden, und nun waren noch mehr Wächter gekommen, und die Mädchen hatten sie auch auf die Gänge getrieben.
Matjan sprach mit Takae, die ihre Freundin war, und die auch nie wegen der Versprechungen der Agenten in die große Weberei gekommen war. Takae war trotz ihrer neunzehn Jahre bereits Witwe. Tarui, ihr Mann, war bei einem Streik getötet worden, und da sie keine Kinder hatte und auch sonst nicht wusste, was sie machen sollte, hatte sie sich von einem der Agenten anwerben lassen. Takae wusste noch besser als Matjan, dass jetzt etwas geschehen musste. Besonders als sie hörte, wie Kuroda alle Türen, die in ihren Eßsaal führten, schließen ließ, und sah, dass sie nun in dem kleinen Saal eingeschlossen waren.
Durch das Zuknallen der Türen und das Einschnappen der großen Schlösser hatte sich auf einmal der Lärm ein wenig gelegt. Ja, langsam ebbte er ganz ab. Nur Kane schrie noch, allerdings auch leiser und zischender, und bald schlug ihr Kopf nach unten, und auch ihr Schreien hörte auf.
Da stemmte sich Matjan in die Höhe, sah sich um und sagte: "Ja, Mädchen von Kawasaki, was wollt ihr eigentlich?" Takae stellte sich neben sie und fragte dasselbe.
Ein paar sagten: "Diese Hunde haben Kane geschlagen!" Ein paar andere sagten: "Sie sollen Kane ins Krankenhaus bringen oder einfach nach Hause lassen!" Wieder andere sagten nur: "Diese Teufel!" und schimpften vor allen Dingen auf die Aufseher. Matjan sagte: "Also um Kane handelt es sich." Aber da schrien plötzlich ein paar: "Ich will auch hinaus!" "Ich will auch aus diesem Loch!" "Man soll uns wenigstens an den Sonntagen hinauslassen!" Und Matjan hörte auf alle Stimmen und merkte sich auch alles, was die Mädchen sagten.
Da wurden die Saaltüren wieder aufgerissen. Diesmal war es Takekawa, einer der Direktoren des Fujikonzerns, der im Saal erschien, und hinter ihm stand eine ganze Kolonne Aufseher. Takekawa schimpfte und schrie: "Warum stellt ihr alle euch vor das Mädchen Kane!" Und er drohte ihnen: "Wenn ihr nicht sofort Ruhe gebt und das Mädchen ausliefert, werde ich euch das Essen entziehen, den Lohn kürzen und euch alle außerdem noch bestrafen lassen!"
Aber schon bei den ersten Worten schwoll das Klappern der Holzschuhe und das Schreien der Mädchen wieder an, und als das Trommeln seinen Höhepunkt erreicht hatte, schrien die Mädchen auch wieder. Sie schrien diesmal so laut, dass es über und unter ihnen gehört wurde, dass auch über und unter ihnen mit dem Trommeln und dem Schreien begonnen wurde. Bald erfüllte es das ganze Haus, und auf einmal war es so, als wäre das Schreien der einzige Ton, der noch in der Luft war. Auch aus den Kellern kam es heraus, aus den Websälen, aus den Spinnereien, und es donnerte und gellte durch alle Räume, als raste der Teufel durch das große Haus.
Takekawa versucht mit Hilfe der Wächter wieder bis zu Kane vorzustoßen. Aber diesmal begannen die Mädchen noch schneller mit ihrem Bombardement. Sie blieben auch nicht hocken. Sie standen auf. Sie drangen auf die Wächter ein. Sie warfen sie zu Boden. Sie stürzten den Männern, die wieder aufgesprungen waren, und zu den Türen zurückrannten, sogar nach. Ja, als sich die Männer von außen gegen die Türen stammten, warfen sie sich gleichfalls dagegen, versuchten die Türen aus den Angeln zu heben, sie zu zertrümmern.
Es wäre ihnen wahrscheinlich nicht gelungen, aber die Mädchen von den oberen Sälen kamen herunter, auch die Mädchen aus den unteren Sälen kamen herauf, und den Wächtern und Takekawa blieb nichts weiter übrig, als sich aus dem Flur auf die Treppe zurückzuziehen, von der Treppe in den Hausgang und von dem Hausgang auf den Hof. Auf dem Hof schoben sie eiligst die großen Riegel vor die eisenbeschlagenen Türflügel, um die Mädchen wenigstens im Hause festzuhalten. Es gelang ihnen auch. Als die ersten mit ihren Fäusten gegen die Türflügel trommelten, waren die schweren Riegel schon eingeschnappt und die Tür war verschlossen.
Aber die Mädchen tobten weiter. Sie schrien durch alle Fenster: "Lasst uns heraus!" Sie rissen die kleinen Vorhänge herunter. Sie rüttelten an den Gitterstäben. Sie trommelten an die Wände. Sie jagten von den vorderen Türen zu den hinteren Türen, Ja, es war, als hätte alle ein wilder Taumel erfasst, als wären sie angezündet,
in Brand gesteckt und loderten nun wie ein helles Feuer durch den langgestreckten, steinernen Bau.
Takekawa, der in der Eile dreißig von seinen Wächtern zusammengeholt hatte, versuchte zum zweiten Male zu den Mädchen zu sprechen. Jetzt wollte er auch schon wissen, warum sie sich eigentlich hinter das Mädchen Kane stellten, und warum sie so schrien und tobten. Aber die Mädchen antworteten ihm nur mit Schimpfworten oder indem sie ihre Wurfgeschosse durch das Fenster nach ihm und den Wächtern schleuderten, und sie sagten nichts weiter als: "Öffnet die Türen! Öffnet sie, sonst...!"
Sonst... Matjan, Takae und die beiden anderen Mädchen, die mit Freude auf den überkochenden Kessel sahen, fragten sich das auch, denn dieses "Sonst!" musste mit einer Tat verbunden werden, damit Takekawa wirklich die Türen öffnete. Es war jetzt das wichtigste, dass sie aus dem Hause herauskamen, dass sie diesen Aufruhr von ihrem Haus auch auf die anderen übertragen konnten, dass ihre kleine Flamme nicht vorzeitig in dem Haus erstickt wurde, sondern in die anderen Gebäude hinüberschlug und den ganzen Fujikonzern in Brand steckte.
Aber die Mädchen waren schon selber dahintergekommen, wie sie ihre Drohungen unterstreichen konnten. Als sie nichts mehr hatten, was sie diesen schwabbligen Kerlen da draußen an den Kopf werfen konnten, warfen sie ihr Werkzeug hinaus, und als die Werkzeuge zu Ende waren, griffen sie in die Maschinen. Sie zerrissen die fertigen Gespinste, nahmen die Weberschiffchen aus ihren Gleitbahnen und schlugen in das Gestänge. Sie packten auch die fertigen Seidenballen, fetzten sie durch die großen Säle, hingen sie in die Fenster oder warfen sie hinunter in den Hof. Einige riefen: "Wenn ihr die Türen nicht öffnet, schlagen wir auch die Maschinen zusammen!" Als der erschrockene Takekawa hörte, dass sie tatsächlich mit Stuhlbeinen auf die Maschinen einschlugen, ließ er die Türen endlich aufreißen, und die Mädchen stürmten nun auch über den Hof.
Aber wenn der dicke Takekawa gedacht hatte, diese Freiheit -und es war eine große Freiheit, denn die Mädchen durften sonst nur auf den Hof, wenn man sie hinüber in den Kinosaal führte - würde die Mädchen beruhigen oder zur Vernunft bringen, so hatte er sich getäuscht. Als der Wind sie umwehte, als sie das erste Mal wieder frei unter freiem Himmel standen, schlug ihre Rebellion noch höhere Wellen, und ihr Geschrei, das für einen Augenblick verstummt war, wurde lauter, dringender und gellender.
Es trat jetzt auch das ein, was Matjan und Takae erwartet hatten. Man hörte sie in den benachbarten Häusern. Überall tauchten die Köpfe der Mädchen auf, und überall versuchten die Mädchen aus ihren Arbeits- und Eßsälen heraus und auf den Hof zu kommen. Takekawa schickte seine Wächter nach allen Seiten, aber wie sich die Wächter auch anstrengten, sie wurden auch in den anderen Häusern überrannt. Ihr Brüllen und Schimpfen wurde auch dort von den Schreien der Mädchen übertönt, und bald waren alle Arbeitshäuser leer.
Dreitausend Mädchen des großen Fujikonzerns überschwemmten plötzlich den Hof. Sie mischten sich und wogten durcheinander. Die Mädchen um Kane schrien dabei den anderen zu, was sie auf den Hof und zur Rebellion getrieben hatte. Auch die anderen waren sofort bereit, für das Mädchen Kane einzutreten, und nicht nur für das Mädchen Kane, auch für ihre eigene Freiheit. Sie hatten ja alle nur einen Gedanken: wie kann man das Leben in diesem Gefängnis erträglicher machen und wie kann man diese Mauern durchbrechen, denn alle wollten ja nichts weiter, als ihre Wünsche und Sehnsüchte einmal in den Straßen und Häusern von Kawasaki ertränken und ersticken.
Die Wächter, es waren jetzt beinahe hundert, Takekawa hatte auch die Vorarbeiter und alle Austräger um sich gesammelt, versuchten, die Mädchen wenigstens von den großen Einfahrtstoren abzuhalten, denn wenn sie gegen die Tore vorstießen, auch die Tore eroberten, dann war es für immer mit dem Löschen dieses Brandes vorbei. Aber auch die Mädchen wussten bereits, dass diese Tore der
weitere Weg in die Freiheit waren, und wenn es den Wächtern bisher auch gelungen war, sie immer wieder von ihnen fernzuhalten und sie gegen die Häuser zu treiben, sie stießen immer wieder gegen die Tore vor, denn dort mussten sie hinaus, die Mauern waren zu hoch, um über sie in die Stadt zu kommen.
Wenn es nicht mit Gewalt ging, so musste es mit List versucht werden. Es war erstaunlich, wie schnell die Mädchen auch das begriffen. Und wieder war es kaum nötig, dass Matjan und die anderen - es waren jetzt durch ein paar bekannte Mädchen aus den Nachbarhäusern schon sieben geworden, die wie ein heimlicher Rat hinter dem Feuer standen - eingriffen. Plötzlich stürmten einige Mädchen in die Häuser zurück, lärmten in ihnen und warfen wieder die schweren Seidenballen auf den Hof. Einige andere versuchten zu gleicher Zeit mit Hilfe von Tonnen und Stützen auf die Mauern zu klettern. Der alte Takekawa musste zum zweiten Male seine Wächter teilen. Einige liefen den Mädchen nach in die Häuser, einige an den Mauern entlang, um die Mädchen, die sich schon auf den Mauerrand geschwungen hatten, wieder herunterzuzerren. Aber die Mädchen hatten nur darauf gewartet, dass Takekawa einen Teil seiner Leute von den großen Toren wegnahm. Jetzt stürmten sie von allen Seiten wieder gegen die Tore vor, sie überrannten den dicken Takekawa. Sie überrannten den Rest der Wächter, sie brachen die Tore auf und standen plötzlich auf der Straße.
Sie standen im brandenden Leben von Kawasaki. Sie sahen wieder das. wonach sie sich drei, vier, fünf und sechs Jahre gesehnt hatten: die hüpfenden Straßenbahnen, die kleinen Teestuben, lärmende und lachende Menschen. Sie standen einen Augenblick wie versteinert da. Und jetzt begann das, was Kawasaki so erschütterte, wie nichts vorher Kawasaki erschüttert hatte, weder eines der vielen Feste der Baumblüte, die Kawasaki schon gefeiert hatte, noch der Tod des Kaisers, weder die großen Bet-Tage für Schinto und Buddha, noch die Siege von Schanghai und Mukden.
Ein Teil der Mädchen ging noch einmal zurück. Sie holten sich einige der Seidenballen, und bevor sie die ersten Schritte in die Freiheit und in die Stadt wagten, rollten sie die Ballen auf und bekränzten sich damit. Sie zogen die Seide über sich, steckten sie an kleine Bambusstäbe, bekränzten sich das Haar, die Leiber, und es waren rote Ballen, mit denen sie sich bekränzten. Ballen von derselben leuchtenden Farbe, wie sie die Arbeiter auf ihren Fahnen trugen, wenn sie durch Kawasaki zogen.
Aber sie wählten das Rot nicht deswegen. Sie wählten es wahrscheinlich, weil sie das Gelb hassten, denn gelb waren die Fahnen, die auf allen Gebäuden des Fujikonzerns wehten, und weil grün ihnen zu freudig war, schwarz zu düster. Sie wählten wahrscheinlich rot, weil dieses Rot einen Teil ihrer Sehnsucht wiederspiegelte. Weil die Farbe nach ihrem Herzen griff. Weil etwas von ihrem Blut in dieser Farbe war, von ihrem Blut, das seit Jahren in ihnen versackte und das nun mit ihnen ausbrach, sich mit ihnen über die Stadt ergoss und wie ein Feuer vor ihnen hertanzte.
Sie zogen auch in den gleichen Reihen durch die Stadt, wie sonst die Arbeiter durch die Stadt zogen. Aber auch nicht, weil sie das wussten oder von den Arbeitern gesehen hatten. Sie wussten es nicht. Sie hatten in Kawasaki ja außer ihren Kasernen nur den blauen Himmel gesehen. Sie bildeten die gleichen Reihen, weil sie sich nahe sein wollten, weil sie sich noch etwas fürchteten in der großen Stadt und weil sie zusammen das blieben, das, was sie im Hof gewesen waren: eine Macht.
Zuerst zogen sie nur durch die nächsten Straßen, und wie ein Lauffeuer ging es durch Kawasaki: die Mädchen von Kawasaki sind aus ihren Kasernen ausgebrochen. Die Mädchen von Kawasaki ziehen durch Kawasaki. Mit roten Fahnen ziehen sie durch die Straßen.
Die Autokolonnen stauten sich. Die Straßenbahnen blieben stehen. Die Schaffner und die Passagiere winkten den Mädchen zu, und die Mädchen lachten auch und schwenkten ihre Tücher. Als sie an die großen Metallbetriebe kamen, stürzten die Metallarbeiter heraus, und einige zogen mit und sprachen auf die Mädchen ein. Sie brachten auch Ordnung in den großen Zug und geleiteten ihn vor das Haus der Metallarbeiter. Einer der Metallarbeiter, der alte Ando, sprach zu ihnen, und dann sprach Matjan, und dann sprach Takae, und dann sprach die kleine Kane, wegen der man ausgezogen war. Dann wählte man eine Kommission von vierzehn Mädchen, zwei aus jedem Haus, und dann gingen die Mädchen in Abteilungen in das Metallarbeiterhaus hinein, und die Metallarbeiter teilten ihnen für die Nacht Quartiere zu.
Die vierzehn ausgewählten Mädchen saßen die ganze Nacht mit den Sekretären der Metallarbeiter und der Textilarbeiter von Kawasaki zusammen und sie sprachen darüber, was nun weiter geschehen sollte.
Der alte Ando sage ihnen: "Bevor ihr wieder in die Kasernen der Kompanie zurückgeht, müsst ihr Forderungen aufstellen, damit solche Dinge, wie sie mit dem Mädchen Kane passiert sind, nicht wieder geschehen können!" Sie nannten Forderungen. Ganz zaghaft nannten sie sie. Die Arbeiter waren erstaunt, wie gering diese Forderungen waren. Die Mädchen wollten nichts weiter, als dass man sie für einige Tage nach Hause lasse, wenn ein Familienmitglied schwer krank sei oder im Sterben liege. Dass man ihren Eltern und Geschwistern erlaube, sie während ihrer fünf- oder zehnjährigen Haftin Kawasaki auch einmal zu besuchen. Am Sonntag etwas Fleisch und alle vierzehn Tage oder vier Wochen die Möglichkeit, aus ihrem Gefängnis hinaus in die Stadt zu gehen. Dann verlangten sie noch, einer Gewerkschaft beitreten zu können. Solche armen Forderungen waren es.
Am nächsten Morgen gingen die Delegierten, deren Zahl von den Mädchen nach einer kurzen Aufzählung der Forderungen, die allgemeine Zustimmung erlangten, auf zwanzig erhöht worden war, zur Kompanie und erklärten: "Wir kehren alle erst in die Webereien zurück, wenn unsere Forderungen erfüllt werden!" Der alte Furuya, der Genaraldirektor der Fujikompanie lachte: "Nichts wird erfüllt, und ihr werdet trotzdem bald wieder kommen."
Aber er täuschte sich. Es war kein Strohfeuer, was in den Mädchen zu brennen begonnen hatte. Sie hielten aus. Sie hielten ganze vierzehn Tage aus. Und die Textilarbeiter halfen ihnen dabei. Sie sammelten für sie und unterstützten sie. Auch die Metallarbeiter hielten weiter die Hände über sie, die Buchdrucker, die Straßenbahner. Sogar auf dem Lande wurde für sie gesammelt und in den vier Infanteriekasernen von Kawasaki, und nach diesen vierzehn Tagen gaben die große Fujikompanie und der alte Furuya nach. Die Forderungen der Mädchen wurden bewilligt; nur die Delegierten sollten als Rädelsführer entlassen und nicht wieder eingestellt werden.
Aber die Mädchen wussten schon, das war nur eine Drohung, und sie blieben fest: "Wir kommen alle oder keine kommt!" Und nach drei weiteren Tagen wurde von dem alten Furuya auch die Kündigung der zwanzig Delegierten zurückgenommen.
Die Mädchen zogen genau so wieder in ihre Gefängnisse zurück, wie sie hinausgezogen waren, in einer großen Demonstration, überall von Rot überlodert, überall mit Rot geschmückt. Nur dass sie diesmal auch richtige Arbeiterfahnen mit sich führten, denn die Textilarbeiter von Kawasaki hatten es sich nicht nehmen lassen, ihre Kameradinnen, die jetzt ihre Genossinnen geworden waren, mit ihren Fahnen zu begleiten. Ja, es war ein noch gewaltigerer Zug geworden, dieser Rückmarsch. Außerdem ein Zug der Gemeinschaft und der Verbrüderung. Ein Zug, der zugleich eine Brücke aus den Webereien zu der Stadt Kawasaki und zu den anderen Arbeitern von Kawasaki wurde, ein lebendiges Band der Kameradschaft und der proletarischen Solidarität. Ein Band, das von den Mädchen, als ihre Zeit vorbei war, auch hinauf in die Berge, zu den Bauern um Kawasaki getragen wurde. Und was die Fujikompanie auch tat, um dieses Band zu zerreißen, es wurde immer wieder von den Mädchen geknüpft, denn sie kannten jetzt die Stellen, wo die große Fujikompanie verwundbar war, wo man sie treffen konnte.
Aber nicht nur in und um Kawasaki hatten die Mädchen Brücken geschlagen. Auch über Kawasaki hinaus, in die anderen Spinnerei-
en und Webereien. Wie ein Feuer lief die Nachricht von der Rebellion der Mädchen von Kawasaki und von ihren Erfolgen durch alle japanischen Spinnereien. Auch hinüber nach Korea. Auch in die großen Webereien von Kanton und Schanghai. Aber auch nach Indien und in die amerikanischen Textil- und Seidenhöllen. Und auch hier in Europa, in Manchester, in Lodz, in Oberschlesien, in Marseille haben die Seidenweberinnen und die Textilarbeiter von euren roten Fahnen gehört, ihr Mädchen von Kawasaki. Sie grüßen euch. Sie jubeln euch zu, die Unterdrückten der ganzen Welt!

 

LI SCHU LIN

Kernemann klingelte, und Se Din Tschen kam herein. "Ich brauche einen zuverlässigen Lokomotivführer", sagte Kernemann.
Se Din Tschen wusste es schon. "Li Schu Lin", sagte er. "Ist der Mann wirklich zuverlässig?" fragte Kernemann und sah Se Din Tschen an.
Tschen: "Wenn nicht zuverlässig, dann mürbe." "Mürbe?" Kernemann verstand das nicht.
"Li Schu Lin war zwei Jahre arbeitslos und hat sieben Kinder. Er ist erst seit einem Monat wieder im Dienst." "Kennt er die Strecke?"
"Er ist sie schon achtmal gefahren. Außerdem war es vor zwei Jahren seine Hauptstrecke."
Kernemann war aber noch immer misstrauisch. "Ist er in der Nähe?" fragte er.
Tschen: "Er ist hinten im Schuppen bei den anderen. Ich werde ihn rufen lassen."
Se Din Tschen ging und kam nach drei Minuten mit Li Schu Lin zurück. Er schob ihn vor.
Kernemann sah ihn an. Es war ein Chinese wie tausend Chinesen. Nicht sehr groß. Die Hände in dem langen, grauen Überrock vergraben. Zwei kleine Augen. Im Gesicht viele Falten. Die Füße in großen, schweren Holzschuhen.
"Wie alt?" fragte Kernemann.
"Einundvierzig, Herr."
"Der Kuomintang ergeben?"
"Ja, Herr."
"In der Gewerkschaft?"
"Nein, Herr."
Kernemann sah ihn wieder an. Li Schu Lin sah auf. Ihre Augen trafen sich. "Na, gib ihm die Maschine", sagte Kernemann. "Aber stell zwei Posten neben ihn und nimm auch einen zuverlässigen Heizer. Es kann nie schaden."
Li Schu Lin ging hinaus. Was wollte der weiße Offizier? Warum hatte er ihn rufen lassen? Li Schu Lin ging wieder in den Schuppen, ließ sich Tee geben, setzte sich und trank. Se Din Tschen kam ihm nach einer Weile nach. "Lin", sagte er, "pünktlich um vier. Es ist ein Zug, der nach Hang-Tschou geht. Eine Lokomotive und sechzehn Wagen. Der Zug kommt von Nanking. Gleis drei."
Li Schu Lin setzte sich wieder. Also ein Zug, der von Nanking kam. Er sah nach der Uhr. Er hatte noch zwei Stunden Zeit. Er trank seinen Tee und ließ sich noch eine Schale mit Reis geben, dann schob er sich ein Stück Holz unter den Kopf, verschränkte die Arme über der Brust und versuchte zu schlafen.
Zehn Minuten vor vier ging er hinüber zu Gleis drei. Der Zug war schon da. Er war voll junger Offiziere. Vierhundert Mann. Sie kamen aus der Nankinger Kriegsschule.
Li Schu Lin sah sie an. Es waren lange, aufgeschossene Kerle. Sie trugen neue, graugelbe Uniformen. Über ihren Rücken liefen breite Lederriemen, auch um den Leib. An den Koppeln hingen große Revolvertaschen. Mao ging vorüber. "Fährst du den Zug?" fragte Mao. Li Schu Lin nickte.
"Es sind Offiziere der Kuomintang. Sie gehen nach Hang-Tschou. Dann über Kin-Hoa nach Fu-Tschou!" "An die Front?" "An die Front!"
"Gegen..." Li Schu Lin stockte einen Augenblick. "Gegen die Kommunisten!"sagte Mao. "Vierhundert Mann?" "Vierhundert Mann!"
Mao sah ihn an. Li Schu Lin sah zurück. Was wollte Mao? Aber Mao ging schon weiter. Auch Li Schu Lin machte sich auf den Weg. Die Lokomotive, die er führen sollte, stand noch hinten im Schuppen.
Es war eine der großen Lokomotiven, die aus England gekommen waren. Er kannte sie schon. Sie nahmen die größten Steigungen mit vierzig bis fünfzig Kilometern. In der Ebene konnte man mit ihnen wie der Blitz fahren.
Kernemann war selber auf den Bahnsteig gekommen. Er gehörte zu den deutschen Instruktionsoffizieren Tschang Kai Scheks und hatte die Bahntransporte zu überwachen.
Li Schu Lin kam mit seiner Maschine heran.
"Sind zwei Leute für die Lokomotive abkommandiert?" Kernemann sah Se Din Tschen an.
"Nein", sagte Tschen. "Ich hole sie."
Se Din Tschen sprach mit dem Leiter des Transportes, einem dicken, wabbligen General. Der General sagte: "Nehmen Sie Chu und Lü." Er rief die beiden. Chu gehörte zu den Ordonnanzoffizieren des Generals.
Kernemann instruierte sie. "Sorgt vor allen Dingen dafür, dass der Kerl keine Dummheiten macht."
Die beiden Offiziere zeigten ihre Zähne, lachten und schlugen dabei auf ihre Revolvertaschen.
Li Schu Lin hatte ein paar Worte Kernemanns gehört. Was sollten die Offiziere? Auf ihn Aufpassen? Hatte er schon einmal einen falschen Handgriff getan? War seine Maschine nicht immer die beste gewesen? Er wollte etwas sagen, aber dann beruhigte er sich wieder. Sie würden ja sehen, was für ein Kerl er war.
Tschen zeigte den beiden ihren Platz. Sie sprangen auf die Maschine und stellten sich hinter Li Schu Lin. Dann trat Tschen zurück. Die Maschine war angekoppelt. Er hob die Hand vor die Augen und sah nach der Weichenbrücke. Auch die Gleise waren frei. Er hob die Hand. Li Schu Lin ließ Dampf in die Zylinder. Langsam fuhr der Zug an.
"Kohlen!" sagte Li Schu Lin zu dem Heizer. Der Heizer griff nach der Schaufel. Sie fuhren aus der großen Halle heraus.
Als sie an der ersten Weiche nach links bogen, sah sich Li Schu Lin noch einmal um. Da stand ja Mao wieder. Er stand genau so still und schweigend am großen Wasserreservoir, wie er vorhin in der Halle gestanden hatte. Wollte er etwas von ihm? Li Schu Lin hätte den Zug gern noch einmal angehalten, um ihn zu fragen, aber die Lokomotive rollte schon über die zweite Weiche, und hinter ihm standen groß und mit ihren leichtgeröteten Gesichtern die beiden Offiziere.
Sie fuhren aus Schanghai hinaus. Immer weiter. Rechts waren Hütten, Gerümpel, kleine Wasserarme. Links waren die ersten Maulbeerbäume, Maisstauden, Reisfelder. Dann kamen Dämme, hohe, breite Dämme, dahinter der Fluss, weit, dunstig. Man konnte die andere Seite nicht sehen.
Der Zug war signalisiert worden. Sie passierten alle Bahnhöfe und Blockstellen ohne Aufenthalt. Li Schu Lin hatte die Hand am Geschwindigkeitsmesser. 60, 70, 80 Kilometer. Der Zug sauste immer schneller durch die Ebene.
Li Schu sah geradeaus. Was hatte dieser Mao wohl gewollt? Er sah ihn wieder vor sich. Er hörte auch seine Worte. "Vierhundert Offiziere. Sie gehen an die Front! An die Front gegen die Kommunisten!"
Li Schu Lin war ein Kommunist. Er war ein alter, braver Arbeiter mit einer Frau und sieben Kindern. Zwei lange Jahre hatte man ihn an keine Maschine gelassen. Die Kinder waren beinahe verhungert, und Kue, sein Weib, war welk wie ein Blatt geworden. Es waren zwei schwere Jahre, wie Berge so schwer. Sie hatten Li Schu Lin tief in die Erde gedrückt.
Plötzlich tauchten dahinter die Jahre vor dieser Zeit auf. Li Schu Lin hatte gelogen. Er hatte nicht sieben Kinder, er hatte neun. Da waren noch Tang und Hong.
Tang wäre jetzt zweiundzwanzig. Er war Buchdrucker und Agitator der Buchdruckergewerkschaft gewesen. Er hatte da nichts Schlimmes gemacht. Im Auftrag der Kuomintang und der Gewerkschaften die Buchdrucker und Setzer von Schanghai organisiert.
Es war eine große Gewerkschaft. Tang verstand das Organisieren. Und es war die Zeit, in der die Söhne die Väter belehrten. Tang wollte, dass sich sein Vater Li Schu Lin auch organisierte. Aber Li Schu Lin wollte nicht. Er hatte Tang gesagt: "Ich habe noch acht Kinder außer dir, und die Organisation kostet Geld. Für das Geld kann ich für die Kleinsten Reis kaufen.
Tang hatte gelacht. Ja, die Welt stand Kopf, die Söhne lachten über die Väter. "Wenn du jetzt die paar Taels zahlst, Vater, kannst du später zu deinen acht Kindern nochmals acht ernähren." Aber Li Schu Lin war nicht in die Gewerkschaft gegangen.
Dann kam der April 1927, und die Kuomintang bekämpfte auf einmal die Gewerkschaften, obwohl diese erst vor ein paar Tagen Tschang Kai Schek durch ihren Generalstreik die Tore von Schanghai geöffnet hatten. Es war eine schlimme Zeit. Hunderte der verhafteten Gewerkschaftsführer wurden von Tschang Kai Scheck und seinen Henkern geköpft, erschlagen, gehängt und in die großen Feueröfen des Schanghaier Elektrizitätswerks geworfen.
Auch Tang. Ja, auch Tang.
Da trat Hong an die Stelle von Tang. "Vater", sagte er zu Li Schu Lin, "wir müssen kämpfen. Tschang Kai Scheck hat uns an die Kapitalisten und die Ausländer verraten. Es sind schon Tausende, die sich bewaffnet haben. Wir müssen die Verräter erschlagen und die Toten rächen!"
Li Schu Lin hatte seinen Sohn Hong lange angesehen. "Befehlen jetzt die Söhne sogar ihren Vätern? Sagen die Söhne den Vätern, was die Väter tun sollen?" Li Schu Lin hatte nicht zu den Waffen gegriffen. Auch Hong sollte nicht kämpfen. Tang war schon für die Sache der Arbeiter gestorben, Hong sollte am Leben bleiben und nicht in den Feuerofen geworfen werden.
Aber Hong gehorchte seinem Vater nicht. Hong kämpfte. Als die Aufständischen aus Schanghai vertrieben wurden, ging er nach Kanton. Als die Aufständischen aus Kanton vertrieben wurden, ging er in die Provinz Wuhan. Er war immer noch bei den Kommunisten, in der Dritten Roten Armee. Er war erst zwanzig Jahre, aber er führte schon ein Regiment. Li Schu Lin hatte es gehört. Noch einige in Schanghai wussten es. Auch Mao. Li Schu Lin neigte seinen Kopf nach vorn. Deswegen hatte ihn Mao sicher auch so angesehen.
Li Schu Lin wandte seinen Kopf einen Augenblick nach rechts. Der Fluss wurde enger. Ganz weit, etwas verdämmert, sah er jetzt das andere Ufer. Ein Schiff fuhr nach Hankau. Es heulte auf. Auch Li Schu Lin zog an der Klappe zur Pfeife. Huuuuu! Die beiden Offiziere knickten in die Knie, und Li Schu Lin und der Heizer lächelten.
Li Schu Lin dachte schon weiter. Hong war jetzt an der Front bei Fu-Tschou. Die Kommunisten kämpften schon seit zwei Monaten um die Stadt. Es war ein hartnäckiger Kampf. Tschang Kai Schek schickte Regiment auf Regiment nach Fu-Tschou. Fiel Fu-Tschou, dann konnte die Rote Armee bis zum Meer vorstoßen. Stieß sie bis ans Meer vor, so konnte sie sich noch besser mit Waffen und Munition versorgen. Das bedeutete für Tschang Kai Schek neue Niederlagen und neue Verluste, und Li Schu Lin konnte verstehen, warum die Kuomintang Regiment auf Regiment nach Fu-Tschou warf.
Deswegen, Li Schu Lin hörte einen Augenblick seinen Herzschlag, schickte Tschang Kai Schek auch diese vierhundert Offiziere an die Front von Fu-Tschou. Mao hatte es gesagt, und auch die Offiziere machten kein Hehl daraus, dass sie über Hang-Tschou in die Provinz Fu-Tschou fuhren. Vierhundert Offiziere aus der Offiziersschule von Nanking. Große, starke Kerle. Die besten Leute, die Tschang Kai Scheck zur Zeit hatte.
Und in der Provinz Fu-Tschou stand sein Sohn Hong. Mao wusste sicher auch das, und Mao wollte... Ja, was wollte Mao? Li Schu
Lin bereute es, dass er nicht doch mit Mao gesprochen hatte. Wollte er, dass er Li Schu Lin, zur Zeit Lokomotivführer auf der Strecke Schanghai - Hang-Tschou, verhinderte, dass die vierhundert Offiziere über Hang-Tschou an die Front fuhren?
Li Schu Lin lächelte. Wenn es das war, was Mao von ihm wollte, so verlangte er etwas Unmögliches. Er fuhr mit diesen Offizieren in einem festgebauten Zug, auf den festesten Gleisen in China und mit der besten Maschine, die je zwischen Schanghai und Hang-Tschou gefahren war. Die Offiziere saßen in den stählernen Wagen wie hinter Festungsmauern, keine Kugel konnte sie treffen, kein Sturm konnte sie über die Abhänge stürzen. Ja, sie waren in diesen Wagen sicherer als in Nanking in ihrer Kaserne.
Es konnte ihnen auch sonst nichts geschehen. An jeder Weiche stand ein Doppelposten. An jeder Brücke, an der kleinsten Unterführung war ein Maschinengewehr eingebaut. Der Zug glitt durch alle Stationen, als wäre er das Wichtigste und Kostbarste, was Nanking je an die Front gegen die Kommunisten geschickt hatte. Überall waren die entgegenkommenden Züge auf die Nebengleise geschoben. Auf allen Bahnhöfen standen die dicken Stationsvorsteher wie Säulen und salutierten. Vierhundert ein ganzes Jahr für die Front erzogene Offiziere, das war schon etwas, für das sich das Salutieren und die Bewachung lohnte.
Was sollte Li Schu Lin gegen das alles tun? Hinter ihm standen außerdem zwei Offiziere, die Hand am Revolver. Neben ihm stand der kleine, glucksende Lu, der Heizer, den ihm Se Din Tschen noch kurz vor der Abfahrt an Stelle seines alten Heizers gebracht hatte und der sicher auch ein Aufpasser war. Ja, was sollte Li Schu Lin tun?
Er sah auf den Geschwindigkeitsmesser: 72 Kilometer. "Wirf Kohle auf", sagte er zu Lu. Lu nahm die Schaufel und warf die Kohlen in den roten Rachen der Lokomotive.
75 Kilometer. 80, 85, 90. Der Zug schnellte immer eiliger durch die Reisfelder. Sie waren vom Fluss abgebogen und jagten nach
Süden. Rechts waren kleine, ärmliche Bauernhöfe, ein paar Bauern zogen mühsam mit ihren Karren durch den aufgeweichten Boden, andere pflügten, einige Frauen schleppten sich mit Säcken, und eine ganze Schar trug schwere Holz- und Reisigbündel.
Aber Li Schu Lin konnte hinsehen, wo er hinsehen wollte, überall tauchte wieder das Gesicht von Mao auf. Jeder Bauer trug es. Der dicke Stationsvorsteher, der wie ein aufgefüllter Sack vor dem gelben Haus stand. Sogar Lu, der Heizer trug es, und es hatte noch immer nichts von diesem so stillen und beinahe anklagenden Ausdruck verloren.
Li Schu Lin sah in das Gesicht hinein. Ja, was konnte er tun. Er konnte noch schneller fahren. Er konnte zu Lu sagen: "Wirf mehr Kohlen ins Feuer!" Aber Lu wusste sicher, dass die Maschine 90 Kilometer, dass sie ohne Gefahr auch 95 Kilometer fahren konnte. Wenn Li Schu Lin aber noch schneller fuhr, würde es Lu merken und den Offizieren sagen. Die Offiziere würden ihn zwingen, das Tempo zu mäßigen, und wenn er es nicht tat, ihn in Fesseln legen oder zusammenschießen, und Lu riss dann den Geschwindigkeitsmesser herum und fuhr die Offiziere nach Hang-Tschou.
Er konnte auch den Kessel überheizen und die Maschine zur Explosion bringen. Er konnte plötzlich alle Bremsen ziehen, damit der Zug ins Gleiten kam und aus den Gleisen sprang. Aber auch das konnte Lu verhindern, und es musste nicht einmal zu einer Katastrophe führen. Vielleicht fiel die Maschine beim Bremsen nur auf die Seite. Vielleicht riss sie nur die beiden Packwagen um, und dann kam ein Hilfszug aus Schanghai oder aus Hang-Tschou, und die Offiziere fuhren mit dem Hilfszug weiter.
Li Schu Lin konnte sich also überlegen, was er wollte, da war keine Möglichkeit, Maos Verlangen zu erfüllen, selbst wenn er sein eigenes Leben dabei aufs Spiel setzte.
Da sah Li Schu Lin das Gesicht von Mao zum dritten Male. Er war erstaunt, er hatte gedacht, Mao würde ihn wieder finster und abweisend ansehen, aber Mao sah ihn im Gegenteil an, als freue er
sich über das, was Li Schu Lin eben zu Ende gedacht hatte, und erinnerte ihn dann an etwas. Gleich hinter Schumen bogen die Gleise in einer scharfen Kurve über eine Brücke. Kurz vor der Kurve verminderte Li Schu Lin deswegen die Geschwindigkeit bis auf 15 Kilometer. Li Schu Lin wusste auch bereits, warum ihn Mao an diese Brücke erinnerte. Er hatte nicht recht mit dem, was er eben zu Ende gedacht hatte. Es gab eine Möglichkeit, Maos Verlangen zu erfüllen. Wenn Li Schu Lin die Bremsen nicht vor der Biegung anzog, stürzte der Zug mit allein, was darin war, über die Brücke in den Sumpf. Mao sah Li Schu Lin an, nickte kurz und lächelte, und Li Schu Lin spürte im gleichen Augenblick, wie ihm Mao sonderbar näher kam und ihn beinahe berührte.
Li Schu Lin spürte aber auch, dass ihn diese Nähe schwach machte, und er schüttelte Mao wieder von sich ab. Wenn ihm Mao auch einen Weg gezeigt hatte, so bedeutete das nicht, dass ihn Li Schu Lin gehen musste. War es überhaupt richtig, die vierhundert Offiziere in den Tod zu fahren? War damit alles zu Ende? Tschang Kai Schek schickte sicher ein paar Wochen später neue Offiziere, und der Kampf ging weiter. Und wog die Sache Maos, Tangs und Hongs überhaupt so schwer, dass es sich lohnte, das Leben dafür zu opfern? Er blieb sicher nicht einmal das einzige Opfer. Kernemann griff, wenn er von so einer Tat erfuhr, sofort zu Kue und den Kindern. Se Din Tschen würde sie verhaften. Kue und die beiden Ältesten würde man köpfen, und die anderen, auch seine Tochter In, würden dann verhungern.
Nein, wenn Mao auch weiter lächelte, Li Schu Lin ging den Weg Maos nicht. Wenigstens nicht, bevor er alles noch einmal abgewogen hatte. Mensch um Mensch, Sache um Sache. Aber selbst, wenn die Sache der Arbeiterschaft dann schwerer wog als das Leben der Offiziere, hatte er noch kein Recht, sich für die Sache Maos zu entscheiden, denn er konnte wohl sich dafür opfern, aber nicht Kue und die Kinder. Er konnte einfach das tun, was er immer getan hatte, kurz hinter Schumen bremsen, und wie um Mao und seine
Nähe ganz von sich abzustreifen, drückte Li Schu Lin plötzlich beide Hände gegen Brust und Herz und schob sie, fest an seinen Körper gepresst, langsam nach unten.
Aber Mao ließ sich nicht so leicht abschütteln. Als Li Schu Lin, der einen Augenblick die Augen geschlossen hatte, die Augen wieder öffnete, stand Mao noch immer vor ihm. Li Schu Lin wollte die Sache der Arbeiterklasse mit der Sache Tschang Kai Scheks und der Offiziere abwägen. Mao war auch dazu bereit. Er hatte schon eine Waage in der Hand, und er stellte die Waage vor Li Schu Lin auf.
Die Waage hatte zwei tiefe Schalen. Mao griff nach rechts und füllte die rechte Schale mit dem General, der mit den Offizieren war, und mit Kernemann. Li Schu Lin sah genau hin. Es war das Gesicht des Generals, wie er es in Schanghai vor der Abfahrt des Zuges gesehen hatte, ein rundlicher Kopf über einem rundlichen Bauch, und um den Bauch hingen der Degen und die Revolvertasche. Es war das Gesicht Kernemanns, wie er es aus vielen Begegnungen kannte. Es war schmal und hoch, böse und lauernd, und über den bleichen Backen saßen hell und stechend die Augen.
Mao griff nach links und füllte die linke Schale mit Tang und Hong. Es war das Gesicht seines Sohnes Tang, wie ihn die Genossen zuletzt in sein Haus gebracht hatten. Das Gesicht war gelb und verglast, der Leib wie mit glühenden Zangen auseinandergerissen. Die Henker der Kuomintang hatten ihn viele Stunden gepeinigt, bevor sie ihn totgeschlagen hatten. Hinter Tang sah Li Schu Lin das Gesicht von Hong. Es war der gleiche Hong, der vor fünf Jahren mit den Aufständischen nach Kanton gezogen war, dünn, mager, der große Kopf baumelte auf dem dünnen Hals wie ein überreifer Apfel.
Die Schalen der Waage stiegen auf und ab, und Li Schu Lin sah, dass die Leiber von Kernemann und dem General leichter waren als die Leiber von Tang und Hong.
Mao füllte die Schalen weiter. In die rechte füllte er jetzt die Offiziere, und sie wurde schwerer und schwerer, und zuletzt tat Mao noch Se Din Tschen hinein, und Se Din Tschen hatte einen
gelben Zettel in der Hand. Auch den Zettel erkannte Li Schu Lin. Auf ihm stand, dass Li Schu Lin wieder Lokomotivführer zwischen Achanghai und Hang-Tschou werden sollte, dass er viele Taels dafür bekäme und nun wieder in Wohlstand und Frieden leben könne.
In die linke tat Mao als erstes einen Boten. Auch den Boten erkannte Li Schu Lin. Hong hatte ihn vor einem Jahr mit einem Zettel an seinen Vater Li Schu Lin geschickt, und auf dem Zettel stand: "Lieber Vater, denke immer daran, was Du auch über uns alle und Deinen Sohn Hong hörst, wir tun alles, was wir tun, auch für Dich!" Und nach dem Boten schüttelte Mao in die linke Schale Männer und Frauen, die Li Schu Lin auch kannte. Er waren Arbeitskameraden und  -kameradinnen aus dem Schuppen, Heizer und Streckenarbeiter, alles Leute, die trotz des Terrors Tschan Kai Tschecks noch der Gewerkschaft der Eisenbahner angehörten und die in Schanghai genau so tapfer für ihre Sache kämpften, wie Hong an der Front kämpfte und wie Hong geschrieben hatte: "Nicht nur für uns, sondern auch für Dich, Li Schu Lin!"
Aber wie Mao sich auch mühte und die Schale zu füllen versuchte, sogar Wu, den alten Heizer von Li Schu Lin legte er hinein, es waren zu wenige. Die rechte Schale, die unter der Last der Offiziere tief nach unten gesunken war, blieb unten. Li Schu Lin lächelte sogar einen Augenblick, denn Mao hatte noch nicht einmal Kue und die Kinder zu den Offizieren getan.
Da brachte sie Mao. Zuerst die Zwillinge, seine Söhne Ling und Ching. Mao tat sie, wie Li Schu Lin es wollte, in die rechte Schale zu den Offizieren. Aber Ling und Ching sprangen wieder aus der Schale heraus und gingen hinüber in die andere. Li Schu Lin verzog einen Augenblick die Stirn. Aber er wusste es ja, die beiden gingen nachts heimlich in die Versammlungen und waren bereits geachtete Genossen. Die Stirn Li Schu Lins glättete sich wieder, und er hatte sich nicht opfern wollen, damit Ling und Ching leben konnten. Dabei waren sie bereit, sich jeden Tag selber zu opfern, und sie hätten
bestimmt keinen Augenblick gezögert, sich mit ihm in den Sumpf zu stürzen, wenn ihr Tod den Tod von vierhundert Offizieren bedeutet hätte.
Dann brachte Mao Li Schu Lins Weib und seine anderen Kinder. Mao wollte sie wieder in die rechte Schale legen. Aber Li Schu Lins Weib nahm Mao die Kinder aus der Hand und legte sie zu Ling und Ching. Li Schu Lin stockte einen Augenblick das Herz, Kue nahm seine Tochter In, presste sie fest an ihre Brust und sprang selber in die linke Schale. Li Schu Lin erinnerte sich jetzt, Kue war aus der Familie der Den. Die Familie der Den hatte bei dem Gemetzel in Schanghai den alten Den. den Vater von Kue verloren, und auch die Dens waren bereit, sich für die Sache hinzugeben, für die der alte Den ermordet worden war. Ja, Li Schu Lin sah es: sein Weib Kue war noch tapferer als ihre Brüder, sie war sogar bereit, ihre Kinder für die Arbeiterklasse zu opfern.
Li Schu Lin sah noch, dass sein Weib Kue schwer wog. Die Schale die bei jedem seiner Söhne schon tiefer gesunken war, sank durch das Gewicht von Kue bis zur Mitte, und es bedurfte nur noch eines winzigen Druckes, damit die linke Schale über die Mitte, noch tiefer sank und die rechte dafür in die Höhe schnellte. Aber wer sprang nach Kue darauf? Er musste übrigens schnell springen. Der Zug hatte gerade Schumen durcheilt, und es waren nur noch einundzwanzig Kilometer bis zur Brücke.
Da sah Li Schu Lin, dass Mao ihm winkte. Er sollte auf die Schale springen. Li Schu Lin presste seine Hand auf das klopfende Herz. Sein Leben hatte gerade wieder begonnen! Er konnte mittags und abends wieder seinen Reis essen, seinen Tee trinken, konnte eine Pfeife rauchen, den Kindern eine Melone und Kue und In ein paar Glasperlen bringen. Sollte er es wirklich tun? Er sah auf den Geschwindigkeitsmesser. 94, 95 Kilometer, und bis zur Kurve waren es noch zehn Kilometer. Li Schu Lin hörte wieder sein Herz. Es schlug so laut und donnernd, dass es sogar das Donnern des Zuges übertönte, aber es schlug einmal "Ja" und einmal "Nein",
und Li Schu Lin wusste noch immer nicht, ob er auf die Schale springen sollte.
Da sah er hinter Mao plötzlich die Stadt Fu-Tschou, und um die Stadt lagen die Soldaten der Roten Armee. Sie lagen in kleinen Gräbern, und er sah seinen Sohn Hong, diesmal in einer Uniform und mit drei Sternen auf den Achselklappen. Und er sah, wie die Soldaten Tschang Kai Scheks vor seinem Sohn Hong und den roten Soldaten davonliefen. Auf einmal stand Li Schu Lin aber nicht mehr auf seiner Lokomotive. Sie war ein großer eiserner Tank geworden. Der Tank raste in die Rote Armee hinein, und die vierhundert Schießscharten, und die rote Fahne fiel, und sein Sohn Hong fiel, und es fielen noch tausend andere. Li Schu Lin hörte auch noch, dass ihn jeder, der fiel, einen Verräter und einen Mörder nannte. Auch s ein Sohn Hong.
Unter diesen Anklagen schlug Li Schu Lins Herz wie ein Hammer gegen die Brust. Es zersprengte die Brust beinahe, und er freute sich, als er die Augen aufschlug: der Zug mit den vierhundert Offizieren fuhr noch immer durch die Ebene Hang-Tschou. Noch waren sie kurz hinter Schumen, und die Brücke über die Sümpfe war noch vor ihnen. Er sah auf die weiße Scheibe. Der große Zeiger stieg gerade von 96 auf 98, und bis zur Kurve waren es im besten Falle noch sechs Kilometer.
Auch Lu wurde aufmerksam. Er sah auf den Zeiger und dann auf Li Schu Lin. Li Schu Lin sah auf die Seite. Lu stieß ihn an und tippte mit dem Finger auf den Zeiger.
Li Schu Lin sagte: "Kümmre dich um die Kohlen." Er stieß den
Finger nach unten.
Lu kümmerte sich nicht um die Kohlen. Er wandte sich an die Offiziere. Der eine fasste Li Schu Lin an der Schulter und zeigte ihm seinen Revolver.
Es war aber schon zu spät. Mao hatte gesiegt. Nein, Li Schu Lin war kein Verräter, auch kein Mörder, Li Schu Lin war bereits auf die Schale gesprungen, und er spürte, wie die Schale durch sein Gewicht die Mitte überschritt und die andere steil in die Höhe schnellte.
100 Kilometer, 102 Kilometer. Die Kurve begann. Der Zug legte sich wie ein Pfeil in den Bogen. Die ersten hundert Meter blieb die Maschine noch auf den Schienen, aber dann stemmte sie sich ab. Jetzt spürten auch die beiden Offiziere die Gefahr. Ihre Gesichter wurden gelb und ganz schmal. Sie bogen die Knie und hielten den Atem an, und der, der seine Hand an Li Schu Lins Schulter hatte, ließ seine Hand nach unten fallen, und auch sein Revolver fiel auf die Kohlen.
Die Maschine raste bereits neben den Schienen. Sie hatte die Brücke erreicht, stieß mit einem leichten "Knack!" gegen das Geländer, das Geländer brach auseinander und der abgeschossene Pfeil schnellte in die Tiefe.
Es war ein furchtbarer Sturz. Den ersten und den zweiten Wagen riss die Maschine hinter sich her. Der dritte und vierte schoss kopfüber über die beiden hinweg. Die letzten überschlugen sich einige Male, bis sie den Sumpf und das Wasser erreichten. Klatschend schlug das Wasser und der Schlamm über Menschen und Wagen zusammen und zog alles in seine unergründliche Tiefe.
Die kleinen Zeitungsjungen von Schanghai, Kanton, Nanking und Peking schrien am nächsten Morgen durch die Straßen: "Ein Militärzug mit 400 Offizieren hinter Schumen verunglückt! 372 Tote, 18 Schwerverletzte, 10 Leichtverletzte!"

 

DIE ARBEITSLOSEN

Der dürre Henner saß in seiner Küche. Er fror. Er saß schon die ganze Nacht so, grübelte und dachte. Es kam aber kein vernünftiger Gedanke in sein Hirn.
Was sollte er auch denken. Er war seit sieben Wochen arbeitslos. Seine Kinder hungerten. Seine Frau hungerte. Und er hungerte auch.
Gegen fünf schlich er leise hinaus. Schleppte seinen hungrigen Magen durch die dunklen Straßen und war gegen sechs an seiner Zeche.
Es standen schon viele da. Schachthauer, Hauer und Schlepper. Sie drängten sich an der Schreibstube herum und warteten auf den Betriebsführer.
Als er kam, wurden sie fortgejagt. "Es gibt keine Arbeit!" schrie er ihnen nach. "Heute nicht. Morgen nicht. Vielleicht in drei bis vier Wochen!"
Der dürre Henner lief im Galopp wieder zur Zeche hinaus. Bog rechts in einen Feldweg ein, und kam kurz vor dem Einfahrtszeichen noch bis zur Nachbarzeche hinüber.
Er ging aber nicht erst hinein. Hunderte von Arbeitslosen kamen gerade heraus. Zerstreuten sich über die Wege. Einige schimpfend. Andere knurrend. Die meisten mit hängenden Köpfen.
Von hier aus wusste er nicht gleich, wo er hingehen sollte. Er kletterte langsam über einen kleinen Hand. Kam, nachdem er eine tiefe Talsohle entlang gegangen war, zu einer Sandgrube und fragte dort nach Arbeit.
Der Vorarbeiter lachte ihn aus. "Wir schaufeln selber den letzten Tag", sagte er. "Das Arbeiten lohnt sich nicht mehr. Morgen macht man das Sandloch zu."
Er sah den hackenden, karrenden Leuten eine Weile zu. Empfand die Wärme, die von ihrer Arbeit ausging und schlich betrübt weiter.
Er hatte nun kein eigentliches Ziel mehr. Trottete noch auf den Bahnhof, ob er nicht irgendwo helfen könnte. Lief zu den
Kartoffelgeschäften, wo er manchmal mit einschaufeln durfte. Es gab aber heute nirgends Arbeit.
Gegen 11 Uhr ging er langsam nach Hause.
Seine Frau, die jetzt mit den Kindern in der Küche saß, sah ihn groß an. Als er sich still auf eine Bank setzte, fing sie an zu heulen.
Die Kinder heulten mit. Der Kleinste saß auf dem Boden und schlug dazu mit den Händen. Das Mädchen stand daneben und hielt ihre durchsichtigen Finger vor das Gesicht. Der Junge lehnte am Fenster.
Sie heulten alle vor Hunger. Die Frau, weil sie den Kindern nichts geben konnte. Die Kinder, weil sie seit drei Tagen nichts in ihren Magen hatten.
Der dürre Henner hätte am liebsten mit geheult. Er wusste nur, es half nichts. Außerdem verging der Hunger nicht davon.
"Gibt es auch heute kein Geld?" fragte die Frau plötzlich.
"Vielleicht", antwortete er. "Ich gehe am Nachmittag am Rathaus vorbei."
Gegen 12 Uhr stand er auf und sah noch einmal im Zimmer herum. "Was suchst du?" fragte die Frau wieder. "Nichts", knurrte er brummig.
"Es ist auch nichts mehr da, was sie nehmen", sagte sie weinerlich. "Behaltet nur eure alten Klamotten, hat gestern die Germansche gesagt, bei mir stehen sie doch nur herum. Wer soll sie auch kaufen."
"Und die anderen?" fragte der Mann weiter.
"Der Junge war dort. Sie haben ihn überall wieder fortgeschickt. Wir haben schon die Möbel der ganzen Vorstadt und ersticken noch daran", sagen sie alle.
Er ging brummend aus dem Zimmer. Unten traf er den buckligen Fabian von nebenan.
"Heulen sie bei dir auch?" klagte der Bucklige.
"Ja", antwortete der dürre Henner, "seit dem frühsten Morgen."
"Das hält kein Mensch mehr aus", schrie der Bucklige heraus.
Der Henner kniff aber nur den Mund zusammen. "Was willst du tun?" fragte er. "Mit heulen?"
Sie drängten ihre Körper zusammen und schoben die Straße hinauf. Der Bucklige war immer einen Schritt voraus.
"Wir wollen einmal zum Markt, Henner", sagte er.
Am Markt standen noch mehr. Sie stauten sich alle an dem Tor, wo sonst der Eingang zur Unterstützungskasse war.
"Gibt es Geld?" fragte der Dicke und drängte sich vor. Es wusste aber keiner.
"Wir warten nur", zischte ein kleines Männchen und hob sein gelbes Gesicht.
Die beiden warteten mit. Nach einer Weile wurde die Menge unruhig, schob sich dichter zusammen und schrie auf.
"Öffnen!" rief ein schwarzbärtiger Mann und schlug gegen die Tür.
"Geld!" riefen die Hintersten noch lauter.
Es ließ sich aber niemand sehen. Als man stärker klopfte, kamen von allen Seiten Schutzleute.
"Packt euch!" brüllte einer und drängte gegen die Menschen.
Die Ersten gaben nach. Langsam ließen sich auch die Hintersten auseinandertreiben.
"Wir sind zu wenig", rief der Schwarzbärtige. "Kommt am Nachmittag wieder."
"Am Nachmittag!" echoten die anderen zurück. "Am Nachmittag!" Dann wurden sie in die Straßen getrieben.
Auch die Beiden setzten sich in Trab. Sie waren noch schweigsamer als vorher. Sie torkelten vom Markt in die Hauptstraße. Duckten sich an den gefüllten Läden vorbei. Bogen die hungrigen Leiber nach unten, als liefen sie Spießruten und verliefen sich unten im Armeleuteviertel.
An der Zechenhalde tauchten sie wieder auf. Der bucklige Fabian brachte einen Sack aus der Tasche und sie suchten Kohle.
Sie wühlten mühsam die angefrorenen Steine auf, schabten sich Hände und Knie wund, und zitterten vor Kälte. Es war aber schon alles abgesucht. Sie fanden wenig.
Als sie auf die andere Seite der Halde kamen, sahen sie einen Wächter. Sie sprangen wieder zurück. Er hatte sie aber doch gesehen.
Sie bogen in ein kleines Gebüsch. Da erschien er oben auf der Halde. Als er sah, dass er sie nicht mehr erwischen konnte, schoss er ihnen eine Ladung Schrot nach.
Sie keuchten, als sie sich hinten an den Klärteichen wieder zusammenfanden. Fabian hatte aber den Sack noch, das genügte.
Den Sack schütteten sie bei dem Buckligen in den Keller hinein, schoben sich wieder die Straße hinunter, bogen aber diesmal nach der anderen Seite der Stadt. Sie gingen nach den Hochöfen.
Hier suchten sie Eisenschlacke. Es waren noch viele Arbeitslose da. Sie wussten alle schon, dass man sich am Nachmittag auf dem Markt treffen sollte. Keiner wusste nur recht warum.
"Wir werden demonstrieren", sagte ein Grauhaariger, dem die Arme steif nach unten hingen.
"Oder zum Bürgermeister ziehen!" rief eine in graue Sacklumpen gehüllte Frau.
"Vielleicht gibt es auch Geld", zischte ein Pockennarbiger.
Sie suchten trotz des Sprechens sehr eifrig. Hackten mit sonderbaren Stöcken in der Schlacke herum, und sackten die Eisenstücke, die sie fanden, in Säcke und Körbe.
Jedesmal, wenn die kleine Lokomotive kam und neue Schlacke über die Halde kippte, mussten sie zurückgehen. Sie stürzten sich danach mit größerem Eifer auf die beinah noch glühenden Massen und scharrten ein, was ihnen brauchbar erschien.
Auch hier wurden sie bald wieder verjagt. Sie hatten aber zwei Säcke mit Eisenschlacke gefüllt, schleppten sie bis in die Mitte der Stadt zu einem Lumpenhändler und bekamen 11 Pfennige.
Der Bucklige ließ sich in einem Geschäft eine Semmel dafür geben, die er eigentlich mit heimnehmen wollte. Er aß sie aber, als sie zu dem Park hinaufgingen. Der Hunger schnitt ihm den Magen entzwei.
Oben im Parkviertel fragten sie nach Gartenarbeit. Die bekam man manchmal, besonders jetzt in den ersten Frühjahrstagen.
Aber sie hatten heute kein Glück. Ein Dienstmädchen gab ihnen wie Bettlern ein Stück Brot, das sie sorgsam einsteckten. Ein alter Herr wollte die Hunde auf sie hetzen. Sie gingen beschleunigt weiter.
Vom Parkviertel wollte der dürre Henner nochmal zum Bahnhof. Vielleicht gab es nun Arbeit. Da standen aber schon so viele, die auf Arbeit warteten, dass sie es aufgaben. Sie drehten um und wanderten nun nach dem Markt.
Der Markt war überfüllt mit Menschen. Es schien, als wäre die Not aus dem ganzen Lande zusammengelaufen. Es waren aber nur die Armen aus den Arbeitervierteln.
Jedem sah man die Armut an. Sie hingen in den Kleidern wie Vogelscheuchen. Ihre Gesichter waren gelb. Zerfallen. Beugten sich nach vorn. Ihre Augen lagen fiebrig in den Höhlen.
Sie standen in Klumpen. In ganzen Scharen. Lehnten sich aneinander. Krochen zusammen. Redeten. Riefen. Es war aber trotzdem noch ruhig.
Der Bucklige und der dürre Henner schoben sich bis in die Nähe des Rathauses durch. Horchten hier und da. Es war aber nichts Bestimmtes zu hören. Die meisten wussten noch immer nicht, warum man zusammengekommen war. Es war nur wie ein Lauffeuer von einem bis zum anderen Ende der Stadt gegangen: Die Arbeitslosen sollen auf den Markt kommen.
An eine der nächsten Gruppen schlossen sie sich an. Eine Frau stand etwas erhöht und redete. Sie war klein und mager. Hatte aber lebhafte Augen und einen scharf geschnittenen Mund.
"Das ist nun unser Leben", sagte sie, "dreißig Jahre ein schweres Tagwerk und nun nichts zu beißen."
"Dazu Hunger und Schwindsucht! Kinder, die umfallen, und einen Mann, den man aussperrt!" schrie eine andere.
"Und das ist die große Gerechtigkeit!" rief eine dritte, der das Wasser in den Augen stand. "Die große Gerechtigkeit!"
Alle schrien und redeten durcheinander, fassten sich an die Köpfe und an die Schultern und klagten sich ihr Leid.
"Warum lassen wir uns das nur alles gefallen?" zischte ein junger Mann dazwischen.
"Ja, warum?" kreischte die Frau, die noch immer höher stand als die anderen. "Man lässt doch das Vieh nicht so hungern!"
"Wir müssten demonstrieren!" rief der junge Mann wieder.
"Das wollen wir auch", sagte der dürre Henner. "Heute Morgen wurde es schon gefordert."
Der Markt war unterdessen noch voller geworden. Es schien, als sei die ganze Stadt arbeitslos. Aus der Vorstadt kamen die Menschen sogar in großen Trupps.
Es wurde auch lauter. Stürmischer.
"Geld!" schrien einige.    "Demonstrieren!"   andere.   "Hunger!" die meisten.
Das Wort "Hunger" tauchte immer wieder auf. Bald riefen es mehrere. Ganze Gruppen. Zuletzt hallte es dumpf über den ganzen Markt.
Es klang aber nicht wie ein Gebrüll.  Tiefer!  Verzweifelnder! Wer es hörte, war erschrocken davon.
Auch Bewegung kam in die Menschen. Manchmal fluteten sie gegen das Rathaus, dann wieder zurück. Es war ein gewaltiges Hinundherwogen von Massen. Unheimlich wirkte dabei die Vielheit der menschlichen Gesichter, die Armseligkeit der Gestalten. Es sah aus, als würde eine Flut von Armut, Elend, Not, Hunger immer zwischen den hohen Häusern auf und nieder gespült.
Als wieder einige gegen das Rathaus fluteten und dort an den Toren pochten, als das Wort "Hunger" noch dumpfer an Fenstern und Türen rüttelte, schrie es plötzlich oben am Markt dumpf auf.
"Polizei!" rief eine schrille Stimme.
Die Massen wandten sich vom Rathaustor ab. Aber nicht furchtsam. Sie drehten sich nur um, und fluteten der Stimme entgegen.
"Sie sollen nur kommen!" rief die kleine Frau. "Was wollen sie?
Uns totschlagen?"
"Sie sollen nur kommen!" riefen auch die anderen.
Es schrie noch lauter auf. Es schrien auch schon mehrere. Die Schreie kamen diesmal aber von allen Seiten.
»Sie haben uns umstellt", sagte der Bucklige.
"Lasst sie nur", kreischte die Frau zurück", alle können sie doch nicht totschlagen."
"Sie schlagen aber!" schrei ein alter Mann und drängte zurück.
"Und wie sie schlagen!" heulte eine Frau auf. "Einige sind schon niedergeschlagen worden!"
Die kleine Frau drängte weiter nach vorn. Der Bucklige und der dürre Henner folgten nach.
Sie kamen aber nicht mehr weit. Die Menschen, die zurückdrängten, wurden immer eiliger. Ängstlicher. Viele schrien laut. Einige bluteten auch. Das Blut floss ihnen über die gelben Gesichter.
Sie versuchten stehen zu bleiben. Es nützte nur nichts. Langsam wurden sie mitgerissen.
Der ganze Markt schien nun eine Flucht. Die Menschen ballten sich zusammen. Wurden wieder auseinandergesprengt. Schoben sich erneut zusammen. Mussten aber wieder auseinanderfliehen. Endlich wurde eine Straße freigegeben. Dahin fluteten alle.
Sie war zu eng, um die Masse zu fassen. In ihrer Nähe stauten sich alle wie ein Keil. Einige schrien auf. Andere waren schon niedergetreten. Das Gedränge ließ aber nicht nach. Hinten schlugen die Schutzleute wie Viehtreiber in die Letzten.
Auch der Bucklige spürte einen Gummiknüttel im Rücken. Später schlug man ihm diesen Knüttel noch auf den Kopf. Er schrie auf wie ein Tier. Das nahm den Schmerz nur nicht fort. Da versuchte er,
schneller zu laufen.
Nach einer Weile waren alle in die Straße hinein geflutet. Die Ersten liefen rascher. Hinter ihnen ergossen sich die Nächsten. Es waren im Ganzen einige Tausend.
Die Schutzleute ließen aber nicht von ihnen ab. Sie schlugen weiter auf die Fliehenden ein. Erreichten immer mehr. Zitternde, alte Frauen, humpelnde Männer.
An einer Straßenkreuzung jagten sogar Berittene in den Zug. Aber die Menschen stäubten nicht auseinander. Blieben zusammen. Die Letzten folgten wie ein Strom den Ersten. Kurz vor der Vorstadt waren sie sogar wieder eine kompakte Masse.
Das brachte die Schutzleute in Wut. Sie jagten sogar tiefer in die Menschen, trieben ihre Pferde immer mehr an. Schlugen zu, als wären sie Besessene.
Der Zug wälzte sich aber doch nicht schneller. Er stockte sogar. In den ersten Vorstadtstraßen blieb er plötzlich stehen.
"Warum fliehen wir eigentlich?" fragte die kleine Frau den dürren Henner, der neben ihr lief. "Sind wir schlecht?"
"Ja, warum fliehen wir?" antwortete der dürre Henner und sah sie an.
"Ist es denn verboten, zu sagen, dass wir hungern? Haben wir kein Recht zu rufen, dass wir nicht zu essen haben?" rief die kleine Frau weiter.
"Ist es verboten?" wiederholte der Henner monoton. Da wurden ihre Schritte langsamer.
"Wir sollten stehen bleiben", mischte sich ein kleiner Schuster ein, dem die Augen tränten.
"Das sollten wir", sagte eine alte Frau, die die Füße nicht mehr trugen. "Sie sollen sehen, dass wir mutig sind."
"He, he!" meckerte ein schmächtiger Bergmann zustimmend, der am ganzen Leibe schlotterte, "sie hat recht. Satter werden wir von dem Laufen auch nicht." Er blieb keuchend stehen.
"Sie sollen uns nur schlagen!" rief die kleine Frau mit ihm, und wandte sich um.
"Das sollen sie!" echote ihr der Bucklige nach, dem das Blut noch über das Gesicht lief, und stellte sich neben sie.
Auch die anderen drehten sich um. Es war allerdings kein Trotz in ihnen. Sie sahen auch nicht aus, als ob sie den anstürmenden Polizisten Widerstand entgegensetzen würden. Sie hatten nur alle plötzlich das Gefühl, dass sie nicht fliehen dürften. Ja, dass es schimpflich für sie sei, weiter zu laufen.
"Wir sind doch Menschen", sagte ein altes Männchen, dem der ganze Körper schütterte und dem das Wasser über die Backen lief.
"Und sind wir schuld an unserer Armut?" fragte ein keuchender junger Mann.
"Ich habe drei Kinder allein ernährt", stöhnte eine blasse Frau. "Ist es meine Schuld, wenn sie jetzt hungern?"
"Nein! Nein!" schrie die kleine Frau. "Bleibt nur stehen. Wir sind alle unschuldig!"
Die ersten Schutzleute kamen schon heran. Einer schlug einen größeren Jungen nieder, der rechts in eine Nebenstraße wollte. Die anderen trieben     schlagend Nachzügler vor sich her.
Einer, der zu Pferde saß, setzte sich gleich in Galopp, als er sah, dass die Flüchtenden stehen geblieben waren.
"Soll euch mein Gaul niedertrampeln?" schrie er, und bäumte das Pferd vor den Stehenden hoch.
Die empfanden einen Augenblick Angst. Drängten sich zusammen, als wollten sie sich gegenseitig schützen. Die meisten schlossen die Augen.
Das Pferd drehte sich aber zur Seite, als die Menschen nicht wichen, schlug aus, und versuchte sogar rückwärts zu gehen.
"Seht", rief ein Alter, der etwas hinten stand, "die Kreatur ist besser als der Mensch!"
Unterdessen waren aber die anderen Polizisten herangekommen. "Sollen wir euch Beine machen?" schrie ein kräftiger Kerl, und schwang seinen Gummiknüttel. Er schlug den dürren Henner gegen den Hals.
Die anderen hoben auch ihre Waffen.   "Auseinander", brüllten sie.
Die Menschen wichen auch jetzt nicht. Nein, sie drängten noch näher. Hoben ihre Gesichter hoch und sahen die Polizisten groß an.
"Schlagt mich nur!" kreischte die kleine Frau, und reckte sich empor.
"Ja, schlagt uns!" wiederholte eine Alte. "Schlagt uns tot!" Und ihr gelbes Gesicht geiferte die Polizisten an.
Die Polizisten schlugen auch unbarmherzig weiter. Erst gegen die Männer. Der lange Henner, gegen den sich gleich drei wandten, brach schon zusammen.
Er sah einen der Schlagenden an. Er bekam dabei ein ganz glasiges Gesicht. Das einzige, was ihm wunderlich war, war, dass er sich nicht gegen sie wehrte.
Die beiden Alten, die mit in der ersten Reihe standen, brachen danach nieder.
"Das ist ein Ende! Das ist ein Ende!" schrie der eine laut. "Hu!" heulte der andere, "so bringen sie einen ehrlichen Menschen um!"
Die Schutzleute sahen aber doch, dass sie nicht weiter kamen. Besonders die Frauen drängten sich immer wieder in die Lücken.
"Schlagt doch auf das Weiberpack!" grölte ein älterer Polizist, der auf einem Pferde angeritten kam.
Hinter ihm kamen noch mehr zu Pferde. Sie sprengten gleich im vollen Galopp in die Menge.
Die wurde auch diesmal auseinander getrieben. Niedergetrampelt. Niedergeschlagen. Schreiend versuchten einige nach rechts und links auszuweichen.
Die ersten wälzten sich alle am Boden. Lagen auf dem Pflaster, blutend, zerrissen. Die meisten heulten schauerlich auf.
Auch die kleine Frau war niedergetreten worden. Sie versuchte sich mühsam aufzurichten. Es ging nicht.
"Das sind die Menschen", klagte sie laut. "Die Hunger haben, schlagen sie tot!"
"Ja", wiederholte der schmächtige Bergmann, der neben ihr lag und dem ein Pferd den Leib zertreten hatte, "die Hunger haben, schlagen sie tot. Und das ist die große Liebe und die menschliche Barmherzigkeit!"

 

DIE FRAUEN

Die dicke Petersen stand im Hof am Waschtrog. Sie hatte die Ärmel ihrer blauen Bluse hochgeschlagen und ihre fleischigen Arme standen in dem heißen Seifenwasser wie zwei unförmige Säulen.
Sie wusch die Hosen ihres Mannes. Sie seifte sie gut ein, strich behutsam über die schwachen Stellen und rumpelte dann die steifen Hosenbeine über das wellige Waschbrett.
Sie tat diese Arbeit mit viel Liebe, seufzte nur oft tief auf und wischte sich mit der feuchten Hand die Nase, bevor sie weiter rumpelte.
Sie hatte Sorgen. Sie seufzte wie die lange Margarete, die unter ihr wohnte. Und sie stöhnte wie die schmächtige Karoline, deren kümmerliche Brust kollerte wie ein gesprungener Dudelsack und die Blut spuckte, wenn sie hustete. Ihre Männer hatten alle keine Arbeit.
Karl, ihr Mann, saß oben in der Stube wie ein verprügelter Hund. Er ließ die Mundwinkel nach unten hängen und spuckte nur manchmal verächtlich vor sich hin.
Der lange, stämmige Pieter, der Mann der Margarete, der zwei Zentner stemmte, ein Kreuz hatte, auf das man die ganze Welt stellen konnte, hockte neben ihm und sah aus, als wäre er zum Hängen verurteilt.
Sogar der blasse Gottlieb, der, wie seine Frau, schwindsüchtig war, aber sonst immer die Internationale pfiff und gegen die Fenster trommelte, schlich durch das Haus wie ein Sünder, brummte und hielt seine Hände ängstlich auf den Rücken.
Die dicke Petersen verstand das nicht. Sie dachte daran, wie sie ihr Kerl auf seine Arme nahm trotz ihrer Beleibtheit. Und diese starken Männer, diese Klötze, ließen sich aussperren.
Heute Morgen waren sie das sechste Mal zurückgekommen, mit krummen Rücken, hängenden Armen, dummen  Gesichtern. Wie eine Schar gescholtener Kinder sahen sie aus.
"Der fette Siebert schickt uns wieder heim", hatte ihr Alter zu ihr gesagt, ohne sie anzusehen.
"Und er will uns nicht wieder nehmen, bevor wir nicht zu Kreuze kriechen und neun Stunden arbeiten", klagte der große Pieter.
"Halunken, Spitzbuben, Hungerleider sollen wir sein, hat er uns noch nachgeschrien", rumorte der schwindsüchtige Gottlieb, und dann waren sie alle drei an ihr vorbeigeschlichen ins Haus hinein.
Achthundert Männer, große, starke Männer, mit Fäusten wie Schmiedehämmer, mit Kraft, die den alten, fetten Siebert zu Mus schlagen konnten, waren also tatsächlich heimgekommen - zum sechsten Male - und keiner hatte die Hand erhoben gegen den Dickbauch.
Sie kannte den fetten Siebert. Sah seine kleinen Wurstelbeine, den vorstehenden Bauch, die karierten Hosen, die er immer trug, wenn er vor der Zeche stand und in die drängenden Männer hinein schrie wie ein krächzender Hahn.
Ha - als ob man mit diesem Männlein nicht fertig werden könnte! Das Maul müsste man ihm stopfen. Die karierten Hosenbeine herunterreißen. Ihm seinen dicken Bauch zertreten. O - sie reckte ihre Arme - er sollte ihr nur kommen. Sie wollte ihm schon die Wahrheit sagen. Ihm heimleuchten. Diesem Fettwanst, diesem Großmaul, der zu ihren Männern "Hungerleider" sagte.
Die dicke Petersen wurde aufgeregt. Ihre Arme stießen wie zwei Kolben die Hosenbeine hin und her. Ihr Gesicht verzog sich breit und grimmig. Und ihre großen Brüste sprangen unter der dünnen Bluse auf und nieder.
Die lange Margarete kam aus dem Hause. Ihre schmale, zu spitze Nase drehte sie zu der dicken Petersen hin. Sie sah der Waschenden eine kurze Zeit mit ihren grauen, glänzenden Augen zu.
"Was gaffst du?" fragte die Dicke, und schielte sie bös an.
"Ich will mit dir sprechen", sagte die Margarete und kam näher.
"Mit mir?" Die Dicke stemmte die wassertropfenden Arme in die Seite.
"Ja. Wegen der Männer", antwortete die andere.
"Wegen der Männer?" schrie die Dicke aufgeregt. "Sprich nicht von dem Pack. Lassen sich Lumpen und Hungerleider schimpfen und sitzen in der Küche herum, als hätten sie sogar das Vaterunser vergessen!"
"Ich habe aber nichts mehr zu kochen", sagte die Margarete und sah der Dicken gerade in das Gesicht.
"Und fünf Kinder, die Hunger haben! Oder stimmt das nicht?" Die Dicke schrie so laut, dass ihre Stimme überschnappte. "Aber denke nicht, dass ich eine Kuh bin, die Milch gibt ohne zu fressen. Mein Kleiner schreit seit vorgestern, weil er keine Milch mehr aus den Brüsten ziehen kann."
Die lange Margerete blieb ruhig. "Ich weiß das", sagte sie nach einer Weile. "Und gerade darum will ich mit dir sprechen." Sie trat einen Schritt vor und fasste die Dicke an der Bluse. "Wenn die Männer nicht helfen, dann müssen wir helfen."
"Wir?" kreischte die Dicke auf, und sah der Margarete in die blitzenden Augen.
"Ja, wir!" echote die und ihr Gesicht wurde scharf und hart. Die dicke Petersen beugte sich wieder über ihr Waschfass und rumpelte weiter. "Sag mir nur wie?" fragte sie plötzlich und drehte ihr Gesicht zur anderen zurück. "Der einzige, der sie hindert zu arbeiten, ist der Fettwanst, der Siebert. Den sollten sie totschlagen, die Schlappschwänze, oder aufhängen, oder in seinen Schacht werfen."
"Sie tun es aber nicht, Kläre. Sie tun es nicht." Die lange Margarete nannte die Petersen mit ihrem Vornamen, fasste mit ihren Händen nach ihren festen Schultern und schüttelte sie hin und her.
"Und?" fragte die Petersen. Sie verstand auf einmal die andere. Ihre fleischigen Arme strafften sich.
"Darum müssen wir es tun, Kläre. Ich und du und die anderen, bevor die Kinder verhungern." Ein gefährliches Glimmen sprang in das Gesicht der Margarete. Ihr Mund hing verkrampft nach unten. Ihr schmächtiger Körper zitterte und ihre Hände, die immer noch auf den Schultern der Dicken lagen, krümmten sich und krallten sich
tief in den Rücken der Petersen.
Die Dicke fing das Glimmen auf. Sie wurde aber nicht davon erfasst. Sie schüttelte die Margarete nur ab, trocknete die Hände an der schwarzen Schürze und sagte mit ihrer lauten, hohen Stimme: "Muss es gleich sein?"
"Gleich!" rief die lange Margarete zurück, bog sich zusammen und schnellte wieder nach oben. "Gleich, ich rufe nur noch die Karoline!"
Die Karoline stand schon auf der Treppe. Ihre kleinen gelben Augen blitzten nach unten. Sie hatte die beiden gehört.
"Auf die Zeche wollt ihr also?" trompetete sie dünn und heiser hinunter. "Soll ich mir einen Knüttel mitnehmen? Einen dicken, eichenen Knüttel? - Nein", schrie sie lauter, "meine Hände genügen. Erwürgen will ich den fetten Kerl damit. Erwürgen!"
Sie hüstelte laut und krächzend, legte die mageren, gelben Hände auf die eingefallene Brust und spie Blut.
Sie gingen durch den Hausflur auf die Straße. Auf der Straße stand die Böttcher, die rundliche, polnische Meta, die beiden Kallonovskys und Mutter Schulz.
"Geht ihr mit?" schrie die lange Margarete. "Wo wollt ihr hin?" fragte die Mutter Schulz. "Auf die Zeche, Mutter Schulz. Den fetten Siebert aufhängen, damit die Männer wieder arbeiten können!"
"Au, au!" rief die polnische Meta, "ich gehe mit." "Ich auch", sagte die kleine Böttcher, und schnäuzte ihren Kleinsten noch die Nase, bevor sie sich den anderen anschloss.
Als sie zu dem Laden von Meister Bernhard, dem Fleischer, kamen, waren es schon zwanzig. Hier standen viele Frauen aus der Nachbarschaft mit Körben und Taschen. Aber der untersetzte, schieläugige Bernhard wollte ihnen kein Fleisch geben
"Erst will ich Geld sehen, oder wissen, dass eure Männer wieder arbeiten!" krakelte er aus seinem Laden.
"Kommt mit!" schrie die lange Margarete in den schimpfenden Haufen hinein.
"Wohin?" schrien die Frauen.
"Auf die Zeche! Zum fetten Siebert!" grölte die polnische Meta.
"Ja, er soll unsere Männer wieder arbeiten lassen", sagte eine ängstliche, stille Frau.
Quatsch", krähte die keuchende Karoline, "wir wollen ihn totschlagen!"
"Oder aufhängen!"
"Oder in seinen Schacht stürzen!"
Die Frauen überschrien sich gegenseitig.
Am kleinen Markt waren es schon zweihundert, Als sie über die Friedberger Straße zogen, waren es vierhundert. Und als sie vor der Zeche standen, fehlte keine der Frauen mehr aus der ganzen Kolonie.
Der fette Siebert sah sie kommen. Er stieg die kleine Treppe von den Koksöfen, auf denen er stand, hinab, strampelte mit s einen rundlichen Beinen über den Zechenplatz und stand nun etwas erhöht hinter dem Tor und sah auf sie hinter.
"Aufmachen!" brüllte die lange Margarete und rüttelte an dem eisernen Tore.
"Was wollt ihr?" krähte der Fettbäuchige. "Wollt ihr euch über eure Männer beklagen? Haben sie keine Kraft mehr? Kommen sie nicht mehr jeden Abend zu euch in die Betten?" Er sprach langsam und stoßweise, denn das Fett hinderte ihn am Sprechen.
"Dich wollen wir!" schrie die lange Margarete wieder.
"Ja, dich!" brüllte die polnische Meta.
"Zu dir ins Bett", zischte die kranke Karoline und spie hüstelnd das Blut durch die Gitterstäbe.
Alle schrien durcheinander. Manche hoben Steine auf und warfen nach dem Fetten. Nur die dicke Petersen war still. Sie stand mit dem Leib gegen das Tor gestemmt und sah in der ersten Reihe zu dem dickbeinigen Siebert hinauf.
Der blickte noch immer fröhlich mit seinem aufgeblasenen Gesicht nach den Frauen. Ihm kam das alles so lustig vor. Als sie mit Steinen
warfen, wich er den Steinen aus. lachte laut, wenn dicke Brocken allzu nahe an seinem Kopf vorbeiflogen, oder drohte dieser und jener, die nicht Kraft genug besaßen, zu ihm hinaufzuwerfen, mit seinen kleinen, klumpigen Fingern.
"Er lacht noch", rief die lange Margarete und zielte mit einem großen Stein nach ihm.
"Wir müssen zu ihm!" kreischte eine andere und schlug gegen die festen Gitterstäbe.
"Brecht doch das Tor ein!" schrien die, die hinten standen und drängten nach vorn.
Die dicke Petersen sah noch immer zu dem Fetten. Sein lachendes Gesicht brachte sie in Wut. Sie stemmte sich mit ihrem Körper gegen das hohe Tor und versuchte es nach innen einzubrechen. Es gab aber nicht nach. Da versuchte sie es auszuheben. Sie krallte sich mit ihren groben Händen zwischen die Gitterstäbe und hob es hoch.
Die anderen halfen ihr. Drückten es mit ihren schwachen Kräften nach oben. Hoben es aus den Angeln. Krachend stürzte es nach innen ein.
Die ersten fielen schreiend darüber. Überschlugen sich. Die nächsten waren aber schon oben bei dem Dicken. Der hatte der Petersen erstaunt zugesehen.
Als die Frauen durch das Tor drängten, wollte er fliehen. Er konnte aber nicht. Die Beine waren wie gelähmt. Außerdem war in seinem aufgeschwemmten Körper ein Gefühl von Neugierde. Er wollte wissen, was die Frauen mit ihm machen würden.
Die erste, die sich näherte, war die polnische Meta. Sie holte mit ihrer fleischigen Hand aus und schlug ihm den Hut vom Kopfe.
Er war erstaunt darüber. Er wehrte sich aber nicht. Er sah die Frau, die mit ihren funkelnden Augen vor ihm stand, nur kopfschüttelnd an.
Die starke Meta, die keinen Widerstand spürte, machte das unschlüssig. Ihre wieder erhobene Hand blieb in der Luft hängen. Unterdessen waren auch die anderen gekommen. Eine kleine, untersetzte Frau warf ihm eine Hand voll Asche ins Gesicht, die sie unterwegs aufgerafft hatte.
"Fettwanst!" schrie eine andere und schlug mit einem dürren
Ast nach seinem Leib.
Auch auf diese Frau wirkte seine Ruhe störend. Sie konnten nicht in das aufgedunsene, hilflose Gesicht schlagen und standen ratlos mit erhobenen Händen um ihn herum.
"Haut ihm doch sein Maul kaputt!", rief eine dünne, bleichsüchtige
Frau, die schnaufend heran kam.
"Schlagt ihm seinen hölzernen Schädel ein!" "Pocht ihm auf seinen dicken Bauch!" "Habt ihr keinen Knüttel?"
Jede wusste einen besseren Rat und drängte ungestüm weiter nach vorn.
Aber die vordersten konnten einfach nicht zuschlagen. Sie sahen den alten Siebert, der ein immer ängstlicheres Gesicht bekam, und dessen Beine schon zitterten, groß an. Und der sah sie wieder an. Seine Augen traten weiß und gelb aus den Höhlen. Seine Hände hatte er ein wenig gehoben.
Da drängte sich die Petersen durch den Kreis. Sie hatte unten am Tor am tiefsten gelegen, und es hatte lange gedauert, bis sie sich wieder aufrappeln konnte. Jetzt fuhr sie durch die anderen wie eine Furie. Ihre Arme schlugen wie zwei Dreschflegel hin und her, und sie kam dem Mann schnell näher.
Der alte Siebert sah sie kommen. Seine Augen wurden noch weißer, und es schien, als bräche er zusammen. Aber da war die dicke Petersen schon neben ihm.
Erst fuhr sie die anderen an. "Gesindel! Feiges Pack! Habt ihr den Mut verloren? Steht herum, als wäre euch der Verstand stehen geblieben. Macht Augen wie eure Männer. Blöd und dumm. Oder seht ihr nicht mehr, dass das der Kerl ist, der eure Männer aus sperrt, der ihnen und euch nichts zu fressen gibt, der euch und eure Kinder hungern lässt? He!"
Und sie nahm den rundlichen, dicken Mann, hob ihn empor legte ihn s ich quer über ihre Arme und drehte sich einmal mit ihm im Kreise herum, dass die Stiefel des Mannes allen unter die Nase fuhren.
"Platz!" schrie sie noch lauter, und sie bahnte sich einen Weg durch die erschrockenen Weiber, den schweren Mann noch immer auf ihren fleischigen Armen.
"Sie geht zum Schacht!" jauchzte die polnische Meta.
"Ja, zum Schacht!" rief eine andere.
"Zum Schacht!" echoten sie alle nach.
"Hinunterwerfen soll sie ihn!"
"Den Hals soll er brechen!"
"Ersaufen soll er da unten!"
Wie eine Peitsche waren die Worte der dicken Petersen auf sie niedergesaust, und nun stürzten sie ihr nach, schreiend grölend -wie eine wilde Meute.
Der alte Siebert musste aber nun spüren, dass etwas mit geschehen sollte, gegen das er sich wehren musste. Er stemmte seine kleinen Fäuste gegen den Leib der Petersen, die ihn immer noch trug, und versuchte sich aufzurichten.
Die Petersen lachte grell auf, als sie merkte, wie der Mann sich wand.
"Lieg still, dicker Klotz", sprach sie ihm zu, "lieg still! Komm, bist auch ein braver Alter!" und sie drückte ihn fest gegen ihre unförmigen Brüste, dass dem Alten der Atem ausging,
"So", zischte sie leiser, "so still musst du liegen. Bist auch sicher bei mir. Weißt du, ich bin nur eine Frau von deinen Hungerleidern. Was sollte ich dir tun? Ich bin ihnen nur davongelaufen, um dir ein Bett zu bereiten. Ein großes, weiches Bett." Sie lachte grell auf und drückte ihn wieder an sich, dass dem Alten die Rippen krachten.
Sie war unterdessen an den Koksöfen vorbeigelaufen, an dem Kesselhaus, an dem Haus, wo sich die Männer wuschen, überquerte noch einen kleinen Platz und stand nun unter dem mächtigen Förderturm,
dessen eiserne Pfeiler sich schlank und steil in den Himmel bohrten.
Die anderen waren ihr immer kreischend und schimpfend gefolgt. Ihre Worte hatten sie weiter trompetet, dass auch die hintersten hörten, was die Petersen dem Alten sagte. Nun standen sie alle vor dem schwarzen, gähnenden Loch, dem Schacht, sahen nach der großen Frau hinüber, die den Mann aus ihren Brüsten löste und ihn über das schwarze Loch hielt.
"So", sagte sie, und packte den Alten am Genick, da hätten wir dich. Siehst du nun dein Bett?" Und sie schüttelte ihn wie einen leeren Sack hin und her.
Der alte Siebert sah weiß und gelb aus. Er musste schon die Besinnung verloren haben. Aber die Petersen schüttelte ihn weiter. Sie musste sich, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, an einem der eiseren Pfeiler festhalten.
"Seht ihn euch an!" schrie sei weiter. "Das ist der Bursche, der eure Männer nicht zu Arbeit gelassen hat. Dieser hohle Kopf. Dieser dünne Hals. Diese hängenden Arme. Dieser dicke, runde Bauch und die kleinen Wurstelbeine! So sieht er aus! Habt ihr auch Furcht vor ihm?"
"Nein, nein!" antworteten die Frauen lauter, trompeteten es wie ein Kriegsgeschrei und schlugen mit allem, was sie erreichen konnten, nach dem leblosen, baumelnden Körper.
"Aber die Männer haben Angst vor ihm!", kreischte sie zurück und ließ das grünlich werdende Männlein wieder zappeln. "Vor diesem Fetthaufen! Vor diesem Rundbauch! Vor diesem Wurstelbruder! Seht nur, wie er baumelt!"
"Darum soll er auch den Hals brechen, darum soll er auch ersaufen!" Sie drehte ihn zu sich und sah ihm in sein starres Gesicht.
Sie wollte ihn noch nicht loslassen. Aber plötzlich entglitt der Körper ihrer Hand und sauste nach unten.
Sie beugten sich alle über das Loch, waren stumm, und ihre Körper zitterten leicht; sie horchten.
Der Körper schlug einige Male auf. Sie hörten es dumpf dröhnen.
Dann kam ein eigentümliches, langanhaltendes Klatschen aus der Tiefe. Er war in das Wasser des Sumpfes gestürzt.
Die Frauen waren noch immer still. Einige wurden sogar unruhig und sahen ängstlich um sich. Nur die dicke Petersen blieb die alte. Als sie den Körper unten aufschlagen hörte, richtete sie sich aus ihrer horchenden Stellung wieder auf, "Nun können wir wohl heimgehen" sagte sie nicht sehr laut, aber so, dass es alle hören konnten,
"Ja, das könnten wir", antworteten einige, und alle drängten unter dem Fördertum hervor,
Sie quollen weiter über den Zechenplatz, Schoben sich über das ausgehobene Tor, und zogen die Straße, die sie heraufgekommen waren, wieder hinunter. Vor der Kolonie zerstreuten sie sich.

 

EINE FRAU GEHT

Die junge Mutter Mellicher trat aus dem Hause. Sie war gelb und mager geworden. Ihr Gesicht saß auf den spitzen Schultern wie eine längliche Scheibe. Nur die Nase sprang noch kantig und scharf hervor, und die Augen glühten aus der Blässe der Backen wie zwei große, feurige Lichter.
Sie hatte es eilig. Sie schickte erst den Jörg, es war der Kleinste, der mit seinen grauen, viel zu großen Stiefeln eine Pfütze austrat, in das Haus, stieß das Mädchen, die Marta, das sich an der Hausmauer rieb und ihre dünnen, durchsichtigen Arme in eine Schürze gewickelt hatte, hinter ihm her, und dann ging sie hinüber zu dem Mann.
Der war noch schmäler und blässer als die Frau. Er saß auf einem kleinen Stuhl und lehnte mit seinem Rücken an einer Bretterplanke. Er sollte sich sonnen. Der eckige, borstige Kopf und der Hals hingen schräg nach vorn. Sie hatten keinen Halt. Der Rücken war von brechender Kohle angebrochen worden. Außerdem sah der Mann nichts mehr. Das war schon drei Jahre so.
Der Mann spürte, dass die Frau kam. Sein eingefallenes Gesicht belebte und rötete sich. "Du gehst jetzt?" fragte er sie, und versuchte seinen Kopf nach ihr hinzudrehen.
"Ja", antwortete sie. "Alle gehen." Sie blieb noch einen Augenblick stehen und sah ihn an. Ihr Gesicht wurde spitzer. Sie hob ihre Hand, um nach seinem Kopf zu fassen. Sie ließ sie aber in halber Höhe stehen.
Da rief jemand aus dem Haus ihren Namen. Sie drehte sich um. Es war die Nachbarin. Sie ließ schnell die erhobene Hand auf das Knie des Kranken fallen, drückte es leicht und lief zu der Rufenden hinüber.
Es war eine kleine, dicke Frau. Ihre Backen waren aber auch eingefallen und ihre Breite schwabbelte zwischen den geflickten Kleidern hin und her. Ihre Tochter, ein zu schmal aufgeschossenes Mädchen mit großen, roten Flecken auf den Backen, stand neben ihr.
"Wir können gehen", sagte sie schwer atmend und setzte sich gleich in Bewegung. Die Tochter musste vor ihr hergehen. Die junge Mutter Mellicher nickte nur und lief mit ihren kleinen trippelnden Schritten schräg hinter ihr her.
Sie gingen schweigend. Die Mutter Mellicher wusste auch nicht, was sie sprechen sollte. Es war ihr so leer im Kopf. So unkörperlich. Sie fühlte sich kaum. Ja, sie fühlte nicht einmal, dass sie ging. Und warum ging sie eigentlich? Ihre schmale Stirn zog sich zusammen und sie drückte die Augen zu. War das nicht alles nutzlos? War das nicht gleich, ob sie ging oder stand? Es änderte sich doch nichts. Es gab doch keine Hilfe.
Sie dachte weiter. Wer sollte besonders ihr helfen. Wer wusste überhaupt etwas von ihr. Von ihrem Elend. Von ihrer Not. Von ihrer Ausgestoßenheit. Wer hatte in sie gesehen. Wer hatte sie aufgeschlossen. Wer wusste also, was sie alles bedrückte. Niemand! Sie war allein. Sie war einsam. Sie war es schon immer.
Die Ehe! Sie lief schneller und ihre Backen färbten sich etwas. Sicher, erst war es schön. Sie hatte eine Stube. Der Mann war gut. Als die Kinder kamen, musste sie sich eine Arbeit suchen. Es war schwerer. Aber es war noch zu ertragen. Dann brachten sie den Mann. Es war der Absturz. Sie fiel zurück. Nun lag sie wieder unten.
Was sollte sich also noch ändern? Der Mann wurde nicht mehr gesund. Es konnte nur schlechter werden. Sie hatte sich ja auch beschieden. Sie ertrug alles. Sie schuftete wie ein Stück Vieh. Sie kam kaum noch in ihre Stube. Früh lief sie in eine Fabrik. Am Abend versuchte sie es mit dem Waschen. Es wurde nur langsam zu viel.
Sie öffnete die Augen wieder und sah gerade aus. Wer sollte ihnen überhaupt helfen? Sie waren die Armen. Sie waren es immer gewesen. Der Großvater, der Vater. Sie hatten zu hungern. Es war ihr Leben. Manchmal bekamen sie ja auch Luft. Es ging besser. Jetzt ging es nur ganz schlecht. Die Kinder fielen bald um. Der Mann war nicht mehr zu sättigen. Der eigene Leib war zusammengefallen wie ein leerer Sack. Elender durfte es nicht werden. Das wäre das Ende. Ihr Gesicht verzerrte sich. Deswegen lief sie auch mit.
Sie lief jetzt nicht mehr allein mit der Nachbarin. Sie waren in eine breite Straße eingebogen. Schritte weckten sie. Sie sah sich um. Aus allen Häusern kamen hier Menschen. Frauen, groß, knochig. Mit grauen Tüchern. Die Gesichter weiß und gläsern in die Höhe gereckt. Auch Männer. Halbwüchsige Burschen. Greise. Sie liefen zu zweit, zu dritt. In langen Reihen. Die ganze benachbarte Viertel war in Bewegung.
Sie duckten sich. Was wollten diese Menschen. Hatten sie auch Hunger? Sie war ein Eingänger. Sie war es schon als Kind gewesen. Sie lief auch nie mit solchen Massen. Sie ging ihnen sogar aus dem Wege. Sie ängstigte sich vor ihnen. Was taten sie? Sie schrien. Sie durchbrüllten die Straßen. Sie waren Empörte. Hatte das aber einen Nutzen? War das gut? Sie wurden doch immer wieder niedergeschlagen.
Sie bog den Kopf tiefer. Warum war sie auch mitgegangen. Sie war zu dem Gang gedrängt worden. Alle gehen heute, hatte die Nachbarin zu ihr gesagt. Aus der ganzen Stadt. Hinter dem Stadtpark. Es soll eine Versammlung sein. Weswegen? Die Nachbarin hatte aufgelacht. Wegen dem Hunger! Wegen dem Hunger? Ja, dachte sie denn, sie hungerte allein. Sah sie nicht, dass es nicht nur in ihrer Stube an Brot fehlte. Die ganze Straße hinauf schrie man danach. Unten in der Vorstadt. Überall. Und heute sollte man dagegen aufstehen.
Um sie wurde es lauter. Die Scharen der Mitziehenden wurden dichter. Sie sprachen alle. Manche hart und schreiend. Die meisten erhoben noch ihre Hände. Dünne, durchsichtige Hände wie die ihren. Von was sprachen sie. Sie versuchte ein paar Worte aufzufangen.
Neben ihr lief eine höckrige, geduckte Frau. Sie zog noch das Bein nach. Ihr Gesicht war klein und ängstlich. "Seit gestern haben wir kein Brot, kein Mehl, keine Kartoffeln." Sie sagte das langsam und stieß jedes Wort nur vor sich hin.
Eine andere antwortete: "Uns geht es noch schlechter. Der Große, der gemauert hat, liegt im Bett. Er fiebert. Der Mann ist seit vier Wochen arbeitslos. Ich finde auch keine Arbeit."
"O", eine dritte erhob ihre Stimme, "was soll ich sagen. Der Kleine wird sterben. Erst brachen ihm die Füße zusammen. Jetzt pfeift sein Atem nur noch. Von was soll er auch leben?"
Die Mutter Mellicher sah sich erstaunt um. Wer sprach da? Was waren das für Stimmen? Wem hungerte da auch? Wer klagte da? Wer saß da in seinem Leben wie sie, ausgestoßen und ausgeschlossen?
War sie denn nicht die einzige? Wer drang da auf einmal bis zu ihr?
Es schüttelte sie und sie versuchte zu lächeln.
Die erste, die sie genauer sah, war die Höckrige. Ihr kleines, ängstliches Gesicht war noch faltiger als das ihre und an ihren Backenknochen hing die Haut wie ein Lappen. Neben ihr humpelte
eine Größere. Aus einem schwarzen Tuch sah ein gelbes, eingefallenes Gesicht. Die Füße darunter schleiften hinter ihm her, als wären es schwere, eiserne Klumpen. Und sie sahen alle so aus die mit ihr zogen. Sie waren zusammengesunken und müde. Sie schoben sich vorwärts, als könnten sie ihr Leben nicht mehr ertragen. Und in ihren Gesichtern hing das Elend und der Hunger, als wären sie damit gezeichnet worden.
Die Augen der Mutter Mellicher wurden feucht. Da waren also Hunderte, die genau so verworfen und verdammt waren wie sie. Sie war wirklich nicht die einzige. Alle, die da hinter und vor ihr hergingen, waren es genauso. Sie empfand das wie eine Beruhigung. Ja, wie eine Beglückung. Irgend etwas zersprang dabei in ihr. Ihre Einsamkeit. Ihre Verbitterung. Ihre Ausgestoßenheit. Sie fühlte sich auf einmal wie geöffnet. Wie nach allen Seiten ausgebreitet. Alle Mauern stürzten ein. Sie verströmte nur noch. Sie zerfloss. Es war ihr auch, als würde alles um sie und in ihr leichter.
Sie spürte das gleichzeitig an ihren Schritten. An ihrem Leib. Sie ging nicht mehr allein. Ihr Körper war aus seinem Schreiten ausgebrochen. Er versuchte mit den anderen zu gehen. Er wiegte sich, wie sie, hin und her. Er übernahm ihre Bewegungen. Er Schleifte wie sie über das Pflaster. Er mischte sich mit ihren lauten, schlürfenden Takten.
Und sie selber? Sie hätte sich jetzt am liebsten nach allen Seiten gebogen. Waren sie nicht alle Hungernde und Verstoßene? Was trennte sie also? Warum hatte sie sich bis heute von ihnen abgeschlossen? War sie blind gewesen? Sie hob ihre Hände ein wenig. O, aber nun wollte sie nach ihnen fassen. Jetzt wollte sie sich an sie anlehnen. Jetzt wollte sie mit ihnen marschieren. Jetzt sollte sie nichts mehr
von ihnen trennen.
Neue Menschen stießen auf die Straße. Es wurden immer mehr. Aus allen Gassen kamen sie. Aus jedem Haus. Sie formten sich schon zu kleinen Trupps. Zu Kolonnen. Ihr Takt wurde fester. Der Lärm wurde größer. Die ganze Stadt schien auszuziehen. Und mit jedem Menschen, den Mutter Mellicher sah, wuchs sie tiefer in diese Scharen hinein. Mit jedem Gesicht, das sie groß und ängstlich anstarrte, kam sie ihnen näher. Soviel Unglückliche und Hungrige gab es also. Soviel Hunderte, ja soviel Tausende standen neben ihr klein und unglücklich, betrogen und verlassen, und wurden zertreten
von ihrem Leben.
Aber diese Massen drückten die Gehende nicht nieder. Diese Unendlichkeit der Armut machte sie nicht kleiner. War es nicht sogar leichter und bequemer, das Leben zu tragen, wenn es Tausende mittragen konnten. Wenn es nicht mehr allein auf den spitzen Schultern lag, sondern wenn es sich über die ganze Stadt streckte. Sie hob ihren Kopf, als empfände sie auf einmal diese Leichtigkeit.
Und sie empfand auch plötzlich, dass in diesem gewaltigen Aufmarsch der Hungernden noch Kraft war. Da gingen nicht nur Menschen, die das Leben zerbrochen hatte, oder noch zerbrach, es war Wucht in ihnen, Gewalt. Es kam aus dem Aufstampfen der Füße. Aus dem Wiegen der Körper und sie wurde stärker, je größer der Strom der Marschierenden anschwoll.
Dass machte sie selber auch mutiger. Das ließ sie den Kopf noch höher heben. Das feuerte sie an. Das hob sie über ihre kleine Armseligkeit hinaus. O, sie kannte sich kaum noch. Sie lief nur. Sie marschierte mit. Und sie tauchte und zerfloss in diesen Strom, als wäre sie schon ewig mit ihm verbunden und verschwistert gewesen.
Die Menschen stauten sich nun plötzlich. Sie mussten auch stehenbleiben. Erstaunt sah sie sich um. Ihre Füße traten ja schon die bloße Erde. Wo war sie? Sie versuchte sich höher zu heben. Rechts liefen Gartenzäune. Auf der linken Seite standen ein paar kleine Häuser. Vor ihr wölbten sich Bäume. Jetzt wusste sie es. Sie war durch die untere Stadt marschiert und durch die obere. Nun mussten sie noch an einigen Wiesenflächen vorbei. Dahinter war die Versammlung.
Sie reckte sich weiter. Wirklich, da standen schon die ersten. Sie waren dick gestaffelt. Tausende! Vielleicht noch mehr. Und sie waren zu einem einzigen großen Klumpen geballt, aneinandergereiht, miteinander verwachsen, und von allen Seiten kamen noch neue Scharen.
Sie wollte stehen bleiben. Aber die Nachbarin nahm sie an der Hand. Zog sie mit. Drängte sie an den ersten Reihen vorbei, in den Klumpen hinein und versuchte nach der Mitte durchzudringen. Es gelang ihr auch. Sie durchschritten die Massen bis zu einem Karren.
Hier schien das Zentrum zu sein. Der Mittelpunkt dieser riesigen Ansammlung. Wie ein Kreis hatten sich wenigstens die Menschen um diesen Karren gezogen und ihre Gesichter standen sich groß und feierlich gegenüber.
Die Mutter Mellicher war erst etwas betroffen. Diese gewaltige Ansammlung von Gesichtern hatte sie erschrocken. Gab es eigentlich so viele Menschen. Waren wirklich so viele Hungrige in der Stadt? Und waren das alles Ausgestoßene und Verquälte wie sie? Sie wurde ängstlich. Sie duckte sich sogar nach unten. Als sie ihren Kopf aber wieder erhob, und in dieses tausendfache Gesicht hinein blinzelte, sah sie sich in jedem nur wie in einem Spiegel. Das war tatsächlich nur ihr Gesicht. Das war sie selber. Das war sie, nackt und armselig wie sie im Leben stand, nur in einer unerhörten Vielheit und Größe.
Auch die Worte, die um sie anschwollen, waren die ihren. Sie horchte lange. Ob nun ein Mann sprach oder eine Frau, ein Mädchen oder ein Bursche, es war immer ihre Stimme, die erscholl. Die
klagte oder schluchzte, die geifern oder nur stottern konnte. Und diese Stimme wurde immer lauter, immer klagender, immer tönender, schwoll höher und bewegte sie wie ein brausender Wind. O, sie riss sie sogar empor. Sie trug sie in die Höhe. Sie erhob auch die anderen. Sie ließ sie schweben. Sie steilte sie. Als sie erschauernd die Augen schließen musste, spürte sie, dass sie noch gewaltiger wurde, dass sie sich ballte und sich über ihren Köpfen staute wie ein Orkan.
Es war still, als sie wieder Erde unter ihren Füßen spürte und die Augen öffnete. Sogar unheimlich still. Die ganze Menschenmasse war erstarrt und die Gesichter waren wie durch einen Zwang in die Höhe gehoben. Sie drehte sich um. Nun begriff sie. Die Menschen lauschten. Seitlich von ihr war ein Mann auf die Karre gestiegen und hatte seine Hände erhoben. Jetzt öffnete er auch seinen Mund. Seine Stimme fuhr wie ein Knall über die Massen.
Sie horchte. Sie konnte ihn nicht genau verstehen, trotzdem sie dicht hinter ihm stand. Was sprach er. Endlich erreichten ein paar Sätze ihr Ohr. Er sprach von ihrem Elend. Von dem Hunger, der über sie gekommen sei. Von der Arbeitslosigkeit. Von den vergeblichen Mühen zu helfen, und dass sie nun ganz verhungern könnten. "Niemand hilft uns! Niemand kümmert sich um uns! Niemand steht uns bei!" Er schrie die Sätze von sich, als säße ihm der Hunger an der Kehle.
Dann wurde seine Stimme härter. Fester. Die lange Gestalt des Sprechers straffte sich mehr. Was schrie er nun? Mutter Mellicher lauschte. "Was sollen wir tun? Sollen wir weiter hungern! Sollen wir warten bis wir zusammengebrochen sind! Es gibt nur das eine!" Seine Stimme schwoll an. "Wir müssen uns helfen!"
Er trompetete das über die Köpfe wie eine Fanfare und es fiel in diese Menschen hinein wie ein heißer Guss. Alle spürten ihn an ihrem Leib. Allen lief er wie ein Schütteln über die ausgehungerten, mageren Körper. Alle wurden von ihm brennend berührt. Sie duckten sich vor ihm, aber sie richteten sich in ihm auch wieder auf. Der Mann sprach weiter. "Ist das nicht unser Recht!" dröhnte
seine Stimme jetzt. "Sind wir nicht dazu Menschen, dass wir uns helfen. Und wer will uns hindern? Die uns ausgesperrt haben? Die auf dem Gelde sitzen? Die uns ihre Läden verschließen? Die uns unser ganzes Leben niedergetreten haben!" Seine Gestalt wuchs. "Wir sind heute alle! Wir sind beinahe die ganze Stadt!" Er schrie das heißer und wie eine Drohung.
Die Mutter Mellicher war bestürzt davon. Es beängstigte sie. Sie sagte es leise nach. War das nicht Aufruhr? War das nicht noch mehr? Hieß das nicht, dass sie sich empören sollten? Vielleicht durch die Straßen ziehen. Schlagen! Schießen!  Sie schüttelte sich. Sie wollte das wieder von sich abwerfen. Es schauerte sie.
Und schauerte es die anderen nicht mit? Sie sah sich um. Erhoben sie sich nicht gegen diese Worte? Standen sie nicht dagegen auf? Sie erschrak. Sie jubelten ihnen sogar zu. Sie drängten sich näher an den Mann. Sie erhoben ihre Hände. Sie wiederholten seine Worte. Sie riefen sie weiter. Sie ballten sie zu schreien. Sie warfen sie wieder zurück und mischten sie mit ihrem dröhnenden Beifall.
Die Mutter Mellicher erschauerte noch mehr. Aber was sollte sie tun? Jetzt umfassten sie ja diese Worte schon selber. Jetzt tobten sie mit dem Beifall schon um sie. Jetzt suchten sie in sie einzudringen. Und war das nicht wieder die Kraft, die mit dem Beifall über sie fiel, die sie schon auf dem Marsch gespürt hatte, die Kraft, dass sie Hunderte, ja, dass sie Tausende waren, die das Elend und den Hunger trugen. Und diese Tausende richteten sich auf. Sie waren begeistert. Sie waren empört. Was sollten sie? Sie versuchte die Worte nachzusprechen. Sie sollten sich selber helfen.
Es beugte sie tief. Was war das? Konnte man das? War das nicht Sünde? Und wer hatte das gesprochen? Hatte das überhaupt ein Mensch gesagt? Einer von ihnen. Einer der Armen. Sie sah nach dem Karren. Dort stand der Mann noch. Fünf Schritte vor ihr. Lang! Hager wie sie. Eine Hand in den Himmel gestreckt. Das Zeichen zu schweigen. Alle schwiegen auch wieder, denn eine Frau stand neben ihm.
Die Pupillen der Mutter Mellicher wurden größer. Die Frau kannte sie. Sie dachte nach. Sie war nur neben ihr gegangen. Es war die Geduckte, Höckrige, die kein Brot und keine Kartoffeln mehr hatte. Sie sah nur größer aus. Der Karren steilte sie. Auch das Gesicht erschien ihr verändert.
Die Frau begann leiser als der Mann. "Ja", wiederholte sie "wir sind heute alle. Wir sind bald die ganze Stadt. Was wollen wir? Wir wollen Arbeit! Wir wollen Brot! Wir wollen leben können!" Sie machte eine Pause und zog Luft in ihre Brust "Ist das zu viel? Wir sollten noch viel mehr wollen!"
"Ja!" rief sie weiter, "was ist unser Leben? Armut! Was haben wir? Sorgen! Was tun wir? Wir arbeiten! Wir schuften! Wir schinden uns, bis wir zusammenbrechen! Ist das das Leben? Sie bog sich nach vorn und ihr Kopf wurde spitz. "Wir sollten noch viel mehr wollen!" rief sie noch einmal. "Einmal Ruhe! Ein Haus! Einen Garten! Freude!! Und warum nicht? Gibt es zweierlei Menschen? Sind wir ungleich geschaffen? Warum haben wir nichts und die anderen alles? Warum hungern wir und die anderen essen sich satt? Warum sitzen wir im Schatten und die anderen in der Sonne? Ist die Sonne zu klein?" Sie spannte ihre Arme in einen Bogen nach hinten. "Sie ist groß?" schrie sie noch so laut wie sie schreien konnte.
Die Mutter Mellicher hatte den Atem angehalten, während die Frau sprach. Die Worte des Mannes hatten sie gebeugt. Die Worte der Frau schnellten sie wieder hoch. Das war die Höckrige. Das war die, die neben ihr geklagt hatte. Und nun stand sie dort. Nun hatte sie sich über die anderen erhoben. Und was sprach sie? Sprach so eine Ausgestoßene. Sprach so eine Unglückliche. Wer hatte das in diesen Mund gelegt? Wer stieß das aus der Frau hervor? War das nicht auch Aufruhr? War das nicht auch Empörung! Aber diesmal sog sie jedes Wort in sich hinein, und als sich der Beifall um die Frau türmte, schrie sie mit, tobte am lautesten, antwortete mit all ihren Sinnen und drängte sich hin zu ihr, um sie zu umfassen.
Ho - war diese Frau nicht Teil von ihr? Kraft schien sich plötzlich von ihr in sie gegossen zu haben. Aber es war diesmal nicht die Gemeinsamkeit der Duldung, die sie heiß überströmte. Es war etwas Stärkeres. Etwas Größeres. Etwas Unerhörtes. Etwas, was noch nie ihren Körper überflutet hatte, was sie empor riss, und sie sogar aus ihrer Duldung schleuderte. Was war es. Sie hatte sich hochgestemmt und ihre Augen glühten wie zwei Lichter. War sie vielleicht auch eine Empörte? War sie vielleicht auch eine Aufrührerische? Wollte sie auch mehr als Arbeit und Brot? Und was wollte sie? Sie musste ihre Hände gegen die Brust pressen, so bäumte sich alles in ihr hoch.
Sicher wollte sie mehr! Sicher wollte sie etwas Freude. Sicher wollte sie ein Haus! Einen Garten. Sicher wollte sie sich einmal ausruhen und Zeit! O! - was sie alles wollte! Sie streckte ihre Hände in die Höhe. Sie schnellte sich aus sich heraus. Ihr Gesicht stand in Flammen.
Auf den Karren war aber schon wieder eine andere Frau geklettert. Sie war größer wie die Höckrige. Männlicher. Sie hatte ein hartes, verbissenes Gesicht und über ihrer Stirne saßen kleine Falten. "Frauen!" schrie sie laut, "Männer!" und ihr Gesicht wurde noch härter. "Warum stehen wir so lange? Warum reden wir so viel? Warum gehen wir nicht!" Sie sah einen Augenblick über die Massen, als sähe sie jedem ins Hirn. "Wo ist das Brot! Wo ist die Arbeit! Wo sind die, die uns hindern?"
"In der Stadt! kreischten einige auf, die in der Nähe standen. "In der Stadt!" schrien die anderen mit. "In der Stadt!" antwortete auch die Mutter Mellicher. Und sie riefen es weiter. Die Antwort sprang aus allen. Aus der ganzen Versammlung. Ballte sich zum Geschrei. Hallte wieder zurück.
"In die Stadt!!" rief da die Frau so laut sie rufen konnte. "In die Stadt!" Und ihre beiden Hände streckten sich nach den ersten Häusern.
Alle fingen den Ruf noch schneller auf. Alle wiesen auch nach der Stadt. Die Mittelsten drängten sich schon zu einem Zuge.
"In der Stadt!" schrie da die Höckrige noch einmal, die neben die Große getreten war. Eine dünne, weißhaarige Alte, die zu ihnen gestemmt wurde, schrie dasselbe. "In die Stadt!" schrie jetzt auch die Mutter Mellicher, die der Ansturm gegen den Karren warf und sie schwang sich hinauf zu den Dreien. "In die Stadt!" Und sie schrie es auf einmal aus sich heraus, als hinge ihr ganzes Leben daran. Als säße in dieser Stadt ihre Freiheit. Als könne sie in dieser Stadt von ihrem ganzen Elend erlöst werden. Von ihrem Hunger. Von ihrer Not. Als säße in, oder hinter dieser Stadt ein besseres Leben.
Und die Menschen, die sich jetzt hinter und unter ihr zum Zuge sammelten, schienen dasselbe zu spüren. Ihre Gesichter waren noch gelb und klein. Noch mager und ausgehöhlt. Ihre Leiber wiegten sich noch schwer und mühsam hin und her. Ihre Augen waren aber feuriger. Die Gesichter glühten. Alles wuchs an ihnen. Sie wurden größer. Gewaltiger   Sie hoben sich aus ihrer Armseligkeit, als
hätten sie Flügel.
Die Mutter Mellicher machte das noch freier. Es umwogte sie. Es durchdrang sie. Es rührte sie bis ans Herz. Wuchsen sie nicht schon über die Stadt. Wer sollte sich ihr und diesen Menschen auch entgegenstellen? Wer wollte ihren Marsch aufhalten? Wer wollte gegen diese Schar seine Hände rühren? Wer? Wer? Sie sprang von der Karre wieder herunter und stellte sich mit an die Spitze des Zuges. Wer? Wer? dachte sie noch einmal, als sie sich in Marsch setzten.
Zuerst fluteten sie über die Wiesen. Dann traten sie mit Wucht das holprige Pflaster. Hinter dem Park bogen sie in die Stadt ein. Ihr Zug war gestaffelt wie ein stumpfer Keil.
In der ersten Querstraße sollte Militär stehen. Etwas weiter oben sah man auch eine Schutzmannskette und ein Maschinengewehr. Was störte das aber diese Menschen. Was sollte das auch gegen ihren Anmarsch. Waren sie überhaupt aufzuhalten? Sie marschierten weiter. Die Mutter Mellicher zog noch immer an der Spitze. Sie war jetzt nicht mehr klein, nicht mehr geduckt, nicht mehr ausgestoßen, nicht mehr allein. Sie war ganz mit den anderen verwachsen verschmolzen. In ihnen untergegangen  In ihrer Empörung. In ihrem Anmarsch. Sie ging nur, und sie ging sowie sie ihr ganzes Leben noch nie gegangen war.

 

DIE BARRIKADE

Jede Straße, die aus der Vorstadt nach dem Zentrum abbog, hatte ihre Barrikade. Sie waren am Abend von den Bewohnern aus der Erde gestampft worden und sollten die Vorstadt vor dem Anmarsch des Militärs schützen. Nur die Bewohner vom Winkel hatten noch keine gebaut. Heute Morgen begannen sie.
Der Mond hing schräg über der Gasse, als sie die ersten Steine aushoben, Bretter herbeischleppten und Pfähle einrammten.
Sie bauten alle mit. Da war zuerst der alte Brand, ein Schachthauer von der nahen Zeche. Er war dick und gedunsen vom fallenden Wasser, aber er hatte starke Arme und ein unförmiges Genick.
Neben ihm half der kleine Schneider, der bei ihm zur Miete wohnte. Ein hageres Kerlchen, mit abstehenden Ohren und aufgeschwemmten, roten Augenlidern. Sie nannten ihn das Karnickelchen.
Hinter ihnen schleppte sich der schmächtige Rohrleger Bennemann mit einem Balken. Er stemmte ihn quer zwischen zwei eingerammte Pfähle, damit die Barrikade auch Halt bekam.
Dem krummen Bernhard, einem alten Flickschuster, der unter dem Rohrleger im Kellergeschoss wohnte, half sogar seine Frau. Sie zogen Bretter aus ihrem Kellerfenster und stapelten sie auf.
Vom Nachbarhause kam später noch Vater Klemptner mit seinem Jungen, einem schmalen, hochaufgeschossenen Burschen mit gelben Strohhaaren. Das polnische Ehepaar, das über ihnen wohnte, fand sich auch ein.
Sogar die Mutter Menke schleppte ihren gebrechlichen Körper aus dem Dachgeschoss herunter, lief zwischen den Männern hin und her. Schob und hob mit und murmelte dabei vor sich hin.
Sie waren alle nicht hastig bei dieser Arbeit. Schleppten, gruben, zimmerten, bauten, als verrichteten sie ihr Tagewerk. Langsam wurde die Barrikade höher.
"Ist es denn notwendig, dass wir eine Barrikade haben?" fragte die alte Brand, die aus dem Fenster sah.
"Ja, Mutter", antwortete ihr Mann. "Die Soldaten kommen." "Was wollen sie denn?" fragte die Alte schneller. "Auf uns schießen", gab der Mann zurück. "Warum?"
"Weil wir den Direktor fortgejagt haben." "Den alten Bollert?" zischte sie.
"Ja, Mutter. Und weil wir nun sagen, die Zechen gehören uns." "Warum tun das die Soldaten?" fragte die Alte hartnäckig weiter. "Der lange Bollert hat sie bezahlt."
"Das hat er", bestätigte die Mutter Menke. "Er bringt überhaupt alles Unglück über uns!" rief sie lauter. "Das Elend, die Not, den Hunger. Er ist wie der Böse."
Der krumme Bernhard lachte. Auch der alte Brand.
"Lacht nicht!" herrschte sie die Mutter Menke an und erhob ihre Hände. "Kommt das von Gott? Oben in seinem Hause haben sie gefressen und gesoffen und die schlechten Weibsbilder sind ein und aus gefahren. Hier gab es aber nicht das Brot zum Essen. Das ist unmenschlich. Das kommt vom Bösen."
"Ihr helft also mit, Mutter Menken, dass man eine Barrikade baut?" fragte die alte Brand.
"Ja", sie sah die alte Brand groß an, "Gott sagt, du sollst dich wehren gegen deine Feinde."
Gegen neun war die Barrikade schon bald einen Meter hoch, keilte sich rechts und links in den Haustüren, lag in der Mitte etwas zurück und schien fest zu sein.
Ein Nachbar von der nächsten Straße fand sie sogar gut. "Sie ist nur nicht hoch genug", wendete er ein. "Sie muss noch höher werden."
"Wir haben nichts mehr zum Bauen", knurrte der alte Klemptner.
Die Barrikade musste aber trotzdem höher werden. Alle sahen das ein. Sie versuchten erst, den Boden auszuhöhlen. Er war aber zu fest. Dann rissen sie die kleinen Gartenzäune ab, die hinter ihren Häusern standen. Aber das machte den Wall auch nicht viel höher.
"Geht zu mir", sagte die Mutter Menke, die sich auf die hochgeschichteten Steine gesetzt hatte. Ich habe einen alten Schrank in der Kammer. Ich kann ihn doch nicht mitnehmen, wenn ich sterbe."
"Wir haben eine große Kommode!" rief die Frau es alten Klemptner aus dem Fenster. "Ich räume sie aus!"
"Und was gibst du?" fragte der alte Brand seine Frau.
"Ja, was?" murmelte die Frau und dachte nach. "Vielleicht das Kinderbett", sagte sie laut. "Kinder werden wir wohl keine mehr haben." Sie lachte.
Der krumme Bernhard brachte sogar zwei Matratzen. "Wenn wir gewinnen, gibt es neue", krähte er und schlug sich in die Hände.
"Sie sollten für die Gesellen sein", sagte seine Frau und machte ein weinerliches Gesicht. "Wann werden wir aber einmal Gesellen haben? Es reicht ja nie für uns."
Die Polnischen konnten wenig geben. Die Frau brachte ein paar alte Stühle. "Dass sie nur nicht zerschossen werden, "heulte sie. "Sie sind auf Abzahlung." Auch der Rohrleger brachte noch ein paar Stühle aus dem Haus, und beim alten Brand schoben sie zu dritt die große Hobelbank aus dem Keller.
Die Barrikade wurde höher.
"Sie wird nur nicht dicht", jammerte die kleine Frau des Rohrlegers. "Sie soll doch die Männer schützen."
"Das muss sie auch", mischte sich die alte Brand hinein, und sie trug alte Teppichfetzen heraus und legte sie über die Balken.
Die anderen Frauen halfen mit dicken Pappen und Sacken nach. Sie schleppten auch Winterkleider und zerrissene Decken von Böden und Kellern. Alle Löcher wurden sorgfältig verstopft und zugesteckt.
Auch die Kinder halfen. Sie warfen Sand auf. Brachen Äste und steckten sie zwischen das Gerümpel. Andere schleppten Spielzeug die Treppen herunter. Die kleine Tochter des Polen brachte sogar ihre Puppe.
"Sie soll Vati helfen, " sagte sie.
Gegen Mittag schien die Barrikade allen hoch genug. Aus der Nachbarstraße kamen sie wieder herüber, um sie anzusehen.
"Wer ist denn hier ausgezogen?" fragte ein langer Maurer und machte ein spöttisches Gesicht.
"Die Proleten", antwortete ein dicker Bergmann. "Sie ziehen in das gelobte Land."
Alle lachten.
"Ja, oder in den Himmel", zischte die Mutter Menke, schlug ein Kreuz und sah die Lachenden mit ihren kleinen, stechenden Augen lange an.
Es kamen auch gleich ein paar Genossen aus der Stadt, die helfen sollten. Es waren Schlosser aus dem Eisenwerk. Große, kräftige Kerle. Etwas zu fein für den Winkel.
Sie lachten, als sie die Barrikade sahen. "Netter Haufen", neckte einer. "Den stürmen sie nicht. Er sieht ihnen zu gefährlich aus."
Sie waren aber sonst freundlich. Gaben dem alten Brand ein Gewehr. Auch dem Klemptner und dem Polen. Der Rohrleger behielt seine alte Pistole. Er wollte die großen Gewehre nicht.
Bis zum Nachmittag half man noch hier und da nach. Stützte, befestigte. Machte Gucklöcher zum Schießen. Gegen drei hieß es, die Soldaten kommen.
Man hatte sich kaum verteilt, da wurde schon scharf geschossen. Die Kugeln pfiffen gegen die Nachbarstraßen. Ihre Barrikade schien man gar nicht zu beachten.
Erst als sie gegen die stürmenden Soldaten schossen, erwiderte man ihr Feuer. Ein Maschinengewehr hämmerte tickend gegen ihren Haufen und das Holz splitterte krachend auseinander.
Der erste, der getroffen wurde, war einer von den Schlossern. Eine Kugel hatte ihm die Hand zerschlagen.
"Verdammtes Brettergerüst!" schrie er. "Ich habe ja gleich gedacht, dass es nicht aushält."
Er wurde aber ruhiger, als ihm die Mutter Menke einen weißen Lappen um die Hand band. Der alte Brand gab ihm noch einen Schnaps und führte ihn dann ins Haus.
Die anderen schossen weiter. Der schmächtige Pole schrie
jedesmal auf, wenn er abschoss. Nicht aus Freude. Er war ängstlich und hatte noch nie geschossen.
Jetzt kamen auch die ersten Soldaten auf ihre Barrikade zugelaufen. Sie sahen zum Fürchten aus. Sie trugen verdeckende Stahlhelme, und waren umhängt mit Handgranaten. Einer rannte laut rufend vor ihnen her.
Die Frauen, die aus den Fenstern sahen, schrien auf, als sie die Soldaten sahen. Die Männer ließen sich aber nicht beirren. Sie schossen ununterbrochen.
Das hatten die Stürmenden nicht erwartet. Einige fielen. Die anderen warfen sich nieder und versuchten sich zu verdecken. Über sie tickte gleich wieder das Maschinengewehr wie rasend.
Es musste näher sein. Das Holz flog plötzlich in dickeren Stücken auseinander. Es wurden breite Löcher hineingerissen. Einer von den Schlossern wurde auch wieder getroffen.
Er legte sich auf einmal um. Rollte von den Brettern herunter, auf denen er lag und stöhnte auf. Eine Kugel war ihm durch den ganzen Körper gegangen.
"Nun haben sie mich", knurrte er noch durch die Zähne, "und wie."
Die Mutter Menke wollte ihn ins Haus tragen, aber er war zu schwer. Sie wurde auch zu dem krummen Bernhard gerufen, dem eine Kugel durch den Hals gefahren war, und der laut schrie.
Sie nahm ihn bei den Beinen, und seine Frau, die herausgestürzt kam, fasste ihn am Kopf. Sie schleppten ihn ins Haus, denn er schrie immer lauter.
Die anderen duckten sich tiefer. Sie zielten nur noch durch kleine Löcher und versuchten auch dorthin zu schießen, wo das Maschinengewehr stand.
Da hörten sie aus der Nachbarstraße Rufe. Sie klangen nicht ermutigend. Es mussten Frauen sein, die schrien. Hinein tönten Kommandos. Ein Hurra von Soldaten.
War drüben die Barrikade gestürmt worden? Dem alten Brand
wurde es kalt. Er konnte aber nicht nachdenken, zielte und schoss und lugte weiter nach vorn.
Die Soldaten vor ihnen mussten das Rufen auch gehört haben. Sie sprangen hoch. Sie kamen aber nicht näher.   Sie liefen sogar zurück.
"Wir sollen umgangen werden", brummte einer der Schlosser.
"Ja, sie werden gleich von hinten kommen", knurrte ein anderer.
"Ist es da nicht besser, zurückzugehen?" fragte der Dritte.
"Vielleicht durch die Gärten", zischte der erste wieder.
"He! Und wir!" schrie der Klemptner auf. "Sollen wir allein hocken bleiben?"
"Ihr wohnt doch hier?" fragte einer der Schlosser.
"In den Häusern", antwortete der Klemptner und wies auf den Winkel.
"Da ist es das beste, ihr werft die Flinten fort und geht hinein!" rief er ihm zu.
"Ihr wollt uns also im Stich lassen!" schrie der alte Brand zornig und sprang auf.
"Nein", sagte der Älteste der Schlosser, "nur nicht wie Vieh totgeschlagen werden. Sie schlagen ja jeden nieder, den sie mit der Flinte treffen."
"Sie kommen schon wieder!" schrie da die Mutter Menke dazwischen, und zeigte nach oben.
Wirklich, sie kamen wieder. Es waren noch mehr als vorher, und sie kamen in langen Sätzen angesprungen.
"Sie werden auch gleich von hinten kommen!" rief der ältere Schlosser und ging auf die Gärten zu.
"Ihr geht also?" zischte der alte Klemptner noch einmal.
"Ja", schrie der zurück, "wir laufen nach den Zechen hinauf!"
"Sie gehen", heulte da die alte Brand auf und rang ihre Hände.
"Lass sie nur, Mutter", beruhigte der alte Brand, der schon wieder schoss. "Sie reißen ja nicht aus."
"Ihr solltet aber in die Häuser gehen!" kreischte sie weiter.
"Das solltet ihr!" rief auf die Frau des Klemptner.
Die Männer konnten sich das aber nicht mehr überlegen. Das Maschinengewehr ratterte wieder über sie hin, und schlug bis hinter die Barrikade. Sie mussten tief in ihr Gerümpel hineinkriechen und waren kaum noch zu sehen.
Der dürre Schneider war der erste der von diesem Kugelregen getroffen wurde. Er versuchte trotzdem aufzustehen, fiel aber gleich wieder zurück.
"Das Karnickelchen hat' s", klagte die Polin, die es gesehen hatte.
"Ja, ihn hat's, " flüsterte der alte Brand, der neben ihm lag und rückte ein wenig von ihm ab.
Der Schneider war noch nicht tot. Mühsam quälte er sich Worte aus dem Mund. "Ich habe auch einen getroffen", stammelte er. "Wirklich. Er ist wenigstens gefallen. Das ist er."
Er wollte noch mehr sagen, aber es ging nicht mehr.
Die Soldaten kamen unterdessen bedenklich näher. Es schossen ja nur noch fünf. Zwei von ihnen waren schon ganz nah. Den ersten schoss der alte Brand nieder. Der zweite musste sich niederwerfen, sonst wäre er in den Kugelhagel des Maschinengewehrs gelaufen.
Auch die anderen warfen sich nieder und schossen wieder gegen die Barrikade.
Den nächsten, den sie trafen, war der Pole. Die Kugel fuhr ihm in den Leib. Er sprang auf, als wollte er sich über die Barrikade stürzen, aber er lallte nur ein paar Worte und brach nieder.
Seine Frau, die aus dem Fenster sah, schrie auf, als er zusammenbrach. Dann rannte sie zurück, kam die Treppe herunter und beugte sich über ihn.
Sie konnte nur noch sehen, dass seine Augen den Glanz verloren. Eine Kugel flog ihr quer durch den Mund, und bohrte sich am Hals wieder heraus.
Sie zuckte zusammen, als wäre sie vor etwas erschrocken. Sie hielt sich aber noch auf den Beinen. Erst als eine zweite Kugel in ihre Brust fuhr, sank sie zusammen.
Sie neigte sich langsam nieder. Versuchte noch, ihre Hände
auszubreiten, aber sie plumpste wie ein schwerer Sack auf die Erde.
Auch den Klemptner schien eine Kugel getroffen zu haben. Wo er lag, stöhnte einer auf, und sein Junge stützte sich hoch und zog den schweren Körper aus den Brettern.
Er erhob sich nur zu weit und wurde selber getroffen. Er schrie auf wie ein Tier und sein Körper krümmte sich zusammen, als wäre er in der Mitte auseinander geschossen.
Der schmächtige Bennemann kroch zu ihm hinüber und zog ihn nach dem Haus.
"Er ist tot", schluchzte Mutter Menke und drückte ihm die Augen zu.
Auf den Höhen mussten sie merken, dass nur noch einer schoss. Das Maschinengewehr stellte sein Ticken ein. Die Soldaten schossen auch nicht mehr. Sie erhoben sich.
Den alten Brand beunruhigte das. Was sollte er jetzt tun? Sollte er allein weiter schießen? Das war zwecklos. Es waren zu viele. Er stand auf.
Da kamen schon die ersten Soldaten an. Sie machten lange Sätze, denn sie fürchteten, dass wieder geschossen werden könnte. Einer warf eine Handgranate.
Der Alte dachte aber nicht mehr ans Schießen. Er sah den Soldaten entgegen. Ein wenig verlegen. Ihre Gesichter sprangen ihn so feindlich an.
Der erste, der auf das Geröll trat, schoss mit seiner Pistole nach ihm. Das Geröll gab aber nach und der Schuss ging in die Luft. Der Soldat stürzte sogar nach unten. Er konnte sich nicht halten und fiel dem Alten vor die Füße.
Der ließ sein Gewehr fallen und versuchte, ihn aufzuheben. Er tat das ein wenig linkisch, wie er jedem Menschen half. Es war auch auf einmal nichts Feindliches mehr in seinem Wesen.
Warum auch. Sie wollten ja nur ihre Straßen, die Stadt, die Zechen verteidigen. Nicht gegen die Soldaten. Gegen den alten Bollert. Darum hatten sie auch die Barrikade errichtet. Nun war sie
zerschossen. Nun war wohl auch alles verloren. Gegen die Menschen, die da anstürmten, hatte er nichts.
Er konnte aber nicht zu Ende denken. Ein anderer Soldat schlug ihn mit seinem Kolben über Kopf und Rücken.
Er spürte den Schlag bis in die Füße. Ihm schwindelte. Er richtete sich aber doch wieder auf.
Auch jetzt erhob er seine Hände nicht. Er sah den Schlagenden nur sonderbar an. Beinah ein wenig mitleidig. Er musste sich aber dabei über den schmerzenden Rücken streichen und stöhnte auf.
In der Zeit waren noch mehr Soldaten gekommen. Einer stach nach dem toten Polen. Ein anderer wälzte den Klemptner frei und sah nach, ob er noch atmete. Die Nächsten stürzten sich in die Häuser.
Der alte Brand stand unterdessen etwas abseits und lehnte sich an die Hausmauer.
"Hat der geschossen?" schrie ein Offizier, der mit einer zweiten Gruppe heran kam und den Alten finster anstierte.
"Da steht seine Knarre", sagte der Soldat, der zuerst über die Barrikade gekommen war.
"Dann schlagt ihn doch tot!" rief der Offizier zurück.
"Er ist so ein alter Kerl", knurrte der Soldat und wusste nicht war er tun sollte.
"Das sind die schlimmsten!" kreischte ein anderer und kam näher. "Schlag ihn nur tot!"
Der Soldat konnte aber trotzdem nicht zuschlagen. Er ging sogar einen Schritt zurück und ließ den anderen vor.
Der schrie den Alten an. "Warum hat du geschossen?"
Der alte Brand wusste nicht, was er sagen sollte. "Wir haben alle geschossen", antwortete er dann.
"Hund!" rief der Soldat, "und da musst du mit schießen!"
Das "Hund" ärgerte den Alten. "Wir können schießen", knurrte er trotzig.
"Sie können schießen", höhnte der Soldat und grinste ihn an.
"Sie können schießen!" riefen auch einige andere, die sich um ihn herumgestellt hatten.
"Ha", sagte der Alte noch fester, "wir verteidigen unsere Zechen.
"Eure Zechen!" Die Soldaten lachten laut auf und drängten sich noch dichter um ihn. Einer hob schon seinen Kolben.
Dem Alten wurde ein wenig bänglich. Ihre Gesichter bissen sich wie Krallen in ihn hinein. Er wollte noch irgend etwas sagen. Es fiel ihm aber nichts ein.
"Das ist auch unsere Straße", sagte er nur leise, wie um sich zu entschuldigen.
"Darum sollst du auch darauf verrecken!" schrie der, der den Kolben erhoben hatte und ließ ihn niedersausen.
Der Alte wich aus, und der Kolben zerschmetterte ihm nur die Schulter. Aber die anderen holten auch aus. Einer schlug ihn über das Gesicht. Ein zweiter stach ihn in den Leib. Ein dritter schoss ihn durch den Arm.
Er versuchte sich irgendwo festzuhalten. Er fand nur keine Stütze. Was sagte der Schlosser doch? "Ich will nicht wie Vieh erschlagen werden." Daran dachte er.
Die Schlagenden wurden aber unterbrochen. Es schrie jemand auf. Stürzte sich zwischen die Soldaten. Flog auf ihn zu. Es war seine Frau.
"Ihr dürft ihn nicht erschlagen!" schrie sie. "Ihn nicht!" Und sie drängte sich an seinen fallenden Körper.
Einer fasste sie an den Schultern und riss sie weg. Ein anderer nahm sie bei dem Hals, und wollte sie zur Seite schieben.
Sie drehte sich um und biss nach ihm. Ja, dem einen fuhr sie ins Genick und krallte sich in ihm fest.
Der Soldat, schrie auf. Er drehte sich aber schnell um und nahm sie diesmal fester.
"Alte Hexe!" brüllte er. Schüttelte sie wie einen Lappen und warf sie auf das Pflaster.
Da blieb sie sitzen, als hätte sie den Verstand verloren. Ihre
Augen sahen groß und gelb aus den Höhlen. Sie waren starr auf ihren Mann gerichtet. Der sank unter den Schlägen der Soldaten immer mehr zusammen.

 

DIE STREIKER

An dem Tor der Zeche war ein Zettel angeschlagen.
"Was steht darauf?" fragte ein langer Hauer und reckte sich hoch.
"Das Pack!" schrie der erste, der den Zettel gelesen hatte, "sie wollen uns den Lohn schon wieder kürzen."
"Ho!" brüllte ein anderer, "und länger arbeiten sollen wir auch."
Der alte Bernhard schob sich durch. "Ist das wahr?" rief er und las den Zettel.
"Solche Hunde!" schrie der lange Hauer unterdessen. "Sie wollen uns aushungern."
"Ist euch schon recht", antwortete ein anderer. "Ihr fresst ihnen ja aus der Hand, auch wenn ihr euer Kreuz schon nicht mehr heben könnt."
Immer mehr kamen. Sie drängten sich um den Zettel herum. Schrien und lärmten. Einige hoben die Fäuste.
"Keiner fährt ein!" rief der alte Bernhard scharf dazwischen.
"Nein!  Keiner!" brüllte der lange Hauer ihm nach und drängte nach außen.
Vor dem Tor sammelten sie sich. Es war ein großer Haufen. Einige wurden wieder zurückgeholt und fluteten über den Hof.
Nach einer Weile kam der alte Bernhard heraus. "Wir streiken!" rief er laut. "Alle sind einig. Keiner wird hereingelassen!"
"Nein!" schrien die Männer, "wir lassen keinen herein!"
"Was wollen sie noch?" fragte einer, als der alte Bernhard wieder hineinging.
"Sie suchen den Direktor", sagte ein kleines Männchen.
"Ob sie ihn finden?" fragte der große Hauer.
"Sicher nicht", sagte das kleine Männchen. "Die Großen sind nie da, wenn sie denken, es könnte gefährlich werden."
"Den Betriebsführer haben wir aber erwischt", sagte einer, der aus der Zeche kam.
"Was sagte er denn?" fragte das Männchen.
"Wir wollten ihn erst in den Schacht stürzen."
"Ja, er sagte, es wäre wirklich eine Schande, uns so einen Lohn anzubieten. Da haben wir ihn laufen lassen."
"Das hättet ihr nicht tun sollen", rief ein alter Hilfsarbeiter dazwischen. "Sie halten alle zusammen, wenn wir ausgebeutet werden sollen, denn es hat jeder seinen Profit an uns."
Ein anderer nickte: "Wir sind für sie immer nur Vieh zum Geldverdienen. Nichts weiter."
"Was wird nun geschehen?" fragte ein junges Kerlchen.
"Wir dürfen keinen an die Pumpen lassen", knurrte der lange Hauer.
"Nein", stimmte das Männchen bei, "da geben sie zuerst nach." "Unser Pütt soll also ersaufen?" krähte ein Dicker etwas ängstlich. "He, Beyer", belferte das Männchen, "ist es dir lieber, du verhungerst?"
"Nein", antwortete der Alte. "Wo sollen wir aber arbeiten, wenn der Pütt ersoffen ist?"
"So", schrie der lange Hauer, "arbeiten wir uns alle auf den Friedhof. Ist das etwa besser? Sie werden den Pütt auch nicht ersaufen lassen."
"Nein, das werden sie nicht", zischte das Männchen. "Außerdem sind wir ja alle einig."
"Auch die Christlichen haben mit für den Streik gestimmt", rief einer aus der Mitte.
"Sie sind auch hier", sagte der lange Hauer.
"Ich bin einer", betonte ein schwarzhaariger Mann und drängte nach vorn.
"Ich auch", sagte der lange Hauer und reckte sich.
"Ha, ha!" meckerte ein dicker Schachthauer. "Heute ist also auch der liebe Gott mit auf unserer Seite." Alle lachten.
Nach einer Weile kamen die Männer vom Zechenplatz wieder. "Habt ihr ihn nicht gefunden?" rief der lange Hauer ihnen entgegen.
"Nein", antwortete der alte Bernhard. "Er ist heute noch nicht auf der Zeche gewesen."
"Was sollen wir da tun?" fragte ein anderer.
"Warten, bis er kommt", rief der alte Bernhard zurück,
"Wird er auch kommen?" jammerte der ängstliche Beyer und wandte sich an den Alten.
"Er wird schon", lachte der alte Bernhard. "Besonders, wenn er merkt, dass sein Pütt ersäuft und wir keinen hereinlassen."
Die Männer lagerten sich unterdessen nieder. Viele gingen auch nach dem nahen Ort. Einige setzten sich auf die Steinhalde.
"Der dicke Benjamin kommt!" rief einer von ihnen herunter.
"Der Betriebsführer?" fragte der alte Bernhard hinauf.
"Ja", rief der Mann wieder. "Es sind aber zwei Gendarmen mit ihm."
"Sagte ich es nicht?" knurrte der alte Hilfsarbeiter. "Die Großen halten zusammen wie Kitt und wir Schafsköpfe lassen sie immer wieder laufen, wenn sie einmal vor uns eine Verbeugung gemacht haben."
"Er war sicher auf der Polizeiwache", sagte der alte Bernhard. "Nun, er soll nur kommen!" schrie der lange Hauer und hob seine Fäuste.
Die anderen waren aber nicht so zuversichtlich. "Wir sollten uns wenigstens ein paar Stecken holen", riefen einige.
"Ja", rief der Schwarzhaarige und drehte sich nach der Zeche. Sie verschwanden durch das Tor und kamen mit einigen Latten und Hacken wieder.
Die drei kamen in großer Hast heran. Der dicke Benjamin ging ein Stück voraus. "Ich komme in friedlicher Absicht", stammelte er und jappste wie ein Hund.
"Wir kommen in friedlicher Absicht", wiederholten auch die Gendarmen und legten ihre Hände auf die Säbel.
"Ihr habt die Pumpen angehalten", jappste der Dicke weiter, und sah nach dem alten Bernhard. "Ihr habt also sicher die Maschinisten vertrieben. Das ist ungesetzlich." Er musste eine
Pause machen, um zu verschnaufen.
"Das ist ungesetzlich", wiederholten in der Zeit die Gendarmen und nahmen ihre Pistolen aus den Futteralen.
"Ihr müsst die Maschinisten wieder zu den Pumpen lassen! Ihr müsst auch mich in die Zeche lassen! Die Grube ersäuft ja!" Der Dicke schrie das den Männern ins Gesicht und kam näher.
"Zur Seite!" kommandierten die beiden Gendarmen und kamen auch mit vor.
Die Männer hatten den dicken Benjamin beim Sprechen nicht unterbrochen. Auch nun antwortete keiner. Erst als die drei näher kamen, wollten einige den Mund öffnen.
Da trat der alte Bernhard vor. "Es kommt niemand in die Zeche!" knurrte er und sah dem Dicken ins Gesicht.
"Niemand!" riefen auch die Männer, die sich erhoben hatten und von allen Seiten näher kamen und die drei umringten.
"Das ist Ungehorsam gegen den Staat!" schrie einer der Gendarmen und versuchte, seine Pistole zu erheben.
Man nahm sie ihm aber aus der Hand. Auch dem anderen.
"Hier kommt keiner hinein!" sagte der alte Bernhard noch schärfer.
"Was wollt ihr dann?" fragte der Dicke ängstlich, der sich seines Schutzes beraubt sah.
"Der Direktor soll kommen!" sagte der alte Bernhard.
"Der Direktor soll kommen!" schrien auch die anderen.
"Er soll den Schandzettel hier herunternehmen! Er soll uns einen anständigen Lohn zahlen! Wir wollen nicht verhungern!" Alle riefen durcheinander.
"Sag ihm das!" brüllte der lange Hauer und trat vor. "Sag ihm das! Sonst ersäuft sein Pütt weiter!"
Die drei liefen zurück. Sie liefen sogar schneller, als sie herangekommen waren.
"Was werden wir jetzt tun?" fragten einige.
"Sie werden den Pütt nicht ersaufen lassen", sagte ein älterer Hauer.
"Nein", stimmte der alte Bernhard zu. "Der Direktor wird nun schon kommen."
Die Männer lagerten sich wieder. Gegen neun kamen ein paar Frauen. Auch Kinder. Manche brachten Kaffee.
"Ihr streikt?" fragte Mutter Bernhard und drängte sich an ihren Mann.
"Wir streiken, Mutter", nickte der Alte.
"Die von der Nachmittagsschicht wissen es auch schon", sprach die Frau weiter.
"Ich habe ein paar Männer hineingeschickt", antwortete der Alte.
"Sogar die Kinder bringen es in die Häuser", sagte eine andere Frau und lächelte. "Gegen 11 wollen sie sich auf dem Markt treffen."
Bis gegen 10 Uhr ließ sich niemand sehen. Gleich nach 10 Uhr kamen aber die Gendarmen wieder. Es war noch ein dritter mit ihnen.
Die beiden ersten blieben ungefähr 50 Schritt vor dem Tor stehen. Der andere, ein älterer Polizeiwachtmeister, kam heran.
Er fragte gleich nach dem alten Bernhard. "Ihr wollt also das Tor nicht frei geben?" schrie er ihm zu.
"Nein!" antwortete der alte Bernhard, der noch neben seiner Frau stand.
"Wollt ihr dasselbe, Leute?" schrie er weiter und wandte sich an die Männer.
"Ja!" riefen die meisten und gingen einige Schritte auf den Wachtmeister zu.
"Ihr solltet euch das erst überlegen", höhnte der Wachtmeister scharf.
"Was sollen wir überlegen?" riefen die Männer durcheinander. "Der Direktor soll kommen. Weiter wollen wir nichts."
"Der kommt aber nicht, bevor die Pumpen laufen", antwortete der Wachtmeister.
"Die Pumpen laufen aber nicht, bis er uns einen anständigen
Lohn verspricht", rief einer der Männer zurück.
"Dann wollt ihr also, dass wir Gewalt anwenden?" drohte der Wachtmeister etwas lauter.
"Das wollt ihr?" fragte der alte Bernhard.
"Wir wollen nur das Recht wieder einsetzen", antwortete der Wachtmeister.
"Was für ein Recht?" brüllte ein alter Mann. "Dass wir verhungern und der Direktor im Gelde ersäuft? Du solltest dich schämen, so ein Recht einsetzen zu wollen!"
"Ja, das solltest du!" riefen auch einige andere.
"Ich habe dich doch gekannt", sagte ein bärtiger Maurer und trat näher an den Wachtmeister heran. "Wir sind zusammen zur Schule gegangen."
"Und jetzt will er gegen dich Gewalt anwenden", zischte das Männchen.
"Sicher auf dich schießen lassen", höhnte ein anderer.
Der Wachtmeister wich unter den Zurufen zurück. Sie waren ihm auch nicht angenehm.
"Ihr wollt das Tor also nicht freigeben?" fragte er noch einmal.
"Nein! Wir wollen nicht!" schrien sie jetzt alle zurück.
Die drei gingen diesmal nicht weit zurück. Sie liefen bis zur nächsten Wegbiegung und begannen zu winken.
"Da scheinen noch mehr zu kommen", sagte der lange Hauer.
"Sie wollen doch mit Gewalt vorgehen", rief das Männchen.
"Da werden sie also schießen?" fragte ein Ängstlicher.
"Wir werden wieder schießen!" schrie einer der Jungen, der eine Pistole der Gendarmen hatte.
"Wir sollten uns nur ein paar Hacken holen", warnte der lange Hauer.
"Und Latten!" rief ein anderer.
Der größte Teil der Männer verteilte sich schnell über den Zechenplatz.
Unten auf der Straße tauchte plötzlich ein Trupp Polizisten auf.
Verschiedene bogen rechts ab und legten sich in einen kleinen Krautgarten. Andere stiegen links auf die hohe Schutthalde. Auf einmal schossen sie von dieser Halde.
Der Schuss trieb die Männer vom Zechenhof wieder vor das Tor.
"Sie schießen schon!" rief eine Frau.
"Wir haben auch Flinten!" johlte der lange Hauer.
"Vier Stück!" sagte ein Zweiter. "Es sind aber nur Schrotflinten."
"Ihr habt sie aus dem Wächterhaus?" fragte der alte Bernhard.
"Ja", sagte der lange Hauer, "es waren auch noch zwei Pistolen darin."
Wieder schossen sie von der Halde. Die Schüsse sollten aber nur Schreckschüsse sein. Der Wachtmeister tauchte auch kurz nach ihnen wieder auf.
"Ihr seid umstellt!" rief er. "Wollt ihr das Tor immer noch nicht freigeben?"
"Wir sind wirklich wie verkauft", stöhnte der alte Beyer. "Feigling!" schrie der lange Hauer.
"Feigling!" schrie auch die Frau, die noch immer neben den Männern stand.
"Schießt nur!" schrie sie weiter und trat ein wenig vor die Männer, dass sie der Wachtmeister sah. "Schießt nur. Schießt uns ruhig auch tot. Das ist besser als zu verhungern!"
Der nächste Schuss bohrte sich durch das Blech des Tores und riss ein großes Loch hinein.
"Hinter die Mauer!" rief der lange Hauer und sie ließen zuerst die Frauen hinein. Die Männer folgten aber gleich nach.
Hinter der Mauer stellten sie sich auf. Besonders die mit den Flinten suchten sich einen guten Platz.
"Wir sollten lieber nicht schießen", jammerte da der alte Beyer und hob seine Hände.
"Das sollten wir auch nicht", sagte ein anderer und drängte sich zu ihm.
"Was sollen wir denn?" fragte der alte Bernhard.
"Ja, was sollen wir?" fragte auch die Frau und stellte sich vor sie. "Ist es besser zu verhungern, als totgeschossen zu werden?"
"Sie sind Lumpen!" schrie der lange Hauer und ging auf sie zu.
"Nein", sagte ein hüstelnder Schachthauer. "Sie sind halbe Bauern. Sie haben Feld und Vieh und wissen noch nicht wie der Hunger ist."
"Darum gönnen sie ihn uns auch", zischte die Frau. "Seht nur die Fetthälse!" rief sie lauter.
"Und die Bäuche", lachte einer.
"Ja, uns stehlen sie die Arbeit", knurrte das Männchen, "und dann fallen sie uns noch in den Rücken."
"Lasst sie hinaus", sagte der alte Bernhard und mischte sich dazwischen.
"Das Tor auf!" schrie ein Jüngerer.
Sie liefen eilig hinaus.
Auf der Steinhalde waren die Schutzleute unterdessen vorgerückt. Auch aus den Gärten kamen sie langsam näher.
"Wir können wohl schießen", rief ein Hauer, der über die Mauer sah.
"Nur langsam", warnte ein Alter. "Wir haben nicht viel zu verpulvern."
Jetzt begann ein wildes Schießen. Die Männer duckten sich immer wieder, wenn sie geschossen hatten. Trotzdem brach einer von den Jungen zusammen.
"Es hat ihm die Stirn zerschlagen", sagte das Männchen, das sich über ihn beugte. "Es fehlt ihm der halbe Hinterkopf."
Auch die Männer schossen nicht schlecht. Besonders ihre Schrotschüsse schienen gut zu treffen. Oft schrie auf der Halde einer auf.
Als die Polizisten bis auf dreißig Meter herangekommen waren, mussten sie sogar wieder zurückgehen. Sie verschanzten sich hinter Steinen und schossen nur noch auf das Tor.
"Sie wollen stürmen", sagte der lange Hauer. "Darum schießen sie das Tor entzwei."
"Dann sind wir verloren", klagte ein Alter und nickte mit dem Kopf.
"Sie sind doch noch nicht da", widersprach ihm ein anderer. "Und was macht das?" rief die Frau. "Sie können uns nur totschlagen."
Das Tor riss in der Zeit noch mehr auseinander. Ein besonders Vorwitziger sprang auf und warf eine Handgranate dagegen. Da brach es ganz ein.
Auf der Halde schien man sich über diesen Erfolg zu freuen. Man stellte das Schießen sogar für einen Augenblick ein.
"Wollt ihr die Zeche jetzt freigeben?" schrie einer herüber.
Die Männer wussten nicht, was sie darauf antworten sollten. Die meisten hatte das Schießen noch nicht entmutigt. Einige machten Gesichter, als wären sie durch den Kampf noch wütender geworden.
Oben wurde man durch das Warten verstimmt. Das Feuer setzte wieder ein. Auch das Handgranatenwerfen.
"Gleich werden sie stürmen!" rief da ein Junge, der auf einen Kühlturm gestiegen war.
"Wir müssen ihnen entgegen laufen", forderte einer der Männer und ging auf die Toröffnung zu.
"Ja, wenn sie stürmen, können sie nicht mehr schießen", sagte ein anderer.
"Und mit unseren Hacken können wir ihnen gut zu Leibe", flüsterte ein dritter.
Der erste versuchte die Männer auch ein wenig zu verteilen. "Die mit den Gewehren bleiben oben!" rief er dem alten Bernhard zu.
"Sie kommen!" schrie der Junge und ließ sich aus seinem Versteck plumpsen.
Oben auf der Halde wurden auch Köpfe sichtbar. Ganze Körper, Die Polizisten schnellten auf und kamen in großen Sätzen angesprungen. Auch aus den Gärten brachen sie zu gleicher Zeit hervor.
Die Bergleute quollen ihnen aus der Torfahrt entgegen. Als sie
das sahen, warfen sie im Laufen mit Handgranaten.
Die erste explodierte zu weit. Sie verletzte aber doch zwei der Männer. Die nächste riss vier auseinander und einige brachen danach noch zusammen.
Die Männer erschreckte die Explosion. Sie liefen nicht weiter nach vorn. Sie versuchten sogar zurückzuweichen.
Die anderen kamen durch sie ins Wanken.
"Vorgehen!" schrien die hinteren. "Drauf!" Sie versuchten die Wankenden zu ermutigen.
Die ersten konnten trotzdem nicht vorstürzen. Ein baumlanger Mensch, der vorwärts rannte, brach noch zusammen.
Hatten sie Angst? Sie wussten es nicht. Die Toten hatten sie gelähmt. Als nun die Polizisten auf sie einschlugen, wehrten sie sich kaum.
"Schlagt doch!" schrie die Frau, die mit in der vordersten Reihe stand.
"Schlagt!", schrie auch das Männchen und erhob seine Hacke. Die meisten ließen sich aber weiter niederschlagen.
Da tönten plötzlich von der Halde laute Rufe. Schüsse wurden gewechselt. Menschen trampelten. Stürmten. Eilten heran.
"Die Unseren!" schrie ein Junge und jubelte auf.
"Die Unseren!" schrien auch die Männer und schienen wie erwacht.
Jetzt hörte man schon bekannte Stimmen. Schreie. Kommandos klangen dazwischen. Wütend. Bellend. Aber sie verhallten wieder.
"Sogar die Frauen sind dabei!" rief der Junge, der die ersten über die Halden kommen sah.
Die Polizisten wurden durch das Schreien verwirrt. Einige drehten um. Andere rannten schon zurück.
Auch in die Männer kam nun Bewegung.
"Sie fliehen!" riefen die anderen.
Sie sprangen plötzlich hinter den Polizisten her. Einige jauchzten auf. Manche bekamen wilde Gesichter. Viele brüllten wie die Tiere. "Was ist das?" fragte die Frau des alten Bernhard und sah ihren
Mann entsetzt an.
"Revolution!" schrie der lange Hauer, der mit seiner Hacke an ihnen vorüberrannte. "Revolution!"