Bela Illes - Die Generalprobe (1929)
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I.

Der Rote Soldat Peter Kovacs wurde nach fünfwöchiger Behandlung als gesund aus dem Karolyi-Krankenhaus entlassen. Es war einige Minuten nach 12 Uhr mittags, als er die Tür des Krankenhauses hinter sich zumachte. Er nahm seine Mütze ab, um sich den leichten Wind von der Donau her voll ins Gesicht wehen zu lassen, das trotz der überstandenen Krankheit rot und gesund aussah. Mit der linken Hand strich er sich über sein dunkelblondes Haar und — ohne besonderen Grund — lachte er, zwei Reihen großer weißer Zähne zeigend. Als er sich langsam zur Kaserne begab, betrachtete er verwundert mit den nussbraunen weitgeöffneten Augen die Stadt. Er fühlte sich sehr wohl in diesem Augenblick: er war jung, kräftig und gesund. Drei Stunden später stand er um Haaresbreite dem Tode nahe. Dass ich nichts verwirre: Peter wurde am vierundzwanzigsten Juni, dem vierten Monat der proletarischen Revolution in Ungarn, aus dem Krankenhaus entlassen.
Frühmorgens wusch ein scharfer Regen durch die ganze Stadt. Die Sonne trocknete bereits die Spuren des Regens, der Staub flog noch in dünnen Strichen unter den Rädern der fahrenden Wagen. Von der Donau her brachte der Wind frische Luft. Peter sah dem Wind entgegen, nahm ihn vergnügt auf, lachte ihm zu, spielte mit ihm. Als er aber auf den Arpadweg kam, ließ seine gute Laune nach, er konnte die Stadt, die er seit dem 1. Mai jetzt zum ersten Mal wieder sah, gar nicht wieder erkennen, und wenn er sich noch so
sehr umsah. Ja, die Häuser sitzen alle an ihrem alten Platz, auch die Straßenbahnen laufen auf den alten Schienen, aber die Menschen... Es ist doch sonderbar, dass alle Leute so essigsaure Gesichter haben, als ob sie alle aus der Nase bluteten. Die Straßenbahnen sind überfüllt — die Menschen hängen in Trauben an den Stufen. Darum kommen sie auch so langsam vorwärts. Aus den Häusern, wenn auch nicht überall, hängen noch die Maiflaggen, aber der Regen wusch, die Sonne sog die blutrote Farbe aus. Die ganze Stadt war müde und schlechter Laune.
Ins Eingangstor gelehnt rauchten zwei Rote Soldaten friedlich ihre Pfeifen.
— Wohin, wohin? — fragt der eine, der alte Liptak.
— Ich will mich in der Bataillonskanzlei melden. Ich bin heute aus dem Krankenhaus entlassen worden.
— Geheilt? — Ja.
— Na, dann mach einen schönen Spaziergang.
Peter sah den Mann mit dem graumelierten Schnurrbart verwundert an; die Mütze burschenhaft zurückgeschoben, lehnte er mit dem Rücken an dem Tor und biss seine Zähne in die Kirschholzpfeife.
— Mach keine faulen Witze, Genosse Liptak.
— Na, wieso denn?
— Meinetwegen kannst du auch hineingehen, nur wirst du keinen finden. Der Oberleutnant hat alle Mann mitgenommen. Nur uns hat er hier zurückgelassen, wir sollen acht geben — dass die Mauer nicht einstürzt.
— Der Genosse Bataillonskommandant ist mit dem ganzen Bataillon zur Kriegsübung ausgerückt — erklärte der andere Soldat. — Sie kommen erst morgen vormittag zurück. Bis dahin bleibt auch das Bureau geschlossen — nur wir zwei Marode sind zurückgeblieben.
— Was, zum Teufel soll ich bis morgen früh anfangen?
Peter war nicht hungrig, aber um irgendwie die Zeit totzuschlagen, ging er in ein Restaurant und aß zwei Teller Kürbisgemüse. Während des Essens fiel ihm ein, das Vernünftigste wäre, zu Pojtek aufs Rathaus zu gehen.
Vor dem Rathaus ging es lebhaft zu. Eine Menge Leute kamen durchs Tor heraus, andere wollten hinein. Auf dem Balkon flatterte eine tiefrote Fahne. Ein bewaffneter Roter Wachmann ging vor dem Haus auf und ab. Peter blieb eine Weile stehen — betrachtete das bewegte Leben und Treiben und freute sich daran. Von irgendwo aus der Richtung der Donau her, nicht weit entfernt, hörte man Kanonendonner.
— Sie haben eine neue Art von Kanonen erfunden, mit denen werden jetzt Versuche gemacht — sagte ein hagerer bebrillter Mann, der auf die Straßenbahn wartete, zu den Umstehenden.
Peter ging in den ersten Stock hinauf, dort wusste er plötzlich nicht, wo er Pojteks Zimmer suchen sollte. Aber bevor er sich noch erkundigen konnte, kam gerade aus dem zweiten Stock der Genosse Pojtek die Treppe herunter. Er lief direkt auf Peter zu und er wäre an ihm vorbeigerannt, wenn Peter sich nicht vor ihn hingestellt hätte.
— Genosse Pojtek...
Pojtek ließ sich nicht aufhalten.
— Du bist es? — fragte er verwirrt und rannte auch schon weiter. Peter ging ihm nach — so aufgeregt hatte er Pojtek noch nie gesehen. Ohne ein Wort zu sagen, ohne zu grüßen, eilte er durch ein großes, dunkles Vorzimmer und trat ohne anzuklopfen in ein anderes Zimmer. Peter überall hinter ihm her, ohne zu wissen, wo es hinging, bis sie beim Vorsitzenden des Vollzugs-
rats waren. Peter gegenüber saß in einem breiten Lederstuhl der Vorsitzende, neben ihm stand, die Telefonmuschel am Ohr, Potyondi — wie immer im blauen Arbeitskittel. Pojtek sagte etwas zu dem grauhaarigen Vorsitzenden — in einem Ton, wie wenn er ein Regiment kommandierte — , doch konnte man nur schwer verstehen, was er sagte, denn gleichzeitig schrie Potyondi ins Telefon. Noch vier — fünf Menschen waren im Zimmer, die sich gleichfalls laut unterhielten. Peter wollte schon wieder hinaus. Aber Pojtek rief ihm zu:
— Warte! Du weißt nicht, wohin du gehen musst und willst fortrennen. Geh schnell zur Kaserne hinunter und sieh nach, ob es wirklich wahr ist... ob es wahr ist, dass die Kaserne leer ist?
— Ja, es ist wahr. Ich komme gerade von dort. Das ganze Bataillon ist zur Übung ausgerückt.
— ... zum Teufel noch mal!
Potyondi warf die Hörmuschel auf den Tisch.
— Die Zentrale lässt die nationalen Sozialdemokraten hochleben! Sie verbindet nicht!
Ein blonder großer, breitschultriger Arbeiter — der Präsident des Revolutionstribunals — sagte in ruhigem Ton:
— Sozialdemokratische Gegenrevolution.
— Aber, Genosse! — sagte der grauhaarige Vorsitzende vorwurfsvoll.
— Wir müssen den Fabrikbataillonen das Signal geben — fuhr er ruhig fort.
— Verstehst du denn nicht? — schlug Pojtek mit der Faust auf den Tisch — , laut Vereinbarung sollte das Signal zur Versammlung die Sirene der Mautnerschen Fabrik geben, und im Hofe der Fabrik sollten sich dann alle sammeln. Aber gerade die Fabrik Mautner ist in den Händen der Gegenrevolutionäre...
— Hast du nicht gesagt, sie beschießen die Stadt mit Monitoren...
— Ja, das ist richtig. Die Monitore beschießen die Stadt, aber die Mautnersche Fabrik ist auch in ihren Händen. Bei Mautner befindet sich der Feuerwehrschuppen, dort befanden sich auch eine Menge Gewehre, mit einem Wort, das ist die größere Gefahr.
— Hm.
— Unsere Pflicht, Genossen, ist jetzt — sagte ein kleiner, hässlicher, schiefmäuliger Mann mit fahlem Gesicht, der Parteisekretär Fellner — , unsere Pflicht ist jetzt, das Rathaus zu schützen. Wir müssen die Tore schließen...
— Ochse! — rief ihm Potyondi zu.
— Wir müssen Zeit gewinnen, Genossen — sagte Pojtek. — Ich gehe in die Fabrik Mautner hinunter, um zu verhindern, dass sie zum Angriff übergehen, bevor wir uns gesammelt haben. Wir müssen die Arbeiter eiligst zusammenberufen. In der Kaserne sind bestimmt noch Gewehre.
Potyondi nickte zustimmend mit dem Kopf.
— Du kommst mit mir — sagte Pojtek zu Peter gewandt und rannte vor, ohne eine Antwort von ihm zu erwarten. Peter konnte ihn erst beim Ausgangstor erreichen.
Peter war kaum ein paar Minuten im Rathaus gewesen, aber während dieser kurzen Zeit hatte sich das Straßenbild vollständig verändert. Die Umgebung des Rathauses war leer — der erste Schutzmann stand mitten auf dem Fahrweg und beobachtete, zum Himmel hinaufstarrend, die aufsteigenden Schrapnellwolken. Ein Straßenbahnwagen blieb gerade vor dem Rathaus stehen — die Fahrenden zerstreuten sich eiligst. Von der Pester Seite kam ein Auto mit roter Fahne angesaust, es blieb nicht vor dem Rathaus stehen, sondern fuhr weiter in der Richtung zur Kaserne hin.
Weiter — näher zum Vaczerweg — sah die Straße wieder anders aus: das Trottoir gedrängt von Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder, aber auch viele Männer darunter, Arbeiter, die nach dem Mittagessen in die Betriebe zurückwollten. Sie warteten auf irgend etwas, sie wussten selbst nicht worauf. Es musste etwas geschehen sein, das fühlte jeder, aber keiner wusste, was. Ganz in der Nähe aber, wo sich dieses „Etwas" befand, war der Vaczerweg leer. Auf den langen, breiten, nach Pest zu laufenden Fabrikstraßen: standen die hochragenden roten Schornsteine Wache, nur vereinzelt sah man Menschen im weiten Umkreis. Ein Straßenbahnwagen raste Pest zu, ein Lastauto keuchte mit ihm um die Wette.
Die Mautnersche Lederfabrik, mit der Rückseite zur Donau, zeigt zum Vaezerweg hin eine hohe eiserne Wand, ein riesiges eisernes Tor. Der Weg wird hier ganz schmal. Das gegenüberliegende einstöckige Haus ist kaum einige Meter vom eisernen Tor entfernt. Die Dachrinne des Hauses liegt kaum einen Meter höher als die eisernen Spieße, die aus der Fabrikmauer herausragen. Das Fabriktor steht offen, auf dem dahinterstehenden Pförtnerhaus ist eine rotweißgrüne Fahne gehisst.
— Wohin? — halten zwei bewaffnete Feuerwehrmänner vor dem Fabrikeingang Pojtek an.
— In die Fabrik.
Der eine Feuerwehrmann verzieht den Mund, der andere zuckt bloß mit der Achsel. Das eiserne Tor wird hinter Peter und Pojtek zugeschlagen.
Im Fabrikhof, den Rücken dem Tor zu, stehen in langer Reihe die bewaffneten Feuerwehrmänner. Gegenüber — in etwas kürzerer Reihe, bewaffnete Arbeiter. Zwischen den zwei Reihen steht der Feuerwehrkommandant, neben ihm drei, vier Soldaten. Sie haben keine Sterne, keine Achselzeichen — nur eine Kokarde in den Nationalfarben auf der linken Brust — , doch man erkennt sofort: es sind Offiziere. Der eine spricht zu den Arbeitern.
— ... die nationale Sozialdemokratie... Freiheit... die wahren Führer der Arbeiterschaft... die Entente schickt Lebensmittel, schickt Kleider... die nationale Sozialdemokratie...
Zunächst bemerkt man Pojtek nicht. Er steht regungslos da. Die zwei Feuerwehrmänner stehen starr hinter ihm und bewegen sich auch dann noch nicht, als Pojtek langsam vorwärts geht in der Richtung, wo die Offiziere stehen. Der Offizier hält einen Augenblick inne — dieser Augenblick genügt — , und plötzlich ertönt Pojteks Stimme:
— Genossen! Der revolutionäre Vollzugsrat!... Weiter kommt er nicht. Plötzlich springen vier, fünf
Leute auf ihn zu. Peter reißt einen Angreifer — einen festen Kerl — von ihm weg, da fassen ihn schon sechs eiserne Fäuste — einer stellt ihm ein Bein — sie schlagen mit dem Gewehrkolben zu — , noch einen Schlag von hinten auf die linke Schulter, und nun liegt auch er da auf dem Boden neben Pojtek. Das Blut strömt durch Pojteks Mund und Nase. Sein kurz geschnittenes, borstiges schwarzes Haar und die ergrauenden Schläfen sind voller Blut.
Die Reihen der Soldaten lösen sich auf, alles drängt sich in wildem Durcheinander um die Raufenden herum.
— Zurück! Jeder an seinen Platz! Achtung, stillgestanden !
In der Mitte lagen Pojtek und Peter, und nur die beiden, die sie niedergeschlagen hatten, standen noch bei ihnen.
— Aufstehen! — schrie ein großer breitschultriger Husarenoffizier mit sonnenverbranntem Gesicht und zeigte mit dem Stock auf Pojtek.
Da sich Pojtek und Peter nicht rührten, griffen je zwei Feuerwehrmänner unter ihre Arme und hielten
sie aufrecht.
— Was hattet ihr hier zu suchen? — brüllte der
Husarenoffizier sie an.
Peter schwieg — betäubt wischt sich Pojtek mit dem Rockärmel das Blut vom Mund ab. Mit dem Blut speit er zwei seiner Zähne aus.
— Warum seid ihr hierher gekommen? Was habt ihr hier zu suchen? — wiederholte der Offizier.
Pojtek blickte auf die bewaffneten Arbeiter, er strengte sich an, möglichst laut zu sprechen.
— Genossen! Der...
— Stopft ihm das Maul!
Die Offiziere berieten eine Weile leise unter sich. Der Husarenoffizier schlug mit dem Stock um sich her, ein anderer Offizier schüttelte zweifelnd den Kopf. Aus der Reihe der bewaffneten Arbeiter tritt ein Mann heraus und lehnt sein Gewehr an die Wand. Der Feuerwehrkommandant springt auf ihn zu und packt ihn an der Schulter und schüttelt ihn.
An die Wand mit ihnen! — brüllt der Husarenoffizier den Feuerwehrleuten, die Pojtek und Peter halten, zu.
Peter und Pojtek stehen vor der eisernen Wand, ihnen gegenüber die sechs bewaffneten Feuerwehrleute. Peter senkt den Kopf, Pojtek blickt dem Husarenoffizier, der hinter den Feuerwehrleuten steht, fest ins Auge. — Plötzlich ertönt scharf und schrill irgendwo in der Nähe eine Fabriksirene. Pojteks blutiger Mund verzieht sich zu einem leisen Lächeln. Er blickt auf die in militärischer Reihe aufgestellten Arbeiter hin — plötzlich wendet sich auch der Husarenoffizier dorthin — , ein Arbeiter nach dem anderen wirft das Gewehr zu Boden.
— Man hat uns betrogen! — sagt der erste, der aus der Reihe trat.
Die Feuerwehrleute umzingeln schnell die Arbeitergruppe und führen sie in den hinteren nach der Donau liegenden Teil des Hofs. Vorn bleiben kaum fünfzig Bewaffnete zurück. Die Offiziere scharen sich wieder zusammen und beraten, um die Gefangenen kümmert sich niemand. Jetzt heult die Sirene gleichzeitig an mehreren Stellen den Arbeitern zu, die Waffen zu ergreifen.
— Die Schlacht ist gewonnen — flüstert Pojtek Peter zu.
Eine Weile vergeht, ohne dass etwas geschieht. Alles wartet, alle wissen, dass etwas geschehen muss, aber niemand wagt, das erste Wort auszusprechen. Nur die Sirenen heulen in die Stille.
Vom Dach des gegenüberliegenden einstöckigen Hauses knattert ein Maschinengewehr auf. Die ersten Kugeln prallen an der eisernen Wand ab — die folgenden wühlen den Staub inmitten des Fabrikhofs auf. Auch die Feuerwehrleute haben ein Maschinengewehr. Pojtek und Peter werfen sich platt auf den Boden. Über ihnen tobt das Feuergefecht.
Das Maschinengewehr, das die Fabrik beschießt, steht hinter dem Aufgang des einstöckigen Hauses — der bedienende Soldat ruft von Zeit zu Zeit etwas in die Fabrik hinunter. Pojtek erkennt Goldmanns kreischende Stimme.
— Wer gegen uns kämpft...
Die Roten versuchen die eiserne Mauer auf einer Leiter zu erklettern. Ein Roter Soldat kommt bis zu den eisernen Spießen — das Maschinengewehr der Feuerwehrleute bestreicht ihn: und hinterlässt ein paar rote Punkte auf seiner Brust. Er fällt neben Peter hin, mit dem Gesicht nach oben. Seine Augen bleiben offen. Peter erkennt in ihm den Soldaten mit dem grauen Schnurrbart, mit dem er vor einigen Stunden vor der Kaserne gesprochen hatte.
— Der alte Liptak — sagte Pojtek.
— Wer gegen uns kämpft... — schreit Goldmann. Ringsherum heulen unaufhörlich die Fabriksirenen.
Im vorderen Teil des Hofs befinden sich nur noch dreißig Bewaffnete, die anderen haben sich nach dem hinteren Teil des Hofs zurückgezogen. Die Feuerwehrleute liegen hinter einem großen Holzhaufen. Der Feuerwehrkommandant ist verschwunden. Um sechs Uhr abends wird notgedrungen das Tor geöffnet. Bewaffnete Arbeiterschaft besetzt die Fabrik.
Potyondi brachte Pojtek und Peter mit einem Auto auf das Rathaus. Unterwegs hielten bewaffnete Arbeiter mehrere Male das Auto an. Auf dem Platz vor dem Rathaus hielten Arbeiterfrauen, mit kleinen Kavalleriegewehren über der Schulter, Wache. Mitten auf dem Platz kochten sie auf offenem Feuer in riesigen Kesseln Suppe und Fleisch für die kämpfenden Soldaten.
Das Zimmer des Vollzugsrats war leer, nur Fellner war dageblieben. Wie ein geprügeltes Kind saß er da in einem riesigen Lehnstuhl. Sein Gesicht war blassgrün
vor Angst.
— Ums Himmels Willen — fragte er zitternd — , hat
es Verwundete gegeben?
Peter ging mit dem die Anklage führenden Kommissar ins Rathaus, hinauf in Pojteks Zimmer. Es ist acht Uhr morgens, die Zeit des Arbeitsbeginns.
— Gleich wird Szamuely hier sein — sagte Pojtek.| Lass uns hinuntergehen, wir können dann mit ihm zusammen zu Mautner fahren.
Als Peter und Pojtek zum Eingangstor des Rathauses hinunterkamen, war Szamuelys Auto schon im Anfahren. Vorne ein Maschinengewehr, dahinter in Lederjacke und Ledermütze Szamuely selbst.
— Fahren Sie mit — Genossen! Nach der Fabrik Mautner — sagte er zum Chauffeur. — Na? — wandte er sich zu Pojtek.
— Ja, wenn uns die Sozialdemokraten verraten — wandte sich nach einer Weile Pojtek zu ihm hin — , wenn unsere Verbündeten uns in den Rücken fallen...
Ich habe Angst, es auszusprechen, Genosse Szamuely, aber wenn ich es auch nicht ausspreche, die Tatsache besteht doch: es wühlt einem immer im Kopf herum, dass all die ungeheueren Anstrengungen, das viele Blut, alles, alles vergebens ist... Bei soviel Feinden...
Szamuely sah Pojtek an, und es schien, wie wenn der ganze Mensch aus zwei ernsten, prüfenden Augen bestünde.
— Ja — sagte er leise — , wir haben maßlos viel Feinde. Eines der Resultate unserer Revolution ist, dass wir heute noch mehr Feinde haben als vor einigen Monaten. Heute marschieren auch die französischen Soldaten gegen uns auf, die abgeschickt wurden, um Moskau zu erobern. Denken wir doch nicht nationalistisch, Genossen, es ist ein großes, ein wichtiges Resultat, dass wir den Kampf der russischen Genossen erleichtert haben. Ja — sagte er plötzlich mit einer ganz anderen Stimme, was sagt der Militärkommandant? Weshalb war er während der Kämpfe nicht da?
Pojtek und Peter sahen sich an.
— Den Militärkommandanten haben wir ganz vergessen — sagte Pojtek leise.
— Schön.
Von der Fabrik aus riefen sie in der Kaserne an. Der Militärkommandant — Somogyi — war von der Nachtübung nicht zurückgekehrt. Niemand wusste, wohin er verschwunden war.
Szamuely warf die Telefonmuschel hin.
— Den Schuft lasse ich aufhängen!
Auf den Schultern der Arbeiter Gewehre. In dem offenen Tor ein Maschinengewehr. Auf dem hinteren Teil des Hofs blickt ein Kanonenrohr nach der Donau.
— Na, Genosse, wie konnte das passieren — sagte Szamuely zu einem alten Arbeiter.
— Mit leerem Magen kann man sich schon einmal irren — lautete die Antwort.
— Die russischen Arbeiter haben nicht halb soviel zu essen wie wir und kämpfen doch an hundert Fronten.
— Entschuldigen Sie, Genosse Szamuely, dass ich Sie unterbreche — sagte Pojtek — , die Arbeiter sind versammelt, sie warten auf uns.
Szamuely stieg auf einen Holzhaufen mitten im Hof. Stürmische Hochrufe. Pojtek eröffnete die Versammlung, dann hat Szamuely das Wort. Er spricht heiser und müde. Die Arbeiter hören ihn ruhig, ohne Zwischenrufe, an.
— Das russische Beispiel... die rücksichtslose Diktatur... die Vernichtung des Feindes... Denn es gibt keine andere Macht als die Macht der Arbeitenden, und wer gegen die Macht der Arbeitenden zum Gewehr greift, der wird durch das Gewehr getötet.
Seine Stimme wird während des Sprechens immer klarer, immer schärfer. Sein vorwärts geschleuderter Arm wirft einen langen Schatten auf die weiße Mauer.
»¦
Pojtek lebt mit Frau und zwei Kindern in einem kleinen Zimmer genau so wie während des Krieges.
— Warum verschaffst du dir keine anständige Wohnung? — bedrängt ihn die Frau. — Die anderen...
— Das eilt nicht — antwortete Pojtek energisch.
In einer Tonschüssel steht Kürbisgemüse auf dem Tisch.
— Nimm, Genosse — sagt Pojtek zu Peter gewandt. — Jeder bekommt ein Stück Brot, die Kinder ein großes Stück, die Großen ein kleineres.
— Die Füße der Kinder hängen aus den Schuhen heraus. Lajcsis Hosen sind am Hintern so oft geflickt, dass kein Fleckchen mehr Platz hat. Wo ich's nähe, reißt's daneben aus.
— Es ist Sommer, wir erfrieren nicht.
— Sagen Sie, Genosse Kovacs, ist es nicht ein Verbrechen, die Kinder hungern zu lassen? Alles gehört uns und die Kin...
— Unsinn, wer hungert denn? In sechs Wochen ist dein Geburtstag, dann essen wir Fleisch.
Die Frau lächelt. Ihr strenges hungriges Gesicht wird freundlich. Für einen Augenblick sah sie der kleinen Schneiderin ähnlich, die Pojtek vor sieben Jahren auf der Mückeninsel kennen gelernt hat, und sie sah auch jener Frau ähnlich, die im Januar dem Redner, der bremsen wollte, Schneeballen ins Gesicht geworfen hatte. Aber ihr Lächeln wird bald wieder bitter, und nach einer Weile sagt sie fast weinend:
— Wer wird diese sechs Wochen erleben?
— Im Krieg wurde auf uns geschossen, und doch sind wir am Leben. Es ist ebenso möglich, dass ich von morgen an — trotzdem ich Metallarbeiter bin — Bauer werde — , sagte Peter und gab dem Gespräch plötzlich eine andere Wendung.
— Bauer, sagte weinerlich der kleine Lajcsi.
— Dann können Sie wenigstens dafür sorgen, dass wir auch manchmal einen menschenwürdigen Bissen bekommen — sagte leise Frau Pojtek.
— Genug! Weib! Ich höre nur klagen, wenn ich zu Hause bin.
Pojtek schlug mit der Faust auf den Tisch. Klappernd tanzten die Teller.
Auf dem Karolyischen Gut in Kaposztasmegyer begann die Ernte. Peter lebt, arbeitet dort unter den Landarbeitern. Stellt sich in die Reihe der Erntearbeiter ein.
— Der Volkskommissar steigt einer jungen Frau nach — flüstern sich die Bauern zu. — Es dauert bestimmt keine Stunde mehr, und er wirft die Sense fort.
Peter arbeitet mit den anderen, bis es dunkel wird, geht aber auch dann noch nicht nach Hause, er bleibt draußen auf dem Feld. Am Lagerfeuer unterhalten sich die Alten.
— Der ist nicht aus Budapest — sagt wohlwollend ein alter Knecht mit Bezug auf Peter.
— Na — na, warte nur, wie es enden wird! Gewiss will er Abgeordneter werden, oder er hat noch schlimmere Gedanken im Kopf.
— Das ist schon möglich.
An dem Feuer, wo Peter sitzt, wird über Angelegenheiten des Landes, des Volkes diskutiert.
— Was hat uns denn Bela Kun aus Russland mitgebracht?
— Hat er uns nicht das Land gegeben?
— Das Land gehörte bisher dem Grafen, jetzt gehört es uns: uns allen.
— Es gehört uns! Nicht mir! Es gehört uns allen! Es ist Gemeingut!
— Mir gehört es nicht, das weiß ich.
— Ich sage ja nicht, dass es dir gehört, Gevatter. Es gehört nicht mir, nicht euch, nicht einem Dritten: es gehört uns allen.
— Tja, mir gehört es nicht.
— Ist es denn nicht besser so? Wir arbeiten gemeinsam und essen gemeinsam, was wächst.
— Hm. Jeden Tag werden einige Wagen Lebensmittel in die Stadt gebracht, das Vieh wird davon getrieben, Eier, Milch, alles geht hin, und nichts wird von dort für uns hergebracht. Gemeingut. Es gehört allen. Gemeingut.
— Die Sense hat der städtische Arbeiter gemacht. Auch die Maschine, mit der wir dreschen, und die Stiefel...
— Weder die Sense noch die Maschine gehören mir. Und Stiefel... siehst du nicht, dass ich barfuss laufe?
Peter erzählt, belehrt, auch vom benachbarten Lager sammeln sich die Menschen, aber jetzt ist alles stumm. Peter spricht, aber niemand fragt etwas, niemand antwortet auf seine Fragen. Die Nacht ist warm, das Feuer lodert, aber Peter friert. Um die Leute zum Sprechen zu bringen, mischt er fremde Worte in das Gespräch, schon fragt einer, was das eigentlich heißt: kollektive Arbeit?
— Worüber sinnt ihr nach, Gevatter? — wendet er sich zum rauchenden Alten, der vorher missachtend über „Gemeingut" gesprochen hatte.
— Ich betrachte den Himmelswagen — und er zeigt mit dem Pfeifenstiel nach dem Himmel. — Ein großer Wagen, den sieht jeder. Ich glaube, der bringt dem armen Häusler das Land. Vielleicht gelangt er einmal hierher, oder auch nicht.
— Der Herr Verwalter wohnt auch jetzt im Schloss.
— Er wohnt jetzt auch dort, aber er heißt nicht mehr Herr Verwalter, sondern Genosse Produktionskommissar — sagte der Alte. — Denn Gott verlässt die Herren nicht. Ihnen steht die Welt auch dann offen, wenn alles uns gehört.
Am nächsten Tag ging Peter nach Neupest. Er legte den Weg zu Fuß zurück. Er brachte es nicht über sich, den Wagen zu benutzen, den der Verwalter für sich beanspruchte. Er hatte eine zweistündige Unterredung mit Pojtek. Sie gingen ins Sowjethaus, von dort in das Parteisekretariat. An beiden Stellen hörte man 6ie an, aber nirgends konnten sie was ausrichten.
— Die Genossen glauben, wir hören zum ersten Mal, dass die Bauern unzufrieden sind? Wir wissen wohl, dass die Bauern Land haben wollen, aber es hilft nichts, wir können es ihnen nicht ausliefern. Wir können die Stadt nicht verhungern lassen. Und übrigens... die Genossen sind doch Marxisten — nicht wahr? Na also — wir sind für den Sozialismus und nicht für das Privateigentum — , das müsst ihr als Kommunisten verstehen. Nein, wir geben keinen Boden, was immer auch der Bauer sagt! Sozialismus...
— Und in Russland...
— Wir können nicht einfach das russische System übertragen. Bei uns liegen die Verhältnisse ganz anders. Da ist die Millionenstadt und das winzige Land dazu ...
Am nächsten Tage war Peter schon auf dem Wege nach der Front. Am Abend des dritten Tages sah er zum ersten Mal das Lagerfeuer der Rumänen am anderen Ufer der Theiß. Er ging allein durch das Weidengebüsch am Ufer des Flusses. Die Theiß klagt leise — von den Maramaroser Karpathen trägt sie das Jammern und Fluchen der russinischen Bauern nach Süden zu, dorthin, wo auf Befehl der serbischen Offiziersjunker die Peitschenhiebe auf den Nacken der Bauern niedersausen. Am Himmel funkeln Millionen Sterne.
— Parole — rief ihm der Wachtposten zu.
— Moskau.
— Keine Angst, Kumpel! — erwiderte der Soldat. Vom anderen Ufer fielen Schüsse.
— Den Rumänen da drüben juckts — sagte der Wachtposten. — Warte nur, wir werden euch schon helfen, dass ihr schwarz werdet.
Feuer anmachen ist verboten. Die Rumänen sparen nicht mit Kanonenkugeln. Die Soldaten unterhalten sich im Dunkel, nur die glimmenden Zigaretten beleuchten ein unrasiertes Gesicht.
— Was hat uns die Revolution gebracht? Vor der Revolution hatte ich es besser.
— Du hast ein schwaches Gedächtnis, Bruder! Hast du schon vergessen, wo uns damals der Schuh drückte!
— Wenn du gar so schlau bist, sag uns doch, inwiefern es uns jetzt besser geht als vorher?
— Unter der Regierung Karolyi hatten wir besser zu essen und mussten nicht in den Krieg. Eine anständige Wohnung für unsere Familie bekommen wir jetzt auch nicht. Und dann der Krieg... Was wir erobert haben, wurde zurückgegeben. Wir werden nur an der Strippe herumgezerrt und das Ende von allem ist, dass es immer schlimmer wird. Krieg gegen die ganze Welt... wie soll das enden?
Peter wurde es schwer, etwas zu sagen. Er hätte lieber mit der Faust als mit dem Mund geantwortet. Während er noch an einer Antwort herumkaute, führte schon der lange blonde rotwangige Zugkommandant das Wort.
— Also, wenn du's wissen willst, spitze deine Ohren scharf, ich will dir sagen, wie es enden soll. Aber, bevor ich noch beginne — sei mir nicht böse, Bruder — , ich sag's gerade heraus, was ich denke, nämlich: dass du ein großer Esel bist, Genosse. Wer kann denn das Ende sehen, wenn er noch am allerersten Anfang steht? Du fragst, was dir die Revolution gebracht hat? Was zum Teufel willst du in vier Monaten erreichen? Die Revolution gab dir die Fabrik; das genügt dir nicht, du möchtest, dass die Fabrik jetzt allein arbeitet und zehnmal soviel einbringt als vorher durch die Arbeit der Menschen. Wenn du Wunder haben willst, lieber Bruder, dann gehe zu den Pfaffen, die erzählen dir Wunder, dass dir die Luft wegbleibt. Von der Revolution aber erwarte keine Wunder, sondern sozialistischen Aufbau.
— Wo steckt denn dieser wunderbare Sozialismus, vielleicht im Himmel?
— Wo? Ich hab' ihn hier in der Tasche, ich werd' ihn gleich herausfischen. Hatte ich nicht recht, als ich vorher sagte, dass du ein Esel bist, Bruder? Im Mutterleib hast du neun Monate auf ein bisschen Milch gewartet, und jetzt willst du in vier Monaten den Sozialismus haben. Damals hat man dir noch nicht die Ohren voll gestopft, die Entente so und so, die Entente schickt Lebensmittel, die Entente schickt Kleidung, die Entente schickt eine Turmuhr mit goldener Kette — erst aber gib das Gewehr aus der Hand. Spuck' dir in die Faust und der Sozialismus ist schon da. Wenn du dein Maul aufmachst und darauf wartest, dass dir die gebratene Gans in den Mund fliegt, dann wartest du vergebens. Es kann aber auch passieren, dass dir jemand so zart über den Mund fährt, dass du gleich zwei Zähne herausspuckst.
— Weshalb haben wir den Tschechen die eroberten Gebiete wieder zurückgegeben?
— Frage deine alten, teueren Genossen, weshalb sie den Rückzug erzwungen haben? Deine lieben Genossen — dass sie der Herrgott segne, wie ich es ihnen
wünsche — , das sind die Richtigen, jammern immerfort, wir brauchen keinen Terror, wir brauchen keinen Krieg, sie fassen uns an den Händen, verbinden uns die Augen, und wenn es ihnen dann gelingt, uns das Gewehr aus der Hand zu schlagen, dann kommen sie gleich angerannt: Na, Genossen, warum schießt ihr nicht, warum kämpft ihr nicht? diese Schweinehunde.
Von Budapest brachte die Eisenbahn immer neue und neue Truppen. Die Front wurde immer dichter, man spürte es der Luft an, dass etwas geschehen musste.

„Lieber Bruder und Genosse Pojtek!
Ich habe Deinen Brief erhalten und er war eine große Freude für mich, besonders freuten mich die verschiedenen Nachrichten. Lasst nicht locker, Bruder! Schlagt die Schufte, wo ihr sie trefft. Hol' der Teufel das Gesindel, dies ist die Abrechnung. Wenn Du schreibst, dass Szamuely sagte, man muss den Schwätzern auf den Kopf hauen, ist das sehr richtig, wir wissen auch, dass, wenn Szamuely was verspricht, er es auch ausführt, der spricht nicht in die Luft hinein, das weiß jeder Kommunist. Wenn ich daran denke, welches Unheil diese Hunde verursachten, dass sie solange jammerten und solange die Gegenrevolutionäre mästeten, bis die Unseren gezwungen waren, den Krieg gegen die Tschechen einzustellen und die siegreichen roten Truppen zurückzuziehen — dann sage ich, lieber Genosse, ist der Galgen zu wenig für diese Bande. Denn wie Du weißt, wie wir alle wissen und tagtäglich hier beobachten können, lässt es sich nicht mehr leugnen, dass die Räumung der Slowakei die Rote Armee schwer getroffen hat und sie ist nicht mehr die Rote Armee, die die tschechischen Truppen triumphierend vertrieben hat, dass sie auseinander liefen wie die Hasen, — heute ist die Rote Armee viel weniger wert. Die Offiziere waren reichlich frech geworden, seitdem Böhm abgehauen ist, sind sie wieder etwas stiller, man sagt, der dicke Landler klopft ihnen ordentlich auf die Finger. Wenn wir jetzt die Rumänen schlagen, wird gewiss alles wieder in Ordnung kommen, haltet Ihr Euch feste dran, teuere Genossen, dass wir hier nicht vergebens bluten, dass wir nicht vergebens kämpfen! Drüben am andern Ufer der Theiß sind nicht nur Rumänen, sondern eine Menge gewesener ungarischer Offiziere. Die führen die Rumänen. Sagt den Frauen zu Hause, dass sie nicht solche Jammerbriefe schreiben, denn wenn sie den Männern hier die Köpfe vollweinen, können wir unmöglich kämpfen, und die Rumänen werden uns schlagen und dann kommt wieder die alte Welt zurück, und dann werden wir wieder nicht für unsere, sondern für die Interessen der Bourgeoisie leiden müssen. Ich habe jetzt wieder die Hoffnung, dass wir die Rumänen schlagen werden, denn es gibt hier an der Front viele gute Bolschewiken, und auch die Bauernjungen kämpfen gern, um das Land den Rumänen zu entreißen. Ich grüße all die guten Genossen und haltet Euch feste dran! Ich grüße auch Deine Frau und die Kinder.
Mit Bolschewiki-Gruß
Dein brüderlicher Genosse
Peter Kovacs.
NB.: Goldmann ist auch hier, er lässt auch alle guten Genossen grüßen, und dass Ihr alle feste dran geht."

Der Generalstabschef schüttelte seinem Gast kräftig die Hand: — Also auf Wiedersehen, Paul! Der konnte sich gar nicht trennen. — Ich glaube — fing er wieder an — ich glaube,... es wäre doch gut, wenn wir gleichzeitig auch in Budapest etwas machten. Wenn die Truppen erfahren, dass in Budapest ein Aufstand...
— Ich sagte schon — unterbrach Tombor seinen Besucher — ich sagte schon, alles ist in Ordnung und ich trage die volle Verantwortung. Wir haben keine Unterstützung nötig von Budapest. Am Ende würdet ihr meine Arbeit zerstören. Ich verstehe nicht, wozu es nötig sein sollte, einen Aufstand zu organisieren, wenn ich, wenn wir hier alles vorbereitet haben. Was soll das heißen? Soll das ein Misstrauen gegen mich sein?
Er sprach flüsternd, aber er war so erregt, dass er unwillkürlich einzelne Worte laut hervorstieß.
— Aber... um Gottes Willen — beruhigte ihn sein Besucher. — Wie kannst du auch nur für einen Augenblick an so etwas denken. Alle haben das vollste Vertrauen zu dir. Alle wissen, welche gefährliche, wichtige und erfolgreiche Arbeit du hier leistest. Wenn die Herren trotzdem etwas beunruhigt sind, so ist das allein auf den neuernannten Oberkommandanten zurückzuführen. Man sagt, dieser Landler sei...
— Aber wieso denn! Ich sagte schon: Wenn ihr mich in meiner Arbeit nicht stört, kann ich für alles garantieren. Die Rumänen wissen, wo wir angreifen — sie werden sich an dieser Stelle verteidigen. Wir wissen auch, wo sie ihren Gegenangriff machen, und dort bleibt die Front offen. Was wollt ihr noch? Die Karten sind so gemischt, dass hundert Landlers nichts mehr daran ändern können. Also, lieber Freund, es bleibt für die Herren von Budapest, wenn's ihnen noch so unangenehm ist, nichts anderes übrig, als die Ereignisse hier abzuwarten. Auf Wiedersehen, Paul!

Telegramm. Budapest, 13. Juli 1919. 9 Uhr.
Herrn Clemenceau, Präsident der Friedenskonferenz,
Paris.
Da die Rumänen gegen den Willen der Entente zum Angriff übergegangen sind, waren wir gezwungen, die Theiß zu überschreiten, um so dem Willen der Entente den Rumänen gegenüber Geltung zu verschaffen.
Kun Bela.

Alle wissen es: Morgen früh —
Die Lagerfeuer mussten gelöscht werden, weil die Rumänen von Zeit zu Zeit drüben am Ufer zwischen den Weiden aus Maschinengewehren herüberpfiffen.
Doch die Soldaten hatten keine Lust zu schlafen.
— Erzähle was, Alter, erzähle doch — drängte Goldmann Antalfy immerfort. Antalfy ließ sich bitten, und erst als er das viele Bitten gründlich genossen hatte, begann er zu sprechen. Dann aber quollen die Worte nur so aus seinem Mund.
— Zum Teufel, was soll ich wieder erzählen, dass| man keine Ruhe vor euch hat.
— Erzähle was du willst, erzähle nur.
— Über Russland! — fuhr Peter dazwischen.
— Über Russland?
— Ja.
— Also über Russland. Gleich, wartet nur — Sibirien — nein, Oktober — das kennt ihr auch schon — jetzt hab' ich's, das ist das Richtige. Ja. Also, wer kennt von euch, ihr tapferen Helden, wer kann mir sagen, wer die Esser sind?
— Die Esser?
— Weiß der Teufel.
— Du wirst es uns schon erzählen.
— Ich sehe, dass ich euch das auch erklären muss.
Also, die Esser sind dasselbe auf russisch, was die Sozialdemokraten auf ungarisch sind: Anfangs gehen sie mit den Bolschewiki zusammen, aber nicht darum, weil sie so sehr für die Revolution wären, sondern weil diese Schufte glauben, dass sie uns auf diese Weise am ehesten ins Verderben stürzen. Ich sage, sie sind dasselbe wie unsere Sozialdemokraten, sie sind nur keine solchen Jammerlappen, die Esser machen nicht gleich in die Hosen, wenn sie einen Kindersäbel sehen. Also, das sind die Esser. Das wisst ihr jetzt. Aber damit wisst ihr noch nicht alles. Ihr müsst auch noch wissen, was der Kreml ist. Na, keiner von euch weiß, was der Kreml ist? Also der Kreml in Moskau ist so was, wie die Burg in Ofen, nur dass sie sich nicht ähnlich sehen, der Kreml ist viel größer und auch älter, und schöner, denn bei Häusern ist es nicht so wie bei den Frauen, oft sind die älteren die begehrenswertesten, obzwar — na, aber jetzt ist nicht davon die Rede. Mit einem Wort: so sieht der Kreml aus, da wohnten auch wir, die ungarische Bolschewiki-Kompagnie. Dort sah ich auch zum ersten Mal Lenin — ob ihr's glaubt oder nicht, er wohnte auf demselben Flur wie wir. Und als — aber ich will jetzt nicht davon reden. Mit einem Wort, wir wohnten im Kreml, und an dem Tag, von dem ich erzähle, planten wir ein großes Gulaschessen, wir hatten auch Fleisch, und auch Paprika hatten wir irgendwie herbeigefischt. Die gerösteten Zwiebeln rochen so schön, dass der Zar gern davon gekostet hätte. Ich sagte, die Zwiebeln waren gerade im besten Rösten — ich bin fertig mit dem Kartoffelschälen" meldete Joscha Veres — , da kommt plötzlich Szamuely gerannt und fängt an zu brüllen, dass es nur so wackelte: los, Jungs, los! Ich kann doch nicht die Zwiebeln anbrennen lassen — sagte ich zu ihm — , da aber sich alle auf die Beine machten, schlüpfte ich schnell in mein Hemd, nahm das Gewehr und rannte den anderen nach. Die waren schon über die Brücke und ich konnte schreien wie ich wollte, damit ich sie einholen könnte, sie blieben nicht stehen. Wir rasten, dass mir die Zunge heraushing. Das ist kein Geschäft für einen vernünftigen Menschen — denke ich mir — , das ist 'ne Sache für Rennpferde, aber ich renne nur immer weiter. Dann hörte ich Szamuelys wildes Fluchen, und auch die anderen zerrten tüchtig am Bart des Allmächtigen. Na — sag ich — , da ist was passiert, wenn ich die andern erreiche, werde ich schon erfahren, was denn zum Teufel los ist. Aber bevor ich sie noch erreicht hatte, brüllte Kun: Nieder, Jungs, nieder! Kaum, dass ich mich auf den Bauch warf, da pfiffen schon die Kugeln über meinem Kopf: mit einem Maschinengewehr schossen die Hunde aus einem großen Eckhaus auf uns. Auch wir eröffnen das Feuer. Wir fluchen wie wahnsinnig — dann kommandieren zwanzig zugleich: Sturm, Sturm, Herrgotthimmelsakrament! Das Tor stürzt ein, hinauf über die Treppe. Feuer! Feuer! Ich stolpere. Ich falle über Jocka Veres, armer Kerl — mit zerschossenem Kopf rollte er vor meine Füße hin. Na, wartet, ihr Kerle! Mit dem Gewehrkolben schlag ich dem Hund auf den Kopf. Noch einmal drauf! Im Nachbarzimmer explodiert eine Handgranate — zum Teufel noch mal — ein Verwundeter beißt mir ins Bein, ich trete ihm in die Visage. Feuer einstellen! So haben sich die Schweine ergeben. So haben wir das Telegraphenamt von den Essers zurückerobert; sie benahmen sich wie unsere Sozialdemokraten: beteuerten solange, dass wir keine aufrichtigeren Freunde hätten als sie, bis sie, die Schweine, dachten, wir schlafen — und das Messer gegen uns erhoben. Aber ich sage euch, wir setzten ihnen das Messer an die Kehle, das sie auf unseren Rücken richteten. Denn die Esser sind hinterlistig — daran kann man sie am besten erkennen; den Bolschewiken aber könnt ihr daran erkennen, dass er nicht auf den Kopf gefallen ist und immer dorthin schlägt, wo es juckt. Mmm...
Antalfy war mit seiner Erzählung zu Ende und gähnte am Schluss mit weitgeöffnetem Mund.
— Warst du denn Koch in Russland — fragte Goldmann.
— Ob ich Koch war? Dreck! Ich war alles, was man brauchte. Schuster, Schneider, Koch, Lehrer, Arzt, Pfarrer, Soldat. Ich war Bolschewik.
— Was war dein Handwerk vor dem Krieg?
— Wie oft wollt ihr das noch fragen? Ich war Schauspielkünstler.
— Hast Komödie gespielt?
— Ja. Ich zog einen solchen Wasserkopf über wie deinen und stellte so blödsinnige Fragen wie du — die Leute lachten über mich und bezahlten in bar.
— Es ist Zeit zum Schlafengehen, Jungens. Morgen ist auch ein Tag.
— So heißt es.
Die roten Truppen haben die Theiß überschritten. Die Rumänen gaben ihre Stellungen drüben am Ufer nicht umsonst her, aber sie waren nur solange große Helden, bis die Unseren am anderen Ufer festen Fuß gefasst hatten. Dann aber waren sie flott auf den Beinen. Und die Unseren ihnen nach.
Zwei Tage und zwei Nächte ging alles wie geschmiert. Am dritten Tage merkten wir, dass die Rumänen uns in den Rücken fielen. Wir wurden nicht geschlagen, doch wir mussten zurück. Und das war viel schwerer als vorrücken: die Rumänen beschossen die Straßen mit Kanonen, die Franzosen aus Szegedin streuten von Flugzeugen Bomben herunter.
— Diese Bomben waren für die russischen Bolschewisten bestimmt, da wir aber zu lebendig wurden, streuten sie sie schon über uns aus. Hol' der Teufel den, der dies Ungeheuer erfunden hat. Ja, Jungs, lasst den Kopf nicht hängen. Das wird auch noch anders werden, wir werden auch noch einmal vorrücken — dass sie die Hölle verschlinge! — , spornt Antalfy die stark verkleinerte Kompanie an.
Die Kanonen der Rumänen arbeiten noch immerfort, die Unseren aber antworten gar nicht auf das heisere Bellen. Die Kanonen waren noch in Stellung, aber die roten Kanoniere hatten ihre Geschütze schon im Stich gelassen.
Jetzt fällt das Maschinengewehr von Goldmanns Schulter herab. Er ist angeschossen worden und kann sich nur schwer aufrichten.
— Die Hunde haben mich angeschossen.
Peter hält ihn fest, damit er nicht umfällt, er macht sich am Maschinengewehr zu schaffen.
— Hierher, Jungs, hierher! Nehmen wir's hoch, das Maschinengewehr darf nicht den Rumänen in die| Hände fallen.
Er schreit, niemand kümmert sich darum. Die Rumänen verstärken den Kugelregen — beeilt euch, Jungs, schießt — wer nicht die Beine hebt, lässt seinen Kopf| hier. Lauft! Lauft!
Die Flüchtenden weichen dem Maschinengewehr aus, eine Menge anderer Gewehre liegt auf der Straße verstreut. Das Gewehr hindert jetzt nur, hindert beim Laufen.
— Himmelsakrament, ist das der Sozialismus?
— Ich erschlage den Schuft, der mich hierher geführt hat, hierher, auf diese Schlachtbank, wie einen tollen Hund.
— Von Budapest aus können sie leicht Befehle erteilen.
Von links kommt rumänische Kavallerie. Keiner hält sie auf. Oben kreist ein französisches Flugzeug.
Ta ta ta ta-ta-ta-ta-ta-ta.
Das Maschinengewehr von oben macht gründliche Arbeit.
An der Szolnoker Brücke stoßen die flüchtenden Roten aufeinander. Ein Pferd wird toll, bäumt sich auf, reißt ein Stück vom Geländer mit — schleudert den Wagen in die Theiß, — eine Anzahl Soldaten fallen mit ins Wasser.
— Hilfe! Hilfe!
Vom anderen Ufer will ein Auto über die Brücke. Es bleibt stecken. Einer springt aus dem Wagen und bahnt sich zu Fuß den Weg über die Brücke. Der andere Mitfahrende, in schwarzer Lederjacke, bleibt im Auto sitzen, er fuchtelt mit einer Handgranate herum, brüllt dem Chauffeur ins Ohr, aber das Dröhnen, Knattern, das Wehgeschrei, das Röcheln verschlingen seine Stimme.
Der Mann, der aus dem Wagen stieg, hat sich fast bis zum rumänischen Ufer durchgeschlagen, er steht am Brückenende, wo vorher der Trainwagen ins Wasser sauste. Ein staubiger, dreckiger, zerknitterter roter Soldat. Stumm sieht er der tollen Flucht zu.
Peter windet sich neben ihm her — sieht ihn an, erkennt ihn. Nein, doch nicht — überlegt er — aber doch — nein...
Immer mehr und mehr Leute starren den regungslosen roten Soldaten an, fast wird er ins Wasser geschoben, so viele drängen sich um ihn her.
— Na, ihr Helden —
— Genosse Kun! Béla Kun!
— Na, ihr Helden — wo habt ihr euere Gewehre gelassen? fragt Kun mit müder, heiserer Stimme.
— Ta-ta-ta-ta-ta-ta-ta.
— Von den Rumänen her fällt ein Schrapnell in das Auto. Die Handgranate in der Hand des Mannes im Lederrock explodiert.
— Ta-ta-ta-ta-ta-ta.
Auf der Szolnoker Seite brennt ein mit Schindeln gedecktes Haus in hellen Flammen.

 

II.

Ich war noch nicht dreizehn Jahre alt, als mein Vater von den Gendarmen abgeholt wurde. Die Sache kam so: der Verwalter schlug meinen Vater mit der Faust ins Gesicht, er erwiderte mit einer eisernen Heugabel. Die Leute liefen zusammen, aber mein Vater hielt sie mit der blutigen Gabel fern. Wir — meine Mutter und ich — standen in der Tür unserer Wohnung. Als die Gendarmen kamen, lief meine Mutter ihnen entgegen und stellte sich ihnen entgegen. Der Vater wurde in Fesseln abgeführt, die Mutter musste eine Woche das Bett hüten. Die Gendarmen hatten ihr tüchtig zugesetzt.
Die Herren vom Gesetz verurteilten ihn zu fünfzehn Jahren. Die Leute erzählten meiner Mutter, dass mein Vater mit dreiundvierzig Jahren frei werde, aber nicht die Leute, meine Mutter behielt recht. Ich habe meinen Vater nie wieder gesehen. Er starb dort an dem Fraß, den ihm die Herren vorsetzten. Wir zogen in die Stadt, zum Bruder meiner Mutter. Onkel Janos hatte weder Frau noch Kind, und als wir zu ihm zogen, kündigte er auch der alten Wirtschafterin. Von da an kochte, wusch, besorgte meine Mutter alles im Haus.
Onkel Janos war reich. Er wohnte in einem eigenen Haus, dort befand sich auch seine Sattlerwerkstatt, in der vierzehn Jungens arbeiteten. Die Jungens waren nicht älter als ich. Der Onkel Janos stellte am liebsten Jungens an, die weder Vater noch Mutter hatten; vier Jahre dauerte die Lehrzeit. Nach der Lehre entließ sie Onkel Janos — oder wie er zu sagen pflegte — , er ließ sie mit ihren eigenen Schwingen fliegen. Die Leute waren voll des Lobes über das milde, gute Herz des Onkel Janos, und auch er selbst erinnerte die Jungens oft daran, dass sie es ihm zu verdanken hätten, wenn sie anständige Menschen würden. Natürlich kann nur der ein tüchtiger Mensch werden, der schon von Kindheit an sich daran gewöhnt, vom frühen Morgen bis zum späten Abend zu arbeiten. Onkel Janos sorgte dafür, dass die Jungens sich rechtzeitig ans Arbeiten gewöhnten.
Nur ein Geselle war in der Werkstatt beschäftigt, — ein alter, vergrämter Junggeselle, dessen Grundprinzip war, dass Ohrfeigen das beste Erziehungsmittel seien. Herr Blasefuß — der wochentags stets fleißige, wortkarge, nüchterne Mensch, setzte sich Sonntags schon frühmorgens zum Trinken hin, füllte zwei Wassergläser voll mit Schnaps und trank sich selbst zu. Wenn wir aus der Kirche kamen, war er schon stark in Stimmung, küsste die Jungens der Reihe nach ab und nannte meine Mutter Fräuleinchen. Mittags konnte er nicht mehr auf den Beinen stehen. Er sang mit heiserer, glucksender Stimme nicht endenwollende Begräbnislieder. Wenn das Singen zu Ende war, fing Herr Blasefuß mit lautem Wehgeschrei zu weinen an. Dann packten ihn auf Befehl des Onkels vier der kräftigsten Jungen und legten den weinenden Mann ins Bett. Onkel Janos verschloss die Tür des fensterlosen Schlafkabinetts. Montags erschien Herr Blasefuß frühmorgens immer als erster in der Werkstatt.
Auf Wunsch meiner Mutter stellte mich Onkel Janos als Lehrling in die Werkstatt ein. Dass ich schließlich doch kein Sattler wurde, das ist weniger mein Verschulden als das des Herrn Blasefuß.
— Das passt mir nicht — sagte er schon am ersten Tag — , dieser Bengel versaut die ganze Werkstatt.
Wenn ich ihm eine herunterhaue, läuft er zur Mutter, und die weint mir die Ohren voll. Die alte Hexe ist imstande, mir noch das Essen zu vergiften. Wenn ich ihn dann nicht genügend fest anfasse, bekommen auch die anderen Jungens Lust, den Herren zu spielen.
Hinten im Hof wohnte ein großer, breitschultriger, blondhaariger, blatternarbiger Mann. Er hatte von Onkel Janos ein Zimmer mit Küche gemietet, zahlte pünktlich, weder an ihm noch an seiner Frau konnte man was aussetzen, aber Onkel Janos und Herr Blasefuß hatten etwas gegen den großen blatternarbigen Mann; was es war, das wussten wir nicht, aber dass sie ihn nicht ausstehen konnten und dass sie ihn verachteten, dafür lieferten sie Beweise genug. Eines Abends, als der große blonde Mann nach Hause kam — er ging gerade an der Werkstatt vorbei — , rief mir Onkel Janos plötzlich zu: — Wasch' dir schnell die Hände!
Onkel Janos führte mich zur hinteren Wohnung.
— Hören Sie, Herr Hajos, das ist der Sohn meiner Schwester, ein gesunder, starker Junge, würden Sie ihn nicht in Gottes Namen als Lehrling in Ihre Werkstatt aufnehmen?
Hajos sah mir fest ins Auge. — Wenn schon der Vater — fing er an, aber Onkel Janos fiel ihm schnell ins Wort.
— Das ist es ja, das ist es ja, besorg' der Teufel seine Arbeit.
— Ich will's versuchen — sagte Hajos und streichelte meinen Kopf. Es war eine große, schwere, harte Hand, doch tat mir sein Streicheln wohl.
Als der Krieg ausbrach, arbeitete ich bereits zwei Jahre in der Eisengießerei. Während dieser zwei Jahre lernte ich lesen und schreiben. Hajos nahm mich mit in das Arbeiterheim, dort lernte ich das Buchstabenrechnen. Onkel Janos hatte gegen das Buchstabenrechnen nichts einzuwenden, aber um so mehr gegen das Arbeiterheim. Er hatte mir streng verboten, die Schwelle dieser „Verbrecherhöhle" zu übertreten. Da ich trotzdem in das Arbeiterheim ging, drohte Onkel Janos meiner Mutter, dass er sie heraussetzen werde. Meine Mutter nahm die Drohung nicht allzu schwer. Da wandte sich Onkel Janos wieder an mich. An einem Sonntagnachmittag — nachdem er Herrn Blasefuß eingeschlossen hatte — erklärte er feierlich, dass er von diesem Augenblick an seine schützende Hand von mir wegziehe.
— Dein Vater war auch ein Taugenichts und wird im Gefängnis verfaulen. Du wirst bestimmt am Galgen enden.
Seitdem Onkel Janos seine schützende Hand von mir abgezogen hatte, wurde mir leichter. Wenn ich nach der Arbeit nach Hause kam, musste ich nicht zu Hause wieder an die Arbeit gehen. Ich konnte ungestört die Vorträge des Genossen Szekeres im Arbeiterheim besuchen. Ich habe auch weiterhin bei meiner Mutter gegessen, wofür mir Onkel Janos alles bis zum letzten, Pfennig abnahm, was ich in der Werkstatt bekam, wie zu der Zeit, wo er noch nicht seine schützende Hand von mir abgezogen hatte. So oft er mich zu sehen bekam, wiederholte er mir, dass er sich um mich nicht kümmere, aber wenn ich wagen sollte, die Jungens in seiner Werkstatt zu verderben, wie mich dieser Hund Hajos verdorben hätte, dann schlage er mir die Knochen kaputt. Für die Jungens sei er verantwortlich — vor Gott und Menschen.
Der Ausbruch des Krieges war eine große Freude für mich. Die kleine Stadt von 12 000 Einwohnern, die Eisenbahn-Werkstatt, das Arbeiterheim, das ganze Leben war so eintönig und bedrückend. Ich hatte immer auf eine große Veränderung gehofft, mich nach irgendeiner großen Freude gesehnt, — aber alles vergebens. Während der zehn Jahre, die ich in der Stadt verbracht hatte, veränderten sich die Dinge nur sehr — sehr langsam. Aber jetzt — der Krieg! Der Krieg! Jetzt kommen wunderbare Veränderungen, jetzt kommen die wahren Freuden. Außerdem war ich Sozialist und so musste mich der Krieg auch deshalb mit Freude erfüllen. Dass ich mich als Sozialist fühlte, musste ich geheim halten, denn sonst hätte man mich aus der Eisenbahnwerkstatt herausgesetzt, aber das konnte mir niemand verbieten, dass ich mich als Sozialist hundertfach des Krieges freute.
Karl Nemes, Rechtsanwalt, — der wichtigste Mann im Arbeiterheim — hielt am Tage der Kriegserklärung vom Balkon des Bahnhofsvorstandes eine Rede an die Arbeiter der Eisenbahnwerkstatt.
— Jeder ehrliche Arbeiter, jeder wahre Sozialist muss diesen Krieg mit Freuden begrüßen — sagte er. — Dieser Krieg ist heilig, dieser Krieg ist ein Freiheitskrieg. Auf den Spitzen der Bajonette bringen wir den Sklaven des Zaren, den russischen Genossen, die Freiheit. Alles brach in Begeisterung aus.
Abends wurde die Stadt beleuchtet und ein Fackelzug veranstaltet. Natürlich hatte auch ich am Aufzug teilgenommen, ich hatte mich heiser gesungen, die ganze Nacht hindurch sangen wir dieselben fünf Zeilen: „Warte nur, warte nur, du serbischer Hund, Die Herzegowina kriegst du nicht, Der Magyar duldet's nicht, Eher opfert er sein Blut Im Feuer des Gefechts." Hajos nahm an dem Aufzug nicht teil. Morgens — als wir in die Werkstatt gingen — erzählte ich ihm, was ich gesehen und was ich gehört hatte. Meine Begeisterung riss ihn nicht mit. Er äußerte sich mit keinem Wort über diese Dinge.
An den Mauern klebte überall der Mobilisierungsbefehl.

Der Krieg brachte nichts Gutes. In der Werkstatt wuchs die Arbeit immer mehr, zu Hause wurde das Essen immer weniger.
— Dem König und dem Vaterland bin ich's schuldig — sagte Onkel Janos, als er die Kost der Jungens einschränkte — , das bin ich dem Vaterland schuldig, wenn mir schon Gott nicht mehr gestattet, das Gewehr zu ergreifen.
Ich glaube, ich sagte schon, dass die Stadt ein Eisenbahnknotenpunkt war, wo die Bahn nach vier Richtungen hin abzweigte. Drei Linien führten nach Galizien — und durch Galizien an die russische Front. Als der Krieg ausbrach, wurde ein Oberleutnant zum Kommandanten der Werkstatt ernannt. Außer ihm wurden uns fünfzehn Soldaten zugeteilt: ein Korporal und vierzehn Infanteristen. Noch niemals hatte ich soviel Züge vorbeifahren sehen wie in dieser Zeit. Die nach dem Osten fahrenden Züge brachten unaufhörlich neue Soldatenmassen, Munition, Lebensmittel, aber die zurückkehrenden Züge waren auch nicht leer. Sie brachten die Verwundeten.
Mit der Sonntagsruhe hörte es gleich beim Ausbruch des Krieges auf. Im ersten Jahre wurde die Arbeitszeit um eine halbe Stunde, im zweiten Jahre um eine weitere Stunde verlängert. Wir — in der Werkstatt — bekamen auch im dritten Jahre pünktlich unsere Lebensmittelrationen — sie wurden immer kleiner, aber wir bekamen sie ungekürzt — , während die übrigen Arbeiter stundenlang vor den Lebensmittelgeschäften herumstehen mussten. Der eine hatte aus diesem Grund, der andere aus jenem Grund weniger freie Zeit als vor dem Kriege, doch verbrachten wir sonderbarerweise mehr Zeit im Arbeiterheim als vorher, und es kamen auch mehr Arbeiter dorthin. Der Polizeipräsident ersuchte den Vorstand des Lesezirkels, die Zahl der Vorträge einzuschränken, um die von der überhäuften Arbeit müden und, wie er sagte — „leider nicht ganz ausreichend genährten Arbeiter" — mit unnötigen Anstrengungen zu verschonen. Genosse Nemes besprach das Programm der Vorträge vorher mit dem Polizeipräsidenten, um die Vortragenden wie die Besucher vor unangenehmen Missverständnissen zu bewahren.
Ab Herbst 1917 durften wir Jungen nur Mathematik-und Rechtschreibekurse besuchen. Den Kurs für Rechtschreiben leitete der Buchhalter der chemischen Fabrik, Genosse Szekeres. Ich mochte den Genossen Szekeres ganz besonders, ich habe viel von ihm gelernt. Er hatte ein großes Wissen, liebte uns und verstand unsere Sprache.
Die letzte Rechtschreibestunde werde ich niemals vergessen. Seine Methode war, einen Satz auf die Tafel zu schreiben und uns diesen Satz — wir waren neunundzwanzig — vier-, fünfmal nacheinander in ein Heft abschreiben zu lassen. Nach der Stunde nahm Szekeres die Hefte mit nach Hause und bis zur nächsten Stunde verbesserte er die Schreibfehler mit roter Tinte.
Am ersten Tag nach den Weihnachtsferien — Anfang Januar — war die letzte Rechtschreibestunde.
Der erste Satz, den Genosse Szekeres auf die Tafel schrieb, lautete:
„ Die russischen Arbeiter und Bauern haben die Macht ergriffen."
Dann schrieben wir folgenden Satz ab:
„ Dem Krieg kann nur die Revolution der Arbeiter ein Ende machen."
Ich erinnere mich noch daran, dass der letzte Satz, den wir abschreiben sollten, lautete:
„ Proletarier aller Länder, vereinigt Euch !"
Von den Karpathen her blies der Wind heftig. Handschuhe hatte ich keine, ich steckte meine Hände in die Manteltasche. In einer Tasche fand ich einen Zettel. Zu Hause las ich den maschinengeschriebenen Zettel durch:
„ Genug mit dem Menschenschlachten! Wir wollen Frieden!"
Am nächsten Morgen klopfte ich wie gewöhnlich bei Hajos an.
— Hast du nicht eine Schublade oder eine Truhe, an die kein anderer kommt als du selbst? — fragte Hajos.
— Meine Truhe ist verschließbar.
— Verschließe das darin — sagte er und zog aus seinem Strohsack ein kleines, in Wachsleinwand gehülltes Päckchen. — Es ist möglich, dass bei mir Haussuchung gemacht wird — fuhr Hajos fort.
Als ich das Päckchen in die Hand nahm, zitterten meine Hände, meine Kehle presste sich zusammen, ich konnte kaum ein Wort herausbringen.
— Ja, sagte ich endlich, — ich werde es einschließen. Ich ging in die Kammer, wo mein Bett stand, zurück.
Es war niemand mehr da. Die Jungen arbeiteten schon seit einer Stunde, meine Mutter stand Schlange vor irgendeinem Lebensmittelgeschäft. Onkel Janos schnarchte noch. Ich zog leise, wie wenn ich stehlen wollte, meine Truhe unter dem Bett hervor. Nach einer Minute war ich wieder draußen im Hof.
— Na?
Auf der Straße sprach Hajos leise, fast flüsternd: — Wenn ich heute verhaftet werde, bringst du dieses Päckchen zum Regimentsarzt Gyulai, du kennst ihn doch?
— Er wohnt in der Kaiser-Wilhelm-Straße. Ja, ich kenne ihn — sagte ich.
— Du übergibst ihm das Paket, und sagst, es kommt von mir.
— Ich verstehe.
Eine Weile gingen wir wortlos nebeneinander. Mein Herz klopfte heftig. Hajos pfiff ein harmloses Volkslied.
— Du, Peter — fing er wieder an — , heute vormittag treten wir höchstwahrscheinlich in den Streik. Du streikst nicht.
— Wieso nicht! — sagte ich beleidigt, beinahe schreiend.
— Hör' zu — sagte Hajos lächelnd. Du und noch zehn andere, ihr tretet nicht in den Streik. Ihr werdet eine schwerere Aufgabe haben. Der Bahnhofskommandant wird bestimmt Soldaten zur Arbeit abkommandieren. Ihr werdet scheinbar Streikbrecherarbeit leisten, ihr werdet aber alles durcheinander werfen, dass kein Herrgott den Bahnhof in Ordnung bringen kann.
— Hast du verstanden?
— Ja. Und dann?
— Dann? Ja, dann schmeißt euch der Kommandant heraus oder er lässt euch auch einsperren.
In der Werkstatt ging alles drunter und drüber. In der Nacht wurden mehrere Haussuchungen vorgenommen. Vierzehn Leute wurden verhaftet, neun von den Eisenbahnarbeitern, fünf aus der chemischen Fabrik, unter ihnen auch Szekeres.
Auf dem Platz vor der Werkstatt — gegenüber der Wohnung des Bahnhofsvorstandes — wurde spontan eine Versammlung abgehalten.
Zuerst sprach ein Lokomotivführer, dann Hajos. Gestern noch hätten die Menschen nicht einmal gewagt, unter vier Augen flüsternd über die Dinge zu reden, die sie jetzt offen und laut vor über vierhundert Zuhörern ausführten.
— Wir haben genug vom Krieg!
— Wir haben genug vom Hunger!
— Die russischen Genossen bieten uns den Frieden an! Frieden! Wir wollen Frieden!
Hajos las von einem Zettel die Forderungen der Arbeiter vor, die Massen stimmten mit lauten Zurufen ein. Keine Fäuste: Hämmer, schwere Eisenstangen wurden hoch in die Luft gehoben.
Die Einfahrt war nicht freigegeben, draußen auf der freien Strecke schrillte die Lokomotivsirene um Einlass eines Munitionszuges. Weder der Militärkommandant noch der Bahnhofsvorstand waren zu sehen. Während Hajos sprach, kam Nemes mit seinem Auto auf den Bahnhof. Nach Hajos sprach Nemes. Er knöpfte seinen langen schwarzen Wintermantel bis an den Hals zu, seinen Hut aber nahm er ab und streckte die Arme während des Sprechens gen Himmel, wie der Pfarrer auf der Kanzel.
— Genossen!
Vorwurfsvoll flehend, fast weinend war Nemes' Stimme. Sie wurde aber sofort drohend, wenn seine Rede von da oder dort durch Zwischenrufe gestört wurde.
— Nieder mit dem Krieg!
— Wir wollen Frieden!
— Es lebe das russische Proletariat!
— Wenn wir ernstlich das allgemeine Wahlrecht bekommen wollen — fing Nemes zum dritten Mal denselben Satz an, kam aber auch zum dritten Mal nicht weiter.
— Wir wollen Frieden — tönte es von überall her. — Das Beispiel der russischen Genossen.
— Das Beispiel der russischen Genossen — fuhr Nemes wütend auf — , wir müssen dieses Beispiel erst verstehen lernen, dann können wir darüber sprechen. Euer Bolschewismus, Genossen, ist noch viel zu kindisches unreifes Zeug!
Der Platz, wo wir standen, war mit Schnee bedeckt. Der Schnee war dreckiggrau vom Rauch der Lokomotiven. Harte Arbeiterfäuste kneteten harte Schneeballen aus dem schmutzigen Schnee — die Schneeballen flogen auf Nemes zu. Fünf — sechs Schneeballen prallten auf Nemes' Bauch, auf seine Brust. Einer flog in sein rechtes Auge, einer stopfte direkt seinen offenen Mund.
— Frieden, wir wollen Frieden!
Als es Nemes gelang davon zu kommen, ergriff ein kleiner verwachsener Mann das Wort. Ich kannte ihn nicht. Er sprach mit heiserer Stimme, aber er verstand unsere Sprache. Zuerst schimpfte er auf die Kriegführung — die Herren Generäle wollen keinen Frieden, sie wollen die russische Revolution erdrosseln — , dann kam er auf die sozialdemokratische Parteileitung — die der für den Frieden kämpfenden Arbeiterschaft überall in den Rücken fällt.
— Aber die Verräter der Arbeiterschaft mögen machen was sie wollen, die Arbeiter in Budapest, Wien, Prag, Lemberg werden nicht auf sie hereinfallen! Sie legen ihre Werkzeuge nieder, sie fertigen keine Gewehre, keine Munition, sie liefern denen kein Brot, die gegen die russischen Genossen in den Krieg ziehen.
Begeistert nahmen wir die Worte des verwachsenen Mannes auf und — merkten nicht, dass sich inzwischen immer mehr Gendarmen um den Bahnhof herum sammelten.
Während der Verwachsene sprach, suchten Delegierte der Arbeiterschaft das Militärkommando auf. Sie forderten die Freilassung der Gefangenen, die Erhöhung der Lebensmittelrationen, den achtstündigen Arbeitstag, die freie Abhaltung von Versammlungen und von Konferenzen innerhalb der Betriebe.
— Genossen! — erklärte Hajos — , der Militärkommandant hat alle unsere Forderungen abgelehnt. Er drohte, wenn wir nicht sofort die Arbeit aufnehmen, wird er die zwölf Mitglieder der Delegation vor das Kriegsgericht stellen und ihr werdet sofort als Soldaten eingezogen.
Wildes Geschrei folgte diesen Worten.
— Keinen Handstreich mehr für die Ausbeuter!
— Auf zum Arbeiterheim!
Nach einer Viertelstunde waren nur noch neunzehn im Bahnhofsgebäude — neunzehn Streikbrecher. Das Gebäude wurde von Gendarmen umzingelt.

Ich habe noch nie mit einem solchen Eifer gearbeitet als an dem Vormittag, wo ich Streikbrecher wurde. Im Bahnhof standen vier Züge. Sie warteten auf Lokomotiven. Wir Streikbrecher fingen ohne jede vorherige Besprechung sofort mit der Verschiebung der Züge an. Die Wagen des Munitionszuges verteilten wir wohlüberlegt zwischen die Wagen eines Verwundetentransports und zwischen die Wagen eines Lebensmittelzuges. Wir lösten überall die Kuppelungen — wir hoben auch einige Räder heraus, dann schoben wir einige Waggons auf das Verkehrsgeleise. Auf Schritt und Tritt passten Gendarmen auf. Der Militärkommandant erschien persönlich unter uns und sprach sich lobend über unseren Fleiß aus: auf seinen Befehl erhielten wir Speck, Brot, Schnaps und Tabak.
Um Mittag herum wurde ein Militärzug gemeldet. Das Verkehrsgeleise war nicht frei, der Zug stand anderthalb Stunden lang außerhalb des Bahnhofs. Unser Militärkommandant — der schon seit einem Jahr im Range eines Hauptmanns stand — fluchte und drohte, der Kommandant des Militärtransports verlangte, dass ihm eine Wache zur Verfügung gestellt würde, denn die für die Front bestimmten Soldaten zeigten große Neigung zum Desertieren. Wir trieften vor Schweiß bei der Arbeit. Der Hauptmann telefonierte an den Stadtkommandanten, aber bis die zur Wache bestimmten Soldaten ankamen, standen schon drei Züge auf offener Strecke: aus drei Zügen desertierten die Soldaten. Der Hauptmann tobte und schließlich ließ er die neunzehn Streikbrecher verhaften.
Sechzehn Soldaten eskortierten uns in die Kaserne.
Nach Recht und Regel nahmen sie uns in die Mitte: vier Mann vorne, vier rückwärts, vier Mann von rechts und vier Mann von links. Ein Korporal führte die Eskorte.
Auf der Straße standen die Frauen in langen Reihen vor den Lebensmittelgeschäften. Die Arbeiter aus der Chemischen Fabrik waren auch auf der Straße. Unterwegs schloss sich uns eine große Menge an — Frauen, Männer, Kinder.
— Wir wollen Frieden! Hoch die Soldaten! Lasst die Soldaten nach Hause!
Das Eingangstor der Kaserne war von einer Abteilung Gendarmen besetzt.
— Nieder mit den Gendarmen! Lasst sie an die Front gehen! Hoch die Soldaten!

Ich wurde in ein großes halbdunkles Zimmer gesperrt, da saßen bereits vier Gefangene, vier Soldaten.
Kaum war die Türe hinter mir zugeschlossen, wurde sie schon wieder geöffnet, drei Arbeiter wurden eingeliefert.
— Die Revolution ist ausgebrochen — erzählten sie.
— Das Volk hat die Militärmagazine ausgeraubt.
— Die Soldaten? Die werden uns befreien.
— Schade, sehr schade — sagte ein Soldat mit einem Zigeunergesicht, er saß auf der Bank, rauchte aus einer Pfeife, und als er die Pfeife aus dem Mund nahm, versuchte er im Sitzen auf die an der Wand hängende Tafel zu spucken, deren Aufschrift: „Rauchen nicht gestattet" man fast nicht mehr entziffern konnte.
— Wieso schade — du Narr! Hast du große Lust auf den Heldentod?
— Teufel! Neunmal haben sie mich bereits an die Front geschickt, und neunmal bin ich ausgekratzt. Ich wollte es noch einmal, wenigstens noch einmal mitmachen, mit Musikbegleitung und Blumen durch die Straßen zum Bahnhof ziehen — aber wenn ich befreit werde, macht’s auch nichts.
Aber vorläufig warteten wir vergebens auf die Befreiung, auch auf das Mittagessen warteten wir vergebens. Vor dem Fenster, etwa anderthalb Meter entfernt — befand sich ein Zaun, höher als ein Stockwerk, das war alles, was wir von der Außenwelt sahen.
Es wurde Abend.
— Sie haben uns vergessen, zum Teufel noch mal — fluchte der Soldat mit dem Zigeunergesicht.
— Bis morgen halten wir's noch aus — tröstete ihn ein Arbeiter. — Morgen kommen wir bestimmt an die Reihe.
Es war eine lange Nacht. Wir waren hungrig, aber 48
noch mehr quälte uns die Kälte. Wir schliefen auf dem nackten Boden. Um nicht zu erfrieren, legten wir uns dicht nebeneinander. Erst nach geraumer Zeit gelang es mir einzuschlafen, aber ich konnte nicht lange schlafen; ich wachte davon auf, dass irgendwo in der Nähe der Kaserne Maschinengewehre knatterten. Ich stieß meinen Nachbar, den Zigeuner, in die Seite.
— He!
— Irgendwo wird mit Maschinengewehren geschossen — sagte ich.
Der Zigeuner horchte eine Weile, dann legte er sich zurück.
— Du träumst — sagte er und schnarchte schon wieder.
Jetzt hörte ich auch kein Geräusch mehr als das Schnarchen meiner Kollegen. Ich konnte aber nicht wieder einschlafen.
Das Morgengrauen fand mich wach.
Von den Gefährten war der Zigeuner am ersten auf. Er spuckte in die Hände und rieb sich die Augen.
— In der Nacht ist mit Maschinengewehren geschossen worden — erzählte er — , die Gendarmen haben in die streikenden Arbeiter hineingeschossen.
— Woher weißt du denn das? — fragte ich verwundert.
— Ich bin kein neugeborenes Kind — sagte der Zigeuner — , Sandor Asztalos weiß alles. Ich kann dir auch verraten, dass ich am Ende von allem den deutschen Kaiser aufknüpfen werde.
Mit einem Fußtritt weckte er die anderen und erzählte auch ihnen mit allen Einzelheiten — das nächtliche Straßengefecht. Inzwischen dämmerte es, es wurde Morgen, aber niemand dachte an uns.
Es war ungefähr gegen Mittag, als man endlich die Tür öffnete. Drei Gendarmen mit aufgepflanztem Bajonett standen auf dem Flur.
— Peter Kovacs — schrie der Gendarmeriewachtmeister.
— Hier — sagte ich.
— Herkommen.
Zwei Gendarmen nahmen mich in die Mitte, der Wachtmeister stellte sich hinter meinen Rücken. Die Arrestzelle befand sich im hinteren Gebäude der Kaserne, wir gingen durch den Hof in das vordere Gebäude, und da in den zweiten Stock. Eine halbe Stunde warteten wir auf dem Flur. Die Gendarmen gestatteten mir, mich inzwischen zu setzen. Offiziere und Unteroffiziere gingen hin und her auf dem Flur, Türen wurden geöffnet, Türen wurden zugeschlagen, um mich kümmert sich niemand. Im Sitzen schlief ich beinahe ein, aber plötzlich wurde ich wieder munter, als zwischen zwei Gendarmen der Genosse Hajos vor mir auftauchte. Er kam gerade aus der Tür mir gegenüber. Er sah über mich hinweg — ich tat auch, wie wenn ich ihn gar nicht kannte. Die Gendarmen führten ihn nach links ab, in der Richtung, aus der ich gekommen war. Die Tür öffnete sich wieder, ein Wachtmeister rief meinen Namen. Wenn ich mich recht erinnere, waren sieben Leute in dem Zimmer, in das man mich führte. Lauter Offiziere, nur in der Türe stand ein Wachtmeister.
— Herr Garnisonsauditor, melde gehorsamst, auf Befehl habe ich den Arrestanten Peter Kovacs vorgeführt.
— Peter Kovacs — sagte der Garnisonsauditor und sah mich scharf an. Er hatte hässliche, verquollene Augen.
— Peter Kovacs — wiederholte der Auditor, ich stand nun da, ich wusste nicht, ob ich etwas sagen sollte, oder ob es besser wäre, zu schweigen. Der eine Offizier — ein Leutnant — gab mir ein Blatt Papier.
— Wer hat dir diesen Wisch gegeben? — fragte der
Auditor.
Ich blickte auf das Papier. Es war dicht mit Schreibmaschinenschrift beschrieben. Die Buchstaben flossen mir vor den Augen zusammen. Ich konnte nur die erste Zeile, die mit lauter großen Buchstaben geschrieben war, lesen: GENOSSEN ! SOLDATEN !
— Wer hat dir diesen Wisch gegeben?
— Der Herr Leutnant.
— He, du bist gut aufgelegt. Die Lust wird dir schon vergehen...
— Diese Schweinerei — und noch etwa zweihundert solcher Zettel hattest du in der Wohnung in deiner abgeschlossenen Truhe unter dem Bett verwahrt. Von wem hast du sie bekommen?
— Von niemanden. Ich sehe dieses Blatt jetzt zum ersten Mal.
Das Verhör dauerte lange, aus meinen Antworten wurden die Herren nicht klüger. Zum Glück fragten sie mich lauter Dinge, von denen ich wahrlich nichts wusste, sonst hätte ich mich vielleicht — auch ohne zu wollen — verraten.
— Wie alt bist du? — fragte der Auditor.
— Achtzehn vorbei.
— Zieh dich aus!
— Es ist nicht nötig — sagte der eine Offizier — ein Militärarzt. — Tauglich. — Frontdiensttauglich.
Drei Gendarmen brachten mich in das Arrestlokal zurück, wo die anderen schon zu Mittag aßen.
Am nächsten Tag, beim Morgengrauen, führten zwei Gendarmen mich und Sandor Asztalos zum Bahnhof. Die Straßen waren ganz leer, wir trafen nur Wachpatrouillen. Das Bahnhofsgebäude war voll von Gendarmen. Ich sah keinen einzigen Bekannten. Überall arbeiteten Soldaten. Die zwei Gendarmen stiegen mit uns in den nach Budapest fahrenden Personenzug.
Gegen Abend kamen wir in Budapest an und verbrachten die Nacht in dem Arresthaus der Landwehrkaserne.
— Ein guter Soldat ist überall zu Hause — zeigte Asztalos stolz auf die Wand hin, wo ein von Rauch vergilbtes Papier mit der Aufschrift: „Rauchen streng verboten" angebracht war.
Am nächsten Morgen wurde ich in Soldatenuniform gesteckt und meine militärische Ausbildung begann. Von morgens sechs bis fünf Uhr abends war ich ein Soldat in Ausbildung; von abends fünf Uhr bis morgens sechs Gefangener. In meiner Kompanie waren wir unser zweiundzwanzig, denen es gerade so erging. Am Tage brachten uns ein Wachtmeister und ein Korporal bei, wie wir gehen, liegen, wie wir Kniebeuge machen, wie wir schießen und wie wir stechen sollten: am Abend erzählten uns in dem dunklen Gefängnis, auf dem Stroh liegend, alte Landsturmsoldaten, wie man Krankheiten simuliert, und wenn das nichts nützen sollte, wie man sich eine Krankheit holt, und wie man türmt, wenn es brenzlich wird.
— Es gibt nichts Besseres als die Epilepsie — behauptete ein Landsturmsoldat, ein Bauer mit langem Schnurrbart, er war dreimal im Feld gewesen, aber ein viertes Mal brachte er's nicht fertig. — Es gibt nichts Besseres als die Fallsucht — wiederholte der Mann und erklärte mit tausend Einzelheiten, wie diese Krankheit gespielt wird.
— Na, ich bleibe schon bei der Krätze — entgegnete ein Junge aus Budapest. — Du musst sie dir zwei Tage vor dem Abmarsch holen. Wenn sie rechtzeitig ausbricht, bringt dich kein Herrgott ins Feld.
— Höre nicht auf sie, Bruder — warnte mich Sandor
Asztalos, der Zigeuner — , ich will ja nichts sagen, eine kleine Krankheit ist eine ganz gute Sache, aber, glaube mir, lieber Freund, das Gesündeste ist doch, zu desertieren.
— Ich habe zwei Söhne im Feld — erzählt jeden Abend ein alter Landsturmsoldat. — Der erste, er hieß Janos wie ich — seine Seele ruhe in Frieden — , ist unten in Serbien geblieben.
— Bei uns im Dorf zahlt der Gemeindenotar nur der Frau die Unterstützung, die die Beine spreizt.
— Und die alten Weiber?
— Die lässt er graben, Mais brechen oder Federn schleißen oder sonst etwas verrichten.
Ich war acht Wochen in Budapest, aber ich kam nicht ein einziges Mal in die Stadt. Die Kaserne stand draußen am Ende der Stadt, in der Nähe eines kleinen Wäldchens, das Volksaue genannt wird. Der Exzerzierplatz lag weit außerhalb der Stadt. Außer dem Arresthaus und dem Hof der Kaserne kannte ich nur den Weg dahin.
Am Ende des achten Monats wurde ich in die Marschkompagnie eingeteilt. Alle zweiundzwanzig Arrestanten kamen in dieselbe Kompanie. Als wir die Ausrüstung erhielten, merkten wir an den Bergsteigerschuhen, dass wir in die Dolomiten geschickt werden sollten. Am Tag vor dem Abmarsch erkrankten drei Arrestanten, am Morgen des Abmarsches bekam der Bauer mit dem großen Schnurrbart einen epileptischen Anfall.
Frühmorgens traten wir an. Wir hatten nagelneue erdfarbene Uniformen an, unsere Mützen waren mit Bändchen in den Nationalfarben geschmückt. Das Orchester spielte, ein Oberleutnant kommandierte zum Gebet. Ein Feldpater las den Schwur vor, wir sprachen ihn laut nach. Dann hielt der Oberleutnant eine schöne Rede: er sprach vom Vaterland, vom König, von der Freiheitsliebe und von der Königstreue des ungarischen Volkes. Aus den Augen des neben mir stehenden Sandor Asztalos flossen Tränen.
— Kompanie marsch!
Die Musik spielte. Vor den Spielleuten wurde eine geschmückte Fahne hergetragen. Vor der Kompanie und hinter der Kompanie gingen je ein Zug Feldgendarmen, uns achtzehn Arrestanten bewachte außerdem je ein Gendarm. Den ganzen Zug begleiteten beiderseits weinende Frauen.
Da sah ich zum ersten Mal die Straßen von Budapest.
Auf dem Bahnhof brauchten wir nicht lange zu warten, wir wurden sofort in den schon bereitgestellten Zug einwaggoniert. Wir Achtzehn wurden für uns allein in einem Viehwagen kommandiert. Die Tür wurde hinter uns ins Schloss geklappt.
— Na, jetzt flieh, Bruder, wenn du kannst!
— Erzähl mir nichts, ich weiß schon, was ich zu tun habe — antwortete Asztalos selbstbewusst.
— Diese Tür brichst du nicht durch.
— Ich denke gar nicht daran. Wir heben den Boden aus. Nachts werden wir alle verduften. Es ist gut, wenn wir uns jetzt erst einmal ausschlafen.
Der Zug war abgefahren, wir legten uns auf den dünn mit Stroh bedeckten Boden und schliefen ein. Ich schlief nicht lange, die Kälte weckte mich auf.
Mittags öffnete man die Tür — Feldgendarmen mit aufgepflanzten Bajonetten standen davor. Wir bekamen zu essen. Bevor wir abfuhren, wurde die Tür wieder abgeschlossen.
— Na, Jungens, wir haben lange genug herumgelungert. Jetzt an die Arbeit!
Asztalos untersuchte den Boden des Waggons gründlich.
— Eine Spielerei! Hol mich der Teufel, wenn ich nicht mit den Fingernägeln diese faulen Bretter heraushebe!
Asztalos gab die Weisungen, und wir scheuten keine Anstrengung und schonten den an unserer Seite hängenden Schürhaken nicht. Nach einer kurzen Stunde war der Weg freigelegt zu den schnell laufenden Rädern.
— Gott sei Lob und Dank! Lasst es jetzt gut sein, wir müssen noch bis zum Abend die Zeit hier totschlagen, Gott verdamm mich. Wir müssen die Sache so anfangen — wenn der Zug hält, schießen wir, dann trauen sich diese Jammerlappen nicht in unsere Nähe zu kommen, und zwei — drei Mann können verduften — erklärte Asztalos.
Bevor wir aus der Kaserne abzogen, waren wir gründlich durchsucht und uns die Munition abgenommen worden. Es hatte aber jeder noch etwas gerettet. Für eine Schießerei reichte es gerade aus.
Es wurde Abend. An der ersten Station, wo wir in der Dunkelheit ankamen, begann das Spiel. Wir schossen einige Mal in die Wand des Wagens und brüllten, wie wenn wir bei lebendigem Leib geschunden würden.
Von draußen keine Antwort.
Zwei Mann hauen ab.
— Alles Gute, Jungens!
Um Mitternacht herum verließen Asztalos und ich als Letzte den Waggon. Als wir zwischen den Rädern herauskrochen, legten wir uns zwischen die beiden Schienenpaare auf den Bauch, und warteten, bis der Zug abgefahren und auch dann erhoben wir uns erst nach einer guten Viertelstunde mit aller Vorsicht.
Wir standen allein da.
— Wohin jetzt?
Wir umgingen den finsteren Bahnhof. Ein großes Dorf schlief dahinter. Der Himmel war wolkenlos, der Mond beleuchtete den Weg mehr als uns erwünscht war.
— Ins Dorf hineingehen?
— Dort gibt's gewiss Gendarmen.
Die Landstraße ist auch nicht sicher genug. Gehen wir in Gottes Namen in das erste Haus hinein.
Da ich merkte, dass Asztalos die Sache zu verstehen schien, ging ich ihm nach. Beim zweiten Klopfen bewegte sich jemand im Hause und machte Licht.
— Wer ist da? Was wollt ihr?
— Militärpolizei. Öffnet die Tür.
Wir hörten ein unterdrücktes Fluchen. Das Licht verschwand und nach einigen Augenblicken stand der Bauer mit seiner Petroleumlampe in der Hand auf dem Hof.
— Wo ist die Kaserne? — fragte Asztalos in strengem Ton.
— Kaserne? In unserem Dorf gibt es keine Kaserne.
— Wo wohnen die Gendarmen?
— Zwei Stunden von hier, in Alsodombor.
— Verdammt noch mal! — brach Asztalos aus. — Wir suchen Deserteure, wir müssen hier im Dorf übernachten. Wir schlafen bei dir.
— Bei mir ist kein Platz — sagte der Bauer.
— Dann gehst du aus dem Haus. Wir geben dir einen Zettel, dass wir hier schlafen, und die Staatskasse wird dir das Quartiergeld bezahlen.
Schon gut — brummte der Bauer und öffnete das Tor.
Der Wirt leuchtete uns voran, wir gingen ihm nach. Durch die Küche kamen wir ins Zimmer, in dem zwei Betten standen. In einem schliefen Kinder, im anderen erhob sich mit erschrockenem Gesicht eine Frau.
— Es ist weiter nichts los — begrüßte sie Asztalos.
— Militärpolizei — sagte der Mann zu ihr — morgen früh ziehen sie ab.
Asztalos und ich lehnten unsere aufgepflanzten Gewehre in eine Ecke und setzten uns zum Tisch.
— Habt ihr was zum Futtern?
— Ich glaube nicht.
— Wir geben euch eine Schrift, und die Staatskasse wird's euch bezahlen.
— Gut, schon gut — wackelte der Bauer mit dem Kopf.
Nach einer Weile stand vor jedem von uns ein Topf Milch und je ein Stück schwarzes Brot. Die Milch war kalt, das Brot trocken, aber wir tranken sie und würgten das Brot herunter, aber dann bekamen wir erst richtigen Appetit.
— Könnt ihr uns nicht was anderes geben? Ihr bekommt es schriftlich.
— Es ist Krieg — erwiderte der Bauer ängstlich.
— Ja, ja. Wieso bist du denn zu Hause geblieben? — fragte Asztalos streng.
— Ich? — sagte der Bauer verwundert. — Ich bin nicht zu Hause geblieben. Ich bin Kriegsgefangener, — russischer Kriegsgefangener. Iwan Iwanowitsch ist mein richtiger Name. Wenn ich's genau berechne, lebe ich seit länger als drei Jahren in Ungarn.
— Na, und wo hast du Ungarisch gelernt?
— Das lernt man schon der Frau zuliebe.
— Sind Kinder da?
— Zwei.
— Der Vater des größeren ist irgendwo in Sibirien, das kleinere ist fünf Monate alt, gehört uns.
— Na gut. Legt euch ins Bett zurück, wir schlafen auf dem Boden.
Die Frau brachte zwei Pferdedecken, der Mann holte Stroh und bettete uns auf den Boden.
— Wir geben euch eine Schrift — versicherte Asztalos — wir geben euch über alles eine Schrift.
Frühmorgens standen wir auf, wuschen uns beim Brunnen, dann stellte Asztalos das Schriftstück aus. Wir waren schon wegbereit, als wir plötzlich einen Gast bekamen. Ein Landwirt mit langem dünnen Schnurrbart, in blauen Hosen, Schaftstiefeln, suchte die Militärpolizisten.
— Ich heiße Porfir Iwanowitsch Petroff, aus dem Moskauer Gouvernement — stellte er sich feierlich vor. — Ich habe den Herren ein kleines Frühstück gebracht.
Aus einem handgewebten Tuch zog er ein Stück Speck, Wurst, weißes Brot und eine Flasche Schnaps vor.
— Es möge Ihnen wohl bekommen, meine Herren Soldaten!
— Das ist schon ein Fressen! Wir geben eine Schrift darüber. Über alles.
— Aber nicht doch, meine Herren. — So Gott mich beschütze, ich gebe es nicht deshalb. Man freut sich von Herzen, dass endlich Menschen ins Dorf gekommen, die hier Ordnung schaffen. Weder das Vermögen noch das Leben des Menschen ist hier sicher vor den vielen herumstreichenden Kriegsgefangenen und Deserteuren.
— Seid ihr kein Kriegsgefangener?
— Das bin ich, aber wissen Sie, wenn man zwanzig Morgen bewirtschaftet! Ich arbeite ehrlich mit, die Frau scheut auch keine Arbeit, trotzdem sie über fünfzig ist. Wir haben auch 'ne Kleinigkeit, aber heutzutage ist es so, wenn man für einen Augenblick das Auge zudrückt, stehlen sie einem das Hemd vom Leib. Die Kriegsgefangenen müsste man ins Lager zurückbringen, sie stehlen mehr, als sie arbeiten. Die Deserteure, — die Gott verflucht hat, — der Wald, die Landstraße sind voll von ihnen, — hätte man bei uns zu Hause längst erschossen wie Hunde. Ich glaube, und beim Herrn Dorfnotar habe ich's gerade herausgesagt, das Land geht zugrunde, es wird von tollen Hunden aufgefressen, wenn man diese Leute so frei herumstrolchen lässt.
Dem Hauswirt gefiel das Gerede nicht, er wollte schon mehrmals dazwischensprechen, aber er unterließ es immer wieder, da er sah, dass Asztalos zu allem mit dem Kopf nickte. Wir aßen beide mit vollem Maul, lange war es uns nicht so gut gegangen. Asztalos zeigte sich auch dankbar, wenn sein Mund schon so voll war, dass er mit Worten nicht bejahen konnte, gab er Porfir Iwanowitsch wenigstens mit stetem Kopfnicken recht.
Während wir aßen und Porfir Iwanowitsch über die Gefahren sprach, die das Vaterland bedrohten, ging das Gerücht durch das Dorf, dass wir hergekommen seien, um Ordnung zu schaffen. Nacheinander kamen die Bewohner mit ihren Klagen:
— Der Herr Dorfnotar hält die Unterstützungsgelder zurück.
— Der Jude gibt uns auf unsere Marken kein Petroleum. Wer einen höheren Preis zahlt, dem gibt er's auch ohne Marken.
— Wenn schon von einer Dienstbefreiung gesprochen wird--------------
Das Zimmer war bald voll von Leuten, die irgendeine Beschwerde hatten. Mir verging plötzlich der Appetit, irgend etwas presste meine Kehle, es gefiel mir gar nicht, dass Asztalos jetzt auch den Ärmsten allerlei Dinge vormachte und versprach. Asztalos hörte sich die Beschwerden an und nickte nur mit dem Kopf, wie vorher bei den Worten Porfir Iwanowitschs, aber schließlich platzte auch bei ihm die Geduld, er warf wütend das Messer, mit dem er den Speck geschnitten hatte, zu Boden.
— Herrgott, Sakrament, dieses dumme Volk, warum schlagt ihr diesen schuftigen Kerl nicht tot? Man muss ihn erschießen wie einen tollen Hund!
Die Leute standen mit offenem Mund da. Auf einen solchen Rat waren sie nicht gefasst. Im Zimmer wurde es plötzlich still. Porfir Iwanowitsch stand auf, er wollte was sagen, aber es war keine Zeit mehr dazu.
Plötzlich traten zwei Gendarmen ins Zimmer, mit schussbereitem Gewehr, zwei andere Gendarmen richteten vom Fenster aus die Gewehre auf uns.
— Hände hoch!
Bis wir erfassten, was geschehen war, hatten wir schon Fesseln an den Händen.
— Deserteure — sagte der eine Gendarm.
— Schufte — brach Porfir Iwanowitsch aus. Verdammte Schufte!
Ich dachte, dass den anderen, die ihre Beschwerden vorgebracht hatten, und dass in erster Reihe unserem Hauswirt sich nun die Zunge lösen werde. Aber es kam anders. Porfir Iwanowitsch zog fluchend ab, die anderen gingen ruhig mit herabhängendem Kopf hinaus.
Jetzt standen schon alle vier Gendarmen im Zimmer. Sie entluden unsere in der Ecke aufgestellten Gewehre, nahmen uns die Bajonette ab, dann befahlen sie einem hinkenden Bauernjungen, sie uns nachzubringen.
— Na, gehen wir!
Inzwischen packte die Hausfrau die Reste von Porfir Iwanowitschs Speck und Brot in ein altes Zeitungspapier und drückte mir das Päckchen in den Arm.
— Wer weiß, wann Sie wieder etwas zu essen kriegen — sagte sie leise.
Der Mann drückte ein in Lumpen gewickeltes Kind an seine Brust und nickte zustimmend mit dem Kopf.
Die Gendarmen sperrten uns nach zweistündigem Marsch in irgendeinen Stall ein. Die Fesseln nahmen sie uns nicht ab. Asztalos fluchte wütend.
— Wenn sie uns wenigstens Tabak geben würden, die Hunde.
— Was haben sie mit uns vor? — fragte ich.
— Entweder übergeben sie uns dem Kriegsgericht, dann werden wir zu Gefängnis verurteilt, aber wir müssen es erst nach dem Kriege absitzen — jetzt wird man uns an die Front zurückschicken. Dann brennen wir natürlich wieder durch. Oder man bringt uns zum Ersatzbataillon zurück, dann schicken sie uns an die Front, und dann flüchten wir auch. Wenn wir doch wenigstens etwas Tabak hätten, dass Gott alle Gendarmen verdamme, die Saukerle, die die beschissene Welt nur noch mehr verpesten!
Einen Tag und eine Nacht kauerten wir in diesem Stall herum. Brot und Speck hatten wir genügend, aber wir verkamen fast vor Durst. Asztalos redete unaufhörlich. Ausführlich erzählte er — weiß der Teufel zum wievieltenmal — die Geschichte seiner neun Desertionen, dann sprach er vom Kriegsschauplatz. Auf dem serbischen Kriegsschauplatz hatte er einen Lungenschuss bekommen — acht Monate war er krank danach — , auf dem russischen Kriegsschauplatz presste ihn der Luftdruck eines Granatgeschosses derart an den Boden, dass seine Hände und Füße monatelang hin und her zuckten wie bei einer Marionette.
Als es dunkel wurde, sprach Asztalos über die Vorkriegszeit. Er erzählte in allen Einzelheiten, wie das kleine siebenbürgische Dorf, in dem er geboren war, wie das Haus, in dem er wohnte, aussieht, wo das zwei Morgen große Stückchen Land liegt, das er von seinem Vater geerbt hat. Als er von der Frau sprach, blieb das Wort in seiner Kehle stecken.
— Ich habe drei Kinder zu Hause, drei kleine Gesellen warten auf mich zu Hause.
Da versagte Asztalos die Stimme. Er erwartete vielleicht Ermutigung, aber ich war mit meinem eigenen Kummer beschäftigt. In einer Ecke des Stalls starrte ich, auf dem Düngerstroh sitzend, nach der Decke, es war aber wirklich nichts zu sehen daran.
Asztalos lag lange unbeweglich da, mit dem Gesicht nach dem dreckigen Stroh gewandt. Ich dachte, er schliefe. Gegen Morgen schlummerte auch ich ein wenig ein. Aber kaum war ich eingeschlafen, wurde ich wach, weil Asztalos laut weinte. Sein Körper schüttelte sich vor Weinen, wie bei einem geprügelten Kind.
— Wo fehlt's, Bruder? Tut dir was weh?
Asztalos richtete sich auf, er versuchte mit den gefesselten Händen sein verschmiertes Gesicht abzuwischen.
— Sie werden mir das noch bezahlen! Sie werden für alles zahlen müssen, diese Hunde! — sagte er mit ganz veränderter Stimme. — Wenn wir wenigstens etwas Tabak hätten — fügte er etwas später hinzu, jetzt schon mit seiner gewöhnlichen Stimme.
In der Früh holten uns zwei Gendarmen. Sie brachten uns zum Bahnhof und stiegen mit uns in den nach Budapest fahrenden Zug ein. Am Nachmittag waren wir wieder in der Landwehrkaserne, dort wurden wir voneinander getrennt. Ich wurde dahin zurückgebracht, wo ich vorher schon gesessen hatte. Asztalos wurde irgendwo anders eingesperrt.
Neun Tage saß ich im Arrest — unterdessen wurde ich dreimal verhört — zweimal in der Kanzlei der Ersatzkompagnie und einmal in der Bataillonskanzlei. Am zehnten Tag, morgens um acht Uhr, ging ich, mit Fahnen — Musik — und Gendarmenbegleitung, wieder an die Front ab.
Am selben Tag, um sechs Uhr morgens, wurde das Todesurteil gegen Sandor Asztalos auf dem Kasernenhof vollstreckt.

 

III.

Damals konnte ich die Dinge nicht so klar übersehen, aber das wusste ich, dass das ganze österreichischungarische Kaiser- und Königtum zu jener Zeit schon so krank war, dass es selbst nicht mehr wusste, was es tat. Nur so konnte es geschehen, dass man mich nicht an die italienische Front schickte, sondern in eine Marschkompagnie einteilte, die nach dem Osten, an die russische Grenze, bestimmt war.
Nach meinen Informationen hatten wir zu jener Zeit schon Frieden mit den Russen — so konnte also dieser Abtransport nicht als Strafe betrachtet werden. Ich sagte schon, ich verstand die ganze Sache nicht, ich war sogar lange Zeit nicht sicher, ob wir tatsächlich nach dem Osten fuhren. Als wir aber in die Nähe der Karpathen kamen, als uns der Zug über Lawotschne nach Galizien brachte und es auch jetzt immer weiter nach Osten ging, zweifelte ich nicht mehr daran, dass wir uns Russland näherten.
Zu der Zeit bedeutete Russland für uns nicht mehr dasselbe wie vor der Revolution — es war nicht mehr das Land der Schrecknisse, aber es war noch nicht das, was es heute ist. Schon zu Hause, aber hauptsächlich jetzt, wo wir auf Russland zu fuhren, wurde lebhaft über die dortigen Dinge gesprochen, aber keiner verstand richtig, was eigentlich in Moskau und in Petrograd geschehen war.
— Verfluchte Vagabunden — sagte Wachtmeister Csordas jedes Mal, wenn von den Bolschewiki die Rede war.
— Weshalb sind Sie auf die Bolschewiki so böse, Herr Wachtmeister? Sie haben doch Frieden mit uns geschlossen!
— Sie haben Frieden geschlossen? An diesen Frieden werden sie noch denken, die Schufte!
In der Nähe von Strij wurden die drei Viehwagen, in denen die Marschkompagnie untergebracht war, und auch der Wagen, in dem unsere Offiziere sonst schmausten, an einen langen Güterzug gekuppelt, der invalide russische Kriegsgefangene in die Heimat beförderte. Man kann nicht sagen, dass wir sehr bequem fuhren — wir waren etwa je siebzig Mann in einem „für sechs Pferde oder vierzig Mann" bestimmten Waggon eingepfercht, aber im Vergleich zu den Russen war es bei uns noch herrlich. Die Türen waren bei ihnen während der ganzen Fahrt verschlossen und verriegelt, nur während der Esszeit ließ sie der Zugkommandant öffnen, vorher aber stellte er zu jedem Wagen sechs Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. Als ich hier einmal Wache stand, sah ich, dass etwa hundert Menschen in einen Waggon gepresst waren. In dem Waggon waren Russen mit einem Bein, mit einem Arm, mit einem Auge, ich sah auch welche, denen beide Beine bis zu den Hüften abgeschnitten waren.
Kurz vor Lemberg blieben wir auf offener Strecke stehen. Außer uns standen noch zwei Militärzüge und ein langer Güterzug da, alle ohne Lokomotive. Zwei Offiziere kamen zu unserem Zug hin — streckten die Köpfe mit unseren Offizieren zusammen und berieten eich lange. Vor den anderen Zügen standen Wachposten mit aufgepflanzten Bajonetten, auch unser Kommandant stellte eine Wache auf. Wir wussten schon, was los war: in Lemberg streikten die Eisenbahner. Tags zuvor hatte der Stadtkommandant vier Arbeiter erschießen lassen. Aber nicht nur wir hörten von der Sache — auch die Eisenbahnersoldaten erfuhren, was los war. Bis unser Kommandant sich die Sache überlegte, waren sie alle über Berg und Tal. Von morgens bis abends standen wir vor Lemberg. Gegen Abend stieg ein Militäringenieur auf die Lokomotive und brachte unseren Zug nach dem Grodeker Wald, dort erreichte uns auch der Morgen. In der Frühe ließ der Kompaniechef — ein dünner langer Oberleutnant — die Marschkompagnie antreten. Auch ein Blinder hätte gemerkt, dass die Kompanie zusammengeschrumpft war. Wachtmeister Csordas zählte uns ab, zweiundfünfzig Mann waren in der Nacht verschwunden. Der Oberleutnant tobte vor Wut:
— Wartet, ihr Hunde!
Auf seinen Befehl gingen wir in den Waggon zurück und der Wachtmeister verschloss die Türen mit schweren Schlössern.
Den ganzen Tag saßen wir hinter Schloss und Riegel, und nur durch das kleine Gitterloch sahen wir das frische Grün der Bäume des Grodeker Waldes. Jetzt hatten wir etwas mehr Platz, aber man konnte sich noch immer schwer bewegen. Ich zog mich in eine Ecke zurück und saß da mit untergeschlagenen Beinen. Neben mir lehnte ein stämmiger, schwarzer, zweiundvierzigjähriger Soldat mit dem Rücken an die Wagenwand.
— Wenn wir den Boden ausheben, können wir uns fortmachen — sagte ich zu ihm.
— Aber was? Das hat keinen Sinn. Du bist doch Arbeiter, nicht wahr?
— Ja, Metallarbeiter.
— Ich habe in der Mautnerschen Lederfabrik gearbeitet. Nach dem Januarstreik wurde ich eingezogen. Die Flucht hat keinen Sinn, denn so erfahren wir wenigstens, wie es bei den Russen aussieht. Es wird gut sein, wenn wir ihre Kunst lernen — wir werden es vielleicht bald brauchen.
Wir befreundeten uns schnell. Daniel Pojtek hieß mein neuer Freund. Wie er erzählte, hatte er in Friedenszeiten halb Europa durchwandert, er sprach deutsch, französisch und etwas russisch. Als ich gegen Abend wieder von Flucht sprach, neigte er sich zu meinem Ohr — obzwar wir bisher ohne Angst ganz laut gesprochen hatten — und sagte flüsternd:
— Wenn du flüchten willst, warte, bis wir an die russische Grenze gelangen. Und dort flüchte dann nicht nach hinten zurück, sondern nach vorne über die russische Grenze hinweg.
Als wir gegen Abend unter Aufsicht der Feldgendarmen für einige Minuten aussteigen durften, rauchte schon wieder eine Lokomotive vor dem Zug, Pojtek wusste bereits, dass man den Zug durch Streikbrecher weiterfahren lassen wollte.
— Wir haben Glück, dass wir dahinten von der Lokomotive weit entfernt sind — sagte er.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Es ging langsam vorwärts, wie wenn die Lokomotive vorsichtig tastete. Pojtek kroch zum kleinen Gitterloch, um in die Dunkelheit hinauszusehen. Ich versuchte auch hin zu kommen, aber bevor es mir gelang, über die auf dem Boden durcheinander liegenden Soldaten wegzukommen, fühlte ich plötzlich, dass unser Zug mit einem Ruck stecken blieb. Die Lokomotive schrillte lang und scharf, und der Zug bewegte sich wieder zurück. Ein paar Augenblicke später hörten wir ein schreckliches Getöse. Unser Wagen war mit dem vor uns laufenden Wagen zusammengestoßen — alles krachte und prasselte — dann wurde es plötzlich still. Der Zug blieb stehen. Die Stille hielt nur einen Augenblick an — im nächsten Augenblick hörten wir Geschrei, Weinen und Jammern, wie wenn gleichzeitig Hunderte von Menschen lebendig geschunden würden. Wir wussten nicht, was passiert war — wir waren eingeschlossen — plötzlich fingen auch wir an zu schreien und zu jammern. Wir schlugen mit der Faust, wir hämmerten mit den Gewehren gegen die Wand des Waggons.
— Öffnen! Hilfe! Hilfe!
Es dauerte keine Viertelstunde, bis die Holzwand nachgab und wir gelangten, einander schlagend, stampfend und über menschliche Körper stolpernd auf den Eisenbahndamm. Der Damm war voll von weinenden, fluchenden Menschen — Bekannte und Unbekannte sprachen miteinander unter lebhaften Handbewegungen: Ungarisch, Deutsch, Polnisch, Russisch. Die Lokomotive und die zwei ersten Wagen des Zuges leuchteten in einer flackernden Flamme. Die Lokomotive sah aus, wie wenn sie sich auf den hinteren Rädern aufbäumte und mit den vorderen Rädern eine andere kleine Lokomotive in den Schoß nähme. Die Streikenden hatten eine herrenlose Lokomotive mit Volldampf in den Zug hineingejagt.
Nach drei Tagen wurde der Streik abgebrochen und wir fuhren weiter, durch Ivangorod, Brest Litowsk, durch das eroberte Russisch-Polen in der Richtung nach Molodetschno, wo sich das Gefangenenaustauschlager befand. Unsere Kompanie wurde auch diesmal auf drei Waggons verteilt, aber die Kompanie war inzwischen so zusammengeschrumpft, dass wir nachts ausgestreckt auf dem Boden liegen konnten.
Jenseits vor Ivangorod war alles in deutschen Händen: die Wache war deutsch. Da ging alles ordentlich, sauber und genau zu. Nach der Schneckenfahrt durch Galizien hatten wir ein Gefühl, als ob wir jetzt flögen. Von der Außenwelt sahen wir recht wenig — denn das Schloss hing auch jetzt an unserer Tür. Die einzige Sache, an die ich mich aus dieser Zeit erinnern kann: eines Morgens schlugen zwei deutsche Soldaten eine alte Judenfrau mit dem Gewehrkolben blutig, weil sie Lebensmittelreste von ihnen kaufen wollte. Da waren wir schon in unmittelbarer Nähe von Molodetschno.
In Molodetschno lösten wir eine österreichische Jägerkompagnie ab. Unsere Kompanie war bis dahin etwa auf die Hälfte herabgesunken, aber die Österreicher waren noch weniger als wir. Rechts von der Brücke, in einer großen Baracke, war die deutsche Wache einquartiert. Auf der acht bis zehn Meter langen Brücke stand ein russischer Soldat Wache. Die russischen Soldaten hatten abgerissene Uniformen — sie trugen die alte, zaristische feldgraue Uniform, die alte Mütze — aber sie hatten an die Mütze ein rotes Band gesteckt. — Bolschewik!
Am zweiten Tage nach unserer Ankunft übergaben wir den Kriegsgefangenentransport den Russen. Ein kleiner, schmächtiger Militärarzt mit krummem Rücken kam von drüben und zwei große breitschultrige Rotgardisten. Der Arzt sprach deutsch mit unserem Oberleutnant. Die Austauschgefangenen gingen zu zweien über die Brücke — der Arzt mit dem krummen Rücken zählte sie laut. Einen hilflosen Krüppel brachte der eine Rotgardist am Arm über die Brücke hinüber.
Als alle Russen bereits drüben waren, kam der Austauschtransport.
In langen, langen Reihen kamen die österreichischen und die ungarischen Kriegsgefangenen. Während sie hinüber kamen, spielte Militärmusik vor der Baracke, und fast bis zur Brücke kam ein mit Blumen und Fahnen geschmückter Lazarettzug. Als alle drüben waren, sperrte die Wache die Brücke ab.
— Antreten!
Die Neuangekommenen stellten sich in zwei langen Reihen hinter der Baracke auf. In der vorderen Reihe standen die Offiziere, in der hinteren die Mannschaft. Man hätte eher an einen Maskenzug als an Militär gedacht. Einer trug eine rote Husarenhose, einen grünen deutschen Kittel und eine riesige russische Pelzmütze; ein anderer eine russische Uniform und einen deutschen Helm; der dritte hatte russische Bauerntracht und eine Husarenmütze.
Erst lispelte ein österreichischer General mit wackligen Beinen etwas auf Deutsch, dann trat unser Oberleutnant vor die Reihe hin.
— Die Bolschewisten sollen vortreten! — schrie er mit dröhnender Stimme, erst deutsch, dann ungarisch.
— Ich ersuche die Herren, — sagte er dann etwas leiser, wenn sich unter Ihnen ein Bolschewik befindet, oder jemand, den Sie in Verdacht haben, dass er mit den Bolschewiken sympathisiert, ihn mir zu benennen.
Ein großer Offizier in österreichischer Jägerbluse und in russischer Hose trat vor und nannte dem Kommandanten schnell nacheinander vier Namen — dann wandte er sich nach hinten und zeigte auf vier in den Reihen der Mannschaft stehende Soldaten. Auf Befehl des Kommandanten stellten sich die vier Soldaten abseits. Ein dicker Offizier mit rotem Schnurrbart zeigte auf zwei andere Soldaten. Der Oberleutnant ließ auch diese aus der Reihe treten, dann wurden alle sechs von der Wache abgeführt.
Vorläufig war es mit der Untersuchung zu Ende — die Austauschgefangenen stiegen in den Lazarettzug ein. Als alle eingestiegen waren, schloss der Oberleutnant alle Türen ab, und jetzt folgte der zweite Teil der Untersuchung. Der Oberleutnant, Wachtmeister Csordas und vier Soldaten gingen von Wagen zu Wagen und durchsuchten gründlich das Gepäck eines jeden Austauschgefangenen. Einer von den Gepäckkontrolleuren war mein Freund Pojtek.
Es war schon weit nach Mitternacht, als Pojtek in die Baracke zurückkam.
Unsere Strohsäcke lagen auf dem Boden nebeneinander, Pojtek dachte, ich schlafe, er zog sich leise aus und schlüpfte unter die Decke.
— Was gibt es Neues? — fragte ich leise.
— Nichts — antwortete er, dann beugte er sich zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr:
— Ich habe kommunistische Zeitungen mitgebracht. In der Früh kannst du sie lesen.
— Ich kann ja nicht Russisch.
— In Moskau werden kommunistische Zeitungen auch in ungarischer Sprache gedruckt.
In der Früh gab er mir eine ganz kleine gefaltete Zeitung in die Hand.
— Steck' sie schnell ein. Pass auf, dass sie niemand bei dir sieht. Am nächsten Vormittag stand ich vor der Zelle der sechs des Bolschewismus Verdächtigen Wache. Dort las ich die Zeitung, die ich von Pojtek bekommen hatte, eine Nummer der in Moskau gedruckten kommunistischen Zeitung „Die soziale Revolution".
Nach dem Mittagessen verlangte Pojtek die Zeitung zurück.
— Am Nachmittag geht der Lazarettzug ab — sagte er. — Die Zeitung fährt auch nach Ungarn.
Alle drei, vier Tage kam ein Austauschgefangenentransport. Pojtek brachte alle drei, vier Tage einige kommunistische Zeitungen in ungarischer Sprache mit herüber. Die gelesenen Zeitungen schmuggelten wir immer in den Lazarettzug, der nach Ungarn ging, — sie werden schon in die richtigen Hände gelangen.
Eines Abends, nachdem wir uns hingelegt hatten, beugte sich Pojtek zu mir herüber:
— Hättest du keine Lust, über die Brücke zu gehen?
— Flüchten?
— Hinüber zu den Bolschewiken.
— Ich kann nicht Russisch.
— Du lernst es schon.
— Ich weiß nicht, ich bin mir noch nicht klar.
— Morgen oder übermorgen gehe ich hinüber — sagte Pojtek. —
Die ganze Nacht warf ich mich auf dem Strohsack hin und her und konnte keinen Schlaf finden. Ich konnte mich nicht zu dieser Flucht entschließen. In der Früh sagte ich zu Pojtek:
— Ich bleibe.
— Höre — sagte Pojtek — ich will dir nicht zureden. Aber ich mache dich darauf aufmerksam, dass die Sache mit den Zeitungen früher oder später doch rauskommt.
— Ich bleibe hier — sagte ich.
Am nächsten Tag war wieder Gefangenenaustausch und abends kam Pojtek nicht mehr nach Hause zum Schlafen.
Am Morgen meldete er sich nicht zum schwarzen Kaffee. Er war verschwunden.
Am vierten oder fünften Tag — bevor man noch mit der Durchsuchung der Pakete der Austauschgefangenen begann — sprach mich ein großer, blonder Korporal mit einer Brille an:
— Ich habe hier einen Landsmann — sagte er — er heißt Peter Kovacs. Kennen Sie ihn nicht?
— Das bin ich selbst.
— Das ist für Sie, — sagte er und übergab mir ein kleines Paket.
— Was ist das? — fragte ich.
Er gab keine Antwort, zuckte nur mit den Achseln. Dann verschwand er, ohne ein Wort zu sagen.
Ich öffnete das Paket. Es enthielt zehn gleiche Büchelchen in ungarischer Sprache. Ich las zweimal den Titel: Bela Kun, „Was wollen die Kommunisten?". Ich steckte die Bücher in die Manteltasche. Im ersten Augenblick wusste ich nicht, was ich mit den Büchern anfangen sollte. Eine Zeitung konnte man noch irgendwie lesen, ohne aufzufallen, aber ein Buch! Mein Mantel lag auf dem Strohsack, fünf oder sechsmal täglich ging ich in die Baracke, um ein Buch herauszunehmen, aber erst abends, als ich mich hinlegte, konnte ich zu den Büchern greifen. Eines versteckte ich im Strohsack, neun stopfte ich in die Hosen — bzw. Blusentaschen. — Was schaffst du da herum?
Wenn du schon nicht schläfst, stör' wenigstens uns nicht!
Ich knurrte, dann tat ich, wie wenn ich schliefe, zum Schein schnarchte ich auch. Am nächsten Morgen legte ich acht Büchlein unter die Bänke des zur Abfahrt bereiten Lazarettzuges, eines steckte ich in einen Umschlag und sandte es an die Adresse von Hajos' Frau.
Abends hatte ich Wache. Als ich um zwei Uhr nachts abgelöst wurde, griff ich während des Ausziehens in den Strohsack. Das Büchlein war nicht mehr da. Ich durchsuchte alles, — aber vergebens. Das Buch war verschwunden.
Am nächsten Morgen, ganz früh, wurde ich verhaftet. Nach zwei Tagen wurde ich — ohne dass man mich verhört hatte — als Gefangener nach Ungarn abtransportiert.
Sechs Wochen saß ich im Munkacser Militärarrest. Fast jeden Tag wurde ich verhört. Man wollte mit aller Gewalt von mir erfahren, welche von den Austauschgefangenen, die über Molodetschno nach Hause kamen, Kommunisten waren. Man sagte mir Namen, man zeigte mir Bilder. Es war nicht schwer zu leugnen. Die Namen hörte ich zum ersten Mal, die Bilder waren mir gänzlich unbekannt. Bei einem Verhör legte der die Untersuchung führende Auditor ein Buch vor mich hin, ein Buch, von dem ich neun Stück nach Ungarn gesandt hatte, das Buch war ganz zerlesen.
— Dieses Heft haben Sie Gergely Balog gegeben?
— Wer ist Gergely Balog? — fragte ich.
— Genug! Jetzt haben Sie lange genug geleugnet — schlug der Auditor mit der Faust auf den Tisch. — Reden Sie endlich, oder ich lasse Sie in Ketten legen.
Eine halbe Stunde später wurde mir Gergely Balog gegenübergestellt, sein strohgelber Schnurrbart hing in den Mund herab.
— Na, Husar Balog — begann der Auditor — der Honvedsoldat hat schon alles gestanden. Er hat gestanden, dass er Ihnen das Buch gegeben hat. —
— Der Mund soll auf ewig verstummen, der solche Lügen über mich verbreitet — sagte Gergely Balog in ruhigem, gelassenem Ton. — Möge die Erde seinen Körper ausspeien.
— Ich wollte sprechen, aber der Auditor brüllte auf mich los:
— Ich lasse Sie in Ketten legen, wenn Sie jetzt leugnen, was Sie einmal gestanden haben!
Ich hielt also meinen Mund. Ich sah ohnehin, dass Gergely Balog meiner Unterstützung nicht gerade bedurfte. Gute zehn Minuten versuchte er zu beweisen — er würzte seine Worte mit heftigen Flüchen — dass er das Buch in seiner Mütze gefunden habe — weiß der Teufel, wer es da hinein gelegt hatte, und dann habe er gedacht, wenn es 6chon da sei, nehme er es mit, wer weiß wofür es gut sein könne, vielleicht sei ein Gebet darin, oder eine Anweisung zum Gebrauch von Heilkräutern.
— Als Sie es gelesen haben, haben Sie doch wohl gemerkt, was darin steht.
— Herr Kriegsgerichtsrat, melde gehorsamst, wie, beim Teufel, hätte ich das Buch lesen können, wenn ich doch nicht einmal die Buchstaben kenne?
— Auf Ihrem Merkblatt ist angeführt, dass Sie drei Jahre die Schule besucht haben. Wollen Sie das auch leugnen?
— Nein, das will ich nicht leugnen. Was richtig ist, ist richtig. Ich habe die Schule besucht. Die Sache liegt aber so — im Sommer ließ mich der Vater nicht zum Lehrer gehen — seit ich laufen kann, muss ich im Sommer auf dem Feld arbeiten — im Winter war die Schule viel zu weit entfernt, und barfuss ließ mich die Mutter um keinen Preis den weiten Weg durch den Schnee gehen. — Es wird ohnehin kein Pfarrer aus dir — sagte sie immer — und tatsächlich hatte sie auch recht — Gott gebe ihr die Ruhe — ich wurde kein Pfarrer.
Hier verlor der Kriegsgerichtsrat die Ruhe, er haute dem Husaren eine herunter. Dann wurde jeder in eine andere Zelle geführt. Eine Woche später wurden wir zusammen in ein Interniertenlager nach Transdanubien gebracht. Wir fuhren einen Tag und eine Nacht, wir hatten also Zeit genug, uns kennen zu lernen, aber Gergely Balog war sehr misstrauisch mir gegenüber. Er wollte es nicht glauben, dass der Auditor gelogen, und dass ich nicht gegen ihn ausgesagt hatte.
— Weshalb sollte der Auditor gelogen haben?
— Und welchen Grund hatte ich zu lügen?
— Du hattest den Strick um den Hals, deshalb hast du gelogen.
— Der Kriegsgerichtsrat hat goldene Sterne am Halskragen, Grund genug, dass er lügt.
Diese Antwort überraschte Gergely, zerstreute aber seine Bedenken nicht.
— Ihr haltet den Erdwühler immer zum Narren — sagte er.
— Woher weißt du denn, dass ich nicht auch in der Erde wühle?
Gergely winkte statt einer Antwort leicht ab. — Das kannst du einem anderen weismachen.
Im Interniertenlager erging es uns verhältnismäßig besser. Wir hatten mehr zu essen als in der Kaserne, und auch das Nachtlager war besser, außerdem brauchten wir nicht zu arbeiten. Vormittags hörten wir Vorträge. Zwei Offiziere — ein Oberleutnant und ein Fähnrich mit einem Arm — hielten abwechselnd Vorträge. Man erklärte uns, was das Vaterland bedeutet, wir erfuhren, welches die Ursachen des Krieges sind, man lehrte uns auch, was Sozialismus ist und wer eigentlich die Bolschewiken sind. Besonders die Vorträge des Fähnrichs waren interessant.
— Den Sozialismus hat Marx erfunden — pflegte er zu sagen. — Marx war der uneheliche Sohn einer serbischen Nonne und eines jüdischen Wiener Arztes, er saß wegen Hehlerei vier Jahre im Gefängnis.
Im Lager fand ich mehrere Bekannte. Gleich am Tage meiner Ankunft traf ich den Regimentsarzt Gyulai. Im ersten Augenblick erkannte ich ihn gar nicht, denn er war in Zivil und hatte sich einen Vollbart und Schnurrbart wachsen lassen. Er erkannte mich sofort, trotzdem er zu Hause nur einmal etwas mit mir zu tun gehabt hatte. Er hatte mir damals einen Eisensplitter aus dem Auge entfernt. Er drückte mir fest die Hand.
— Szekeres hat vier Jahre Gefängnis bekommen — erzählte er — , Hajos drei. Bei mir stellte es sich heraus, dass ich ein unschuldiges Lämmchen bin, dass ich weder mit den Flugzetteln noch mit dem Streik etwas zu tun hatte.
— Wie wurde der Streik niedergeschlagen?
— Das wissen Sie doch, dass die Frauen und in erster Reihe die vom Dorf, die Militärmagazine ausgeraubt haben. Die Soldaten sahen ruhig zu, aber nachts kamen auf Lastautos zwei Kompanien Bosnjaken und eine Kompanie Gendarmen, alle mit Maschinengewehren ausgerüstet. In der Frühe waren wir alle hinter Schloss und Riegel. Wer die Arbeit nicht aufnahm, wurde als Soldat eingezogen. In Wien war der Streik schon beendet, auch in Budapest haben die Führer der Sozialdemokratischen Partei den ganzen Streik erdrosselt — mit einem Wort — wir wurden vorläufig niedergeschlagen. Aber... es wird schon noch anders kommen.
Ich begann auch zu erzählen: was ich alles während der fünf Monate getan hatte und was in dieser Zeit mit mir geschehen war. Als ich erzählte, wie ich in Lemberg mit Pojtek bekannt geworden war, unterbrach mich Gyulai.
— Was weiterkommt — Molodetschno — , das weiß ich schon.
— Wieso?
— Von Schmidt.
— Wer ist Schmidt?
Gyulai führte mich zu dem blonden Soldaten mit dem großen Kopf und der Brille, der mir in Molodetschno die Bücher gegeben hatte.
— Ich dachte mir, dass wir uns früher oder später hier treffen würden — sagte er.
— An einem besseren Ort hätten wir uns wohl nicht treffen können — sagte Gyulai lächelnd.
— Es gibt nichts Besseres, als wenn man für unzuverlässig erklärt wird! Jetzt, Bruder, heißt es lernen und immer mehr lernen! — fügte Schmidt hinzu.
— Wir werden ihn schon an die richtige Stelle setzen — sagte Gyulai.
Am demselben Abend erfuhr ich noch, dass nicht nur der Oberleutnant und der Fähnrich Vorträge abhielten, sondern dass auch Gyulai und Schmidt den internierten Soldaten regelmäßig Unterricht erteilten..
Ich kam zu Schmidt in den Kursus. Abends, wenn die Herren Offiziere im Kasino Karten spielten — schickte Gyulai den diensthabenden Unteroffizier in die Kantine, um auf sein Wohl zu trinken. Wenn der Unteroffizier zögerte, dann musste er eben auf das Wohl König Karls oder auf das Wohl Kaiser Wilhelms trinken, wozu der pflichtbewusste Unteroffizier stets geneigt war. Der Wachtposten setzte sich in den meisten Fällen zu uns und Schmidt schlug sein Buch auf. Am ersten Abend, während ich Schmidts Vortrag folgte, zeigte er mir das Buch, aus dem er las und dessen Inhalt er erklärte.
— Kennst du dieses Buch? „Was wollen die Kommunisten?"
— Als wir in Budapest ankamen und alle Durchsuchungen glücklich überstanden hatten, nahm ich das Buch unter der Bank hervor, wo du es versteckt hattest — sagte er zu mir.
Anderthalb Stunden lernten wir jeden Abend.
Ich war ungefähr eine Woche im Lager, als mich Gergely Balog eines Tages auf dem Wege zum Mittagessen vorsichtig beiseite führte.
— Ich wollte dich bitten, Bruder, ich bitte dich vielmals, verrate mich nicht.
— Was zum Teufel soll ich nicht verraten?
— Dass, dass ich kein solcher wirklicher Vaterlandsverräter bin wir ihr, dass ich nur so aus Zufall hierher kam. Verrate mich nicht, Bruder. Nicht einmal, als ich noch am Rock meiner Mutter hing, ging es mir so gut. An die Front zu gehen, habe ich auch keine Sehnsucht — du weißt doch — , ich bitte dich nur, verrate die Sache nicht irgendwie, ich werde mich dankbar zeigen, wenn du Schweigen bewahrst.
Ich versprach ihm aufs bestimmteste, unter allen Umständen zu schweigen, aber Gergely Balog konnte sich nicht ganz beruhigen. Ich erzählte die Sache Schmidt. Schmidt nahm Balog in seinen Kursus. Etwa zwei Wochen lang saß Gergely jeden Abend unter uns und folgte den Lehren Schmidts, aber er fragte weder etwas, noch nahm er an den Diskussionen teil, trotzdem Schmidt sich oft direkt an ihn wandte. Besonders dann, wenn davon die Rede war, wem der Boden gehört? — Gergely sagte kein Wort, er blieb immer misstrauisch, er hatte stets Angst davor, dass man ihn verraten werde, und schließlich verriet er uns.
In jener Zeit wurde das österreichisch-ungarische Heer an der italienischen Front vernichtet, und auch die Deutschen wurden an der französischen Front in die Enge getrieben.
— Die Bulgaren sind ausgerückt, sie haben schon genug vom Krieg — berichtete eines Tages Gyulai, der sich immer Zeitungen zu verschaffen wusste.
— Na, es geht zu Ende — sagte Schmidt — , morgen können wir unsere Sachen packen.
An diesem Abend verlief der Unterricht nicht wie sonst. Der Wachtmeister ging in die Kantine, der Wachposten saß unter uns, die Offiziere tranken bei Marschbegleitung. Wir waren beruhigt, dass uns niemand stören werde.
Schmidt war sehr guter Laune. Er sprach von den Jahren der Kriegsgefangenschaft und dann von der russischen Revolution. Nicht wie gewöhnlich, vom Proletariat, von der Bourgeoisie — heute erzählte er von Iwanowitsch Semjon, dem Metallarbeiter, der beim Sturm auf den Kreml vier Schüsse bekam und noch immer weiter kämpfte; vom Landarbeiter Grigorij Vladimirowitsch, der durchs Fenster eine Handgranate mitten unter die gegenrevolutionären Offiziere warf; von Sergej Iwanowitsch, der...
Plötzlich wurde die Tür geöffnet, der Fähnrich sprang herein und hinter ihm - - mit schussbereiten Gewehren
— acht Gendarmen.
— Halunken! — brüllte der Fähnrich und schon
schlug er mit der Faust Schmidt mitten ins Gesicht. Die Brille sprang in Splitter und Blut überströmte Schmidt.
Ein Major — der Lagerkommandant — verhörte uns alle noch in der Nacht. Gergely Balog hatte uns schändlich verraten. Was er nicht vorher gepetzt hatte, erzählte er jetzt beim Verhör. Manchmal sagte er auch etwas, das gar nicht vorgekommen war.
— Herr Korporal Schmidt sagte immerzu, man muss eine Handgranate zwischen die Herren Offiziere werfen.
Am nächsten Tag waren wir zu achtzehn unterwegs nach Budapest.
Ich verbrachte einige Tage im Militärgefängnis am Margaretenring, dann kam ich zum dritten Mal in das Arresthaus der Honvedkaserne. Der Arrest war so voll gepfropft, dass wir kaum alle auf dem Boden sitzen konnten.
— Wir werden hier nicht alt werden — tröstete uns ein alter Landsturmsoldat mit aufgezwirbeltem Schnurrbart.

 

IV.

Ich war noch nie in einem so voll gestopften Arresthaus gewesen. Von Liegen konnte keine Rede mehr sein, es war noch gut, wenn man nachts einen Sitzplatz auf dem Boden hatte. Aber wir waren trotzdem guter Laune, denn jetzt zerbrachen wir uns nicht die Köpfe darüber, wie wir für kurze Zeit hier herauskommen könnten, sondern alle hofften, dass binnen kurzem alle Gefängnistüren ein für allemal geöffnet würden. Der Krieg hat das Volk aufgeklärt — wer jetzt mit dem Bauernvolk unter einem Dach lebte, konnte sehen, dass diese vier Jahre eine mächtige Schule für das Volk gewesen waren. Heute war die entfernteste Ecke der Welt nur ein paar Schollen weit, und die Politik nicht mehr ein Sport der Herren, sondern — um nur ein einziges Beispiel zu erwähnen — der alte Vater Kecskes, ein Häusler vom Werkheimschen Gutshof, der mit seinem Enkel die Tiroler Berge in einem Schützengraben verteidigte und jetzt aus einer Essschale mit mir gegessen hatte — Vater Kecskes demonstrierte uns an seinen zehn Fingern, worauf die heutige Welt aufgebaut war, wie wenn er die Wissenschaft mit Löffeln gefressen hätte.
— Die Deutschen — sagte er oft — , die Deutschen, die sind unsere Verbündeten, deshalb ist es nicht gut, wenn es den Deutschen gut geht. Denn wenn die Deutschen große Siege haben, dann reißen auch unsere Herren ihr Maul auf. Aber wenn einmal den deutschen Verbündeten der Teufel holt, dann spucken wir nur auf unsere Herren, und da weinen die Scheißkerle. Deshalb sage ich: wenn der Franzose sich zusammennimmt und den Deutschen tüchtig drischt, dann tanze ich vielleicht auch bei Susis Hochzeit. Susi ist nämlich mein jüngstes Enkeltöchterchen. Anfang Dezember hat sie Hochzeit. Der Jani Danko, mit dem einen Arm, der ältere Sohn von Mihaly Danko, will sie heiraten. So ist's, wirklich — setzte Großvater Kecskes gerührt das Gespräch fort und drehte die Flügel des langen, grauen, herabhängenden Schnurrbarts.
— Reißen Sie sich doch nicht Ihre zwei Katzenschwänze heraus, Vater Kecskes.
— So ist's wirklich, Anfang Dezember — sprach der Alte weiter. — Ein feiner Kerl ist der Jani. Einen Arm hat er bei den Russen gelassen, aber — ob ihr mir's glaubt oder nicht — mit der einen Hand ist er ein tüchtigerer Bursche, als so manche Schlappschwänze mit zwei gesunden Armen.
— Und was fangen jetzt die Russen mit Janis Arm an? — fragte einer.
— Lasst die Russen in Ruh! — sagte Vater Kecskes und hob seinen Weichselpfeifenstiel hoch. — Wir dürfen die Russen nicht beleidigen, wir müssen von den Russen lernen. Denn überlegt euch: wir sind doch auch nicht die Schlechtesten, und doch warten wir und raten wir mit in den Schoß gelegten Händen, wann dieses Weltschlachten zu Ende geht. Wir warten, wir rechnen hin und her, wir schimpfen auf die Deutschen, aber das ist auch alles. Anders macht's der Russe! Wir sind keine alten Weiber — sagten sie sich — , nur alte Weiber jammern. Er spuckte in die Faust — jetzt ist's aber Schluss! — sagte er und dann ging's los und feste auf die Herren, die das Volk immer noch in den Krieg, immer noch auf die Schlachtbank führen wollten. Ich sage, er packte sie bei den Ohren, aber so gründlich, dass sie keinen mehr in den Krieg schicken. So was! Ein so mutiges Volk müssen wir ehren. Und von ihm lernen.
Zeitungen zu lesen, war gerade so streng verboten wie zu rauchen. In den Zeitungsfetzen, die die neuankommenden Kameraden einschmuggelten, stand zwar nicht viel drin, aber wir erfuhren irgendwie doch die wichtigsten Dinge, die in den Zeitungen fehlten. Die Journaille schrieb noch immer von Siegen, als wir schon wussten, dass die Deutschen um Frieden baten. Es war ein großer Tag, als wir das erfuhren, noch größer aber, als unser König um Frieden bettelte!
In den Straßen demonstrierte das Volk.
Es verlangte Frieden!
— Schluss mit dem Brudermord!
— In die Heimat mit unseren Soldaten!
— Frieden! Frieden!
An der Kettenbrücke schossen die Polizisten in die Menge.
Tote — Verwundete.
— Ihr Hunde! Das werden wir euch heimzahlen.
— Aufpacken! — sagte Vater Kecskes, als wir von dem Gemetzel an der Donaubrücke erfuhren.
— Soweit sind wir noch nicht, Vater Kecskes!
— Vielleicht doch.
Die Tage wurden unerträglich lang. Draußen fing der Tanz an, und wir verfaulten hier in der lausigen Baracke. Ein Franzstädter hatte die Geduld verloren. — Macht's gut, Jungens — ich haue ab. Abends als der Inspektionsunteroffizier in die Baracke kam, um die Zahl der Internierten zu kontrollieren, schlich er sich einfach durch die Tür hinaus, auf dem Hof hielt ihn auch keiner auf, als er aber über den Zaun klettern wollte, trafen ihn gleich zwei Kugeln: eine in den Rücken, eine in den Kopf. Wir hörten das Schießen der Wache und auch den Todesschrei — dann wurde es still.
— Wir saßen stumm in der Dunkelheit.
— Na, was ist nun wieder los.
— Es wird geschossen!
— Hier in der Kaserne!
Das Schießen hört auf und es wird wieder still. Aber das ist keine gewöhnliche Stille mehr. Jeder weiß: es geht um die Entscheidung.
Wir halten den Atem zurück und horchen. Nichts. Doch! Jetzt... die Hunde. Der Posten — nein, es sind mehrere Personen, sie kommen hierher, leises Flüstern, dann lautes Fluchen — Schlüsselgeklirr. Die Tür wird geöffnet. Die blass leuchtende Lampe des Korridors wirft ihren Schatten auf einen Korporal mit blondem Schnurrbart. Hinter ihm stehen mehrere Soldaten.
— Kommt, Jungens!
— Wie? Was ist geschehen?
— Nehmt euch jeder ein Gewehr, am Flur sind ja genug — dann los!
— Na, na — sagte Vater Kecskes — , wir sind doch nicht dumm und stumm wie das liebe Vieh...
— Alles ist im Aufstand — sagte der Korporal in leisem Ton, ein rothaariger Soldat neben ihm lachte laut auf.
— Revolution?
— Ja.
— Hm.
Etwa zehn Mann holten uns ab und brachten zwanzig Gewehre mit. Soweit die Gewehre reichten, nahm jeder eins auf die Schulter, die anderen folgten uns mit blanker Faust durch den Flur quer über den Hof.
— Nicht zum Tor, nach hinten... zur Kantine... Die Torwache sah allem ruhig zu, unter dem Tor
stand auch der Inspektionsunteroffizier vom Gefängnis.
Sie sahen ruhig mit an, wie wir in den hinteren Hof gelangten, keiner rührte sich. Einige Minuten später waren wir alle über dem Zaun. Zwei Lastautos standen auf der Straße, beide waren schon fast besetzt mit Soldaten. Für etwa zwanzig Leute wurde noch Platz geschafft, die andern gingen aufs Geratewohl los.
In der Gegend des Volksgartens war alles dunkel, die Straßen fast menschenleer. Weiter nach der Stadt zu wird es immer heller, mitten in der Stadt wimmelt es von Menschen wie am helllichten Tag. Fahnen, rotweiß-grüne Fahnen, Gesang, Schreien, Lachen. Alles schreit, alles lacht.
— Hoch die Soldaten! Es lebe der Frieden!
Einer sprach aus einem Auto — Hoch! Hoch! — Dort vom Balkon rezitiert einer. Der Korporal, der uns herausgeholt hat, reißt die Königsrosette von seiner Mütze und wirft sie in weitem Bogen weg.
— Es lebe die Revolution! — brüllt er aus voller Kehle.
— Hoch! Hoch! Eljen!
— Hoch die Soldaten! Es lebe der Frieden!
Alles schreit. Alles freut sich. Der Feind hat sich zurückgezogen. Das Auto hält. Als erster springt der Korporal herunter.
— Antreten! — brüllt er los.
Das Auto konnte hier nur noch im Schritt fahren. An der Stelle, wo wir halten, ist die Straße so dicht gedrängt voller Menschen, dass wir kaum aussteigen können, geschweige denn antreten.
— Wir schwören dem Nationalrat die Treue! — brüllte der Korporal. — Antreten!
— Worauf schwören wir? — fragte Vater Kecskes.
— Auf die Revolution.
— Na, dann antreten.
Antreten ist nicht möglich, aber etwa fünfzehn Mann rotten sich zusammen, drängen sich mit den Gewehrkolben nach dem großen Haus, auf das der Korporal hinweist. Von einem Balkon spricht ein junger Mann, brüllt mit weitaufgerissenem Mund, ich sperre auch meine Ohren auf, aber ich höre kein Wort, so viele schreien um mich herum.
— Hoch die Soldaten! Es lebe der Frieden!
Wir rennen die mit Teppichen belegten, von Spiegeln funkelnden Treppen hinauf.
— Weißt du, wo wir hinwollen?
— Ja, wartet auf dem Flur auf mich.
Als wir endlich auf einem Flur stehen blieben, waren wir kaum noch acht Mann.
Wenn die Zeit gereicht hätte, wären wir wahrscheinlich auch verduftet, denn wir kamen uns in dem lichttrunkenen, prunkvollen Haus wie verirrt vor; aber da erschien der Korporal schon wieder und mit ihm mehrere in Zivil gekleidete Herren.
— Hier ist die bewaffnete Macht — sagte der Korporal und zeigte auf uns hin.
— Stillgestanden! — platzte Vater Kecskes los und wir — jeder, wo er gerade stand — warfen uns in stramme Haltung.
— Wenig, sehr wenig — sagte der eine der Herren kopfschüttelnd.
— Wieso wenig? — protestierte der Korporal. — Zwei Mann bleiben hier als Wache und sechs Mann gehen zum Platzkommando. Natürlich wäre es gut, wenn einer von den Herren... von den Genossen mit uns käme.
Die standen auf dem Flur neben uns und berieten über die Sache. Wir warteten, ohne ein Wort zu sagen, nur der Korporal sprach auf die Herren immerfort ein.
Während wir hier herumstanden, kam durch dieselbe Tür, aus der die Herren herausgekommen waren, ein älteres Fräulein und gab jedem Soldaten eine Herbstrose.
— Stecken Sie sie an die Mütze — sagte sie lächelnd. Sie gab uns jedem der Reihe nach die Hand. Ihre Hand war weich wie Seide.
— Die Soldaten der Revolution! — sagte sie und sah uns an, wie wenn sie noch nie Soldaten gesehen hätte.
— Gott vergelte Ihre Güte — sagte Vater Kecskes und als letzter nahm auch er die Königsrosette von seiner Mütze ab, und an Stelle des Buchstaben K steckten wir uns alle die Herbstblume des alten Fräuleins mit der Brille an. So verwandelten wir uns aus Soldaten des Königs in Soldaten des Nationalrats.
Der Lärm der Straße drang nur dumpf bis hier herauf.
— Gehen wir, Jungens — sagte der Korporal. — Ihr bleibt hier zur Verfügung des Nationalrats — er zeigte auf zwei Soldaten.
— Durch das hintere Tor — sagte der Herr in Zivilkleidung, der mit uns ging. — Aber etwas langsamer, ich kann nicht so rennen — sagte er, stülpte seinen Mantelkragen hoch und drückte seinen Hut tief in die Augen, wie einer, der nicht erkannt werden will.
— Gut, mein Herr! — sagte der Korporal.
— Nicht Herr, sondern Genosse — verbesserte der Mann mit dem aufgestülpten Kragen.
Das hintere Tor führte in eine dunkle Querstraße. Die Straße war leer, doch hörte man hier das Geschrei der Menge aus unmittelbarer Nähe.
Wir gingen nicht in militärischer Ordnung, wir schlenderten ganz gemächlich dahin. Wir umringten den Genossen mit dem aufgestülpten Kragen; um ihn
besser zu hören. Er sagte fast flüsternd, zu welchem Zweck wir auf das Stadtkommando gingen.
— Es handelt sich darum — fing er an — , dass wir die Marschkompagnie, die den Gehorsam verweigert hat und nicht an die Front gehen will, irgendwo einquartieren, bis wir endgültig disponieren können. Wenn wir sie in irgendeine Kaserne bringen, sind Zusammenstöße zu befürchten...
— Ah, zum Teufel — fiel ihm Vater Kecskes plötzlich ins Wort. — Wir müssen nur tüchtig auf die Kasernentore einschlagen, dann läuft das Militärvolk auseinander wie die Hühner. Die Brüder warten schon ungeduldig, dass sie fliehen können.
— Das ist nicht richtig — sagte der Mann mit dem aufgestülpten Kragen. — Wir dürfen kein Hasardspiel treiben. Wir dürfen nicht frivol Menschenleben aufs Spiel setzen.
— Wer spricht denn von Hasardspiel? Ich sage, man braucht nur auf das Kasernentor einzuhauen, ein Kerl mit guter Lunge brüllt: Nach Hause, Soldaten! Der Krieg ist aus! Auf der Stelle will ich tot sein, wenn auch nur einer in der Kaserne bleibt.
— Ruhe — beschwichtigte der Herr Genosse Vater Kecskes, der seine Stimme so anschwellen ließ, wie wenn er die Botschaft allen Soldaten des Landes verkünden wollte.
Ein Auto sauste an uns vorbei — es saßen Offiziere drin.
— Wenn man nur flüstert, macht man keinem Angst — sagte Vater Kecskes. Was er nachher sagte, verstanden wir selbst nicht, denn inzwischen waren wir wieder in der Hauptstraße angelangt.
— Hoch die Soldaten! Es lebe der Frieden!
— Wir müssen uns auf die andere Seite hinüberschlagen — brüllte mir der Korporal ins Ohr.
Es war eine mühsame Arbeit, es nahm viel Zeit in Anspruch. Wir verloren unterwegs einen Mann, aber mit dem Genossen in Zivil kamen wir zu sieben zum Tor der Stadtkommandantur.
Das Tor war geschlossen. Der Korporal hämmert mit dem Gewehrkolben darauf los.
— Macht auf!
— Parole! — brüllt einer von innen her.
— Im Namen des Nationalrats fordere ich euch auf, mir das Tor zu öffnen.
Einige Augenblicke später sammelt sich ein dichter Menschenring um uns herum. Wir werden an das Tor gedrängt, dass wir uns kaum rühren können. Innen ist es still, man hört keinen Laut. Dann öffnen sich plötzlich beide Flügel des Tores. Hinter dem offenen Tor stehen mit schussbereiten Gewehren bosnjakische Soldaten. Hinter ihnen ein junger Offizier.
Ü ber unserm Kopf leuchten zwei Bogenlampen: in der Tageshelle konnte man alles übersehen. Für einen Augenblick sah ich nach hinten: die ersten Reihen der Menge — gutgekleidete Bürger, Studenten, Frauen, einzelne Soldaten versuchen sich nach hinten zu drängen, aber von hinten drückt sie die Masse mit hundertfacher Kraft nach vorne zurück. Vorne ist es still, nur eine Frau kreischt angstvoll, hinten wildes Geschrei. Einer mit einer geschmückten Fahne will sich nach vorne durchdrängen.
Die Bosnjaken halten die Gewehre fest, stehen aber nicht mehr so ruhig und sicher da wie vorher. Starr, mit bleichem Gesicht, der Offizier hinter ihnen.
— Wir suchen den Stadtkommandanten — brüllt der Korporal dem Offizier zu.
Der Offizier hört es nicht. Hinten vom Hof kommt ein Feldwebel herbeigerannt und flüstert dem Offizier etwas ins Ohr.
— Frieden! — bricht jemand in der unmittelbaren Nähe des Tores aus, und das Echo ist stärker als Kanonendonner. Von hinten kommt ein starker Stoß und der Genosse mit dem aufgestülpten Kragen stürzt direkt vor die Füße der Bosnjaken hin. Ich falle geradewegs auf ihn — und der Korporal über mich. Der Offizier kommandiert, das Tor wird geschlossen. Wir richten uns auf. Außer uns dreien schleuderte die Menge noch einen großen Kanoniersoldaten hinein. Der beginnt als erster zu sprechen.
— Wir sind die Abgesandten des Nationalrats — sagte er.
Jetzt rafft sich auch der Herr in Zivil auf.
— Wir sind die Abgesandten des Nationalrats — sagte er seinen Hut abnehmend. — Wir wünschen, mit seiner Exzellenz, dem Stadtkommandanten, zu sprechen.
Von außen wird mit Gewehrkolben auf das Tor eingeschlagen. In unmittelbarer Nähe werden einige Schüsse abgegeben. Der Offizier steht unentschlossen da.
— Kommen Sie! — wendet sich der Feldwebel zu uns hin.
Jetzt bewegt sich auch der Offizier, er winkt mit der Hand, dass wir mit ihm gehen sollen und geht eilig voran. Hinter ihm geht der hagere Kanonier, dann komme ich, hinter mir der Mann mit dem aufgestülpten Kragen und der Feldwebel. Wir gehen die Treppe hinauf und gelangen in ein großes Vorzimmer. Der Offizier kehrt sich für einen Augenblick nach hinten um und winkt mit der Hand, dass wir warten sollen, er geht durch eine große Flügeltür, an der ein Wachposten mit Gewehr bei Fuß steht.
— Dich haben sie wohl hier vergessen? — sagt der hagere Kanonier zu dem Wachtposten.
— Ist es schon soweit? — antwortete der mit einer Frage, halb auf den Kanonier, halb auf den erschrockenen Feldwebel blickend. Der Mann mit dem aufgestülpten Kragen winkt nervös mit der Hand. — Bleiben Sie doch still! Aber der hagere Kanonier achtet gar nicht darauf.
— Schließlich hatte das Volk das Gemetzel satt! — sagte er. — Wenn die Herren Offiziere absolut krepieren wollen, mögen sie allein an die italienische Front gehen...
— Hm — sagte der Wachtposten und seine Haltung wurde etwas lässiger. Hinter ihm öffnete sich die Tür, unser Führer, der kleine Offizier trat hervor. Die Lampe wirft das Licht gerade in sein Gesicht. Er ist blass und selbst seine Lippen sind weiß. Er stottert:
— Exzellenz erwartet die Herren.
Der hagere Kanonier ging als erster. Dann der Korporal, der den Mann mit dem aufgestülpten Kragen am Arm mitschleppte. Hinter ihnen ging ich — hinter mir der Oberleutnant. Er schloss die Tür zu.
Wir kamen in ein großes halbdunkles Zimmer. Die auf dem prunkvollen Schreibtisch stehende Tischlampe erhellte nur einen kleinen Kreis. Vor dem Tisch, mit dem Rücken zur Lampe, stand ein großer hagerer Mann in Generalsuniform, sein Gesicht war beschattet, die Lampe beleuchtete nur seinen grauen Kopf. Der hing etwas seitlich herunter, wie wenn er überlastet wäre und den ganzen Mann mit sich hinunterziehen wollte.
Der Oberleutnant trat vor den General hin und warf sich stramm in Positur.
— Eure Exzellenz, ich melde gehorsamst, die Delegation des Nationalrats ist da.
Der General sagte kein Wort, er bewegte nur ein wenig den Kopf. Er blickte über den Kopf des Oberleutnants hinweg und sah uns mit prüfenden Augen an. Einige Augenblicke betrachteten auch wir schweigend den großen Herrn, der gestern noch Todesurteile unterschrieben hatte. Jetzt hatte er Angst vor der eigenen Stimme. Seine linke Hand, die auf dem Säbel ruhte, zitterte, die rechte Hand hielt er auf dem Rücken, wie wenn er sich so gegen den drohenden Lärm wehren wollte, der sich hier im halbdunklen, verhängten, verschlossenen Zimmer noch beängstigender anhörte als unten. Der hagere Kanonier verlor als erster die Geduld.
— Wir könnten beginnen — sagte er und stieß den Mann mit dem aufgestülpten Kragen, der mit dem Hut in der Hand neben ihm stand, in die Seite.
— Ja — sagte der fast flüsternd und machte einen Schritt nach vorwärts.
— Exzellenz — wandte er sich zum General — , der Nationalrat schickt uns zu Ihnen...
— Ich weiß es — unterbrach ihn der General. — Ich habe aber den Eid auf den höchsten Kriegsherrn, auf 6eine kaiserliche und königliche Majestät geleistet.
— Exzellenz, der Nationalrat wünscht...
— Ich habe dem höchsten Kriegsherrn Treue geschworen — sagte der General in etwas sichererem Ton — , und kann meinen Eid nicht brechen. Ich kann mich nicht an ihre Seite stellen. Ich bin Ihr Gefangener.
— Aber, Exzellenz...
— Verstehen Sie nicht?
— Ich bin Ihr Gefangener — schrie der General dem Mann in Zivil zu.
Dieser wandte sich jetzt uns zu. Er machte ein mordsdummes Gesicht und breitete die Arme aus, wie wenn er sagen wollte, dass er nicht wisse, was er jetzt anfangen solle. Er nickte mit dem Kopf dem Korporal zu, wie wenn er von ihm Hilfe erwarte, aber bevor der Korporal seinen Mund öffnen konnte, trat der Kanonier vor den General hin und legte die Hand auf seine Schulter.
— Herr Stadtkommandant, Sie sind der Gefangene der Revolution — sagte er.
In eben diesem Augenblick zertrümmerte ein Stein oder eine Kugel das Fenster. Der Oberleutnant fasste den General beim Arm und führte ihn ins Vorzimmer. Der Kanonier fasste den General am anderen Arm. Der General brummte irgend etwas, aber so leise, dass es niemand verstand.
— Ich bleibe hier — sagte der Korporal — - und übernehme bis auf weiteres das Kommando. Ihr — sagte er zum Kanonier — bringt die Gefangenen zum Nationalrat.
— Zu Befehl, Genosse — antwortete der Kanonier. Der Wachtposten an der Tür lehnte das Gewehr an
die Wand, riss die Rosette von seiner Mütze ab, warf sie zu Boden und zertrat sie.
Wir gingen dieselbe Treppe hinunter, die wir heraufgekommen waren, aber wir gelangten — unter Umgehung des Hofs — zu einem hinteren Tor. Bis das Dienstauto des Generals vorgefahren war, warteten wir im Hof. Der Oberleutnant hängte dem General einen feldgrauen, fast bis zum Boden reichenden Kragen um, er selbst stülpte den Samtkragen seines Mantels hoch und setzte sich eine Mannschaftsmütze auf den Kopf.
— Ins Hotel Astoria — gab der Kanonier dem Chauffeur den Befehl.
Bis zum Astoria blieben wir etwa zehnmal stecken. Wir kamen nicht schneller vorwärts als die Fußgänger. Endlich — nach einer langen Weile — hatten wir die freudetrunkene Kossuthgasse hinter uns, und wir kamen zum hinteren Tor des Hotels Astoria. Hier war der Zugang noch immer frei — niemand fragte woher, niemand fragte wohin — , wir konnten ungehindert in das Hauptquartier des Nationalrats gelangen. Der General und der Oberleutnant gingen stumm die Treppe hinauf, der Genosse in Zivilkleidung begann auch erst zu reden, als wir oben angekommen waren.
— Kommen Sie herein — sagte er zu mir und zu dem hageren Kanonier.
Er öffnete eine Tür und wir gingen alle in ein Zimmer.
Das nicht besonders große Zimmer war voller Rauch und mit lärmenden, gestikulierenden Menschen überfüllt. Zivilisten und ein paar junge Offiziere. Ein dicker Herr brüllte ins Telefon, in einer Ecke schnarchte jemand auf dem Boden.
Ein schlanker, blonder, junger Mann trat vor uns hin, er sah den General groß an, dann blickte er fragend auf den in Zivil gekleideten Mann hin, der noch immer mit aufgestülptem Kragen und tief in die Augen gedrücktem Hut dastand. Plötzlich wurde es still, nur das Telefongespräch ging weiter.
— Ich kann nur vier Soldaten schicken, nicht mehr — brüllt der Dicke ins Telefon.
— Sprich doch — wandte sich der blonde, junge Mann zu dem mit dem aufgestülpten Kragen, aber statt zu reden, zuckte der nur mit den Achseln.
— Meine Herren! — sprach jetzt plötzlich der General — , ich habe dem Kaiser und König den Eid geleistet. Ich kann mich Ihnen nicht zur Verfügung stellen, ich bin Ihr Gefangener.
In dem Zimmer waren schon zehn oder noch mehr Menschen, aber einige Augenblicke lang wusste keiner, was er antworten sollte. Alle blickten hilflos von einem zum andern.
— Ich bin Ihr Gefangener — wiederholte der General etwas ungeduldig.
Der dicke Herr unterbrach sein Telefongespräch für einen Augenblick und wandte sich zum General.
— Also gut — sagte er mit etwas heiserer Stimme. — Gehen Sie, bitte, in das Nebenzimmer und erwarten Sie dort das Weitere.
Der General schlug die Sporen zusammen, der Oberleutnant ebenfalls. Ich machte die Tür hinter ihnen zu.
— Die Sache ist in Ordnung! Ich schicke es sofort. Guten Tag! — brüllte der Dicke ins Telefon und legte den Hörer nieder.
— Was hast du gemacht — stürzten sich jetzt gleich zehn Mann auf den mit dem aufgestülpten Kragen — , was hast du getan, du Unglücksmensch?
— Was hätte ich tun sollen? Er wollte mich gar nicht anhören. So oft ich zu sprechen begann, fiel er mir ins Wort, er sei mein Gefangener, er hat den Eid geleistet, er sei Gefangener? Was hätte ich tun sollen?
— Du hättest ihm sagen sollen, was du vorhast.
— Wie hätte ich es ihm sagen können, wenn er mich doch nicht anhören wollte. Wie hätte ich mich mit ihm auseinandersetzen sollen, wo ich nur drei Soldaten hatte, und er hundertmal soviel.
— Wir werden alle gehängt — sagte ein schwarzhaariger Herr.
— Ihr würdet es schon verdienen — sagte der Dicke darauf, der vorher telefoniert hatte — , nur wird man euch nicht aufhängen — setzte er lächelnd fort — , die ganze Stadt steht hinter uns. Die Offiziere des Kaisers sind noch feiger als ihr. Ja — wandte er sich zu dem schlanken, blondhaarigen Offizier — , der Kommandant der Telefonzentrale „Joseph" — irgendein verrückter Oberleutnant — will sich nur dann ergeben, wenn wir Truppen gegen ihn schicken. Ich sagte ihm, dass ich vier bewaffnete Leute hinschicke.
— Vier Mann bewaffnete Soldaten? Sind nicht da!
— Wieso denn nicht — fuhr der Kanonier dazwischen. — Auf der Straße gibt es Soldaten, soviel wir nur wollen.
— Das ist richtig — sagte der Blonde — , gehen Sie
hinunter, Kanonier, holen Sie sich zehn bis zwölf Soldaten und besetzen Sie die Telefonzentrale.
— Zu Befehl — sagte der Kanonier und ging auch schon los. Er ließ die Tür hinter sich offen, ein großer junger Mann in schwarzem Anzug trat aus dem Flur herein. Sein Gesicht war rot vor Erregung.
— Ein Telegramm! — schrie er.
— Für uns?
— Nein. Wir haben es aufgefangen. Es kommt von der Hauptpost. Es ist an den Stadtkommandanten gerichtet. Chiffriert. Der Schlüssel ist auch da. Wir haben es gelesen. Dem Stadtkommandanten wird die Weisung gegeben, dass er schießen lassen solle. Die Weisung stammt vom Generalkriegsquartier. Vier Divisionen sind auf dem Marsch nach Budapest.
— Der Stadtkommandant sitzt hier im Nebenzimmer; er ist gefangen.
— Und jetzt?
— Wir werden allesamt gehängt.
— Aber Kunfi! — schrie der Dicke. — Die vier Divisionen werden nicht ankommen. Wir lassen die Eisenbahner streiken. Und bis morgen muss die ganze Arbeiterschaft mobilisiert werden. Das ist eure Aufgabe — sagte er, zu Kunfi gewandt.
— Mich lasst nur in Ruhe! — Lasst mich nur in Ruhe! Siehst du denn nicht, verstehst du denn nicht, dass ich es mit meinen Nerven nicht mehr aushalte! Man wird uns aufhängen, ganz bestimmt wird man uns aufhängen!
— ... deine Großmutter! — sagte der Dicke und ging zum Telefon.
Immerfort wurden Offiziere eingebracht — viele meldeten sich freiwillig als Gefangene. Sie wurden sämtlich in das Nebenzimmer gewiesen. Wenn wir nur halb soviel Soldaten gehabt hätten, als wir gefangene Offiziere hatten, hätte vielleicht nicht einmal Kunfi am Sieg gezweifelt.
Kunfi bebte am ganzen Leibe in der Revolutionsnacht und doch — oder vielleicht gerade deshalb — fiel ihm als erstem ein, dass man die Gefangenen entwaffnen müsse. Der gute Gedanke kam aber schon etwas zu spät. Im Nebenzimmer hatten sich inzwischen soviel Gefangene angesammelt, dass es niemand mehr für ratsam hielt, hineinzugehen — und sie zu entwaffnen. Ich wurde als Wache an die Tür gestellt. Gewiss, wenn es den Gefangenen eingefallen wäre, den Nationalrat zu verhaften, ich allein hätte nichts dagegen unternehmen können. Aber, zum Glück verhielten sich die Gefangenen ruhig.
Gegen Morgen löste mich der hagere Kanonier ab und ich legte mich in eine Ecke schlafen. Als ich gegen Mittag aufwachte, stand der Kanonier noch immer Wache, aber das Gefangenenzimmer war leer.
— Auf Anordnung des Nationalrats ließen wir die Offiziere laufen — erzählte er mir.
— Wozu stehst du dann noch immer hier Wache? — Damit sie nicht zurückkommen.
Das Zimmer war voll gepfropft von Menschen. Zivilisten und Offiziere. Die Offiziere hatten eine Kokarde in den Nationalfarben auf die Brust geheftet. Als ich mir den Schlaf aus den Augen rieb, erkannte ich Gyulai unter ihnen. Er stand innerhalb einer Gruppe und zankte wütend mit jemandem. Ich ging zu ihm hin und fasste ihn beim Arm. Er freute sich und drückte mich so fest an seine Brust, dass mir die Knochen krachten.
— Was gibt es Neues, Genosse Gyulai?
— Neues? Alles geht in schönster Ordnung — sagte
er und lachte bitter dazu. — Die Revolution hat gesiegt und die Minister sind in die Burg hinaufgegangen, um dem König den Eid zu leisten.
— Das verstehe ich nicht — sagte ich.
— Beruhige dich, Peter, das kann keiner verstehen.
— Aber trotzdem...
— Frage den Genossen Antalfy, der kann mehr erzählen.
Er zeigte auf den hageren Kanonier, der hieß Antalfy. Antalfy ließ sich nicht lange bitten, er begann gleich, die Dinge zu erklären:
— Wir dürfen nicht zu hohe Ansprüche stellen — sagte er — , vom ersten Akt dürfen wir nicht mehr verlangen, als er geben kann: die mitwirkenden Personen stellen sich vor. Hoch, Genosse Sigmund Kunfi, der erste ungarische königlich sozialdemokratische Minister! Hoch! Ruf doch mit! — zu fluchen bleibt dir Zeit im zweiten Akt. Im dritten Akt werden andere fluchen, oder auch weinen. — Na — jetzt weißt du ja alles.
— Ich weiß gar nichts.
— Gut. Übernimm den Wachdienst statt meiner, ich habe genug von diesem Theater. Kennst du Gyulai?
— Ja.
— Dann treffen wir uns noch. Auf Wiedersehen! Der Kanonier ging tatsächlich fort und kam nicht
mehr wieder. Einige Stunden hielt ich Wache in dem Zimmer, in dem die Menschen gingen und kamen wie in einem Kaffeehaus. Zehn Leute sprachen zugleich, schrieen um mich herum, dass ich kein Wort verstand, aber ich erfuhr bald, dass die Leute zum Ablegen des Eides hierhergekommen waren: alle wollten dem Nationalrat den Eid leisten. Gewiss, es kamen auch welche, die Rat oder Hilfe verlangten — Soldaten, Gewehre, Geld, Lebensmittel, Wohnung, Kleidung, Legitimation, Sittenzeugnis, Heiratserlaubnis — , ich hab wirklich vergessen, was alles an diesem Tag vom Nationalrat verlangt wurde. In einer Ecke wurde eine Sitzung abgehalten, in einer anderen wurden Legitimationen ausgestellt, in einer dritten Ecke schlief laut schnarchend ein junger Offizier. Das Telefon klingelte ununterbrochen.
— Was? — schrie der blonde junge Mann, der Sekretär des Nationalrats ins Telefon. — Was? Was, sagen Sie? Tatsache? Hm. Ja.
— Meine Herren — schrie er so laut, dass alles aufhorchte — , meine Herren, soeben wird telefoniert, dass Graf Stephan Tisza ermordet worden ist..
— Was? Unglaublich! Schrecklich! Schändlich! Das wird uns schwer diskreditieren. Nein — nein, das durfte nicht kommen!
— Meine Herren — fuhr der blonde junge Mann fort, die Sitzung geht weiter. Der zweite Punkt der Tagesordnung...
Plötzlich halte ich's nicht mehr aus. Was zum Teufel soll ich hier die Zeit vertrödeln, die Wand stützen, wenn draußen auf der Straße die Revolution emporlodert? Wenn doch wenigstens Antalfy hier wäre, oder jemand käme — denn man kann doch nicht nur so einfach das Gewehr an die Wand stellen.
— Höre, Kamerad — wandte sich ein Soldat zu mir, der eben hereinkam — , wo ist hier der Kommandant?
Aus dem Mund des Soldaten strömte Schnapsgeruch.
— Ich weiß nicht. Was willst du?
— Was ich will? Na, schau mal her, Bursche, so sieht einer aus, der Stephan Tisza ermordet hat.
In diesem Augenblick ging der Dicke an uns vorbei, ich wusste schon, dass es Landler war, der Führer der Eisenbahner, der erst kürzlich aus dem Gefängnis herausgekommen war.
— Hören Sie, mein Freund — sagte Landler zu dem schreienden Soldaten — , gehen Sie nach Hause und schlafen Sie sich richtig aus. Sie haben ein bisschen zuviel getrunken.
— Herrgott, Kruzifix! So leicht lasse ich mich nicht rausschmeißen... Der Herr glaubt vielleicht...
Auf Landlers Wink beförderte ich ihn hinaus. Es ging viel leichter, als man dachte — kaum fasste ich ihn an, ging er von alleine.
Einige Minuten später kam ein anderer Soldat. Der war auch stockbesoffen, der schlug auch an seine Brust, er habe Tisza ermordet. Binnen einer kleinen halben Stunde meldeten sich etwa zehn Tisza-Mörder.
— Wir müssen eine Tafel an die Tür hängen — sagte Landler — , Tisza-Mörder werden nur vormittags von zehn bis zwölf empfangen.
Endlich am Spätnachmittag wurde ich abgelöst. Ich wurde mit einem geschlossenen Brief nach der Stadtkommandantur geschickt. Nach mir übernahm ein junger Feldwebel den Dienst.
Ich rannte die Treppe hinunter.
Unten im Tor standen soviel Leute, dass es nicht leicht war, sich durch die Menge auf die Straße zu schlagen. Ich bekam einen tüchtigen Stoß in den Bauch, ich teilte auch nach allen Seiten Stöße aus. Einem Offizier trat ich auf den Fuß, ein Fräulein schrie laut auf — ich gelangte auf die Straße.
Die Straße hatte sich seit gestern wesentlich verändert. Die Straßen waren gedrängt voll — alles war schwarz wie Pech anzusehen, aber es war ein ganz anderes Bild, eine andere Stimmung als gestern. Es waren weniger Frauen zu sehen, man sah auch weniger gutgekleidete Bürger. Arbeiter und Soldaten beherrschten die Straße. Die Luft war dicht wie in einer riesigen Werkstatt, in der hundert Schmiede zugleich das glühende Eisen hämmern. Die Masse brüllte nicht in den Straßen wie gestern, und doch war sie mächtig. Es herrschte ein beständiges Summen, man sprach untereinander, es wurde auch geschrieen und gesungen — aber dieses Summen, dieses Sprechen, Schreien und Singen ballte sich zusammen und dröhnte wie eine riesige Maschine. Ich blickte nach dem schlanken Hotel Astoria hinauf, von dem Balkon sprach ein großer, schwarzgekleideter, junger Mann. Er fuchtelte mit beiden Armen herum — aber ich hörte keinen Laut von dem, was er sprach.
Ich wusste bis dahin nicht, dass der Lärm einer Menschenmasse dröhnt wie eine arbeitende Maschine, aber jetzt, wo mich der Strom der Masse langsam, langsam vorwärts trieb, hämmerte das Rattern der riesigen Maschine immer stärker in meinen Ohren. Zwischen den schwarzen Arbeitermengen erschienen die grünen Soldatenuniformen, wie frische Zweige auf der bekränzten Maschine. Die Fahnen glichen bunten Blumen. Nebeneinander rot — weiß — grüne und blutrote Fahnen. Die riesige Maschine rattert: Revolution, Revolution, Revolution. Ich vergaß, woher ich kam, wohin ich gehen wollte, ich wurde in den nach der Donau zuströmenden Fluss der Menge mitgerissen, mitgeschleudert. Meine Stimme verschmolz mit dem gewaltigen Dröhnen: — Es lebe die Revolution! Es lebe die Revolution! Die Masse teilt sich in wuchtiger Ruhe. Ich bemerke das Lastauto, dem der Weg freigemacht wird, erst als es an mir vorbeifährt. Das Auto ist gedrängt voll mit blumengeschmückten, singenden Soldaten.
— Hoch die Revolution! Hoch die Revolution!
Ich werde bis an die Donau mitgerissen. Dort schlage ich mich langsam aus der Menge heraus. Ich muss mir jeden Zentimeter erkämpfen, aber jetzt habe ich Kraft und Mut zu kämpfen. Ich springe über einen Zaun, ich biege in eine Querstraße ein, dort muss ich wieder einen Zug durchschneiden, und endlich erreiche ich das Stadtkommando.
Beim Tor werde ich ohne weiteres durchgelassen. Auf der Treppe fragt niemand, wo ich hingehe. Ich gehe geradewegs in das Zimmer hinein, in dem wir heute Nacht den General verhaftet hatten. Zehn oder noch mehr junge Offiziere sind in dem Zimmer — sie sind ebenso laut wie die Zivilisten im Nationalrat. Ein junger Artillerieleutnant übernimmt den Brief.
— Bekomme ich Antwort? — fragte ich.
— Nein. Der Nationalrat weiß, dass wir die Befehle der Revolution unbedingt durchführen.
Nur auf großen Umwegen gelange ich zum Astoria zurück. In dieser Gegend ist die dichteste Menge. Unendliches Fahnenmeer. Oben kreisen zwei Flugzeuge.
Im Tor bewaffnete Wachposten. Offiziere und Unteroffiziere.
— Wohin?
— Zum Nationalrat.
— In welcher Angelegenheit.
— Ich gehöre hin.
— Haben Sie eine Legitimation?
— Es wurde mir noch keine ausgefolgt.
Wie immer auch ich mich dagegen auflehne, ich werde nicht hereingelassen. Ich versuche die Sache klarzulegen, ich bitte um Einlass, ich drohe, aber keiner schenkt mir Gehör. Es ist nicht zu machen, ich komme nicht hinein, ich steige auf ein Lastauto, in dem blumengeschmückte singende Soldaten fahren. Das Auto kriecht dahin, langsam bahnt es sich einen Weg durch die Menge. Jetzt bleibt es wieder stecken, aber hinter dem Westbahnhof rast es durch den von Fabriken begrenzten Vaczer-Weg, hinaus nach Neupest.
Beiderseits die Fabrikschornsteine wie schwarze Wachposten.
Wir singen wie Trunkene wirr durcheinander. Wir wissen selbst nicht, was wir singen.
— Schluss mit dem Krieg — sagt einer dazwischen.
— Schluss.
Dann fängt das Singen von neuem an.
Als der Morgen dämmerte, waren die Kameraden langsam verschwunden und auch ich musste herunter, weil das Auto in eine Garage eingestellt wurde. Ich hatte keinen Bekannten in Budapest außer Gyulai. Also zu ihm! Ich tippelte gute anderthalb Stunden, bis ich hinkam und musste noch über eine Stunde auf der Straße herumstehen, bis ich hinauf gelassen wurde. Gyulai wohnte nämlich in einem kleinen Hotel, und der Portier wollte mich unter keinen Umständen vor acht Uhr hereinlassen.
Dem Hotel gegenüber war ein großes Lebensmittelgeschäft. Das Geschäft war geschlossen, die Rollläden heruntergezogen, aber vor dem Laden warteten schon in langen Reihen Frauen mit Tüchern, frierende kleine Mädchen, alte Männer. Einige Frauen hatten sich Schemel mitgebracht, sie warteten sitzend den Morgen ab und standen nur zeitweilig auf, um sich etwas Bewegung zu machen und, sich die Hände reibend, gegen den beißenden Novemberwind zu schützen. Ich ging einige Mal an den Wartenden vorbei, die schon am frühen Morgen müde, unter den abgetragenen Tüchern zitterten.
— Die haben's gut, die unweit einer Kaserne wohnen.
Die haben die Magazine ausgeleert, dort gab es alles: Mehl, Fett, Fleischkonserven, Milchkonserven, Speck, Zucker, Schuhsohlen, Tabak, Zündhölzer, ich sage, die haben alles, die in der Nähe einer Kaserne wohnen. Die Soldaten sahen zu und lachten, wie alles weggetragen wurde. Was hat uns die Revolution gebracht?
— Den Frieden.
— Und was sollen wir kochen?
— Es gibt jetzt alles — sagte eine Frau mit breiten Hüften. Die Entente wird alles liefern, wenn sie überzeugt ist, dass bei uns die Demokratie herrscht. Denn das will die Entente, die Demokratie. Dafür hat sie gekämpft. Die Deutschen und die Unseren waren für den Militarismus, deshalb kam es zur Blockade und zur Aushungerung. Mein Mann erzählt — mein Mann ist nämlich beim Zollamt und dort erfahren die Herren alles zuerst, ja, ich sage — mein Mann erzählt, dass das Gefrierfleisch, wovon mehrere Waggon an der Grenze stehen, eine Liebesgabe Englands — nicht nur billiger, sondern auch ausgiebiger ist, als das ungarische Rindfleisch und wir werden soviel davon bekommen, wie wir nur brauchen.
— Also mit dem Fleisch werden wir schon irgendwie zurechtkommen, Frau Nachbarin, aber es heißt, dass die Rumänen und die Serben nicht damit einverstanden sind, dass wir uns mit der Entente aussöhnen, denn alle wollen sie ein Stück von diesem unglücklichen Land.
— Wollen können sie schon — sagte die Nachbarin — Frankreich läßt's aber nicht zu. Der Franzose weiß wohl, dass er uns Magyaren noch einmal gut gebrauchen kann, und dann dürfen wir auch nicht vergessen, dass ihr Präsident ein guter alter Freund unseres Karolyi ist. Das fällt auch ins Gewicht.
Ich fand Gyulai im Bett. Er war auch spät nach Mitternacht nach Hause gekommen, allzu viel hatte er also nicht geschlafen, er war aber trotzdem sehr gesprächig. Ich war so zerschlagen, dass ich mich einfach auf den wackligen Diwan hinwarf, dessen Federn sich wie spitzige Steine in meinen Körper bohrten. Ich hörte noch, wie Gyulai zu mir sprach, aber ich verstand nicht mehr, was er sagte, erst als er mich gegen Mittag aufrüttelte, verstand ich, dass ich mich waschen sollte, denn wir mussten unserer Arbeit nachgehen.
Gyulai lachte, dass ihm die Tränen kamen, als ich ihm erzählte, wie ich meinen Dienst beim Nationalrat verloren hatte.
— Du hast verfluchtes Glück, Junge! Wenn du dageblieben wärst, hätten die Herren Revolutionäre noch einen hohen Herrn aus dir gemacht, und du wärst früher oder später an den Galgen gekommen.
— Glauben Sie, dass die Revolution ein so schlechtes Ende nehmen wird?
— Die Revolution nicht, Aber gerade deshalb wird es diesen Herren noch schlecht ergehen.
— Sie meinen die Führer der Revolution?
— Die Wanzen der Revolution! Vorläufig ist es das Wichtigste, dass du dich wäschst und dass wir los gehen. Ich stecke dich in eine Arbeit, bei der du uns nützen kannst.
Die Straßenbahn ist voll gepfropft. Die müden, etwas eingeschüchterten Bürger bieten den blumengeschmückten, lauten Soldaten ihre Plätze an.
— Setzen Sie sich nur, Herr Soldat! In den vier Jahren sind Sie alle müde geworden.
Der Soldat setzt sich hin, ohne zu danken, der höfliche Bourgeois sieht erschrocken nach dem roten Band auf der Mütze des Soldaten. Eine runzlige alte Frau — in dem braunen haarigen Tuch verliert sich ihr zusammengeschrumpfter, abgenagter Körper völlig — drückt mir einen welken Apfel in die Hand.
— Ich habe auch einen so schönen, großen Soldatensohn — sagte sie stolz. — Ich erwarte ihn jeden Augenblick, vielleicht ist er schon zu Hause, bis ich heimkomme. Das letzte Mal schrieb er von der serbischen Front. Vor zwei Monaten.
— Die Rumänen sind in Siebenbürgen eingebrochen — sagte ein Herr in einem steifen Hut — jedes Mal, wenn er sich bewegte — stieß er mit dem Ellbogen in meinen Bauch. — Während wir hier zu Hause einander zerfleischen, schläft der Feind nicht.
— Die Entente wird sie schon zurückbefehlen — sagte ein nervöser Herr mit einem Kneifer, der sich entschuldigte, weil er mir auf den Fuß getreten war.
— Weshalb sollte die Entente sie zurückbefehlen, wenn ich fragen darf? Sie waren doch ihre Verbündeten, und wir kämpften gegen die Entente.
— Ja, aber jetzt ist auch bei uns die Demokratie------
— Unser Militär haben wir nach Hause geschickt. Wo hat man jemals so etwas gehört, dass ein Kriegsminister sagt, ich will keine Soldaten sehen? — Was will er denn sonst sehen, wenn keine Soldaten? Will er zusehen, wie der Rumäne und der Serbe das Land auffressen? Oder, wie der Bauer die Stadt ausplündert.
— Der Bauer muss das Land bekommen, er wird es schon beschützen — sagte Gyulai.
— Das glaube ich schwerlich. Der Bauer ist nicht reif dafür, dass wir uns auf ihn verlassen könnten. Wir brauchen alte, bewährte, geschulte Politiker, denen es unter den heutigen Umständen auch nicht leicht gelingen wird, einen Ausweg zu finden. Die Lösung der Bauern- bzw. Bodenfrage müssen wir auf eine Zeit verlegen, in der das Land vom Feind befreit ist.
— Also, wir müssen das Schicksal des Landes in die Hand jener legen, die den Krieg gemacht und ihn verloren haben?
— Ich sage nicht, dass man das Land gerade denen anvertrauen soll----------
Während wir hier politisieren, sind die Soldaten vorne im Wagen mit einem Herrn im Pelzmantel aneinander geraten. Als wir aufhorchten, schrieen die Soldaten dermaßen durcheinander, dass man nicht erkennen konnte, um was es sich handelte. Der Lärm dauerte nicht mehr lange. Zwei Soldaten fassten den Herrn im Pelzmantel an und beförderten ihn aus dem fahrenden Wagen heraus.
— Geh zum Teufel wie dein Freund Tisza, du Wanzenbrut !
— Er wagt es, die Revolution zu beschmutzen, der Hund-----------
— Er sagt, die Revolution sei schuld daran, dass wir den Krieg verloren haben und nicht der deutsche Kaiser mit seinem Wasserkopf!
— Wie mag der erst brüllen, wenn wir das Haus über ihm anzünden?
— Sehen Sie, — wandte sich der Herr im steifen Hut zu Gyulai — das ist Ungarns Tod.
— Ja — antwortete Gyulai, das Ungarn der Grafen und Pfaffen ist tot. Ein Schuft, wer es zurückersehnt.
Der Herr mit dem steifen Hut stieg an der nächsten Haltestelle aus.
Wir gingen in ein Kaffeehaus. Das große, elegante, geräumige Lokal war fast leer. An einem Tisch — hinten in einer Ecke — saßen ein junger Mann mit gekrümmten Schultern und ein Artilleriefeldwebel. Gyulai begab sich direkt zu dem Tisch, grüßte, setzte sich und wies mir auch einen Platz an.
— Ich habe einen Genossen mitgebracht, Otto — sagte er.
Der Mann mit dem krummen Rücken sah mir ins Gesicht, reichte mir die Hand, nickte mit dem Kopf, dann wandte er sich wieder zum Artilleriefeldwebel. Der Feldwebel erklärte ihm etwas auf deutsch, worum es sich handelte, weiß ich nicht, ich verstand damals nur ein paar Brocken deutsch. Der Mann mit den gekrümmten Schultern war mir bekannt, aber erst später, als er mit mir sprach, erinnerte ich mich daran, woher ich ihn kannte. Ich hatte ihn beim großen Januarstreik sprechen hören. Als der Feldwebel aufstand, wandte sich Otto zu Gyulai.
— Die Herren Revolutionäre haben dem König den Eid geleistet — sagte er — und haben Truppen gegen die Bauern gesandt, zum Schutz der Herrschaftsgüter. Heute nachmittag haben wir eine Versammlung am Koloman-Platz.
— Die Situation ist so klar — sagte Gyulai — , dass wir leichte Arbeit haben werden.
Der Mann mit der schiefen Schulter sah einige Augenblicke nachdenklich vor sich hin, sagte nichts zu Gyulai, sondern wandte sich mir zu.
— Wo haben Sie gedient, Genosse?
— Er war mit mir zusammen interniert — antwortete Gyulai statt meiner. — Ein Landsmann von mir, ich kenne ihn seit Jahren. Ein guter Genosse.
— Kommen Sie heute Nachmittag um fünf auf den Koloman-Platz, Genosse, bis dahin will ich überlegen, was wir für Sie zu tun haben. Falls Sie mich dort nicht finden, lasse ich ihnen Bescheid durch Gyulai zukommen.
Auf dem Koloman-Platz versammelten sich Arbeiter und Soldaten mit roten Fahnen. Es dunkelte. Die Lampen beleuchteten den Platz nur spärlich. Um den Redner besser zu hören, schlossen wir uns eng zusammen, — trotzdem auf dem riesigen Platz mehr Raum vorhanden war, als wir brauchten — es war ein schwarzer, sich lebhaft bewegender Fleck auf dem grauen leeren Platz — heiß wie ein Schrapnell, eine hundertstel Minute vor der Explosion. Hier war die Stimmung nicht so rosig, wie bei den Straßendemonstrationen. Hier wurde die Revolution nicht bejubelt, sondern kritisiert. Ich hörte drei Redner, alle drei griffen die Regierung heftig an, weil sie dem König den Eid geleistet hatte — alle drei forderten die Ausrufung der Republik. Die Menge stimmte zu, aber hier und dort fiel eine kritische Bemerkung.
— Die Republik ist nur der erste Schritt! Wir wollen den Sozialismus!
— Das russische Beispiel!
— Sozialisierung der Fabriken!
— Bewaffnung der Arbeiterschaft!
Zum Schluss der Versammlung wurde die Marseillaise gesungen, danach von einer kleinen Gruppe — die Internationale. Ich konnte weder die Melodie noch den Text, ich wusste nicht, was das Lied bedeutete, aber es machte großen Eindruck auf mich. Ich war ganz trunken von dem Lied. Vielleicht darum, weil unmittelbar in meiner Nähe zwei Soldaten dasselbe Lied auf russisch mitsangen.
Ich sah Otto, aber ich konnte nicht mit ihm sprechen. Ich erfuhr von Gyulai, dass ich beim Empfang der Frontsoldaten beschäftigt werden solle.
Am Nachmittag des nächsten Tages konnte ich schon meinen Dienst antreten. Auf Anweisung des Soldatenrates wurde ich zu dem Hilfszug beordert, wo für die heimkehrenden Soldaten Tee und Kaffee gekocht wurde. Der Hilfszug stand unter dem Glasdach des Ostbahnhofs.
Vier Soldatenköche bereiteten in riesigen Kesseln Tee und Kaffee. Damit sie etwas zu beißen hatten, wurde Essen aus der Stadt gebracht. Der Nationalrat ordnete an, dass jeden Tag die Bewohner einer anderen Straße für die heimkehrenden Soldaten kochen sollten. Die jeweils bestimmte Straße führte die Anweisung aus. Die ausgehungerte Stadt kochte, wie wenn Hochzeit wäre. Korbweise wurden allerlei gute Sachen gebracht, die ich armer Teufel seit Jahren nicht gesehen hatte.
— Die Gauner haben Angst.
— Sie glauben, wenn sich der arme Soldat einmal vollfrisst, hat er sofort alles vergessen.
— Er wird eher sagen, her mit dem Rest.
— Denn wo soviel ist, gibt's noch mehr.
— Wie kann man so undankbar sein — rügte uns der Oberkoch.
— Na, na! Mit einem Napf Kaffee wollen sie uns dumm machen.
Der Zug läuft ein. Er hält kaum und schon strömen die Soldaten heraus. Die Soldaten, die auf den Dächern gefahren sind, fluchen wütend, weil andere, die durch das Fenster aus dem Innern des Wagens herausspringen, sie beim Herunterklettern hindern. Der Abgesandte des Nationalrates — ein junger Journalist, mit einer nationalfarbenen Kokarde an dem schwarzen Rock — nimmt seinen Hut ab und beginnt zu sprechen.
— Soldaten! Das Herz des Landes, die Hauptstadt Ungarns-----------
Weiter kommt er nicht, die davonstürmenden Soldaten reißen ihn mit sich. Die Rote-Kreuz-Schwester, die weiße Herbstblumen unter die heimkehrenden Soldaten verteilen wollte — die gute Schwester bricht in Tränen aus, irgend jemand hat ihr auf den Fuß getreten. Die Soldaten stürmen unseren Zug. Sie fliegen auf den Essensgeruch, wie der Nachtfalter auf das Licht. Abgemagert, zerfetzt, dreckig — noch mit dem Geruch der Schützengräben an sich. Die meisten haben nicht einmal einen Rucksack, aber ein Gewehr hat fast jeder von ihnen. Sie hüten es wie ihren Augapfel. Sie legen es nicht aus der Hand, auch beim Essen nicht. Und wie sie essen! Sie verschlingen alles — sie zerbeißen selbst die Knochen. Schon sind auch die Kessel leer. Noch, noch, noch! Sie zerreißen das Brot mit den Händen, sie zerschneiden das Fleisch mit dem Bajonett.
— Wo sind die Galgen? — fragte mich ein großer, schwarzer Kanonier mit hellen Augen und mit knochigem Gesicht.
— Nirgends.
— Wo werden die Halunken aufgehängt?
— Wir hängen nicht.
— Das ist eine Schmach — sagt er, sein Gesicht wird dunkelrot, nur die große hässliche Narbe über seinem Auge ist blass. Mit Spülwasser werden wir begossen — anstatt, dass----------
— Willst du Blut trinken, Goldmann? — fragt ein anderer Kanonier.
— Ja, Blut — sagt Goldmann.
Aus dem zum Lebensmittelmagazin verwandelten königlichen Empfangsraum wird das Bratfleisch in Waschkörben herausgeschleppt. Es ist keine Zeit, das Fleisch auf Schüsseln anzurichten, schon ist wieder ein neuer Zug da. Die auf den Wagendächern liegenden Soldaten schießen blindlings in die Luft.
Zwei Tage später stand Goldmann neben mir im selben Dienst. Auch er war durch Otto an diese Stelle gekommen.

— Wie? Du erkennst mich nicht?
— Aber doch, warte nur-----------
— In Molodetschno sahen wir uns zuletzt.
— Daniel Pojtek! Du siehst aus wie ein russischer
Bauer!
— Ich war ja Kriegsgefangener, zum Teufel noch mal. Was hast du denn getrieben, seitdem wir uns nicht gesehen haben?
— Ich bin im Gefängnis gewesen, und dann war ich interniert.
— Schön! — nickte Pojtek mit dem Kopf und 6chob 6eine riesige Pelzmütze zurecht. Ja, — hm, — hast du eine gute Adresse?
— Adresse?
— Ja, eine gute Adresse? Verstehst du mich nicht?
— Und ob ich dich verstehe. Warte nur. Ich habe eine. Ich bringe dich hin. Warte nur, wie machen wir das? Ja. Ich habe noch eine kleine halbe Stunde Dienst, dann bin ich bis morgen Mittag frei. Setz dich, oder leg dich hin für eine halbe Stunde, dann gehen wir zusammen in die Stadt.
— Sehr gut. In einer halben Stunde hol ich dich ab. Bis dahin sehe ich mich hier ein wenig um.
Ich brachte Pojtek noch abends mit dem Verwachsenen, mit dem Genossen Otto zusammen. Otto sagte uns, dass Gyulai nach Hause gefahren sei.
— Dieser Waschkorb enthält kein Brot, sondern Flugzettel. Niemand darf an die Dinger rankommen, außer dir oder Goldmann. Die Herren vom Nationalrat haben ein Telegramm unterschlagen, das Genosse Swerdlow, der Vorsitzende der russischen Räterepublik, an die ungarische Arbeiterschaft gesandt hat. Wir müssen dafür sorgen, dass die Botschaft der russischen Genossen nicht verschwiegen bleibt. Deine Aufgabe ist, in jedem Zug, der Soldaten heimholt, unter den Bänken und oben möglichst viele Flugzettel zu verstecken. Dann gib den Soldaten, die auch dann noch fluchen, wenn sie satt sind — , aber nur diesen — je einen Flugzettel. Mach's geschickt, wie wenn es auf Befehl des Nationalrates geschähe. Gib acht — es wäre sehr schade, wenn sie dich schon bald hinausschmeißen würden. Du verstehst mich?
— Ja.
Der Waschkorb wurde leer. Es kam ein neuer. Der wurde auch leer. Wenn ich nicht im Dienst war, arbeitete Goldmann — ich löste wiederum ihn ab — einer von uns war immer am Bahnhof. Am dritten Tag erwischte man mich, und ich wurde zum Bahnhofskommandanten geführt. Der Oberleutnant brüllte mich an, dann übergab er mich zwei Soldaten, die mich auf die Stadtkommandantur bringen sollten. Als wir auf die Straße kamen, ließen mich die Soldaten laufen. Bevor wir uns trennten, erzählte ich ihnen die Botschaft des Genossen Swerdlow.
— Dafür wollte dich das verfluchte Schwein einsperren lassen? Wie könnte ich einige hundert von den Zetteln herbekommen — ich werde sie so verteilen, dass kein Herrgott dahinter kommt.
— Schreibe mir auf, wohin du sie geschickt haben willst, du bekommst sie noch heute.
Ich ging geradewegs zu Otto, er ließ mich noch am selben Tag nach Hause fahren. Ich musste mich bei Gyulai melden.

Ich fuhr auf dem Dach eines Waggons, sonst war nirgends mehr Platz. Neben mir lagen Bauernburschen aus Bereg. Sie waren schon seit zwei Wochen unterwegs. Zwei Wochen sind eine lange Zeit — sie hatten den Krieg ganz vergessen. Sie sprachen kein Sterbenswörtlein von dem, was geschehen war, das Gespräch richtete sich auf das, was wohl die Zukunft bringen werde: ob man den Boden aufteilen wird...
— Wir haben nicht umsonst gelitten, Bruder. — Das Land----------das Land----------
— Es heißt, die Revolution zahlt jedem Soldaten dreihundertsechzig Kronen---------------
— Sie gibt Pferd und Pflug zum Ackern----------
— Die Kriegsunterstützung treib ich beim Dorfnotar ein, der Hurenbock! Der Schuft hat von den Unterstützungsgeldern mehr gestohlen, als er ausbezahlt hat. Als ich während meiner Urlaubszeit für meine Familie etwas forderte — hetzte er die Gendarmen auf mich. Na warte nur, du Kerl — schick mal jetzt Gendarmen zu mir, wenn du Mut hast!
Wenn einer hungrig wurde, kletterte er an einer Station vom Dach herunter und holte sich Essen in seiner Mütze. Wein bekamen wir nur heimlich. Der Nationalrat hatte das Weintrinken verboten. Das Essen war meistens noch mit Blumen und grünen Zweigen geschmückt. Wir waren aufgeputzt wie Hochzeitspferde.
Die Fahrt, die sonst kaum einen Tag beanspruchte, dauerte jetzt anderthalb Tage. Es war Abend, als ich ankam. Ich war hundemüde. Der kalte Wind zerbiss mir Gesicht und Hände, sie waren feuerrot. Ich ging nicht gleich zu Gyulai — ich suchte vorher meine Mutter auf. Sie sah aus, wie wenn sie in dem kurzen Jahr, in dem ich sie nicht gesehen hatte, um zehn Jahre älter geworden wäre. Ihr Haar war ganz weiß, ihr Gesicht voller Runzeln, der Rücken gebeugt, der ganze Körper zusammengeschrumpft.
— Mein lieber Sohn! Mein treuer lieber Junge! Als sie mich erblickte, brach sie in Tränen aus, als ob
sie die Nachricht von meinem Tod erhalten hätte.
— Lass den Jungen Wein trinken, nicht Salzwasser — sagte mein Onkel zur Mutter. Trink und iss, ruh dich aus, Peter, du hast dich lange genug geplagt — sagte er zu mir.
— Genosse Nemes ist Regierungskommissar des Komitats geworden — erzählte mein Onkel, als ich den Dreck der Reise abgescheuert hatte und wir uns zu Tisch setzten. — Ich bin auch Mitglied des städtischen Nationalrates — ich bin von der sozialdemokratischen Partei hineingeschickt worden.
— Onkel ist Sozialdemokrat geworden? — fragte ich verwundert.
— Gewiss. Ich habe mein Leben lang immer mit dem Volk gefühlt, sollte ich es jetzt im Stich lassen, wo man erfahrene Köpfe am meisten benötigt? Denn das arme Ungarn war noch nie in einer solchen Not wie heute. Der Tscheche, der Rumäne — jeder Hund beißt uns ins Fleisch, um uns gleich darauf das Gewehr aus der Hand zu drehen. Und wie sieht es im eigenen Haus aus! Die Leute begreifen nicht diese große Zeit — sie begreifen nicht, was Revolution heißt. Keiner will arbeiten — aber alle fordern höheren Lohn; und wenn sie ihn nicht erhalten, kommen die Arbeiter mit Drohungen.
Der Bauer plündert und brandschatzt. Heute kam die Nachricht, dass das Räubergesindel das Schloss des Herrschaftspächters in Dobos vollständig ausgeplündert hat — den Wein haben sie ausgesoffen, das Vieh fortgetrieben, ein Glück, dass sie ihn selbst nicht ermordet haben. Genosse Nemes hat einen Zug Gendarmen nach Dobos gesandt, aber das Volk ist so verwildert, dass es schwer war, mit aufgepflanzten Bajonetten die Ordnung wiederherzustellen. Hier in der Stadt hält die Volkswehr die Ordnung aufrecht — du musst auch in die Volkswehr eintreten. Wir dachten daran, dass es gut wäre, eine Bürgerwehr zu organisieren. Genosse Nemes sieht auch ein, dass das notwendig ist, aber leider sind ihm die Hände gebunden. Tja, die Genossen. Der Hauptmann Töggyössy wollte eine zionistische Garde organisieren — die jüdischen Gutspächter hatten für Sold, Kost und Fahnen binnen zwei Tagen hunderttausend Kronen zusammengebracht, aber es haben sich nur zwei Offiziere als Zionisten gemeldet, so ist aus dieser Sache nichts geworden. Wir leben in verflucht schlechten Zeiten, mein Junge!
Schon am frühen Morgen suchte ich Gyulai auf, d. h. ich dachte acht Uhr morgens sei noch sehr früh, aber bei Gyulai war schon lange alles auf den Beinen. Auf dem Hof standen einige Bauernwagen. Drinnen in Gyulais Zimmer gab es große Besprechungen. Eisenbahner, Bauern, Ziegeleiarbeiter berieten miteinander— etwa zehn bis zwölf Mann. Das Zimmer war voll dichter Rauchwolken — wahrscheinlich saßen die Genossen schon lange da.
Gyulai trug keine Militäruniform mehr. Neben ihm saß der alte Hubchen, unter dessen Hand ich meine erste Lehrzeit verbracht hatte.
— Du kommst zur rechten Zeit — sagte Gyulai — du kannst schon heute antreten. Du musst nach Nameny fahren. Du fährst auf einem Bauernwagen. Onkel Kenyeres nimmt dich mit. Er erklärt dir unterwegs alles, was du wissen musst. Aber das eine kann ich dir jetzt schon sagen, dass du ganz besonders vorsichtig sein musst, denn Nemes' Gendarmen verstehen keinen Spaß. Gestern haben sie Hajos in Tarpa halbtot geschlagen — du erinnerst dich noch an Hajos.
— Er wohnte in unserem Hof, er hat mich in die Eisenbahn Werkstatt gebracht.
— Natürlich kennst du ihn, er hat dich ja auch in die Bewegung eingeführt. Ja, er wurde gestern in Tarpa halbtot geprügelt. Jetzt kann er monatelang das Bett hüten und man muss noch froh sein, wenn er kein Krüppel bleibt.
— Du musst dich sehr in acht nehmen — sagte auch der alte Hubchen — , Nemes ist zu jeder Niedertracht fähig. Wir dürften vielleicht Peter überhaupt nicht dahin schicken, ehe er mit den Verhältnissen ganz vertraut ist — sagte Hubchen noch zu Gyulai.
— Peter ist kein Kind mehr, wir brauchen ihn nicht mehr am Gängelband zu führen. Er wird schon seinen Mann stehen. Und dann — wir haben sonst niemanden bei der Hand, den wir nach Nameny schicken könnten. Du gehst zur Versammlung der Eisenbahner, Dudas geht in die Ziegelfabrik, ich muss nach Tarpa gehen — die Genossen müssen nach Hause ins Dorf — wen sollen wir nach Nameny schicken? Hajos hätte hingehen sollen. Einen geeigneteren Genossen als Peter könnten wir gar nicht finden. Er ist in Nameny geboren, sein Vater war Stallknecht bei Sigmund Braun, — den Kopf hat er
auch am richtigen Fleck, mit einem Wort----------willst
du nach Nameny gehen, Peter?
— Ja. Was gibt's denn dort?
— Du sollst in einer Versammlung reden. Du musst dem Landvolk klarmachen, dass sie vergebens darauf warten, dass ihnen die Regierung den Boden gibt — der Boden ist da, wozu noch warten, die Bauern müssen sich den Boden nehmen. Hast du die Botschaft der russischen Genossen gelesen?
— Ja, ich habe sie gelesen.
— Du wirst auch darüber sprechen. Und auch von anderen Dingen, die mit Russland zusammenhängen. Erwähne mit ein paar Worten auch den Dorfnotar. Noch immer ist der alte Schuft in Nameny Notar, der damals die Gendarmen auf deinen Vater gehetzt hat. Der muss zum Teufel geschickt werden. Verstehst du?
— Ja.
— Also verstanden. Vater Kenyeres, Ihr könnt abfahren. Es schadet nichts, wenn Ihr etwas früher da ankommt, noch bevor sich die Leute versammelt haben. Peter kann sich vor der Versammlung noch ein wenig umsehen.
— Ich bin soweit.
— Onkel Michel, Ihr seid immer noch bei Brauns im Dienst? — fragte ich den Alten, als wir im Wagen saßen.
— Ja — sagte der Alte und schnappte nach Luft, wie wenn ihn der Fluch, der auf seiner Zunge lag, zu ersticken drohte. — Bei dem Brot, das der einem zukommen lässt, wird der Mensch ganz elend, nur noch Haut und Knochen, eine wahre Vogelscheuche. Ich wollte schon immer aus Nameny fortgehen, aber wo sollte ich hingehen? In Nameny gehört das Land Brauns, in Tarpa gehört es Mendel — und was weiter kommt, beherrschen alles die Grafen Schönborn, die die Arbeitsknechte noch niederträchtiger behandeln als Brauns. Wo sollte ich hingehen?
— Ist Joska auch bei Brauns?
— Joska? Erinnerst du dich denn noch an ihn?
— Gewiss. Wir sind im gleichen Alter. Wir zwei haben einmal das Fenster vom Speicher eingeschlagen — der Aufseher hat uns tüchtig durchgewichst — ich kann mich auch noch erinnern, wie Joska in den Bach gefallen ist — Ist Joska jetzt zu Hause?
Der Alte senkte den Kopf.
— Er ist in Italien geblieben — sagte er leise. — Joska fiel durch eine Kugel. Ich kriege es nicht fertig, ich kann's nicht aussprechen, wie der Berg heißt, wo ihn die Kugel traf. Nur eine Postkarte vom Roten Kreuz erhielten wir — darauf stand: Heldentod gestorben. Joska
----------Du hast oft mit ihm gespielt? Ihr wart gute
Freunde. Schon als kleiner Junge saß er auf dem Pferd -----------Er liebte die Pferde-----------Heldentod gestorben. Wir bekamen auch keine Unterstützung wegen seiner — es kam uns nicht zu. Der Notar sagte, es komme uns nicht zu. Nichts kam uns zu, als die Karte vom Roten Kreuz — Heldentod gestorben. Erinnerst du dich an den Dorfnotar?
— Ja, ich erinnere mich. Er hieß Okulicsany.
— Er ist noch immer da. Du sollst ihn auch nicht vergessen. Erinnerst du dich auch an den Aufseher Istvan Toth?
— Gewiss erinnere ich mich; er lief immer mit der Reitpeitsche herum.
— Ja, das ist er. Ich sage dir, Peter, es gibt keine Gerechtigkeit, wenn der nicht am Galgen endet. Der Herr Aufseher Istvan Toth, ein Büffel von einem Mann, der war nicht Soldat. Der Stuhlrichter auch nicht. Die haben die Italiener nicht erschossen, und ihre Knochen sind auch nicht abgenagt vom Hunger. Sie sind alle fett geworden. Die wussten auch nichts davon, dass es kein Petroleum, keinen Zucker, keinen Tabak, kein Geld gab — die Frauen der Eingerückten, alles gehörte ihnen, wer wagte, den Mund aufzumachen, dem schickten sie die Gendarmen auf den Hals. Vergiss es nicht, vergiss es nicht, Istvan Toth heißt der Aufseher.
Eine kleine Stunde später, als man von weiter Entfernung das Blechdach der Namenyer Kirche wahrnehmen konnte, dachte ich zum ersten Mal daran, dass ich bisher noch nie öffentlich gesprochen hatte. Im Gefängnis, im Interniertenlager verschwieg ich nie meine Ansichten, aber hier sich vor eine Menge Menschen hinzustellen und zu sprechen — mir wurde plötzlich heiß bei diesem Gedanken. Vater Kenyeres zog seine Augenbrauen über den graublauen mattglänzenden Augen zusammen und sah mir zweifelnd ins Gesicht, wie wenn er ahnte, weshalb sich meine Miene plötzlich verändert hatte.
— Kannst du denn auch wirklich sprechen, Peter?
— Ja, schon — sagte ich etwas unsicher.
— Wo hast du's gelernt?
— Im Gefängnis.
— Richtig, Junge — nickte Vater Kenyeres und zog seinen grauen, in den Mund hängenden Schnurrbart mit seiner linken Hand straff auseinander. — Sehr richtig — wiederholte er, und schlug auf die Pferde ein.
— Djü! Djü!
Der Kirchturm war klar zu sehen, dann erkannte ich Brauns Haus mit den roten Dachziegeln — wie das Kreuz mit dem Christus am Dorfende verkommen ist! Die alte vom Blitz getroffene Eiche, von der es heißt, dass seinerzeit der Landesfürst Rakoczy — als er aus dem Land flüchtete — dort gerastet habe, — hat sich gar nicht verändert. Sie ist so alt und so trocken, dass die Zeit keine Lust hat, sie anzugreifen. Noch eine Einbiegung, dann die große verfallende Flussbrücke, — bei der man stets Angst hat, dass sie zusammenbricht, wenn die Dreschmaschine über sie fährt — und wir sind im Ort.
— Na, was ist los? Was ist passiert?
— Vater Kenyeres merkte sofort, dass etwas im Dorf vorgefallen war, während er in der Stadt war — es ist erst fünf Stunden her und schon ist's-----------
Hier hielten wir keine Versammlung ab, es war keine mehr nötig. Am frühen Morgen hatten die Bauern mit Heugabeln den Dorfnotar erschlagen. Sie hatten auch die Tür zu Istvan Toths Wohnung erbrochen, aber der Halunke war verschwunden. Sie suchten ihn vergebens, sie konnten ihn nicht finden. Über einem riesigen Feuer wurde ein Bratspieß gedreht — das ganze Dorf, klein und groß, saß um das Feuer herum. Wer auf dem Hof keinen Platz fand, der wartete, an den Zaun gelehnt, was geschehen werde. Ein paar Bauern, die aus Russland zurückgekommen waren, führten das Wort, aber auch den anderen löste sich die Zunge — jeder wusste, was jetzt zu machen war — nur dass jeder etwas anderes wusste.
— Hier ist ein Genosse aus der Stadt, der sich auf die Revolution versteht — empfahl Vater Kenyeres lebhaft.
— Was versteht einer aus der Stadt vom Boden. Er weiß vielleicht, dass es Dreck und Kot gibt, wenn's regnet.
— Wir brauchen uns von anderen Leuten keinen Verstand zu leihen. Haben wir vielleicht nur dazu einen Kopf, dass die Gendarmen ihn einschlagen können?
— Also ist Genosse Peter Kovacs für euch nur so ein hergelaufener Fatzke aus der Stadt — sagte Vater Kenyeres plötzlich ganz zornig. — Der Vater dieses Jungen ist im Gefängnis gestorben, so müsst ihr ihn betrachten. Wessen Verstand soweit zurückreicht, der wird sich erinnern — der Vater des Genossen Peter, Joseph Kovacs, hat sich sein Recht nicht nehmen lassen, er hat zur Heugabel gegriffen. Der Junge aber erst, der saß im Komitatsgefängnis — so müsst ihr ihn einschätzen. Christus predigte schon, aber auch Vater Kossuth sagte, wenn jemand in Büchern sein Gehirn schärfte, so darf man ihn nicht gleich schief ansehen — nicht jeder ist ein Halunke, der studiert hat. Nein!
Ich sandte schnell einen Boten zu Gyulai. Ich bat ihn um Rat. Bis die Antwort kam, unternahm ich alles Mögliche, damit nicht das ganze Dorf zerstört wurde. Da es mir nicht gelang, Brauns Weinkeller richtig abzuschließen, waren alle Bemühungen umsonst, auch die Jungen, die aus Russland gekommen waren, versuchten alles Mögliche vergebens. Als es dunkel wurde, sah man kaum einen Menschen, der nicht singend durch die Straßen torkelte. Gegen Abend benachrichtigte ich Gyulai zum zweiten Mal, und als es finster wurde, legten wir an den beiden Enden des Dorfes auf der Landstraße große Lagerfeuer an. Neben den Lagerfeuern wachten mit Heugabeln ausgerüstete Posten — Burschen, die aus Russland gekommen waren, zwei von ihnen waren erst gestern angekommen. Die halbe Nacht wachte ich mit ihnen am Feuer, dann ging ich an das andere Ende des Dorfes hinüber. Da war es schon mit dem Johlen zu Ende. Betrunkene lagen da und dort herum. Ich wartete ungeduldig auf Gyulais Antwort — ich ging bis zur Rakoczy-Eiche dem Boten entgegen. Ich wartete immerzu, aber er kam nicht. Es kam niemand, ich bekam keine Antwort auf meine Nachricht. Gegen Morgen, als das Wachfeuer nicht mehr nötig war, ging ich aufs Gemeindehaus und legte mich hin. Ich nahm mir fest vor, nicht einzuschlafen, aber der Schlaf überwältigte mich doch. Als ich erwachte, brannte das Strohdach des Hauses in hellen Flammen. Drei Gendarmen brachen in das Zimmer ein----------Als ich aufsprang, versetzte mir der eine — ohne einen Laut zu sagen — einen solchen Schlag mit dem Gewehrkolben, dass ich sogleich wieder hinfiel.
Als ich zu Bewusstsein kam, lag ich im Gefängnis des Komitatshauses. Vater Kenyeres hatte meinen Kopf mit seinem Hemdärmel verbunden. Unter dem Verband sickerte langsam Blut hervor. Ich war hundemüde, alles tat mir weh, es fiel mir schwer zu sprechen — und da auch der alte Kenyeres nicht gerade gesprächig war, erfuhr ich erst viel später von ihm, dass es mehr als zehn Tote gegeben hatte — so hatten die Gendarmen Ordnung geschaffen!
Die Nacht durch lagen wir auf nassem, stinkendem Stroh. Der Alte nahm meinen Kopf in den Schoß. Ich hatte Fieber und zitterte.
Am nächsten Morgen wurde ich ins Krankenhaus eingeliefert.
Zwölf Tage lag ich im Krankenhaus. Als der Arzt mich für gesund erklärte, holte mich ein Kriminalbeamter ab. Der Kriminalbeamte brachte mich nicht ins Gefängnis zurück, er führte mich direkt aufs Stadthaus in das Zimmer, wo sich früher der Komitatspräsident befand — und wo jetzt der Regierungskommissar Nemes amtierte. Der Kriminalbeamte flüsterte dem Sekretär des Regierungskommissars etwas ins Ohr, der nickte mit dem Kopf, worauf der Kriminalbeamte sich entfernte. Der Sekretär bot mir einen Stuhl an, er selbst ging zum Regierungskommissar hinein. Einige Augenblicke später kam er zurück und winkte mir zu. Da ich die stumme Aufforderung nicht verstand, kam er zu mir hin und sagte, indem er sich verneigte:
— Der Regierungskommissar erwartet Sie. Nemes fasste mit beiden Händen meine Hand.
— Es freut mich, es freut mich sehr, dass Sie wieder gesund sind, lieber Genosse Kovacs. Ich war Ihretwegen sehr besorgt. Gerade genug Opfer hat das verantwortungslose, wahnsinnige Treiben Gyulais gefordert. Natürlich hat der Regimentsarzt für sich selbst gesorgt
— er flüchtete rechtzeitig nach Budapest — und ließ Sie allein in der Gefahr zurück. Wenn ich mich nicht um Sie gekümmert hätte, wären Sie alle dort umgekommen. Er rührt für niemanden einen Finger. Und gerade jetzt hätten wir alle erprobten Menschen besonders nötig. Die Tschechen sind hier in der Nähe, und wenn wir uns nicht zusammenraffen, sind sie bald in der Stadt.
Nemes sprach, die Worte strömten aus seinem Mund
— ich hätte nicht stummer sein können, wenn man mich nochmals auf den Kopf geschlagen hätte.
— Die Soldaten wollen nicht gegen den Feind kämpfen, die Tschechen erobern mit ein paar hundert Leuten ganze Komitate — klagte Nemes — der Bauer nimmt um keinen Preis das Gewehr in die Hand. Denen ist das Vaterland nichts. Die Arbeiter verlangen jetzt, in der größten Gefahr, Lohnerhöhung, sie schrecken sogar vor dem Streik nicht zurück und denken nicht daran, in welche Gefahr sie die junge Revolution infolge ihres egoistischen, kurzsichtigen Leichtsinns stürzen.
Während Nemes mir vorjammerte, hatte ich genügend Zeit, das riesige dreifenstrige Zimmer mit den eleganten Möbeln zu betrachten. Ich setzte mich bequem in den braunen Lederfauteuil zurück und blickte auf das Bild König Karls, das hinter Nemes an der Wand hing und das die Revolution hier vergessen hatte.
— - Hören Sie, lieber Genosse Kovacs, ich weiß, dass Sie ein guter, ehrlicher Sozialdemokrat sind, der — wie auch ich — bereit ist, sein Leben für die Volksrepublik zu opfern. Vielleicht wissen Sie es noch nicht, wir haben den König vor mehr als zwei Wochen vom Thron gestürzt — ja — Ungarn ist eine Volksrepublik. Ja. Also passen Sie auf, lieber Genosse. Es handelt sich darum, dass wir keine Soldaten haben. Die wenigen, die wir besitzen, die benötigen wir hier in der Stadt zur Unterdrückung der latenten, sich heimlich organisierenden Gegenrevolution. Denn die Gegenrevolution ist in jedem Augenblick bereit, uns auf den Kopf zu schlagen — ja — und sie erwartet die Tschechen mit weitgeöffneten Armen, denen sind die Tschechen noch immer lieber als die Republik. Der Bischof von Nyitra — ein Graf Battyanyi — hat den Tschechen den Eid geleistet. Allein dieses Beispiel besagt, dass der Aristokratie die Tschechen willkommener sind als die Republik. Aus diesem Beispiel muss das Volk lernen, dass wir seine Freunde sind und die Tschechen seine Feinde. Na ja, Sie, lieber Genosse, werden sich fragen, weshalb ich Ihnen das alles erzähle. Deshalb, weil Sie das Landvolk kennen, Sie reden ihre Sprache, und gerade solche Menschen braucht die Revolution jetzt. Aus Budapest bekam ich die Weisung, dass ich freiwillige Truppen gegen die Tschechen organisieren soll. Einige gewesene Soldaten, jüngere Bauern, ein paar Arbeiter, ein bis zwei verlässliche Offiziere, mehr brauchen wir dann nicht. Wenn man die Tschechen ansieht, laufen sie schon davon. Sehen Sie, lieber Genosse, wenn Sie sich ernstlich der Sache widmen wollten, könnten Sie uns viel nützen, Sie könnten den Bauern bestimmt verständlich machen, dass das Schicksal der Revolution wichtiger ist als die elende Bodenaufteilung, die sich die Bauern gerade jetzt im Augenblick der größten Gefahr in den Kopf gesetzt haben. Ich will ja nichts sagen, die Zeit wird schon kommen, wo wir die Bodenaufteilung durchführen werden, aber vorher müssen wir die Tschechen aus dem Land jagen, damit wir Boden zum Aufteilen haben. Geld, Gewehre, alles was zur Ausrüstung eines kleinen Heeres nötig ist, ist vorhanden, nur Soldaten fehlen. Ich würde gern die Organisierung der freien Truppen Ihnen und dem Herrn Hauptmann Töggyössy überlassen. Na, was sagen Sie dazu?
Bisher konnte ich nur vor Offizieren oder Gendarmen lügen, aber während Nemes sprach, wurde es mir klar, dass ich auch hier lügen musste. Gewiss sah ich die Dinge damals noch nicht so klar wie heute, ich hätte nicht recht sagen können, weshalb ich lügen musste, aber das eine fühlte ich schon damals, dass, trotzdem der Herr Regierungsrat und ich in derselben Partei waren, er ein Feind und kein Genosse war.
— Na, wie denken Sie? — fragte er mit liebenswürdigem Lächeln.
— Na ja — ich werde es versuchen — und mir blieb das Wort in der Kehle stecken.
— Sehr schön, sehr schön, ich habe mich in Ihnen nicht getäuscht, Genosse Kovacs. Wenn man solange in der Arbeiterbewegung steht wie ich — genügt mir ein Wort, und ich kann schon beurteilen, was los ist. Und mit uns wollen diese Hergelaufenen konkurrieren! Na ja. Mit einem Wort, wir sind einig. Es ist wirklich eine Freude für mich, Genosse Kovacs. Sie werden diesen Tag nicht bereuen! Die Volksrepublik wird sich nicht undankbar zeigen gegenüber ihren Beschützern. Keinesfalls. Also — ja — was die Details anbelangt, das werden Sie mit Herrn Gendarmeriehauptmann Töggyössy besprechen. Töggyössy steht mit Leib und Seele zu unserer Sache. Suchen Sie ihn in der Kaserne auf, ich gebe Ihnen einen Brief für ihn mit.
— Der Hauptmann Töggyössy wird sich wahrscheinlich bei Ihnen erkundigen, lieber Genosse, — sagte Nemes und unterbrach sich einen Augenblick beim Briefschreiben — es wird den Herrn Hauptmann interessieren, zu erfahren, was Gyulai den Leuten in Nameny versprochen hat, wenn sie seinen langjährigen persönlichen Feind Okulicsany um die Ecke bringen würden. Wenn Sie bei dem Handel nicht anwesend gewesen sein sollten, können Sie selbstverständlich keine Auskunft geben, wir haben ja ohnehin genügend Zeugen, die gegen Gyulai ausgesagt haben.
Nemes gab mir einen verschlossenen Brief mit und zum Schluss eine feine Zigarette. Und was das Wichtigste war: ich ging ohne Begleitung eines Gendarmen oder eines Kriminalbeamten auf die Straße. Als ich draußen war, sah ich mich nochmals um, ob mir jemand folgte, und dann rannte ich Hals über Kopf zum Bahnhof, direkt zu Hubchen in die Werkstatt — er hatte mich dreimal im Krankenhaus besucht, man ließ uns aber nie unter vier Augen sprechen. Ich hatte Glück, der Alte war in der Werkstatt.
— Ist Gyulai nach Pest gefahren?
— Ja — . Im letzten Moment gelang es mir, mit ihm zu flüchten. Dieser Schuft, der Nemes, und der Hauptmann Töggyössy arrangierten eine direkte Hetzjagd gegen ihn. Sie würden ihn in Stücke zerreißen wenn sie ihn fassen könnten. Szekeres, der Buchhalter aus der Ziegelfabrik — ich glaube du kennst ihn — hat die Sache übernommen. Wenn du Gyulai triffst, kannst du ihm sagen, dass alles in Ordnung vor sich geht. Jetzt musst du aber sofort verduften; wenn du auch weiter nichts tust, wirst du wieder eingesperrt, weil du den Herrn Regierungskommissar so zum Narren gehalten hast. In einer Stunde fährt der Zug nach Budapest.
Eine Stunde später saß ich im Zug und am nächsten Morgen stieg ich am Ostbahnhof aus.

 

V.

Ich wollte zuerst mit Otto sprechen. Ich suchte ihn im Kaffeehaus, und als ich ihn da nicht fand, ging ich auf seine Wohnung. Er lag noch im Bett, war aber wach und las in einem Buch.
— Ich kam erst gegen Morgen nach Hause — sagte er — ich bin todmüde. Ich habe mich schon seit einer Woche nicht richtig ausgeschlafen und kann noch keinen Schlaf finden.
— Was liest du denn?
— Ich lese einen utopischen Roman. Weißt du, ein Buch, in dem beschrieben wird, wie die Menschen unter dem Sozialismus leben werden.
— Woher will das der Autor wissen?
— Er weiß es nicht, er schreibt nur so, wie er sich die Dinge vorstellt — wie er es gern haben möchte.
— Ja. Ich habe auch schon ein solches Buch gelesen, nur weiß ich nicht, was für einen Sinn solche Phantasien haben?
— Sag mal, hast du nicht, als du gefangen warst, oft daran gedacht, wie gut es wäre, jetzt zu essen, spazieren zu gehen oder zu baden, hast du nicht an Frauen gedacht? Nicht wahr? — Der dieses Buch schreibt, der geht noch weiter, er stellt sich vor, wie schön es wäre, wenn alle Arbeitenden frei würden.
— Glaubst du denn auch, dass der Sozialismus so aussehen wird, wie er hier beschrieben ist?
— Ach wo. Wie er aussehen wird, weiß ich nicht, aber das weiß ich, dass er nicht so aussehen wird, wie sich das einer zwischen seinen vier Wänden, am Schreibtisch sitzend, ausgedacht hat. Nein, nein, so wird der Sozialismus nicht aussehen. Weißt du, die Sache steht irgendwie so — nimm doch eine Zigarette — du warst vielleicht auch mal in einer solchen Situation, — dass du an eine Frau gedacht hast, die du nie gesehen hast,
die niemand gesehen hat----------Sie war wunderschön,
sehr klug, gütig wie eine Mutter und liebte dich unendlich. Wir dachten solange an diese vollkommene Frau, bis wir uns tödlich in sie verliebten. Dann kam eine andere Frau: sie war nicht so schön wie diese, sie war nicht so klug und auch nicht so gütig, trotzdem liebten wir sie hundertmal mehr als jene. Wir vergaßen die andere Frau — die Erträumte — , denn die hier war Wirklichkeit: Fleisch und Blut. So ungefähr steht es auch mit dem wirklichen Sozialismus und mit dem, den man sich in der Phantasie vorstellt.
— Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Wann denn auch? Heute ist das Wichtigste, dass wir siegen.
— Gewiss, das Wichtigste ist, dass wir siegen, aber wozu würden wir uns schlagen, wenn wir nicht um ein höheres Ziel kämpften? Was es heute gibt, ist schlecht. Das kann man mit Entschiedenheit behaupten. Aber ich würde doch kein Gewehr ergreifen, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass das, was wir erstreben, gut sein wird.
Otto wirkte jetzt etwas fremd auf mich. Was er nachher sprach, verstand ich nicht ganz. Während er mir die Vorteile der sozialistischen Produktionsweise breit erklärte — hatte ich genügend Zeit, mich im Zimmer gründlich umzusehen. Die Wohnung war wie eine Bibliothek, an den vier Wänden standen mächtige Bücherregale bis an die Decke, und alles war voll mit Büchern. Neben dem Bett und auch auf dem Teppich lagen Bücher und Zeitungen — und auf dem Schreibtisch erhob sich ein wahrer Berg von Büchern. Außer den Büchern befand sich auf dem Schreibtisch eine Bronzefigur: eine nackte Frauengestalt, ohne Arme. Mir gefiel die Statue nicht, sie passte gar nicht zu den Büchern.
— Vielleicht steckst du den Spirituskocher an — sagte Otto. — Ich ziehe mich an, dann können wir eine Tasse Tee trinken. Erzähle mir inzwischen, wie du eigentlich hierher gekommen bist. Vor einer Woche schrieb Hubchen noch, dass wenig Hoffnung besteht, dass du bald frei kommst.
Bis das Teewasser kochte, erzählte ich Otto ausführlich die Geschichte meiner Befreiung. Er lachte laut auf, als ich erzählte, wie ich Nemes nasführte — als ich dann mit meiner Erzählung fertig war, schwieg er lange.
— Hör mal — Peter — begann er, — diese wilden, unorganisierten Aufstände sind sehr gefährlich. Man müsste die Dinge ganz anders anfassen. —
Später sprach Otto von den Geschehnissen in Budapest. Von ihm erfuhr ich, dass Gyulai wegen Aufwiegelung zum Mord von der Beregszaszer Staatsanwaltschaft gesucht wurde. Gyulai befand sich nicht in Budapest. Vor kurzem war er unten in Salgotarjan, und er wird auch von dort aus gesucht. Er arbeitet aber ruhig weiter in einer anderen Provinzstadt. Wo er ist, das sagte Otto nicht, und ich fragte ihn auch nicht. Wir hatten besprochen, dass ich zu Pojtek nach Neupest hinausfahren sollte, vielleicht kann er mich in eine Fabrik hineinbringen. Dort kann man die beste Arbeit leisten — dort wird der Kampf entschieden.
Pojtek wohnte in der Oesz-Gasse, er bewohnte ein Zimmer mit Küche in einer Hofwohnung im zweiten Stock, Ihn selbst traf ich nicht, aber seine Frau mit zwei kleinen Kindern war zu Hause.
Die Frau empfing mich sehr misstrauisch.
— Sie waren auch russischer Kriegsgefangener? — fragte sie.
— Nein. Ich war nicht in Kriegsgefangenschaft.
— Woher kennen Sie Dani?
— Wir waren heim Militär zusammen.
— In welcher Angelegenheit suchen Sie ihn?
— Ich wollte ihn nur besuchen. Wann kommt er nach Hause?
— Er arbeitet in der Fabrik. In einer kleinen halben Stunde kommt er zum Essen nach Hause — wenn er nicht wieder eine Sitzung hat. Diese ewigen Sitzungen — seufzte die Frau und warf neue Kohlen in den Herd, auf dem sie Mittag kochte. — Zwar interessiert sich Dani nicht besonders für Politik — fuhr sie fort, und ihr Gesicht wurde rot bei diesen Worten. Er politisiert nicht, er geht nur dann zu den Sitzungen in der Fabrik, wenn es unbedingt sein muss.
— Ich weiß es — sagte ich — , kann ich auf ihn warten?
Die Frau zuckte mit den Achseln.
— Wenn Sie wollen. Setzen Sie sich.
Sie stellte einen Stuhl auf die Schwelle zwischen der Küche und dem Zimmer. Ich setzte mich hin, sie machte ihre Arbeit weiter. Frau Pojtek war eine kleine, magere Frau, dünn und blass. Sie hatte ein nettes Kleid an, wahrscheinlich hatte sie es selbst genäht, im Zimmer stand die Nähmaschine. An den Füßen hat sie Männerschuhe. Im Zimmer glänzt alles vor Reinlichkeit. Auf dem Tisch sind einige dicke Bücher sorgfältig aufeinander gelegt.
— Du darfst nicht ins Zimmer — sagte Frau Pojtek streng zu einem der Kinder, zu dem Jungen, der zwischen meinen Beinen in das Zimmer kriechen wollte.
Ich nehme den Jungen auf den Schoß und frage ihn, wie er heißt.
— Vater hatte abends niemanden hier — antwortete
er — und sie sprachen über nichts. Und alle Onkels sprachen ungarisch.
Ich sehe das Kind verlegen an, dann die Frau. Frau Pojtek lacht, hält aber ihre Hand vors Gesicht, damit ich es nicht merke.
— Lass den Onkel in Ruhe, und wenn du nicht gefragt wirst, sprich nicht! — sagt sie zum Kind.
— Aber Vater hat’s ja gesagt — verteidigt sich das Kind. Die Mutter blickt das Kind scharf an, so dass es sofort schweigt, und so konnte ich auch nicht erfahren, was Vater gesagt hatte.
Pojtek kommt nach Hause. Er ist guter Laune — umarmt mich. Die Frau sieht mich verlegen an, dann blickt sie auf Pojtek, dann wieder auf mich. Sie wird rot und reicht mir die Hand.
— Ich dachte, Sie kommen von der Polizei — sagte sie und senkte die Augenlider.
Pojtek lachte laut auf.
— Das habt ihr doch nicht gedacht?
— Gewiß. Sogar Lajcsi glaubte es. Das ist auch kein Wunder. Du hast uns den Kopf so voll geredet, dass wir acht geben sollen, dass ich jetzt meinen eigenen Vater mit Mißtrauen ansehe.
— Na, setzen wir uns hin. Ich denke, es reicht auch für den Gast?
— Wenn er sich mit dem begnügt, was wir essen------
— Er ist nicht verwöhnt.
Pojtek nahm sich nicht viel Zeit zum Essen. Kaum hatte er den letzten Bissen geschluckt, stand er vom Tisch auf.
— Ich hab’s eilig — sagte er — Peter, du kommst mit mir!
— Du gehst schon wieder fort. Seitdem du zurück bist, warst du noch keinen Abend zu Hause. Du kommst nur zum Essen und zum Schlafen und auch das nicht immer.
Pojtek streichelte seiner Frau über das Haar, küsste die Kinder, eine andere Antwort gab er nicht auf den Vorwurf.
— Wir beginnen heute mit der Hausagitation — sagte er zu mir, als wir auf der Straße waren. Ich muss in vier Häusern sprechen.
Es war schon dunkel, als wir in das erste Haus — in den Hof einer zweistöckigen Mietskaserne — kamen. Der Hof war dreckig. Er roch nach faulem Kraut.
Pojtek stellte sich mitten in den Hof und begann aus voller Kehle
— Arbeiter, Frauen! Genossen! — Zwei Türen von Parterrewohnungen öffneten sich, auf den Galerien, die um die oberen Stockwerke herumliefen, wurde es auch lebhaft. Pojtek nahm eine kleine Glocke aus seiner Tasche, schüttelte sie tüchtig, dann brüllte er wieder los:
— Genossen!
— Na, was ist wieder los?
Ein dickes Weibstück näherte sich uns, die Hände in die Hüften gestemmt.
— Hausieren ist verboten — sagte sie mit einer schrillen Stimme, die gar nicht zu ihrer dicken Gestalt passte.
— Ich bin Abgesandter des Nationalrates, mein Kollege ist Mitglied des Soldatenrates — sagte Pojtek — Genossen!
— In diesem Haus wohnen lauter ehrliche, anständige Menschen. — Ich bin für alle verantwortlich — rief die dicke Frau dazwischen. — Wer nicht ordentlich zahlt, den setze ich auch ohne irgendeinen Rat raus.
— Um so besser. Also zur Sache! Genossen! Ich
bringe euch die Grüße der Sozialdemokratischen Partei Ungarns.
— Es wäre besser----------fing wieder die dicke Frau
an, scheinbar war sie im Hause nicht sehr beliebt, denn gleich fielen ihr zehn Leute ins Wort.
— Schon gut, Frau Portier! Sie können auch mal schweigen.
— Gewiß, Frau Timar wäre es lieber, wenn andere kämen!
— Die Militärgendarmen ließen Sie gern rein!
Die dicke Frau verschwand schnell im Hintergrund. Pojtek fing damit an, die revolutionäre Regierung bis in den Himmel zu loben. Einige Minuten hörten ihn die Leute ruhig an, aber dann kamen nacheinander verschiedene Protestrufe.
— Was hat uns diese vielgerühmte Revolution gegeben?
— Wir haben jetzt weniger zu essen, und alles ist noch teuerer als im Krieg!
— Heute spielen immer noch die Reichen die Herren, die Armen sind schlechter dran als die Hunde!
— Wenn das so ist, so liegt es nur an den Arbeitern, damit es anders wird. Die russischen Arbeiter haben gezeigt, wie es gemacht wird; was steht denn dem im Wege, dass wir es ebenso machen wie die Russen. Nichts anderes als unsere Feigheit. Oder die Unwissenheit, denn viele Arbeiter wissen noch immer nicht, was in Russland vorgeht. Vielleicht wüsste ich es selbst nicht, wenn ich nicht gerade aus der Kriegsgefangenschaft käme. In Sowjetrussland steht die Sache so----------
Pojtek sprach eine gute halbe Stunde über Sowjetrussland.
Etwa dreißig Menschen sammelten sich in dem finsteren Hof um uns herum und auch von oben hörten einige zu. Als Pojtek zu Ende war, klatschten sie ihm Beifall, brachen in Hochrufe aus, aber sie waren nicht dazu zu bringen, dass sie etwas fragten, oder dass sie sich in eine Debatte einließen.
Noch in zwei anderen Häusern ging es ähnlich, aber im vierten Haus gelang es nicht, die Leute zusammenzubringen, denn inzwischen hatte es leise zu regnen begonnen — dünne Schneeflocken und rieselnde Regentropfen fielen und vermengten sich mit dem Dreck und dem Kot, der vom gestrigen Regen zurückgeblieben war.
— Gehen wir zu Lehotai, zum ersten Vertrauensmann unserer Fabrik — sagte Pojtek — er kann vielleicht etwas für dich tun.
Wir trafen Lehotai nicht zu Hause. Wir beschlossen, dass ich am nächsten Tag mit in die Fabrik kommen und dort mit ihm sprechen sollte.
Die Nacht verbrachte ich bei Pojtek. Die Frau machte mir in der Küche das Bett zurecht.
Ich ging gegen 9 Uhr in die Fabrik, — wie es mit Pojtek besprochen war.
Die Mautnersche Lederfabrik befindet sich auf dem Vaczer-Weg — mit der Rückseite nach der Donau zu. Das Tor ist geschlossen, nur eine schmale Tür ist offen. Hinter der Tür steht ein kleines Häuschen, der Raum für den Portier. Die Tür steht offen. Ich sah hinein, um zu fragen, wohin ich mich wenden sollte, aber es war niemand da. Ich ging weiter. Hinten im Hof standen sämtliche Arbeiter auf einem Fleck. Sie hielten scheinbar irgendeine Versammlung ab. Der Redner sprach von einem Balkon aus. Ein kleiner, schwarzer Mann, der mit den Armen herumfuchtelte wie ein Kind, das eine Windmühle nachahmt.
---------der Gewerkschaftsrat, ich glaube, es ist keiner
den Genossen, der nur einen Augenblick daran zweifelt, der Gewerkschaftsrat verteidigt mit aller Kraft jede berechtigte, jede erreichbare Forderung der Kollegen, aber — gerade im Interesse der Kollegen — erhebt er Einspruch gegen jede übertriebene, gegen jede unerreichbare Forderung.
Ein betäubender Lärm ist die Antwort. Der kleine, schwarze Mann fuchtelt wütend herum, aber erst nach Minuten gelingt es ihm, sich wieder Gehör zu verschaffen.
— Kollegen, wir müssen uns die Sache wohl überlegen, wir müssen wohl berechnen, wohl beurteilen, was zu erreichen ist. Wenn wir mit Gewalt so hohe Löhne fordern, die die Produktion für den Arbeitgeber — sozusagen zwecklos machen, setzen wir uns der Gefahr aus, dass die Arbeitgeber bei einer Streikdrohung mit der Einstellung der Produktion antworten — das heißt, dass wir vernichtet —
Fäuste hoben sich in die Luft — die Zuhörer übernahmen das Wort. Ein unaufhörliches, wütendes, ungebändigtes Brüllen war die Antwort der Masse. Der Redner sprach nur noch mit den Händen.
Die Versammlung war zu Ende, aber die Arbeit wurde nicht aufgenommen.
— Der Fabrikant wird mit Einstellung der Produktion drohen? — wir sozialisieren die Fabrik — schrie Pojtek, auf einer Kiste stehend.
Zustimmung.
— Wenn sich der Gewerkschaftsrat hinter den Unternehmer stellt -------
Zustimmung und Proteste.
Der Protest ist stärker als die Zustimmung, Pojtek kann nicht weiterreden.
— Die Fortführung der Arbeit ist im Interesse der Revolution — begann ein Arbeiter im Militärrock, der an Pojteks Stelle trat. — Das russische Beispiel hat gezeigt, dass die Sozialisierung des Elends---------
Der Redner kann auch nicht weitersprechen, seine Worte ersticken in dem furchtbaren Lärm, der folgt, und die Frau, die nach ihm sprechen will, kann nicht beginnen. Alles schreit, alles läuft hin und her: es wird weder für noch gegen den Gewerkschaftsrat gesprochen, weder für noch gegen die russische Revolution. Alle sind unzufrieden und kampfentschlossen, aber keiner weiß genau, gegen wen und wofür er kämpfen soll.
Es wurde Mittag, als mich Pojtek endlich mit Lehotai zusammenbrachte.
— Das ist der Genosse, von dem ich Ihnen sprach, Genosse Lehotai.
Lehotai ist der Arbeiter mit dem Militärrock, der von der Kontinuität der Arbeit gesprochen hat. Er nickte mit dem Kopf.
— Ja, ja ich weiß — sagte er. — Ich habe mir die Sache überlegt, Genosse Pojtek, ich würde sehr gern etwas im Interesse des Genossen tun, aber augenblicklich geht es leider nicht. Es ist unmöglich, jetzt neue Leute bei uns einzustellen. Wo brauchen wir jetzt Schlosser?
— Im Maschinenhaus.
— Da sind jetzt schon mehr als nötig.
— Und doch geht die Sache nicht richtig.
— Das ist wahr. Aber wenn zwanzigmal soviel Arbeitskräfte da wären, würde es auch nicht besser gehen. Sie sehen doch, arbeiten will niemand, und reden kann man auch nicht mit den Leuten. Das Ende vom Lied wird sein, dass wir alle arbeitslos werden.
— Hm. So einfach lässt sich die Sache nicht machen. Sie sehen doch: der Gewerkschaftsrat findet die neuen Lohnforderungen auch zu hoch-----------
— Der Gewerkschaftsrat hielt auch die Streiks gegen den Krieg für Wahnsinn-----------
— Lassen wir das, Genosse Pojtek, es ist wirklich nicht
nötig, durch Aufwühlen von alten Dingen die ohnehin schon schwierige Situation noch mehr zu belasten. Was den Genossen anbelangt — an mir soll es nicht liegen — ich will's versuchen, zwar-----------Haben Sie ein Arbeitsbuch? — wandte er sich jetzt zu mir.
— Ich habe jetzt nichts anderes bei mir, als dieses — sagte ich und gab Lehotai meine Militärlegitimation hin.
— Peter Kovacs, Nameny — las Lehotai laut. — Nameny. Hm. Nameny. Wo liegt eigentlich Nameny.
— Im Bereger Komitat.
— Ja, ja. Ich habe dieser Tage im Zusammenhang mit diesem Ort etwas gehört oder gelesen. Ja, natürlich.
Dabei zog er die „Nepszava" aus der Hosentasche und blätterte nervös in der Zeitung; als er endlich die Stelle fand, die er suchte, deutete er mit dem krummen Zeigefinger darauf und gab mir das Blatt in die Hand. Ich las den Bericht, auf den Lehotai hingewiesen hatte: in dem Bericht stand, dass der in Nameny geborene, neunzehnjährige, entlassene Honvedsoldat Peter Kovacs von der bergszaszer Staatsanwaltschaft Avegen Mitschuld an Mord und Raub gesucht werde. Peter Kovacs habe geplündert und in Gemeinschaft mit einigen kürzlich aus Russland zurückgekehrten Kriegsgefangenen den Namenyer Notar Okulicsanyi ermordet, er sei, nachdem er vor dem Untersuchungsrichter unter den belastenden Beweisen zusammenbrechend, seine Schandtat zugegeben habe — aus dem Gefängnis entwichen.
Plötzlich hatte ich ein Gefühl, wie wenn sich mir der Magen umdrehte. Der Fabrikhof kreiste vor meinen Augen.
— Komm doch zu dir — sagte Pojtek und sah mich scharf an, dann nahm er mich am Arm, wie wenn er Angst hätte, dass ich hinfiele. — Komm, wir trinken einen Tee.
Lehotai ging mit uns in die Kantine, aber er sprach kein Wort. Pojtek las den Bericht erst, als wir am Tisch saßen, er schüttelte verwundert den Kopf und gab dann Lehotai die Zeitung wieder zurück.
— Was denken Sie, Genosse Lehotai, kann man den Jungen in die Fabrik hineinbringen. —
Lehotai starrte Pojtek, dann mich mit weitaufgerissenen Augen an, man merkte, dass ihm sehr unbehaglich zumute war.
Pojtek wiederholte seine Frage, aber er bekam auch jetzt keine Antwort. Lehotai reichte, ohne ein Wort zu sagen, erst Pojtek, dann mir die Hand, darauf ging er fort.
— Na, ist dir jetzt besser? — fragte Pojtek.
— Dieser Schurke Nemes ist zu allem imstande — sagte ich.
— Das glaube ich schon, aber das ist doch kein Grund, den Kopf zu verlieren. Du nimmst einen neuen Namen an, das ist vorläufig alles, was du zu tun hast. Otto kann dir bestimmt die nötigen Papiere verschaffen. Jetzt geh' zu mir nach Hause und warte dort auf mich. Am Abend besprechen wir das weitere.
Ich verbrachte den ganzen Tag in Pojteks Wohnung. Frau Pojtek hatte jetzt das größte Vertrauen zu mir, sie weinte mir all ihr Elend vor. Ich war nicht in der Stimmung, sie zu trösten, ich hörte ihr ruhig und geduldig zu. Während des Krieges war Pojtek zweimal verhaftet worden, dann wurde er zum Militär eingezogen. Fast ein halbes Jahr ließ er nichts von sich hören und jetzt, nach seiner Rückkehr, ist er auch nur als Gast zu Hause. Die Kinder kennen ihn fast nicht mehr, und sie, die Frau-----------
— Und wenn dieser aufreibende Kampf nur einen sichtbaren Erfolg aufwiese. Aber was hat uns die Revolution gebracht? Gehen Sie doch mal auf den Markt hinaus, hören Sie, was die Frauen sagen. Wir lesen nicht soviel wie die Männer, wir gehen nicht so oft zu Versammlungen, aber wir wissen am besten, dass das Leben heute viel schwerer und unerträglicher ist als vorher-----------
Gegen Abend fuhr ich mit Pojtek nach Budapest, wir suchten Otto auf. Er war derselben Meinung wie Pojtek: ich sollte mich keinesfalls bei der Staatsanwaltschaft melden, denn ich würde auf alle Fälle verhaftet, im besten Fall in Untersuchungshaft genommen.
— Die Kun-Gruppe ist in Budapest — erzählte Otto. Pojtek begleitete mich zu dem Genossen, den ihm
Otto genannt hatte. Am Nachmittag des nächsten Tages erhielt ich die neuen Legitimationspapiere. Mein Name lautete jetzt Andras Zipes, geboren in Brasso, einundzwanzig Jahre alt, als Kanonier entlassen.
Um die Sache glaubhaft zu machen, zog ich mir Goldmanns Artillerieuniform an.

Der Himmel ist fahlgrau, die blasse Sonne kriecht müde ihre Bahn; sie kann mit dem Leben nicht mehr Schritt halten. Versteckt sich hinter den bleiernen Wolken, schließt die Augen zu, will nichts sehen. Sie versteht ohnehin nichts mehr: von morgens bis abends, und von abends bis morgens verändert sich das Bild der Welt mehr, als früher in langen, langsamen Jahren.
Wie jemand, der im Expresszug fährt und die vorbeirennenden Telegraphenstangen als eine einzige Stange sieht — so floss auch hier alles ineinander: groß und klein, schwarz und rot, Hunger und Ekel, Verzweiflung und Hoffnung.
Die Rumänen sind in Siebenbürgen. Sie rücken immer näher nach Westen, in Richtung auf Budapest.
Die Tschechen steigen von den Karpathen herab. Sie versprechen den Bauern Boden, sie ziehen Soldaten ein. Sie kommen, sie kommen nach Süden zu, in Richtung auf Budapest!
Die Serben haben die Save überschritten, sie kommen immer näher nach Osten, in Richtung auf Budapest. Die Stadt ist von Flüchtlingen überflutet. Michael Karolyi wird Präsident der Volksrepublik. Genosse Minister Sigmund Kunfi:
— Stellen wir für sechs Wochen den Klassenkampf ein!
Von den Mauern brüllen Tausende von Plakaten:
Die Sozialdemokratische Partei Ungarns-----------
Die Republikanische Partei-----------
Die Partei der Radikalen----------
Der Präsident des Nationalrates sagte----------
Lesen sie „Den Menschen"! „Der Mensch" ist die
sozialdemokratische Wochenschrift, Herausgeber Franz
Göndör.
Lesen sie die „Schlachtbank"! „Die Schlachtbank"
enthüllt die Liebesabenteuer der Erzherzogin----------
Das Tagebuch eines Militärdeserteurs----------
— Ich, Gräfin Anna Hadik, war immer Sozialistin ----------
Der Hafen geplündert! Die Schiffe in Brand gesteckt!
Eine Landkarte von Ungarn — im Norden, im Osten, im Süden, überall beißt irgendein riesiges Maul ein Stück Land ab, die abgebissenen Teile brennen in lodernder Flamme.
Nein, nein! Niemals!
Joseph Pogany, Präsident des Soldatenrates.
Gegenrevolution! Tod der Gegenrevolution!
Soldaten marschieren die Andrassy-Strasse entlang.
Budapester Garnison jagt den Kriegsminister fort. KUN BELA.
Die Kommunistische Partei Ungarns. Rotes Echo! „Vörös Ujsag"! Das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Ungarns.
Vix, französischer Major.
Die Franzosen sind Karolyis Freunde.
Französische farbige Truppen — afrikanische Spahis .— kommen nach Budapest.
Die Franzosen scheißen auf Karolyi.
Die revolutionäre Volksrepublik verbietet die „Vörös Ujsag".
Hoch die Demokratie!
An jeder Straßenecke brüllt es „Vörös Ujsag".
Streik am Vaczer-Weg.
Vortrag Bela Kuns: Wilson und Lenin.
Die Diktatur des Proletariats.
Die Kommunisten sind linke Gegenrevolutionäre.
Alle Macht den Räten der Arbeiter, Bauern und Soldaten !
Agenten Moskaus!
Sozialisierung!
Linke Gegenrevolutionäre.
Rollende Rubel.
Offiziere schießen auf Tibor Szamuely.
Offiziere geben Feuersalven auf Bela Kun ab.
Der gewesene Minister für Nationale Verteidigung wird interniert.
Der Finanzminister — ein bürgerlicher Radikaler — spricht von einer Vermögenssteuer, „deren Ausmaß in der Weltgeschichte beispiellos dasteht".
Der Handelsminister — der Sozialdemokrat Garami — schenkt den Fabrikanten Millionen.
Bauern besetzen die Landgüter — von über zehntausend Morgen. —
Bauernrevolution?
Freiwillige Truppen gegen die Bauern.
Alle Macht den Räten der Arbeiter, Bauern und Soldaten!
Paris hilft! Paris! Paris!
Wilson!
Moskau!
Lenin!
In das Sekretariat der Partei, in der Visegrader Gasse, kam ich nur selten. Die Zeitungen und Flugblätter erhielt ich in einer Privatwohnung. Dort wurden ich und noch neun andere junge Arbeiter zu Agitatoren ausgebildet. Diese Wohnung gehörte einem Offizier, der erst kürzlich aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war und der jetzt — auf Befehl der Partei — Mitglied des Vereins der Erwachenden Ungarn war. Er vermittelte mir den Befehl, dass ich in den Verein der entlassenen Frontsoldaten einzutreten habe.
Unter den entlassenen Soldaten zu arbeiten, war nicht schwer.
Als sie von der Front zurückkamen, durften sie sich einmal vollfressen, bekamen ein paar Kronen und dann war’s aus mit dem Heldenlohn. Sie waren entlassen. Arbeit gab es nicht und es waren viele unter ihnen, die sich nicht gerade um die Arbeit rissen. Weiterziehen, Budapest verlassen ging schlecht, das Land wurde von Tag zu Tag kleiner, und jeder einlaufende Zug brachte neue und neue Massen von Flüchtlingen in die Stadt.
— Im Schützengraben drohte uns der Tod, hier zu Hause droht uns auch der Tod — der Hungertod. Da ich sonst nichts zu tun habe, kann ich mir den Kopf darüber zerbrechen, wo es angenehmer zu krepieren ist: hier oder dort.
— Du bist sehr verbittert, Bruder.
— Ich habe allen Grund. Die Revolution ist da, alles was wir von der Revolution haben, ist, dass wir die Regierung hochleben lassen dürfen, eine Regierung, die nicht dran denkt, uns zu helfen.
— Das ist nicht richtig. Sie würde gern helfen, es
fehlen ihr aber die Mittel. Wie soll sie helfen?
— So? Sie hat keine Mittel? Die Regierung soll uns eine einzige Straße bezeichnen, nur eine einzige Straße,
wo die Reichen wohnen, und wir holen in einer einzigen Straße nicht nur alles, was wir brauchen, sondern wir stellen auch die Regierung auf die Beine.
— Wenn wir rauben gehen, ändern wir die Dinge
nicht.
— Aber mit Hurraschreien, und mit Tücherschwenken noch weniger.
— Wir müssten die Rumänen und die Tschechen aus dem Lande jagen.
— Das müssen wir dem rumänischen und dem tschechischen Volk und ihren Soldaten überlassen, die werden schon mit ihren Herren fertig werden. Wir müssen bei uns Ordnung schaffen.
Unbewaffnet zogen wir über die Andrassy-Straße. In unendlichen Reihen marschierten die abgerissenen, unbewaffneten Soldaten auf. Wir sprachen kein lautes Wort, taten keinem ein Leid an, wir rührten keinen Finger, und doch flüchteten die spazierenden Damen und Herren unter die Haustore vor uns, und die Rollläden der prunkvollen Geschäfte wurden eiligst heruntergelassen, als wir nahten.
Auf den Militärmänteln klebte noch der Schmutz aus den Schützengräben. Viele, die die Hölle vergessen möchten, tragen Zivilhüte zu den dreckig grünen Militärmänteln. Wir marschieren nicht so stramm vorwärts wie in der Soldatenzeit, wir schleppen die zerrissenen Militärschuhe etwas müde daher. Die Krücken aber klopfen laut auf dem nassen Asphalt der Straße. Wir haben nur eine Fahne: Goldmann hat eine vom Regen verblasste rote Fahne mitgebracht.
Von einer Mauer schreit ein riesiges Plakat:
Arbeiter, wir haben kein Brot!
Gebt uns Arbeit! — brülle ich aus voller Kehle und die lange Menschenschlange bricht in wahnsinnigem Schrei aus:
— Arbeit! Arbeit!
Die vor uns flüchten, rennen angstvoll weiter, wie wenn wir die Pest hätten.
— Arbeit! Wir wollen Arbeit!
Wo wir vorbeiziehen, leeren sich die Straßen. Die Brücke, die nach Ofen, zum Nest der Regierung führt, halten Polizisten besetzt.
— Wir müssen die Halunken erschlagen!
— Los! Mit der bloßen Hand erwürgen wir die Kerle!
Zurück! Zurück! Genossen! — brüllt ein alter Feldwebel. — Wartet, morgen gehen die Polizisten auch mit uns! Zurück!
— Zurück! Zurück!
Ich weiß selbst nicht, wieso und weshalb der Zug plötzlich schwankt. Wir bleiben stehen. Wir verhandeln. Ein Kurier wird in die Burg geschickt, wir warten ruhig seine Rückkunft ab. Die Polizisten sind unruhig, sie befürchten etwas. Die Offiziere zeigen sich nicht. Wir warten — ich verstehe heute noch nicht, weshalb — , aber wir warten geduldig.
— Der Genosse Kriegsminister will nur die Führer empfangen.
Das wird angenommen. Die anderen warten! Etwa zwanzig Mann wurden in die Burg hineingelassen.
Man führte uns in ein riesiges, prunkvolles Zimmer der königlichen Burg. Irgend jemand flüsterte hinter mir, dass in diesem Zimmer früher die Königin Elisabeth gewohnt habe. Ich weiß nicht, ob das richtig ist, aber es ist ja auch nicht wichtig. Das aber ist sicher, dass der Fußboden glänzte wie ein Spiegel, und dass, als Goldmann ausspuckte, ein Wachtmeister sofort eine Reinemachefrau holte und es aufwischen ließ.
Gleichzeitig mit der Reinemachefrau kam Böhm, der sozialdemokratische Kriegsminister, herein. Ein kleiner, schlanker Mann, mit schwarzem Haar. In grauem Zivilanzug und braunen Schuhen. Unrasiert, müde und nervös.
— Na? Ich höre die Genossen an, aber immer nur einer auf einmal.
Das wissen wir selbst. Goldmann sagt, was wir wollen. Wir haben genug von den Versprechungen, jetzt wollen wir bare Münze sehen: Wir verlangen von der Regierung für jeden abgerüsteten Soldaten dreitausendsechshundert Kronen.
Böhm hörte anfangs ruhig zu, aber bald ging ihm die Geduld aus, und er protestierte mit Kopf- und Handbewegungen gegen Goldmanns treffende Argumente.
— Es genügt! Es genügt mir schon! Ich verstehe die Unzufriedenheit der entlassenen Soldaten, ich fühle mit den Not leidenden Soldaten, mit den Opfern des Militarismus, wie kein anderer, aber die Soldaten müssen endlich verstehen, dass sich die Volksregierung selbst in einer sehr schwierigen Situation befindet. Solche übertriebenen, undurchführbaren Forderungen sind letzten Endes Wasser auf die Mühle der Gegenrevolution. Im Interesse der Revolution müssen sie ein wenig entbehren lernen----------
— Gut, gut — sagte Goldmann----------Nur noch das
eine wollen Sie uns, lieber Genosse, erklären, warum gerade wir hungern müssen, wenn die Bourgeoisie alles besitzt, was nur Auge und Mund begehrt? Der Sozialismus----------
— Mich braucht niemand über Sozialismus zu belehren — sagte Böhm zornig und sein Gesicht wurde rot vor Wut — lernen Sie lieber etwas von mir. Lesen Sie erst Marx und Kautsky, dann können Sie mit mir debattieren, vorher nicht. Was die Lage der entlassenen Soldaten betrifft, — ich bitte Sie, verhalten Sie sich ruhig, hören Sie mich geduldig an, ich spreche über Ihre Angelegenheiten — was also die Not der abgerüsteten Soldaten betrifft, wird die Regierung alles versuchen, diese Not zu lindern, aber die Volksregierung wird sich mit aller Kraft dagegen wenden, dass diese Not von wem auch immer für dunkle politische Ziele missbraucht wird. Ja. Ich denke, dass jeder vernünftige Mensch einsehen wird, dass wo nichts ist, auch der Herrgott selbst nichts nehmen kann.
— Richtig, richtig — antwortete Goldmann — aber das ist Gottes Angelegenheit. Wir, lieber Genosse, wollen nicht nehmen, wo nichts ist, sondern dort, wo es viel gibt. Die Regierung bezeichne uns nur eine einzige Straße----------
Darauf kehrte sich Böhm — wie ein Soldat auf Befehl — stramm um und verließ uns ohne ein weiteres Wort. Einige Augenblicke standen wir ratlos auf dem spiegelklaren Fußboden und wir hätten uns wohl nicht sobald zum Gehen entschlossen, wenn nicht durch die Tür, hinter der Böhm verschwunden war, ein blonder Husarenhauptmann erschienen wäre. Der Hauptmann winkte mit der Hand, wir sollten still sein, denn jetzt wolle er sprechen.
— Der Herr Kriegsminister — sagte der Hauptmann — ist so ungeheuer beschäftigt, dass er den Herren nicht weiter zur Verfügung stehen kann. Das Verlangen der abgerüsteten Soldaten wird der Herr Minister dem Ministerrat vorlegen.
Nach dem Hauptmann kamen noch etwa ein Dutzend Offiziere in das Zimmer und einige Unteroffiziere. Alle waren bewaffnet.
Was konnten wir tun — ohne zu mucksen, scherten wir uns aus dem Zimmer.
— Verfluchte Bande — sagte Goldmann, als wir die Treppe hinuntergingen— , wir werden's ihnen schon zeigen!
— Was willst du tun?
— Du wirst schon sehen!
Als wir zur Brücke gelangten, war unser Heer auseinander geraten. Aus den Abendzeitungen erfuhren wir, dass ein Teil in die Redaktion einer bürgerlichen Zeitung eingedrungen war. Eine andere Gruppe zog in die Visegrader-Gasse — der größte Teil war schon ruhig nach Hause gegangen.
— Das sind keine zuverlässigen Revolutionäre — brummte Goldmann vor sich hin.
— Wir sind aber auch keine patenten Führer — sagte ich.
Ende Februar verbrachte ich drei Tage in Miskolcz. Ich hatte dort eine Arbeit, die ich nicht abbrechen konnte, auch dann nicht, als ich die ersten Nachrichten über die Budapester Vorfälle erhielt, Die erste Nachricht sprach davon, dass die Arbeitslosen die „Nepszava", die Redaktion des sozialdemokratischen Parteiorganes,
gestürmt hätten------Als ich mich in den Zug setzte,
erfuhr ich, dass es bei der Demonstration auch Tote und Verwundete gegeben hatte: sieben Budapester Polizisten waren bei der Verteidigung der Sozialdemokraten gefallen. Ich muss sagen, mir brach nicht gerade das Herz darüber, ich hatte auch keine Ahnung, welche Folgen diese blutige Demonstration haben würde.
Erst in Budapest erfuhr ich, dass die Volksregierung eine Hetzjagd gegen die Kommunisten veranstaltet hatte, und jeden, den sie erwischen konnte, einsperren ließ. Die Polizisten hatten die Verhafteten blutig geschlagen.
Meine Wirtin warf mich sofort hinaus. Aus ihren Schimpfreden erfuhr ich, dass auch ich von Kriminalpolizisten gesucht wurde.
Daraufhin verduftete ich und ging auf die Pester Seite hinüber; aber dort wusste ich nicht, was ich beginnen sollte. Endlich entschloss ich mich, zu Pojtek zu gehen.
Die Frau empfing mich mit verheultem Gesicht.
— Dani ist verschwunden. Seit zwei Tagen wissen wir nichts von ihm.
— Er wird verhaftet sein!
— Das nicht, die Polizei sucht ihn noch immer. Sie kommt zwanzigmal am Tag hierher.
— So?
Da war ich auch schon auf der Straße und stieg in die erste Straßenbahn, die zur Stadt fuhr.
— Diesen Halunken ist nichts heilig. Sieben unschuldige Menschen zu töten! Das sind wilde Tiere, das sind keine Menschen!
— Man muss diese Bande ausrotten, dass keine Spur von ihr übrig bleibt.
— Das hat unserem unglücklichen Land noch gefehlt. Wir haben keine Kohlen, keine Lebensmittel, ringsherum von Feinden umgeben, die riesige Arbeitslosigkeit, — wenn wir uns alle zusammenschließen, kommen wir auch kaum wieder auf die Beine und diese Mordbuben wollen noch im Trüben fischen. Schade, dass sie den Schuft Bela Kun nur halbtot geprügelt haben!
— Na, es wird ihm für das ganze Leben genügen, was
er bekommen hat. Der geht nicht mehr nach Moskau!
— In Neupest hat ein Tischler, der eben aus Russland
gekommen war, seiner Frau die Kleider ausgezogen und sie auf den glühenden Ofen gesetzt. Das sieben Monate alte Kind hat er durchs Fenster in den Schnee hinausgeworfen.
— Wir leben in schrecklichen Zeiten!
Am Westbahnhof stieg ich aus. Ich sah, dass die Leute irgend etwas angafften, sie bildeten eine Mauer auf beiden Seiten der Ringstraße, ich stellte mich mitten unter sie: elegant gekleidete Damen und Herren — brachen in Hochrufe aus, schwenkten Tücher, lachten, sprangen herum wie Straßenjungen.
Mitten auf der Straße marschierten Arbeiter unter roten Fahnen auf.
Musik.
Metallarbeiter mit riesigen Hämmern.
Fleischergesellen mit riesigen Äxten.
Musik.
Bauarbeiter mit Kellen.
Musik.
Es lebe die Sozialdemokratie — brüllt das Menschengewimmel.
— Nieder mit den Agenten Moskaus!
— Hoch! Eljeen!
— An die Laterne mit Bela Kun!
— Es lebe die Polizei!
Ich schlug mich mit schwerer Mühe durch das Menschendickicht, der Zug marschierte unmittelbar an mir vorbei. Arbeiter und Arbeiter, die unübersehbare Masse der Budapester Arbeiterschaft demonstrierte unter roten Fahnen gegen die Kommunisten.
— Es lebe die Sozialdemokratie! An den Galgen mit Bela Kun!
Die neben mir stehenden Herren und Damen tobten vor Freude. Noch nie sah ich etwas derart Niederträchtiges. Ich hatte ein schreckliches Ekelgefühl. Also, soweit waren wir gesunken?
— Nieder mit den Agenten Moskaus!
— Eljeeeen!
— Genosse Lipves!
Aus einer Gruppe, in der Holzarbeiter mit riesigen Stangen aufmarschierten, winkte mir Pojtek zu.
— Reih' dich ein, Bruder, wenn du schon nicht in deiner Gruppe bist.
— Kann man noch eintreten?
— Gewiß, jeder Arbeiter hat hier seinen Platz.
Der Anfang des Zuges staute sich irgendwo, wir mussten stehen bleiben. Als wir vom Hochrufen müde waren, kam langsam das Gespräch in Gang.
— Die Lage ist schwer, sehr schwer. Wir haben gesiegt, wir haben die Macht übernommen, und wenn wir’s uns überlegen, leben auch heute nur die gut, die auch vorher schon gut gelebt haben.
— Niemand kann sagen, dass der Lohn heute gering ist — entgegnete Pojtek.
— Der Lohn? — Lebt der Kollege heute vielleicht besser als vorher?
— Das kann ich gerade nicht sagen, aber wer kann heute gut leben in diesem unglücklichen, armen Land?
— Wenn wir’s uns überlegen, ist das Land nicht einmal so arm. Sehen Sie sich doch an, was für Brillantenohrgehänge die Frauen dort tragen. Oder sehen Sie sich den mit dem Trommelbauch an, den da mit dem aufgeknöpften Rock. Der hat doch eine Goldkette um den Bauch gespannt, so dick wie mein Arm.
— Wir können sie doch nicht ausplündern?
— Das gerade nicht, aber irgendwie müssen wir doch
die Sache anpacken.
— An die Laterne mit Moskaus Agenten! — brüllt der Herr mit dem Trommelbauch.
— Krepier, du Hund!
Zum Glück für den Dickbauch setzte sich in diesem Augenblick der Zug wieder in Bewegung. Die Musik spielte und wir sangen auch mit: — Auf Sozialisten, Schließt die Reihen Die Trommel ruft,
Die Banner weh'n —

Am Abend führte mich Pojtek zu Gyulai. Wir waren elf Mann und blieben bis Mitternacht zusammen.
— Am Vaczer-Weg haben die Arbeiter zwei Fabriken sozialisiert — erzählte Gyulai.
— Dieselben, die heute gegen uns demonstriert haben?
— Ja, dieselben. Soweit reicht die Parteidisziplin nicht. Du hast doch die Demonstration gesehen. Der
Prolet schlich nur gezwungen mit. Parteidisziplin —
Ein gefährliches Spiel wird hier getrieben. —
— Ja.
In derselben Nacht bekam ich noch eine wichtige Aufgabe. Ich musste einem kommunistischen Ingenieur helfen. Der Genosse Ingenieur richtete in einer Villa im Vorort Hüvösvölgy eine Radiostation ein. Die Regierung verfälschte systematisch die Nachrichten aus aller Welt, und die Partei wollte sich durch die Errichtung einer geheimen Radiostation von dem Nachrichtendienst der Regierung unabhängig machen.
Der Morgen dämmerte schon, als ich ins Bett kam.

 

VI.

Der Frühling, der Frühling kam eilig.
Im Herbst, in den ersten Tagen, war die Stadt ganz wie im Frühling. Jetzt Mitte März — erschien Budapest, wie wenn ein Sturm, ein Wolkenbruch, eine Feuersbrunst drohte.
Es schien, als ob der Kampf für einen Augenblick innehielt.
Es gab einen Augenblick, wo nur noch wenige an die Herbstblumenrevolution glaubten.
Demokratie?
Diktatur?
Wieso! Französische Soldaten sind in Budapest. Afrikanische. Die Tschechen, die Rumänen, die Serben kommen immer näher.
Nein! Nein! Niemals!
Kohlennot. Das Brot wird alle.
Diktatur?
Demokratie?
Alles ist gleich, für einen Augenblick.
Dann werden die Wahlen für die Nationalversammlung ausgeschrieben.
Die Sozialdemokratische Partei führt das Wort.
Rot wird das Parlament — brüllen die Plakate der Sozialdemokratie.
Nur übertüncht! Achtung! antworten wir. — Jeder Arbeiter gebe einen Tagelohn für den Wahlfond — schreit Kunfi.
— Keinen Heller für die Wahlen! — lautet die Botschaft Bela Kuns aus dem Gefängnis.
Ein gewesener Stabsoffizier führt in den Spalten einer bürgerlichen Zeitung Beweise dafür an, dass das einzige ernst zu nehmende Heer in Europa die Rote Armee sei.
In Transdanubien droht die Bauernrevolution----------
Bodenaufteilung! Bürgerwehr! Sozialisierung!
Menschen! Ungarn, wacht auf! Gefahr, Vernichtung droht der ungarischen Nation.
Kohlennot!
Was soll werden? Was soll werden? Was sollen wir essen?
Die Stadt wird früh dunkel, — aber bis zum Morgen sind die Straßen belebt. Wer will, wer kann heute schlafen?
Arbeiter, es gibt kein Brot!
Tausende von neuen Plakaten — alle verkünden kategorisch ihre Wahrheit, und alle steigern nur die Unruhe.
Tausend Schreckensnachrichten.
Franzosen besetzen das Land---------
Die Rumänen---------
Nein! Nein! Niemals!
Tausende neue Plakate, dann plötzlich Stille.
Druckerstreik.
Eine Million von Schreckensnachrichten---------
Die Regierung ist zurückgetreten!---------
Die Franzosen----------
Die Serben----------
Die Russen----------
— Weißt du, Peter, was es Neues gibt? — weckte mich Pojtek am frühen Morgen. — Die russische Rote Armee hat Tarnopol eingenommen. Die Rote Armee ist in Galizien, ist in unserer Nachbarschaft.
— Wahrhaftig? Oder ist das auch nur?
— Unsere Radiostation hat die Meldung aufgefangen. Jetzt also----------
— Ist die Regierung deshalb zurückgetreten?
— Nicht deshalb, sondern wegen der Note des französischen Majors Vix. Wilson und Kollegen haben wieder ein Stück von Ungarn abgebissen. Die Regierung glaubt natürlich, dass das entscheidend ist, was in Paris ausgekocht wird. Inzwischen aber haben die russischen Genossen Tarnopol erreicht. Ich bin deshalb so früh gekommen, weil du noch heute Vormittag nach Szolnok fahren musst. Du bringst einen sehr wichtigen Befehl dorthin.
— Ich verstehe.
— Wenn du den Befehl übergeben hast, fährst du sofort zurück. Du wirst hier gebraucht.
— Ich verstehe.
Es war nicht leicht, mich in den Wagen hineinzupressen, aber es gelang doch. Ich stand den ganzen Weg, aber ich brauchte keine Angst zu haben, hinzufallen. Wie stark der Zug auch schüttelte, ich stand auf festem Boden — ringsum ein so dichter Menschenkreis, dass ich mich nicht einmal umdrehen konnte. So sah ich auch den Herrn nicht, der hinter meinem Rücken eine politische Debatte führte.
— Hunderttausend Franzosen sind in Fiume gelandet, mit Artillerie, Tanks, Flugzeugen und sonstigem Kriegsmaterial. Es dauert keine Woche, und sie marschieren in Budapest ein. Hunderttausend Franzosen. Wissen Sie, was das bedeutet? Die werden schon Ordnung schaffen!
— Die Russen haben die Karpathen überschritten —
sie sind auf ungarischem Boden. Wissen Sie, was das bedeutet? Vierzigtausend Bolschewiken!
— Die Bolschewiki? Wieso denn! Die sind doch aus
Moskau verjagt.
— Sie haben die Karpathen überschritten!
— Vierzigtausend russische Bolschewiken! Nicht einer weniger. Die werden Ordnung schaffen.
— Märchen. Nehmen Sie doch Ihre Haxen von meinen Füßen.
— Machen Sie mir das erst mal vor! Auf meinen stehen wieder andere!
— Das ist doch stark!
— Sachte, das wird noch viel schlimmer.
Ich wollte erst Sonnabend früh zurückkommen, aber ich war schon Freitag abend in Budapest. Als ich mich durch die Halle des Ostbahnhofs auf den Platz hinausdrängte, war es schon ziemlich dunkel, aber die Lampen brannten noch nicht. Leiser Regen fiel wie durch ein Sieb. Ich blieb einen Augenblick vor dem Bahnhof stehen und reckte meine Glieder. Die Reise hatte mich ermüdet.
Ich merkte sofort, dass der Streik der Drucker noch nicht zu Ende war, nirgends war eine Zeitung zu sehen. Die Straße war auch sonst still, viel stiller als gewöhnlich. Während ich, an einen Laternenpfahl gelehnt, vor mich hinsah, zog ein kleiner Trupp Soldaten in festem Schritt unmittelbar an mir vorbei, in der Richtung zum Bahnhofseingang. Als der letzte Soldat an mir vorbei ging, erhellte sich plötzlich die Lampe über meinem Kopf. Das Licht fiel auf das rote Band an den Mützen der Soldaten. Zugleich erblitzten auch die Bajonette, aber ich sah nur die roten Bändchen. Ich vergaß meine Müdigkeit und rannte den Soldaten nach.
— Was ist los, Genossen? Wohin? Was ist geschehen? Die Soldaten gaben keine Antwort. Auf das Kommandowort ihres Führers hielten sie die Gewehre schussbereit und zogen in den Bahnhof ein.
Die Laternen verlöschten wieder, die Straßenbahnen blieben stehen.
— Halt!
Ein Soldat hält ein Auto an. Richtet den Revolver auf den Schofför.
— Halt! Aussteigen!
— Was gibt’s? Was gibt’s?
— Der Schofför bleibt an seinem Platz, der Fahrgast steigt aus. Ich beschlagnahme das Auto für die Arbeiterregierung.
— Was? Was sagen Sie? Wie soll ich das verstehen?
— Scher dich zum Teufel! Ich werde dir hier noch Erklärungen abgeben, du dreckiger Bourgeois. Raus, oder ich hol' dich in Stücken heraus!
— Genosse — wende ich mich zu dem Soldaten — was ist geschehen?
— Was geschehen ist? Wir haben gesiegt — das ist alles. In die Visegrader Gasse, sagte er zum Schofför und stieg anstelle des erschrockenen Bourgeois mit dem Zylinderhut in das Auto.
— Ich komme mit.
Ich warte nicht auf Antwort, setze mich einfach in das riesige Auto hinein.
— In die Visegrader Gasse! Abfahren!
In das Parteisekretariat kann man nur sehr schwer hinein. Menschen über Menschen drängen sich auf der Straße, die Treppe ist voll von Soldaten und Zivilisten. Vom Balkon spricht jemand zu der sich drängenden Menge. Auf der dunklen Treppe sprechen mehrere Redner.
— Es lebe die Diktatur des Proletariats! Nieder mit
der Bourgeoisie!
— Im Namen der revolutionären Arbeiter und
Bauern! ----------
Der Soldat bahnt sich mit Worten und Fäusten den Weg durch das Gedränge — ich ihm überall nach, bis wir endlich oben sind.
— Otto!
Otto ist äußerlich ruhig, reicht mir die Hand und schickt mich gleich weiter.
— Du musst sofort nach Neupest, zu Pojtek. Du findest ihn im Stadthaus. Hier deine Legitimation. Beeile dich!
— Was ist geschehen?
— Beeile dich. Requiriere ein Auto. Hast du einen Revolver? Geben Sie ihm einen Revolver, Genosse Simon.
Das Telefon klingelt.
— Genosse Simon, sechs Gewehre zur Börse. Sie melden sich bei Szamuely — schreit Otto.
Vor dem Tor treffe ich Goldmann. Goldmann fällt mir um den Hals.
— Wir haben gesiegt! — schreit er los.
— Wie kam das? Wie?----------
— Unterwegs! Halt! Aussteigen! Im Namen des Proletariats! Dieses Auto gehört den Arbeitern! Steig ein, Peter! Nach Neupest — verstehen Sie, Genosse Schofför? Nach Neupest zum Stadthaus.
Das Auto rast den Vacser Weg entlang, hinaus nach Neupest.
— Die Sache kam so — fing Goldmann an — kam so.
Nein, nein, ich kann jetzt nicht erzählen! Wir haben gesiegt — brüllt er aus voller Kehle.
Der Schofför wendet sich erschrocken nach hinten.
— Genosse befehlen?
— Wir haben gesiegt! — schreit Goldmann.
— Halt!
Zwei Soldaten hielten das Auto auf.
— Im Namen des Proletariats — brüllt uns der eine Soldat an.
Ich zeige meine Legitimation. Ein Stück weißes Papier mit dem Stempel der Kommunistischen Partei.
— Gut!
Es hörte auf zu regnen. Die Laternen brannten. Das Auto raste vorwärts. Goldmann stellt sich auf den Sitz und brüllt in die Welt hinaus:
— Wir haben gesiegt! Gesiegt!
Neupest. Vor dem Stadthaus ein bewaffneter Wachposten. Wohin?
— Zum Genossen Pojtek.
— In welcher Angelegenheit?
Ich zeige meine Legitimation. Der Soldat salutiert.
— Passieren. Erster Stock, 5.
Das Zimmer ist voll von Leuten, Arbeitern und Soldaten. Rauch. Lärm. Ich sehe mich um und bemerke Pojtek erst, als er zu mir spricht.
— Gut, dass du kommst, Peter!
— Pojtek!
Ich will ihn umarmen, er wehrt ab.
— Wir haben keine Zeit, du musst dich beeilen. Du gehst in die Kaserne. Fellner, der sozialdemokratische Parteisekretär — Genosse Fellner ist bereits da. Geh los!
— Was hab ich da zu tun?
— Du sprichst zu den Soldaten.
— Was soll ich dort sagen?
— Hier ist der Aufruf, lies ihn unterwegs. Das weitere
ü berlasse ich dir selbst. Goldmann, du gehst zu den Feuerwehrmannschaften.
Auf der Treppe unter einer Gaslaterne lese ich den Aufruf----------beschließt die Vereinigung beider Parteien ----------Die Sozialdemokratische Partei Ungarns ----------Die Diktatur des Proletariats----------das
Klassenheer des Proletariats----------das Militärbündnis
mit der Sowjet-Regierung----------
— Wir haben gesiegt — brüllt Goldmann mir ins Ohr. Vor der Kaserne ein bewaffneter Wachposten. Ich
zeige meine Legitimation: er salutiert, öffnet das Tor und vor lauter Eifer klopft er mir auch noch auf die Schulter.
Unter dem Tor brennt kein Licht, der Hof ist fast ganz dunkel, nur einige Fackeln leuchten. Das Fackellicht ist zu schwach, die Soldaten, die Leute voneinander zu unterscheiden: ich sehe nur die zusammenfließende, zusammengeschweißte Soldatenmasse, die den weiten viereckigen Hof bis in die letzte Lücke füllt und fast sprengt.
Fellner steht auf einem Tisch und redet mit ausgebreiteten Armen. Hinter ihm — auf einem anderen Tisch — ein Soldat. Der Soldat ist gut einen Kopf größer als Fellner, die riesigen Schultern bringen den angespannten Feldrock fast zum Platzen. Wie er die Fackel in der Hand hoch nach oben reckt, sieht er wie eine Statue aus.
— ... und was Paris uns verweigert hat, wird uns Moskau geben!
— Hoch! Eljen!
Aus dem schiefen Mund des kleinen Fellner fließen die schönen Worte, — seine Stimme schwingt — aber, was er sagt... Ich höre zu — ich begreife es nicht. Ein Mensch, der so spricht, der so etwas sagt, soll mein Genosse sein? Erst glaube ich, ich höre nicht gut, ich gehe näher zum Tisch, ich dränge mich fast bis zum Tisch heran — jetzt ist kein Zweifel mehr, dass ich mich nicht verhört habe. Ja, Genosse Fellner ist ein Nationalist und kein Bolschewik. Ein Nationalist! Ein Nationalist!!!
Fellner sieht mich an — erkennt mich anscheinend, er nickt mir zu — , seine Stimme dröhnt noch stärker.... die Kraft der Arbeiterschaft... eine Klasse, eine Partei... das Beispiel der russischen Genossen.
Jetzt ist er Revolutionär. Mir wird heiß. Um mich herum jubeln die jungen Soldaten, ihre Uniform ist die Uniform des Kaisers — aber an ihren Mützen tragen sie stolz das rote Band. Sie sind glücklich, sorglos — wir haben gesiegt. Ich bin auch glücklich, ich höre nicht mehr, was Fellner spricht, nur seine Stimme klingt an mein Ohr. Ich bin überaus glücklich. Ich möchte die ganze Welt umarmen. Ich möchte jedem ins Ohr brüllen: Wir haben gesiegt! Als Fellner seine Rede beendet hat und ich mich auf den Tisch stelle, kommt nur ein einziges Wort aus meiner Kehle:
— Wir haben gesiegt!
Die Soldaten nehmen mich auf die Schulter
— Wir haben gesiegt! Wir haben gesiegt! Es lebe die Diktatur des Proletariats! Eljen! Eljen!
Als die Hochrufe für einen Augenblick aufhören, nimmt der Soldat mit der Fackel das Wort auf. Er spricht mit dröhnender Stimme.
— Wir sind zwar die Soldaten eines kleinen Landes — einen Schritt breit ist dieses Land nur, doch wir kämpfen für die größte Sache der Menschheit. Wir sind die ersten, die allerersten, die sich an die Seite der russischen Genossen gestellt haben — auf den Kampfplatz!
Ich ging mit Fellner zusammen nach dem Stadthaus zurück. Vom Sehen kannte ich ihn schon, aber persönlich sprach ich ihn jetzt zum ersten Mal. Er war besonders freundlich zu mir, aber ich musste immer daran denken, und wenn ich es noch so sehr zu unterdrücken versuchte, dass er schwere Strafen für die Kommunisten gefordert hatte, als sie eingesperrt waren und entschieden dafür war, die des Kommunismus verdächtigen Arbeiter aus den Fabriken hinauszuwerfen. Jetzt fasste er mich beim Arm und nannte mich Bruder.
— Ich bin so glücklich, unendlich glücklich, liebster Bruder Kovacs, dass wir die Lösung gefunden haben. Es gibt keine Kommunistische und es gibt keine Sozialdemokratische Partei, der Bruderkrieg ist zu Ende, es gibt nur eine Partei: die einheitliche Sozialistische Partei, und uns gehört die Macht im Lande. Dieser Bruderkampf war entsetzlich, wie schön werden wir jetzt in Ruhe und Frieden arbeiten können.
— - Glauben Sie, dass wir jetzt dauernd in Frieden leben werden?
— Na ja, wir werden vielleicht an den Grenzen noch einen kleinen Krieg führen müssen, aber das werden schon die Armee und die russischen Genossen besorgen. Die Russen sind schon auf ungarischem Boden.
— Sie sind erst in Galizien.
— Soviel ich weiß, haben sie bereits die Karpathen überschritten.
Auf dem Stadthaus ging es noch immer lebhaft zu. Ständig kommen Leute wegen Anweisungen, wegen Ratschlägen, wegen Legitimationen. Das Telefon klingelt unaufhörlich.
— Willst du dich nicht hinlegen, Peter? Hier im Nebenzimmer ist ein Diwan.
— Nein, ich leg mich jetzt doch nicht hin.
— Morgen gibt's auch wieder zu tun.
Am frühen Morgen bringt ein Kurier den ersten Befehl des Revolutionären Vollzugsrates:
Belagerungszustand!
Wir bekommen auch ein riesiges Plakat:
„ Es lebe das Bündnis zwischen Sowjetungarn und Sowjetrussland!"
Ein wunderschöner Frühlingsmorgen. Wenn die Natur unseren Befehlen gehorchte, könnte der Himmel auch nicht röter sein im Osten.
Die Spuren des gestrigen Regens sind noch nicht verdunstet. Millionen kleiner Wasserspiegel werfen die Sonnenstrahlen zurück.
Frühmorgens fuhr ich mit Pojtek zum Bahnhof. Am Eingang standen rote Soldaten und begrüßten uns herzlich.
— Was denken Sie, Genosse Pojtek — fragte der alte Liptak, der sich die Soldatenkoppel um den Arbeiterkittel geschnallt hatte — was denken Sie, Genosse Pojtek, werden die deutschen Genossen es uns nachmachen?
— Ganz gewiss. Es gibt keinen anderen Weg: Sozialismus oder neuer Weltkrieg. Die alte Welt ist tot.
Der alte Liptak lehnte sein Gewehr an die Mauer und drehte sich eine Zigarette.
— Tot? — brummte er währenddessen — Friede ihrer Asche.
— Wir müssen auf der Hut sein, Genossen, sagte Pojtek — die alte Welt ist tot, aber die Menschen leben noch, die jene Welt erzeugt hat.
— Sehen Sie das Gewehr hier, Genosse Pojtek?
— Ich sehe es.
— Also. Mehr sag ich nicht.
— Richtig, Genosse Liptak.
Vom Bahnhof fuhren wir zu den Wasserwerken, dann zurück nach dem Vaczer-Weg. Noch vor Beginn der Arbeit kamen wir in die Maschinenfabrik. Das Auto fährt in den Hof ein — eine unendliche Menge von Arbeitern umringt uns. Pojtek stellt sich im Auto auf, beginnt zu sprechen, minutenlang kommt er nicht zu Wort.
— Es lebe die Diktatur des Proletariats!
— Nieder mit der Bourgeoisie!
— Hoch! Eljen!
Die Arbeiter sind glücklich, wie es die Soldaten in den ersten Tagen der Herbstblumenrevolution waren. Sie sind trunken vor Freude. Sie jauchzen wie Kinder.
Wir versuchen, mit der Fabriksirene die Arbeiter zur Ruhe zu bringen, aber es wird nur für einige Augenblicke still. Pojtek widmete seine ersten Worte dem großen Lehrmeister, der Russischen Bolschewistischen Partei — und jetzt brach die Begeisterung hundertfach verstärkt aus. Der Krieg, der Hunger, alle Leiden gehören der Vergangenheit an und kehren nicht mehr wieder. Die Arbeiter toben vor Begeisterung, plötzlich ertönt ein revolutionäres Lied, der Hof erdröhnt vom Gesang. Von der Donau her bringt der Wind den Widerhall: die Matrosen eines Dampfers fallen in unseren Gesang ein. Die leuchtend roten Fahnen flattern über der Fabrik.
— Wir haben die Macht übernommen! Schützt die Revolution! — diese zwei Sätze waren Pojteks Rede.
Er stieg aus dem Auto, verlor sich unter den Arbeitern — er vergaß alles, genau wie ich: er jubelte, jauchzte — schrie aus voller Brust: Hoch! Eljen! Wir konnten die große Freude nicht ertragen, wir mussten sie mit den Tausenden von Arbeiterbrüdern teilen.
Als wir in die Fabrik kamen, war dort die Arbeit schon im Gange. Wir zogen von Werkstatt zu Werkstatt.
Pojtek sprach überall ein paar Worte. Er sprach in einem ganz anderen Ton wie Fellner am gestrigen Abend. Er sprach nicht vom Frieden, — er sprach vom Kampf, Von kommenden schweren Kämpfen. Wir müssen alle Feinde des Proletariats niederwerfen, wenn wir leben wollen. Er sagte nicht, dass uns Moskau das geben wird, was uns Paris versagte. Wir müssen die Revolution mit der Waffe in der Hand weiterführen.
Während Pojtek sprach, ließen die Arbeiter die Maschinen leer laufen, sie lauschten nur auf seine Worte. Als er zu Ende war, stimmten die Arbeiter zu, aber sie jubelten nicht, wie die Arbeiter in der Ganzschen Fabrik. Ich merkte, dass der eine oder der andere ältere Arbeiter nachdenklich den Kopf hängen ließ, die Lippen zusammenpresste und den Kopf schüttelte. Andere wieder nickten ungläubig mit dem Kopf, wie wenn sie sich selbst gut zureden wollten. Die Maschinen gaben denen Recht, die Pojtek aus vollem Herzen zustimmten. Die Maschinen ratterten: ja — ja— ja.
— Ist es wahr, dass die Russen schon auf ungarischem Boden sind?
— Sie sind erst in Galizien — antwortet Pojtek.
— Wann werden sie hier sein?
— Das lässt sich nicht vorher sagen.
— Es kann schlimm werden, wenn sie lange auf sich warten lassen.
— Was heißt das? Halten wir ungarischen Arbeiter das Gewehr nicht fest in der Hand?
— Gewehr?
— Still, Kohut! Aber Kollege Kohut! Aber Kohut...
— Gut, gut — sagt Kohut verlegen — ich weiß auch, was die Pflicht der Arbeiter ist. Ich bin seit zwölf Jahren organisiert. Ich glaube nur, wir haben die Revolution nicht dazu gemacht, dass man uns wieder das Gewehr
in die Hand drückt... Karolyi brachte den Frieden...
— Wer soll die Revolution beschützen, wenn nicht die
Arbeiterschaft? Der Bourgeois, dem wir alles abgenommen haben?
— Gewiß, gewiss. Ich sage ja nicht, ich sage nur. Ja,
der Krieg...
Als wir hinausgingen, trafen wir Lehotai, den ersten Vertrauensmann, auf dem Hof. Er begrüßte uns lärmend und freudig.
— Ich komme gerade vom Stadthaus! Ich suchte Sie, Genosse Pojtek. Ich wollte wissen, was und wie?...
— Die Fabrik wird natürlich Gemeingut. Produktionskommissar. Betriebsrat — genaue Einzelheiten kann ich erst in einigen Tagen angeben. Für die ganze Stadt wird ein Bevollmächtigter die Sozialisierungsarbeiten leiten, ich glaube, der ältere Goldmann, der Ingenieur, wird Sozialisierungskommissar.
Lehotai machte ein langes Gesicht.
— Goldmann?
— Ja — sagt Pojtek ganz entschieden. — Ein verlässlicher Kommunist und auch als Fachmann erstklassig...
— Gewiß, gewiss — stimmt Lehotai zu.
Er begleitet uns noch bis zum Tor hinaus und wartet, bis das Auto abfährt.
Ü berall, wo wir vorbeifahren, hängen blutrote Fahnen von den Häusern herab.
— Die Bourgeoisie beeilt sich besonders, die Häuser zu beflaggen — sagt Pojtek lächelnd. — Es wäre interessant, zu erfahren, wer die Eifrigsten waren! Bestimmt viele, die gerade keinen Grund haben, sich zu freuen.
Im Stadthaus saßen schon die zwei aufgelösten Parteien beisammen, die Ortsleitungen der Sozialdemokratischen — und der Kommunistischen Partei. Stundenlang wurde beraten. Mittags wurde der dreigliedrige Vollzugsausschuss für die Stadt Budapest gewählt. Pojtek wurde Mitglied der Exekutive, und auf seinen Vorschlag wurde ich zum Sekretär ernannt.
— Worin besteht meine Arbeit?
— Das lässt sich nicht so einfach bestimmen. Du wirst viel zu tun haben.
— Ich möchte es aber wissen.
— Du wirst es schon erfahren.

Sowjetungarn. Sowjetrussland. Budapest. Moskau. Csepeler Radiostation.
— Die Ungarische Räterepublik verlangt den Genossen Lenin zum Apparat.
— Die Ungarische Räterepublik? Ungarische Räterepublik?
— Hier Lenin. Bitte Bela Kun zum Apparat.
— ... Das ungarische Proletariat, das in der gestrigen Nacht die Staatsmacht erobert und die Diktatur des Proletariats aufgerichtet hat — begrüßt den Genossen Lenin, als den Führer der Weltrevolution, bekundet seine revolutionäre Solidarität und übersendet dem gesamten russischen revolutionären Proletariat die heißesten Grüße. — Die Sozialdemokratische Partei hat sich auf den Boden der Kommunisten gestellt, die zwei Parteien haben sich vereinigt. Die Ungarische Räterepublik bietet der Russischen Sowjetrepublik einen Schutz- und Trutzbund an. Wir wenden uns mit der Waffe in der Hand gegen jeden Feind des Proletariats...
Hier Moskau...
Hier Csepel...
Hier Lenin. Heiße Grüße an die proletarische Regierung der Ungarischen Räterepublik und in erster Reihe an den Genossen Bela Kun. Ihre Grüße habe ich dem Kongress der Russischen Partei der Bolschewiki übermittelt. — Unendlicher Beifall...
Hier Moskau...
Hier Csepel...
Pojtek las die Nachricht laut vor.
Tränen rollten über sein Gesicht.
Ich sitze in einem großen, dreifenstrigen Zimmer. Auf dem alten, abgebrauchten Schreibtisch tanzen die Sonnenstrahlen — Tinte, Feder, Papier liegen auf dem Schreibtisch und das wichtigste Stück — der Stempel des Vollzugsausschusses. Mein Zimmer ist von morgens bis abends mit Menschen voll gepfropft.
— Bitte, Genosse Kovacs...
Eine alte Arbeiterfrau jammert, dass sie keine Wohnung hat. Ihr Mann ist auf dem serbischen Kriegsschauplatz gefallen.
Befehl! An das Wohnungsamt. Die Frau bedankt sich vielmals. Ich bekomme Angst — vielleicht wird der Befehl nichts nützen!
Am nächsten Tag ist die Frau wiederum da: sie wollte sich bedanken, für die erhaltene Wohnung. Zwei Zimmer im ersten Stock. Zwei Zimmer!
Ich versuche, die Leute rasch abzufertigen. In schnellem Nacheinander kommen die neuen Gesichter — blasse, abgemagerte, kränkliche Gesichter — Arbeitergesichter, die die Spuren des Krieges tragen.
— Ich habe nichts zum Heizen...
— Vor zwei Wochen bekam ich ein Zimmer, ich habe aber kein einziges Möbelstück. Die Kinder liegen auf dem Boden.
— Der Arzt sagt, meine Tochter Annuska geht dabei zugrunde. Sie ist erst zwölf Jahre alt und spuckt schon Blut. Glauben Sie mir, Genosse, der Arzt sagt, sie geht zugrunde, wenn ich ihr nicht Milch, Eier und Fleisch gebe. Sie geht zugrunde. Wie soll ich ihr Fleisch kaufen? Mein Mann ist in Kriegsgefangenschaft. Es reicht nicht einmal fürs Brot...
— Ich will nur sagen, Genosse. Ich will nur sagen, die Kleider fallen von mir ab. Die Füße sehen aus den Schuhen heraus...
Der Vollzugsausschuss ordnet an...
Am ersten Tag hatte ich noch Angst, ob meine Befehle genügend beachtet würden, aber als am nächsten Tag sich unter den Bittstellern auch solche einfanden, die für meine „segnende Güte" danken wollten, — drückte ich die Feder noch fester an. Alles gehört der Arbeiterklasse. Wir haben gesiegt. Nun kann den Armen geholfen werden. Wer sich an mich wendet, der hat es gut getroffen.
Drei Tage dauerte die Freude.
Am Morgen des vierten Tages, als ich eben meinen Mantel ablegte und mich an das Befehlschreiben machte, ließ mich Pojtek rufen.
Pojtek arbeitete im zweiten Stock. Und im Vergleich zu meinem Zimmer, war seines ein kleines Loch. Gerade als ich hereinkam, führte er mit nervösen Handbewegungen seine Frau hinaus.
— Gut, schön, gut, ich verspreche es, ich verspreche alles, nur stör mich nicht bei der Arbeit.
— Du versprichst alles, das weiß ich, aber ich weiß auch, dass du diese Versprechungen nicht ernst nimmst. Seit drei Tagen war er nicht mehr zu Hause, und ich weiß nicht einmal, ob er etwas Warmes isst — wandte sich die Frau jetzt zu mir.
— Genug — sagte Pojtek etwas betont. — Ich habe zu tun.
— Du arbeitest dich tot. Du denkst an nichts und niemanden. Du arbeitest dich tot. — Ich habe dich holen lassen — sagte Pojtek zu mir,
— weil ich dich fragen wollte, ob du deinen Verstand ganz oder nur halb verloren hast?
Vor Staunen sperrte ich Mund und Nase auf. Ich sagte keinen Ton auf die nicht gerade liebenswürdige Frage.
— Du verteilst ja das ganze Land — fuhr Pojtek fort. Ich wartete bis die Frau das Zimmer verlassen hatte,
— sie ging ohne zu grüßen — und erst als wir allein waren, bekam ich die Sprache wieder.
— Es gibt Leute genug, die Not leiden — sagte ich — sie haben lange genug gehungert.
— Es ist wahr — sagte Pojtek — der ungarische Prolet hat viel gelitten, aber du willst auf etwas eigenartige Weise dieser Not ein Ende machen. Du willst das Meer mit dem Hut ausschöpfen.
— Ich verstehe nicht.
— Weißt du, was wir sozialisiert haben? Heruntergewirtschaftete Fabriken, leere Magazine. Die Arbeiter, die Soldaten, das ganze Land hungrig und abgerissen. Hier kann Flickarbeit nicht helfen. Alles Material, alle Güter, die ganze Kraft muss dazu verwandt werden, um die Produktion neu zu organisieren, um die sozialistische Wirtschaft aufzubauen. Gerade so, wie wir die Macht erobert haben, werden wir auch diese Arbeit schaffen, aber dazu ist nötig, dass wir die proletarische Diktatur
nicht mit einem Hochzeitsschmaus beginnen, sondern mit Arbeit, mit unermüdlicher Arbeit. Verstehst du!
— Und den Proleten haben wir nichts zu geben? Pojtek sah mir scharf in die Augen. Ich hielt seinem
Blick stand und senkte erst dann meine Augen, als ich merkte, wie eingefallen sein Gesicht in den paar Tagen geworden war. Die Backenknochen sprangen hervor, die Augen waren eingesunken.
— Bist du krank, Pojtek? — fragte ich ihn.
— Wir haben einen großen Fehler gemacht, einen schweren Fehler. Wir hätten unsere Partei nicht aufgeben sollen, jetzt sind wir mit Haut und Haar diesen ... ausgeliefert. Setz dich, Peter, und hör zu...
Das Ende der Unterredung war, dass ich nicht mehr Sekretär des Vollzugsausschusses war. Ich kam in das Parteisekretariat, neben Fellner. Meine Aufgabe war die Vorbereitung der Rätewahlen.
Neben Fellner hatte ich kein rosiges Leben. Beim Vollzugsausschuss hatte ich von morgens bis abends zu tun, jetzt bekam ich überhaupt keine Arbeit.
— Erst müssen Sie sich einarbeiten, Genosse, dann können Sie arbeiten — sagte Fellner immerzu.
— Wie zum Teufel soll ich mich einarbeiten, wenn Sie mir nicht einmal gestatten, dass ich hinrieche, wenn irgend etwas geschieht?
— Sie meinen wohl, dass ich Kontrolle nötig habe? Ich war schon Sozialist, als Sie noch die Muttermilch saugten.
— Das weiß ich. Gerade deshalb könnte ich von Ihnen bestimmt viel lernen, Genosse Fellner.
— Hm ja, das ist wahr. Also gut. Von morgen an führe ich Sie in die Arbeit ein. Jetzt aber muss ich in die Stadt fahren.
— Es wäre wohl an der Zeit, mit den Vorbereitungsarbeiten zu den Wahlen zu beginnen — nahm ich am nächsten Tag das Gespräch auf.
— Seien Sie beruhigt, alles wird zur Zeit fertig. Ich
muss jetzt zum Betriebsrat. Ich muss das Sekretariat abschließen, denn hier befinden sich wichtige Schriften und auch Geld.
— Und wo soll ich hingehen?
— Darüber soll ich mir auch noch den Kopf zerbrechen?
Was sollte ich tun, ich musste das Sekretariat verlassen, und um irgendeinen Nutzen von diesem Zwangsspaziergang zu haben — ging ich auf den Vaczer-Weg, in die Fabrikgegend hinaus.
— Gut, dass Sie kommen — empfing mich Lehotai, der Produktionskommissar der Mautnerschen Fabrik. — Ich wollte gerade zu Ihnen gehen, Genosse Kovacs. Ich habe eine Beschwerde.
— Wo fehlt's, Genosse Lehotai?
— Es handelt sich um Missstände in der Lebensmittelversorgung. Ich muss sagen... Also ja. Gestern wurden in der Fabrik Hühner an die Arbeiter ausgegeben.
— Hühner? Sehr schön. Ich weiß nicht mehr, wie ein Huhn aussieht.
— Sie wissen es nicht? Hm, ja. Wie gesagt, Genosse Kovacs, wurden gestern Hühner verteilt. Gewiß — alles gehört den Arbeitern, nur dass es viel Proleten und wenig Hühner gibt. Denken Sie nur! Auf jeden dritten Proleten kam ein Huhn — die anderen kommen angeblich die nächste und übernächste Woche an die Reihe. Gut. Ich würde ja nichts sagen. Ich würde kein Wort über die Sache verlieren, wenn ich nicht zufällig erfahren hätte, dass in der Fabrik Wolfner die Verteilung von Hühnern in dem Verhältnis vorgenommen wurde, dass von zehn Arbeitern vier je ein Huhn bekamen — dort kommen also die anderen nicht in drei, sondern in zweieinhalb Wochen an die Reihe. Selbstverständlich fragen dann unsere Arbeiter — und das mit vollem Recht — , ist das die Gerechtigkeit der proletarischen Diktatur? Ist der Prolet aus der Wolfnerschen Fabrik mehr wert als der Prolet aus der Mautnerschen Fabrik?
— Aber Genosse Lehotai! Das ist doch kindisch!
— Kindisch sagen Sie? Vielleicht wäre das an sich kindisch zu nennen, aber wenn wir hinzunehmen, dass Genosse Strein, der bei der Verteilung der Hühner sich gerade in der Wolfnerschen Fabrik aufhielt — Genosse Strein ist seit elf Jahren organisiert, in jeder Hinsicht ein zuverlässiger Revolutionär, wenn er es sagt, können Sie ruhig Gift drauf nehmen. Genosse Strein sagt also: in der Wolfnerschen Fabrik wurden lauter fette Hühner ausgegeben, die unseren aber waren so mager, wie die sieben Hungerjahre aus der Bibel. Meine Frau lachte mich aus, als ich es nach Hause brachte. Wenn die Genossen solche Unterschiede zwischen Fabrik und Fabrik, zwischen Arbeiter und Arbeiter machen... Der Gewerkschaftssekretär selbst sagte, dass man so etwas nicht zulassen darf...
Ich sprach eine gute halbe Stunde mit Lehotai, aber ich fühlte selbst, dass es nur leeres Dreschen war. In gedrückter Stimmung ging ich in die Elektrizitätswerke hinüber.
— Gut, dass Sie kommen, Genosse Kovacs. Was sagen Sie zur Kandidatenliste des Sekretariats?
— Was für eine Liste?
— Zur Kandidatenliste für die Rätewahlen, die Fellner gestern persönlich zu den einzelnen Bezirkssekretariaten gebracht hat. Ich muss sagen, eine fabelhafte Zusammenstellung! Außer Pojtek ist kein Kommunist aufgestellt.
— Ich weiß von gar keiner Liste. Die Aufstellung von
Kandidaten ist nicht Sache des Sekretariats.
— Es wird gut sein, der Sache nachzugehen, Genosse Kovacs.
— Selbstverständlich werde ich der Sache nachgehen. Aber ich muss sagen, ich verstehe das Ganze nicht, es muss ein Missverständnis sein.
— Wahrscheinlich eine Schweinerei — sagte Hoffmann, der erste Vertrauensmann der Elektrizitätswerke. Fellner ist zu allem imstande. Hören Sie nur, — gestern sagte er ganz offen, er sei enttäuscht, er habe sich die Diktatur ganz anders vorgestellt. Außerdem sagte er noch, dass die Macht jetzt nicht in den Händen der Proleten sei, und dass nur die Gewerkschaften die wahren Interessen der Arbeiterschaft vertreten.
— Fellner ist ein dummer Kerl.
— Ich glaube eher, er ist ein Schuft. Auf alle Fälle wird es gut sein, ihm auf die Finger zu sehen.
— Sagen Sie, Genosse Fellner — fing ich einfach an — , wer hat die Kandidatenlisten für die Rätewahlen zusammengestellt?
— Das ist Sache der Bezirke.
— Sie haben doch fertige Listen an die Bezirke abgegeben.
— So? Sie spionieren also? Ich hab mir's gleich gedacht, dass Sie zu diesem Zweck hierher geschickt wurden. Seien Sie beruhigt, Sie werden hier nicht lange herumspionieren.
Er sprang auf und rannte aus dem Zimmer heraus. Er schlug die Tür hinter sich zu, dass es nur so wackelte. Ich hätte große Lust gehabt, ihm eine ins Gesicht zu hauen, aber ich beherrschte mich. Ich schloss das Zimmer ab und eilte nach dem Stadthaus.
Pojteks Vorzimmer war voll von Menschen, Rote Soldaten, Arbeiter und besonders viel Frauen. Es war nicht leicht, außer der Reihe zu Pojtek hereinzukommen.
— Nur ganz kurz, Peter.
Pojteks Gesicht war aschfahl, unrasiert, die Augen rot von der nächtlichen Arbeit, und trotzdem sprach er und disponierte er so sicher und so frisch, wie wenn er von Müdigkeit nichts wüsste.
— Auf all das hättest du gefasst sein sollen — sagte er, als ich ihm die Geschichte erzählte. — Unsere tapferen Genossen machen noch schönere Dinge.
— Aber weshalb fährt die Partei nicht dazwischen?
— Welche? Die Gemeinsame? Nein, die Partei fährt nicht dazwischen. Wir können uns auf die Partei nicht stützen, wir können uns nur auf die Massen selbst verlassen. Wir müssen die Massen auf unseren Standpunkt bringen. Die Organisationen haben wir aus den Händen gegeben. Dein Platz ist nicht im Bureau — gewiss, du musst auch dort deine Augen offen halten — aber die Wahlen wirst du nicht in Fellners Zimmer vorbereiten, sondern in den Fabriken. Und was die von Fellner fabrizierten Kandidatenlisten anbetrifft...
Mitten im Satz trat der Vorsitzende des Exekutiv-Komitees ins Zimmer. Ein riesengroßer Mann mit grauem Kopf und glattrasiertem Gesicht, ein pensionierter Krankenkassenbeamter. Er sah mich groß an, wie wenn er sich wunderte, dass ich noch lebe. Er nickte nur leicht mit dem Kopf, als ich grüßte.
— Ich muss dringend mit Ihnen sprechen, Genosse Pojtek.
— Bitte.
— Es ist eine vertrauliche Sache.
— Sie können ruhig vor dem Genossen Kovacs sprechen, er ist Angestellter des Parteisekretariats.
— Ich weiß, ich weiß, aber...
Pojtek winkte mir mit den Augen, dass ich mich entfernen sollte. Fünf Minuten später rief er mich herein. Der Vorsitzende des Komitees ging auf und ab. Pojtek sah mir, mit dem Rücken an den Schreibtisch gelehnt, scharf in die Augen.
— Es handelt sich darum, Genosse Kovacs, dass Genosse Fellner eine Beschwerde gegen dich eingelegt hat. Ich habe selbstverständlich keinen Hehl aus dem gemacht, was du mir über Fellner erzählt hast. Wir bringen die Angelegenheit vor die Parteileitung. Sie gehört nicht zur Zuständigkeit des Vollzugskomitees.
— Meiner Ansicht nach wäre es richtig — sagte der Vorsitzende — wenn Genosse Kovacs bis zur Entscheidung der Parteileitung wieder im Komitee beschäftigt würde. Wir sind ohnehin mit Arbeit so überhäuft, dass wir zweimal soviel Leute benötigen, als wir haben.
— Das auf keinen Fall — erklärte Pojtek. — Nein. Wir müssen das Resultat der Untersuchung abwarten. Solange bleibt Genosse Kovacs im Sekretariat.
Die Untersuchung ist heute noch nicht abgeschlossen, ich glaube, sie wurde gar nicht eingeleitet. Fellner tat so, wie wenn nichts geschehen wäre — von Arbeit aber kein Wort. So hatte ich genügend Zeit, von Fabrik zu Fabrik zu gehen. Auf die energische Forderung Pojteks wurden die Kandidatenlisten Fellners zurückgezogen und die Bezirksparteiversammlungen stellten die Kandidaten für die Wahl der Arbeiterräte auf.
In meinem Wohnbezirk hielten wir die Versammlung zur Aufstellung der Kandidatenlisten in einem langen, niedrigen, halbdunklen Saal ab. Der Saal war früher ein jüdisches Ersatzbethaus gewesen. Die Bänke standen an ihrem alten Platz, aber auf den einfachen Bänken saßen jetzt anstatt der inbrünstig betenden Juden laut debattierende Arbeiter, die Frauen waren besonders lebhaft. —
Die Arbeiter und die Frauen wählten in Ungarn zum ersten Mal. In ihrer Begeisterung merkten sie nicht, dass bei Aufstellung der Kandidaten zwischen den Mitgliedern der ehemaligen Sozialdemokratischen und denen der Kommunistischen Partei ein scharfer Kampf geführt wurde. Für die ersteren sprach Lehotai — natürlich im Namen der Partei und im Interesse der Diktatur. Er betonte, dass wir erprobte, in der Arbeiterbewegung altbewährte Genossen aufstellen müssten. Im Namen der Unseren sprach ich. Natürlich wies ich auf die Interessen der Partei und auf die Wichtigkeit der Diktatur hin. Aber ich sagte ausdrücklich, dass wir entschlossene, mutige und zuverlässige Revolutionäre in die Arbeiterräte wählen müssten. Die Arbeiter stimmten uns beiden mit Begeisterung zu.
— Vor einundzwanzig Jahren wurde ich aus der Stadt, wo ich in Arbeit stand, ausgewiesen und in meinen Heimatsort abgeschoben, weil ich sagte, der Arbeiter ist auch ein Mensch. Ich saß mit Bokanyi im Vaczer Gefängnis zusammen. Zu Graf Tiszas Zeiten war der Arbeiter ein Hund — nur die Herren durften abstimmen, wir mussten kuschen. Marx sagt, der Arbeiter ist auch ein Geschöpf Gottes — und Lenin und auch Bela Kun haben diese Wahrheit durchgeführt. Auch der Genosse Pojtek. Wir haben die Proletarische Diktatur, und jetzt heißt es für die Herren: kusch. Marx hat's vorausgesagt — es lebe die Diktatur des Proletariats.
— Hoch! Eljen!
Der Bezirk stellte neun Kandidaten für den städtischen Arbeiterrat auf: von diesen waren sieben ehemalige Sozialdemokraten und zwei ehemalige Kommunisten. Ich wurde auch als Kandidat aufgestellt. Bei der Wahl wurden fast alle Kandidaten einstimmig gewählt. Von morgens bis abends wählten die Proleten — die halbe Nacht durch wurden im Stadthaus die Stimmen gezählt.
Es war schon lange nach Mitternacht, als ich endlich nach Hause kam. Ich knipste das Licht an, warf mich in einen Lehnstuhl und saß lange Zeit fast bewegungslos da. Ich hatte nicht einmal soviel Kraft, meine Kleider auszuziehen, trotzdem ich es wirklich nötig gehabt hätte zu schlafen — es war schon lange her, dass ich mich einmal richtig ausgeschlafen hatte.
Ich wohne schon seit zwei Wochen hier — in einem requirierten Zimmer — , aber ich fühle mich noch immer sehr fremd da. Ich habe natürlich früher nie in einem so eleganten Zimmer gewohnt, es passte mir auch nicht sehr, dass mir das Wohnungsamt gerade dieses Zimmer zugewiesen hatte: ausgerechnet in der Villa eines Bankdirektors — der reichste Mann der Stadt. Es hieß, der Bankdirektor sei Mitte März nach Wien geflüchtet. Seine Frau war dageblieben. Als ich einzog, zeigte sie mir das Zimmer. Eine schlanke, etwas kleine Frau — das einzige, was mir von ihrem Äußeren im Gedächtnis blieb: ist ihr dunkelrotes — rostfarbenes Haar.
— Die Bolschewiken sind nicht so grausam — sagte sie, als ich ihr den Befehl des Wohnungsamtes zeigte — sie sind nicht so grausam, wie man erzählt hat — sagte sie lächelnd. — Meinen Mann haben sie vertrieben, aber damit ich mich nicht langweile, schicken sie mir einen viel jüngeren Mann.
Sie reichte mir die Hand. Sie hatte eine lange, schmale Hand, aber sie war nicht so zart, wie ich gedacht hätte. Sie schüttelte meine Hand fest wie ein Mann. Ich sah sie einige Mal, aber ich sprach nie mit ihr. Ich sage, hauptsächlich ist mir ihr rostfarbenes Haar im Gedächtnis geblieben.
Ich überlegte mir gerade, was richtiger wäre: morgen früh erst in die Ganzsche Fabrik zu gehen und dann nach Rakospalota oder umgekehrt — als es plötzlich an der Tür klopfte.
— Herein!
— Entschuldigen Sie, Genosse Kovacs, dass ich Sie so spät störe. Ich sah, dass bei Ihnen noch Licht ist, und da entschloss ich mich, bei Ihnen einzubrechen, wie ich mir's schon lange vorgenommen hatte. Ich sage, ich hatte schon lange im Sinn, diesen Schritt zu tun, denn ich möchte Sie sehr gern näher kennen lernen, ein wenig mit Ihnen plaudern — ich hatte nur bisher nicht den richtigen Mut. Sie wissen ja, das Frauenvolk ist feige und noch dazu eine Bourgeoisfrau. Gestatten Sie, dass ich mich setze?
— Bitte.
Die rothaarige Frau schob einen Stuhl gerade unmittelbar vor mich hin und setzte sich mir gegenüber, Ich betrachtete sie eigentlich jetzt zum ersten Mal etwas gründlicher, wo sie mit übereinander geschlagenen Beinen, mit einer Zigarette im Mund und mit ihren grauen Augen, neugierig mein Gesicht studierend, unmittelbar vor mir saß. Sie verbreitete einen Duft, wie wenn ihr Kleid aus Blumenkelchen wäre.
— Eine Zigarette kann ich Ihnen anbieten, Genosse Kovacs, aber Feuer müssen Sie schon geben.
— In welcher Angelegenheit...
— Erst bitte ich um Feuer. So, ich danke. Sie rauchen nicht, Genosse Kovacs? Also, — wie Sie denken.
— In welcher Angelegenheit-----------
— Ein wenig Geduld. Sie machen mir Angst, wenn Sie so drängen. Die Sache ist nämlich nicht so einfach. Ich fürchte, Sie werden mich ausschelten, oder was noch schlimmer ist, Sie werden mich auslachen.
— Erzählen Sie ganz ruhig. Ich werde Sie keinesfalls auslachen, und ich schelte auch nicht ohne Grund.
— Also soll ich reden? Gut. Wir haben die Proletarische Diktatur — das heißt, Sie befehlen, und ich gehorche. Aber wie ich sagte — es ist nicht so leicht zu erklären, weshalb ich Sie belästige, lieber Genosse. Aber
— wie soll ich's nur sagen — ein innerer Zwang — ein
kategorischer Imperativ — würde vielleicht Kant sagen. Sie kennen doch Kant, Genosse Kovacs?
— Nein, ich kenne ihn nicht.
— Na ja — das ist auch weiter nicht wichtig — sagte die schöne Frau und blies mir den Rauch ins Gesicht. — Ein veralteter Philosoph, der keine Antwort auf die heutigen Fragen geben kann. Der Held von heute ist Lenin, der die Proletarische Diktatur ausgedacht hat. Ich wiederum kenne — leider nicht Lenin. Ich möchte ihn gern kennen lernen. — Ich habe an der Universität Philosophie studiert, so dass ich die nötige Vorbildung besitze, um ihn zu verstehen, aber Lenin schreibt — leider — nur russisch und ich spreche außer Ungarisch nur die Kultursprachen. Ich war nicht vorahnend genug — ich habe mich für die Proletarische Diktatur nicht vorbereitet. So blieb mir nichts anderes übrig, lieber Genosse, als mich an Sie, an meinen einzigen Bolschewiki-Bekannten zu wenden, dass Sie mir das Wesen des Bolschewismus erklären. Ich lese täglich das Parteiblatt — Vörös-Ujsag — aber das befasst sich auch nur mit den praktischen Tagesfragen, und ich kann nicht glauben, ich halte es für gänzlich ausgeschlossen, dass sich eine neue Religion, eine menschheitbefreiende Religion in solchen Kleinigkeiten erschöpfe, wie Requirierung von Wohnungen, Alkoholverbot, Revolutionstribunal — mit einem Wort, ich erwarte etwas anderes von der neuen Religion. Diese Dinge — nicht wahr — sind nur Nebenerscheinungen, nur Mittel, das Ziel — davon bin ich überzeugt — liegt viel tiefer. Das ist mir klar. Das Weitere will ich von Ihnen erfahren, lieber Genosse, Sie werden mir erklären, worin die Idee besteht, für die man so leicht sein Leben hingibt. Also — was ist Bolschewismus?
— Es hat nicht viel Sinn, dass wir uns darüber unterhalten.
— Das ist ein Vorurteil, Genosse Kovacs. Es ist ein Vorurteil, zu glauben, dass, weil ich saubere Fingernägel habe, es sich nicht lohnt, mit mir über ernste Dinge zu reden. Ich sagte, ich besitze die innere Vorbildung dazu. Und auch der Sozialismus ist nicht ganz neu für mich — . wenn Sie mal Zeit haben, zeige ich Ihnen meine Bibliothek, wenn sie bis dahin nicht beschlagnahmt wird. Also?
— Hören Sie, wenn Sie soviel gelesen haben, brauchen Sie doch von mir, dem ungebildeten Arbeiter, nichts zu lernen?
— Das eine wissen Sie bestimmt besser als ich. Es ist ja Ihre Religion. Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie Ihre eigene Religion nicht kennen?
— Ich habe keine Religion.
— Ich dachte, den Bolschewismus.
— Der Bolschewismus ist keine Religion.
— Was denn?
— Was? Die alte Welt ist tot. Sie war schlecht, wir reißen sie nieder. Wir bauen eine neue — das ist alles.
Ich fühlte, dass meine Erklärung nicht sehr glücklich war, aber ich war wirklich nicht in der Verfassung, Erklärungen abzugeben und besonders dieser Frau nicht, die sich so zur Schau trug, mir ihren Geruch aufzwang, dass ich nicht mehr neben ihr sitzen konnte. Ich stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Jetzt stand auch die rothaarige Frau auf, glättete ihren Rock und stellte sich mir in den Weg.
— Wissen Sie, Genosse Kovacs, ich denke mir... Aber gut. Ich debattiere nicht, ich akzeptiere Ihre Erklärung. Solch einfache Erklärungen haben auch ihren Vorteil, aber sie haben auch eine Schattenseite. Sie geben keine Auskunft über die Teilfragen... Ich will Ihnen gleich ein Beispiel sagen. Die alte Welt ist tot. Wenn wir diese Behauptung auf das gegenseitige Verhältnis der Geschlechter beziehen, bedeutet das ungefähr soviel, dass die Ehe in ihrer alten Form aufhört, vielleicht hört auch die alte Form der Liebe auf, — vielleicht hört sogar die Liebe selbst auf. Aber die andere Hälfte Ihrer Definition: wir bauen eine neue Welt — sagt nur, dass das Verhältnis der Geschlechter zueinander anders geregelt wird. Wahrscheinlich so, dass jeder das bekommt, was er benötigt, aber wie das geschieht, das besagt dieser Ausspruch nicht. Freie Liebe, Gruppenehe oder ein bisher unbekanntes Projekt der Lösung...
— Ich glaube, die Frage ist heute gar nicht so wichtig.
— Sie irren sich. Diese Frage gehört zu denen, die als erste auftauchen und diese Frage interessiert — ohne Ausnahme — jeden Menschen, ob Proletarier oder Bourgeois. Hier ist zum Beispiel — ich nehme einen, von dem ich ein Recht habe zu sprechen — mein eigener Fall. Mein Mann ist nach Wien geflüchtet und kann nicht zurückkommen, weil er ein Feind der Proletarischen Diktatur ist. Ich blieb hier, ich denke auch gar nicht daran fortzugehen, denn ich bin — trotz meiner Klassenlage — im Wesen Sozialistin. Jetzt also — ja, ich muss noch erwähnen, dass ich im ganzen nur einunddreißig Jahre alt bin. Ich blieb also ohne Mann hier zurück. Was ist jetzt meine Pflicht? Muss ich auf Grund der alten bürgerlichen Ehemoral meinem Mann treu bleiben? Oder hab' ich ohne Auflösung meiner Ehe das Recht — auf die Liebe eines anderen Mannes? Oder muss ich erst die Ehe lösen und...
— Es gibt zwanzigerlei Möglichkeiten, aber keine von diesen ist befriedigend. Irgend etwas muss ich doch unternehmen, denn die gestrige Situation----------Geben Sie mir also einen Rat, Genosse Kovacs, einen Rat in einem konkreten Fall.
Als sich die schöne Frau mir in den Weg stellte, blieb ich stehen und während sie sprach, standen wir einander ganz nah gegenüber. Die Frau sprach flüsternd, aber so heftig, wie ein feuriger Volksredner, der die Masse zum Aufstand aufruft und auch ihre Augen funkelten, wie wenn sie das Feuer der Weltrevolution schürten. Bei den letzten Worten packte sie mich beim Arm und drückte ihn so fest, dass ich durch den Rock ihre Fingernägel spürte. Ihr feuchter, roter Mund war einige Zentimeter von meinem Mund entfernt.
— Also geben Sie mir einen Rat, Genosse Kovacs...
Sie zitterte. Fast hätte sie mich angebissen. Ihr Zittern steckte auch mich an. Wäre ich nicht so todmüde gewesen, hätte ich mich vielleicht nicht beherrschen können, aber so hatte ich noch soviel Selbstbesinnung, dass ich meinen Arm los riss und einige Schritte nach rückwärts machte. Ich bekam Angst vor der Frau. Ich glaubte nicht, dass sie nur meine Küsse
— nur den Mann in mir — haben wollte. Sie spielte doch mit mir wie mit einem Kind.
Einige Augenblicke standen wir stumm, keuchend einander gegenüber.
— Auf diese Frage — sagte ich mit heiserer Stimme,
— auf eine solche Frage kann ich nicht antworten. Es ist nicht mein Fach.
Die rothaarige Frau lachte hell auf. Sie lachte, dass ihr ganzer Körper zitterte.
— Es ist nicht Ihr Fach? Ha — ha — ha — ha — ha — ! Es gehört nicht zu Ihnen! Ha — ha — ha! Vielleicht — ha — ha — vielleicht muss ich mich an den Vollzugsrat wenden. Ha — ha — ha — ha— , oder vielleicht an den Sozialisierungskommissar? Nur das eine sagen Sie mir noch, Genosse Kovacs...
— Es tut mir wirklich leid, ich kann Ihnen nichts mehr sagen. Ich bin so müde, dass ich kaum meinen Mund bewegen kann.
Die Frau sah mich von Kopf bis zu Fuß an, sagte mir leise gute Nacht und ließ mich allein. Ich warf mich mit den Kleidern aufs Bett und nach einigen Minuten schlief ich fest. Ich schlief nicht sehr lange, noch vor Sonnenaufgang weckte mich Goldmann.
— Das Kriegskommissariat hat angerufen. Morgens um vier Probemobilisierung. Szanto inspiziert die Fabrik-Bataillone. Na — kriech schon 'raus, du bist ja fauler als ein Erzbischof!
Vor Beginn der Eröffnungssitzung des Arbeiterrats sprach mich auf dem Flur des Stadthauses ein großer, schlanker junger Mann an.
— Na, Genosse Kovacs, den alten Kameraden erkennen Sie gar nicht mehr?
— Um ehrlich zu sein...
— Ja gewiss, gewiss. Na, macht nichts. Ich bin Genosse Somogyi — oder erinnern Sie sich so besser — Oberleutnant Somogyi. Gewesener Oberleutnant. Erinnern Sie sich, aus dem Interniertenlager?
— Gewiß erinnere ich mich, Oberleutnant Somogyi. Wie kommen Sie denn hierher?
— Eine eigentümliche Frage — lachte Somogyi und verzog sein Gesicht. — Ich glaube, Kommunisten haben hier ihren Platz — das wissen Sie ja, dass ich nicht erst seit heute Kommunist bin. Ich war schon damals Kommunist, als ich Adjutant beim Lagerkommandanten war. Ich habe meine Rolle gut gespielt — was? Ich war saugrob — alles dachte, ich sei der größte Bolschewistenfresser — hintenrum aber half ich den Genossen um so mehr. Ich rettete wenigstens fünfzig Leuten das Leben — unter anderen rettete ich auch Ihr Leben, lieber Genosse Kovacs.
— So? Wirklich? Ich danke Ihnen.
— Ich tat es nicht des Dankes willen — sagte der Oberleutnant — unter Genossen ist für so etwas kein Raum — aber... sagen Sie, Genosse Kovacs, ist dieser Fellner ein verlässlicher Kommunist?
— Gewiß. Ein revolutionärer Kommunist. Weshalb fragen Sie?
— Es handelt sich darum, dass die Arbeiterbataillone bewährte Befehlshaber benötigen — zuverlässige Kommunisten und erprobte Soldaten. Ich habe mit Fellner schon gesprochen — ich habe eine Empfehlung hier... mit einem Wort...
Im Sitzungssaal erwischte ich Fellner.
— Sagen Sie, Genosse Fellner, soll tatsächlich der Oberleutnant Somogyi als Befehlshaber den Arbeiterbataillonen zugeteilt werden? — Wissen Sie, wer dieser Mann ist?
— Ich weiß, Genosse Böhm hat ihn hierher geschickt. Ich glaube, das müsste Ihnen genügen.
— Das genügt mir nicht! Ich kenne Somogyi aus dem Interniertenlager — er ist der niederträchtigste Bluthund.
Fellner sah mich zweifelnd an und zuckte mit den Achseln. In diesem Augenblick stimmte das Orchester die Internationale an.
Als die Eröffnungsreden zu Ende waren und die Vorsitzenden gewählt worden waren, begann der ältere Goldmann seinen Vortrag über die Sozialisierung. Ein kleiner, hagerer Mann, mit etwas vorgebeugtem Rücken, eine Hornbrille auf der Nase — äußerlich ein richtiger Stubengelehrter, gar nicht sympathisch. Er sprach anfangs schleppend, die Stimme hörte sich unangenehm an, so dass niemand sich viel von diesem Vortrag versprach.
Wir saßen im großen Saal des Stadthauses auf den Stühlen, auf welchen vor noch nicht langer Zeit die "Stadtväter" gesessen hatten — Goldmann stand auf dem Podium — hinter dem geschnitzten, ehrwürdigen Lehnstuhl des Bürgermeisters.... Das Wesentliche an der Sache ist nicht, dass wir einigen Tausenden oder Zehntausenden das Einkommen ohne Arbeitsleistung unmöglich machen — dieses ohne Arbeit erworbene Einkommen, verteilt auf die Millionen von Arbeitern, würde nichts bedeuten — das Wesentliche ist, dass wir die Produktion nach der Ausschaltung der Bourgeoisie aus dem Produktionsprozess derart organisieren...
Goldmann weckte nur langsam das Interesse der Zuhörer, aber später packte er uns um so mehr. Er sprach kein Wort von den geschichtlichen Vorgängen. Kein Wort über die Rolle des Proletariats. Kapitalistische Produktionsweise... Anarchie der Produktion... sozialistische Produktionsweise — alles Dinge, über die wir gelesen hatten, aber als diese Fragen auf die Tagesordnung kamen, dachte man gar nicht daran, dass sie auch zur Revolution gehören. Anfangs — sprach man natürlich viel von diesen Dingen, weil man nur auf Grund einer veränderten Produktionsweise eine Verbesserung der Lebensverhältnisse erhoffte, — später dachten wir nur daran, wie wir diese Schufte niederschlagen, dann... dann als der Kampf einsetzte, der ernste, harte, entscheidende Kampf — ja — da dachten wir nur an den Sieg — und jetzt brachte uns Goldmann all diese Dinge wieder in Erinnerung. Das ist der Kern der proletarischen Diktatur — sagte er — die Verwirklichung des Sozialismus.
Die Verwirklichung des Sozialismus — wiederholte ich bei mir und im ersten Augenblick, als ich nicht mehr Goldmann zuhöre, sondern darüber nachdenke, wie wird dann die Welt aussehen — ja, da fühle ich! jetzt muss ich aufspringen und hinausbrüllen: hört zu, hört zu: die Verwirklichung des Sozialismus ist nur eine Frage der Zeit, ja, wir werden glücklich sein, alle werden glücklich sein. Ja, die Verwirklichung des Sozialismus ist auf dem Marsch. Die Verwirklichung des Sozialismus. Ja, ja, — der Kampf geht darum — für den Sozialismus — für den Sozialismus. Wie werden die Menschen leben? Wie wird die Welt aussehen?
Ich höre wieder zu — aber ich habe den Zusammenhang verloren. Ich höre nur Zahlen, weiß aber nicht, was diese Zahlen bedeuten.
Der Vortrag ist zu Ende. Kein Händeklatschen, kein Wort fällt — einige Augenblicke sitzen wir lautlos auf unseren Sitzen. Neben mir atmete der alte Liptak, der Metallarbeiter, tief auf.

 

VII.

Die Vorbereitungen zum ersten Mai und die sich immer mehr verschärfenden Auseinandersetzungen nahmen mich so in Anspruch, dass ich keine Zeit hatte, über die Meldungen vom Kriegsschauplatz nachzudenken. Ich wusste, dass die Rumänen und auch die Tschechen die roten Truppen zurückdrängten, aber diese Niederlagen hatten für keinen Augenblick den Glauben in mir erschüttert, dass wir siegen und dass wir früher oder später über Galizien oder Rumänien die Verbindung mit der russischen roten Armee herstellen würden. Der Anschluss Österreichs ist nur die Frage von einigen Tagen — der Sieg des österreichischen Proletariats wird dann den entscheidenden Anstoß für die Revolution in Deutschland geben — und auf das andere Ufer des Rheins und des Kanals werden die französischen und englischen Soldaten selbst die rote Fahne tragen. Mit den lokalen Verhältnissen war ich sehr unzufrieden, aber die große Sache, die Sache der ganzen Arbeiterschaft — ist in Ordnung.
— Wir bauen auf die Weltrevolution und nicht auf den Sand.
Der Aufmarsch zum ersten Mai war bei uns in Neupest auf den Nachmittag festgesetzt — ich ging am Vormittag nach Budapest hinein. Die aufmarschierende Masse zersprengte fast die Andrassystraße. Das Grün der Bäume verlor sich in dem roten Flaggenmeer. Die Monumente der alten Welt der Unterdrückung waren mit rotem Tuch umhüllt. Die Königsstatuen lagen auf dem Boden herum.
— Aus der Erde sprosst der Mai!
— Ja — ja.
— Wer das erlebt hat, wird es niemals vergessen. Diese Arbeiter kann man nicht mehr ins Joch jagen.
— Ja — ja.
— Über hunderttausendköpfige Masse!
— Dem Krieg jubelten auch Millionen zu.
— Der Krieg war nicht unsere Sache. Das ist unsere Sache.
— Ja — ja. Wenn es gilt, die Revolution nicht nur hochleben zu lassen, wenn man auch für sie kämpfen muss, dann... Ich meine, wenn man mit dem Gewehr in der Hand sie verteidigen muss und nicht nur mit Worten für sie kämpft. Ich bin schon seit siebzehn Jahren organisiert, ich kenne den Proleten, aber ich muss sagen, ich glaube nicht, dass der Prolet zur Verteidigung der Revolution zum Gewehr greift. Das sieht auch der Blinde, dass wir übermorgen oder auch schon morgen...
Zweihunderttausend Menschen, mehr: eine Viertelmillion. Arbeiter und Soldaten.
— Genossen!
— Es lebe die Diktatur des Proletariats.
— Hoch! Eljen!
— Hoch die Weltrevolution!
— Hoch! Eljen!
— Alles ist unser!
— Hoch! Eljen!
— Ja — ja. Ich kenne den Proleten.
Es war gleichgültig, was mir Fellner erzählte — in meinen Ohren summte die Stimme einer Viertelmillion Menschen, dröhnen die Schritte einer Halbenmillion Beine.
— Es le— be die Welt— re— vo— lu— ti— on! — Es le— be die Welt— re— vo— lu— ti— on!
— Eljen! Eljen!
Zum Glück verschwand Fellner aus meiner Nähe, und so konnte ich mich eine halbe Stunde ungestört freuen. Ich wurde wie trunken vor Glück. — Gewiß. Eine Viertelmillion Menschen — Genossen. Es gibt keine Macht — die sie aufhält.
— Hoch! Eljen!
Auf dem Rückweg stolperte ich auf der Kaiser-Wilhelm-Straße fast über den Herrn Regierungskommissar Nemes. Hätte er mich nicht angesprochen, ich hätte ihn wahrscheinlich gar nicht erkannt. Er trug einen gewöhnlichen Soldatenrock und eine Arbeiter-Mütze. Sein Gesicht voller Stoppeln. An den Füßen
---------Schuhe — er sah aus, wie wenn er in einer
Schmiere Revolution spielen wollte — Genosse Kovacs! Sind Sie das wirklich? Sie erkennen mich armen Mann nicht mehr?
— Ach! Genosse Nemes! Wie kommen Sie denn hierher? Wozu diese Maskerade?
— Ich bin vor den Tschechen geflüchtet. Unser ganzer aufopfernder Heldenmut war vergebens, wurde zunichte — wir mussten die Stadt räumen. Denken Sie! Tschechische Offiziere sitzen auf dem Bereger Komitatshaus.
— In der Burg, auf der Ofener Seite, liegen rote Soldaten.
— Ja, ja, — aber... Die Rumänen an der Theiß, die Tschechen ein paar Stunden von hier entfernt, in Szeged ungarische Weißgardisten, Franzosen — und zu Hause verdrängen Leute aus dem Lumpenproletariat die bewährten alten Träger der Arbeiterbewegung. Wo soll das hinführen? Ich kann gar nicht an die Zukunft denken. Die Diktatur des Lumpenproletariats. Ja.
— Na, hören Sie!...
— Verstehen Sie mich nicht falsch, lieber Genosse Kovacs, Sie kennen mich ja, ich bin Kommunist mit Leib und Seele. Aber gerade deshalb verlange ich die Macht für die Arbeiterschaft, für die organisierte Arbeiterschaft — und ich halte die Anwendung aller Mittel gegen das Lumpenproletariat für richtig. Ich weiß wohl, dass Sie ein guter, ehrlicher, überzeugter Revolutionär sind. Aber, haben Sie eine Ahnung, was Lumpenproletariat ist?... Ich will nur ein Beispiel anführen — Sie glauben natürlich, ich sei der Vorsitzende des Bereger Vollzugskomitee gewesen? Sie irren. Wir alten, erprobten Leute aus der Arbeiterbewegung wurden herausgedrängt — lauter hergelaufene Nulpen setzten sich überall in die Komitees hinein. Selbstverständlich, dass dann der Prolet nicht kämpfen will und auch weiterhin nicht kämpfen will... Man hat uns hinausgejagt, wir mussten schmählich flüchten wie Diebe. Sagen Sie, ist das die proletarische Diktatur?
— Ja, was das anbelangt — habe ich auch einige Bedenken gegen die Methoden der Diktatur — aber andere
— ganz andere. Und was machen Sie hier in Budapest?
— Vorläufig habe ich noch nichts Sicheres. Aber es wurde mir in Aussicht gestellt, Kunfi hat mir’s versprochen, und auch Weltner... Na ja, wir werden schon sehen... Wo arbeiten Sie, Genosse Kovacs?
— In Neupest.
— Ja, gewiss, ich habe schon davon gehört. Grüßen Sie den Genossen Fellner von mir. Ich glaube, dass ich beim Ernährungskommissariat Arbeit bekommen werde
— vorläufig noch nicht als Volkskommissar... Die Ernährung ist eine der schönsten und auch der schwierigsten Aufgaben. Dort werden in erster Reihe erfahrene Kräfte benötigt. Was sagen Sie zu Otto Korvin, Genosse Kovacs? Er hat eine schöne Karriere gemacht — was?
— Karriere?
— Na gewiss! Leiter der politischen Polizei. Ein so
junger Mann — Ist das bei Ihnen keine Karriere?
Bei uns in Neupest begann der Aufmarsch um zwei Uhr nachmittags.
Ganz vorn gingen die Kinder. Für die meisten war natürlich der Aufmarsch nur ein Spiel: Gesang, Musik, Fahnen. Aber, als wir vor dem Gebäude des Vollzugskomitees vorbeizogen, sah doch das eine oder andere der Kinder mit dem Bewusstsein nach dem Balkon hinauf, dass sie das Werk beenden müssten, beenden würden — das wir begonnen haben. An der Spitze der langen Kinderreihen stand ein alter Lehrer — Onkel Gyulai — der seit zweiundzwanzig Jahren jedes Jahr in einem anderen Dorf unterrichtete, der nirgends länger als ein Jahr bleiben konnte — denn überall fand er arme Häusler und überall war er der Fürsprecher der Armen. Einige Schritte begleitete ich den Alten: er sang mit dünner Stimme wie die Kinder selbst, und beim lustigsten Lied brach er in Tränen aus.
Bevor wir abmarschierten, kamen die ersten Alarmnachrichten. Niemand wusste etwas Genaues, aber jeder spürte, dass etwas Schlimmes, etwas sehr Schlimmes vorgefallen sein musste.
— Böhm, der Armeekommandant, hat selbst gesagt...
— Die Armee...
— Die Rumänen...
— Böhm glaubt selbst nicht...
— Die Tschechen...
Der Vormittag war ein Freudentag für Budapest. Am Nachmittag war keine Spur mehr von einem Freudentag zu bemerken.
Ich bin auf dem Lande geboren, ich wuchs zwischen der halbbäuerlichen Landbevölkerung auf. Ich sah heute zum ersten Mal in ihrer vollen Wirklichkeit die Großstadt, die Arbeiterbevölkerung der großen Fabriken.
— Es ist etwas Schreckliches geschehen — flüsterten alle, aber niemand erfasste Angst.
Die Proleten waren im Festtagsgewand — aber ihr Gesicht war düster und drohend. Der Zug sah aus wie ein blumengeschmückter Schlaghammer — die Füße hackten so heftig auf den Boden ein, wie wenn wir auf den Nacken unserer Feinde träten.
Kein Gesang, — keine Eljenrufe.
Die im Kampf glühenden Panzerautos jagen nicht mit größerer Wucht dem fliehenden Feind nach, als wir auf das Ziel losdrängten.
Ungefähr um vier Uhr langten wir auf der Märcheninsel an. Rechts von der zur Insel führenden Brücke die beflaggte Ganzsche Fabrik — links eine lange Reihe in Fahnen gehüllter Schiffe. Die Bäume der Insel sind frischgrün — auf dem Laub funkeln die dicken Regentropfen, die der kurze Sturmregen zurückgelassen hat. Rote Fahnen, grüne Bäume, in tausend Farben spiegelt der Rasen. Von der Spitze der Insel sah ich nach Budapest hinüber: links der Vaczer Weg — lange Reihe von Fabrikschornsteinen — am rechten Ufer die ausgegrabenen Ruinen der uralten Römerstadt. Von der Donau her streichelte mich ein kühler Wind. Auf der Insel — hinter meinem Rücken — spielten gleichzeitig drei Kapellen, die Donau schwingt mit und ich vergesse, am äußersten Ende der Insel stehend, für einige Augenblicke all die Schwierigkeiten und Leiden. Ich erinnere mich, damals wühlte es in meinem Kopf: ob die Sklaven, die die römische Stadt bauten, davon träumten, dass einmal... Über den ausgegrabenen Ruinen flattert im Donauwind die rote Fahne.
Auf der Wiese eine Rednertribüne aus Brettern.
Pojtek ist der Festredner. Ich sehe Pojtek zum ersten Mal im Feiertagsanzug. Der Anzug ist gewiss noch vor dem Krieg gemacht, die dunkelblaue Farbe ist ein wenig verblasst, ich sehe an seinem Anzug, dass der Krieg und die Revolution keine Mastkur war: Pojtek verliert sich fast in dem Vorkriegsanzug. Er steht auf dem Podium, wie wenn er sich zu einem Ringkampf vorbereitete.... heiße Grüße den russischen Genossen... heiße Grüße der Bayerischen Räterepublik... durch alle Höllen hindurch werden wir die Macht der Arbeitenden beschützen... wir müssen die Revolution vertiefen, damit jeder rote Soldat weiß, wofür er kämpft.
— Hoch! Eljen! Hoch!
— Sacklaufen, Mastenklettern, Goulaschessen, Musik, Tanz —
... Hab ich’s nicht längst gesagt?
— Was haben Sie gesagt, Genosse Fellner?
— Wir sind durchgefallen. Wir sind geschlagen! Die wollen nur plündern, aber nicht kämpfen... Mit einem Wort: die Rumänen haben die Theiß überschritten, die Tschechen sind einen Kanonenschuss weit von Budapest. Wir werden alle gehängt — wir Unschuldigen — genau so, wie Sie...
— Na, da haben wir auch noch was mitzureden, Genosse Fellner! Das Gewehr ist in der Hand der Proleten...
— Machen Sie sich nicht lächerlich! Die Proleten... Ich kenne sie. Mit Gerstelsuppe und Kürbisgemüse geht keiner auf die Schlachtbank.
— Die proletarische Revolution ist für Sie nur Gerstelsuppe mit Kürbisgemüse?
— In der Praxis ist sie — leider — nicht viel mehr. Wären wir bei der Demokratie geblieben, hätten wir ans begnügt...
Zum zweiten Mal schon heute, dass ich die Proleten nicht wieder erkenne, wie ausgetauscht sind sie. Alle wissen, dass es schlimm steht, aber es ist, wie wenn es keinen was anginge. Wie mit der Zeit der Schatten wächst — so wuchs auch die gute Laune. Die lustige Musik steigerte noch die heitere Stimmung.
— Die Tschechen? Hol’s der Teufel — tanzen wir.
— Hoch! Eljen! Eljen!
Auf dem Donauarm von der Ofener Seite her kam langsam, würdevoll ein Monitor auf die Pester Seite zu.
— Monitor! Ein roter Monitor!
— Ich suche Pojtek, aber niemand weiß, wo er steckt. Ich bleibe auf dem Rasen stehen, wo der Tanz tobt. Ich traue meinen Augen nicht: Pojteks Frau tanzt mit einem roten Soldaten. Die zwei Kinder sind in der Nähe. Lajcsi ist glücklich, dass er seine Mutter so guter Laune sieht. Als eine Tanzrunde zu Ende ist, gehe ich zu der Frau hin. Ihr Gesicht ist rot vor Erregung.
— Wissen Sie nicht, wohin Dani verschwunden ist?
— Weshalb tanzen Sie denn nicht?
— Ich suche Dani.
— Er ist nach Pest gefahren.
— Warum?
— Bela Kun hat ihn rufen lassen.
Um Mitternacht saßen wir zu acht in Pojteks Arbeitszimmer. Acht Kommunisten.
— Die Lage ist äußerst ernst — sagt Pojtek. — Die rote Armee kann nicht zum Stehen gebracht werden und was noch schlimmer ist, die Sozialdemokraten wollen den Kampf aufgeben. Und alles ist umsonst, — sie sind in der Mehrheit. Kun konnte nur schwer erreichen, dass zu morgen die Metallarbeiter zusammenberufen werden. Kun und Landler rufen die Arbeiterschaft zu den Waffen — und jetzt: lacht oder flucht — Genosse Böhm, Armeekommandant, wird dafür sprechen, dass wir die Waffen niederlegen.
— Der Hund, der niederträchtige!
— Ich habe Angst, dass die Proleten auf ihn hören werden — meinte der alte Liptak.
— Und die Fabriken den Ausbeutern zurückgeben?
— Na...
— Die Proleten greifen zum Gewehr — sage ich.
— Sie können nichts anderes tun — sagte Pojtek entschlossen.
— Für morgen Abend rufen wir auch die Gesamtvertrauensmänner zusammen.
Ich gehe auf den Balkon hinaus, der Himmel ist klar, voll bestirnt. Die Straße ist ruhig und leer. Nur die Tritte des roten Wachmanns klappen.
Ein Erhängter bringt Sturm. Die Rumänen an der Theiß, einen Tagesmarsch von Budapest die Tschechen, die die Kommunisten aufknüpfen.
Sturm.
Tobender Sturmwind fegt über die Dächer der Budapester Mietskasernen hinweg. Der Wind reißt mit seinen Eisenkrallen die roten Fassaden von den Häusern, da8 abgerissene rote Tuch fliegt turmhoch — dann lässt der Wind für eine Weile das Spiel, das Tuch liegt im Staub der Straße — dann flattert es wieder über den Häusern.
Fju— hu— hu— flju...
Ein zusammenstürzendes Baugerüst hat vier Arbeiter unter sich begraben.
Hoch oben von der Fassade des Nationaltheaters fällt ein riesiger gemeißelter Stein auf den Schädel einer Frau.
Fju— hu— hu— flju...
— Erinnern Sie sich? Am Tag der Kriegserklärung tobte ein solcher Sturmwind.
— Nein, am Tag des Ultimatums.
— Sie haben recht. Es war am Tage des Ultimatums, damals flogen auch die Bäume mit der Wurzel aus dem Erdreich.
— In zwei Tagen sind die Rumänen hier.
— Die Tschechen werden noch vorher hier sein.
— Unsere ungarischen Truppen stoßen zu den rumänischen.
— Gebe Gott...
— Noch zwei Tage.
Wir kamen im Arbeiterheim zusammen.
Es war erst fünf Uhr nachmittags, aber der Himmel war bleigrau und der niedrige, schäbige, so genannte Große Saal war dunkel. Seit der Revolution versammelten wir uns zum ersten Mal hier.
— Für die heutige Sitzung ist dieser Saal groß genug — sagt Pojtek — es tagt ja nur die Vertrauensmännerabordnung.
— Und auch die gewiss nicht vollzählig — meint Fellner — Ein Narr, wer in solchen Zeiten hierher kommt — wenn er nicht unbedingt muss — fuhr er mit hämischem Lachen fort.
„ In solchen Zeiten" heißt also: das muss auch ein Narr wissen, dass Fellner die Arbeiter vor den Gewitterwolken schützen möchte.
— Wer heute nicht kommt...
— Sie sind noch zu jung, Genosse Kovacs, — Sie sehen vieles nicht so, wie es tatsächlich ist. Vor zwanzig Jahren war ich auch so. Während dieser zwanzig Jahre aber... Gegen sechs Uhr waren wir versammelt. Es kamen nicht alle, die da sein sollten, aber es kamen ziemlich viel Leute zusammen: über hundert Arbeiter hören Fellners Eröffnungsrede an. Die Leute sind müde vom gestrigen Fest, von der heutigen Arbeit, von dem Sturmwetter und hauptsächlich infolge der unsicheren Lage. Sie flüstern geheimnisvoll miteinander.
— Böhm sagt...
— Bela Kun...
— Die Arbeiterbataillone...
— Die Metallarbeiter...
— Die Tschechen...
— Tibor Szämuely...
Fellner spricht. Er ist auch müde. Seine Stimme klingt heute nicht, sie ist hohl und farblos. Er spricht immerfort von Marx und Lenin. Von der Weltrevolution.
Leise Zustimmung.
Fellner kommt zum eigentlichen Zweck der Beratung.... die entscheidenden Tage ... die Verantwortung der Geschichte gegenüber... die Rumänen, die Tschechen ... der Zusammenbruch der roten Armee... Vernichtung... der Preis des Friedens ist die Demokratie... Demokratie... Arbeiterdemokratie... eine Regierung der Gewerkschaften.... Friede... die revolutionäre Tradition des ungarischen Proletariats... Pazifismus... Frieden... Brot... die Entente...
Stille.
Wir saßen über hundert im Saal, aber es herrschte Grabesstille.
Hundert Arbeiter. Die meisten sitzen mit gesenktem Kopf auf ihrem Platz, wie wenn sie sich schämten. Ich fange einige Blicke auf, in den Augen flackert Scham.... die Entente... die Entente...
Als Fellners dumpfe Stimme abriss, hatte auch ich das Gefühl von Scham. Wir haben nicht alles aufgeboten. Nein. Schmach und Schande. Angst durchzuckt mich. Ich höre hinter meinem Rücken zum ersten Mal, flüsternd: Weißer Terror.
— Genosse Pojtek hat das Wort!
Pojtek ist blass und fahl. Ein paar Augenblicke steht er stumm auf dem Podium. Wischt mehrmals seine trockene Stirn — dann sieht er nachdenklich einige Augenblicke vor sich hin.
— Was ist los? Kann er nicht sprechen? Will er nicht sprechen?
Der Saal atmet schwer auf.
Pojtek macht einen Schritt nach vorwärts. Er steht am äußersten Rand des Podiums. Einen halben Meter hinter ihm sitzt Fellner bewegungslos. In diesem Augenblick bemerkte ich zum ersten Mal das silbergraue Haar an Pojteks Schläfen.
— Das Wort hat Genosse Pojtek! — wiederholt Fellner.
— Genossen!
Pojteks Stimme klingt ungewöhnlich scharf. Die starr auf ihrem Platz Sitzenden erzittern plötzlich, wie vom elektrischen Strom getroffen. Alle Augen richten sich auf Pojtek.
Pojteks Stimme klingt scharf, seine Worte sind einfach.
Er spricht nicht von der Weltrevolution, weder von Marx noch von Lenin.
— Die Frage ist die — nennen wir das Kind beim Namen — die Frage ist die: sollen wir die Fabrik, sollen wir den Boden, sollen wir die Macht aus den Händen geben?
Er bricht ab. Wartet auf Antwort.
Stille.
Die Versammelten sitzen mit gesenkten Köpfen da.
Stille. Pojtek spricht nicht. Steht bewegungslos da. Seine gütigen Augen glühen in fiebrigem Feuer.
Stille. Der Prolet überlegt. Die Frage kam unerwartet. Gewiß — darum handelt es sich — hat's denn bisher keiner ausgesprochen? Kunfi sagte, die Diktatur muss anders geführt werden. Böhm... Fellner... Alle sagten dasselbe, man muss es anders machen... Dann wurde gesagt, die Entente schicke Lebensmittel... Fleisch... Fett, Kleidung, Schuhe... Ja, aber wie... Dass dieses anders soviel bedeutet wie aus den Händen geben... Zurückgeben... Verzichten auf den Sozialismus... Zurückgeben...
Pojtek bewegt sich, seine Stimme erklingt wieder. Er sagt nichts Neues, er wiederholt nur die Frage.
Stille. Alles sieht auf Pojtek. Der Saal ist fast ganz dunkel. Mir schien, wie wenn nur seine Augen leuchteten.
— Wenn wir alles zurückgeben wollen... — Nein!
Sagt eine Stimme, dann noch eine, dann spricht die Masse, die Fabrik, das Proletariat.
— Nein!
Pojteks Frage war die Antwort auf die zermürbenden Reden, mit denen die „alten Führer" seit Wochen schon die Köpfe der Arbeiter verwirrt hatten, und mit denen sie immer mehr Mißtrauen in das Heer der Revolution säten.
— Muss der Sozialismus zum Terror greifen? — Wiederum Krieg? — Weshalb Russland und nicht der zivilisierte Westen? — Soll die herrschende Klasse Kürbisgemüse essen?
Pojteks Frage räumte mit all diesen Redensarten auf.
— Wir wollen kämpfen!
Der ganze Saal stand auf — brüllte, drohte.
Fellner ist blassgrün. Er ist allein. Außer ihm ist kein Sozialdemokrat mehr im Saal. Einstimmig wird der Beschluss gefasst: mit dem Gewehr in der Hand werden wir die proletarische Revolution verteidigen! Mit dem Gewehr. Mit Terror. Mit Blut.
— Und Sie glauben wirklich, dass der Prolet an die Front geht? — sagte Fellner beim Hinausgehen.
— Unterlassen Sie besser solche Reden! war meine Antwort.
— Soll das eine Drohung sein?
— Ja.
Ich rief Otto an. Er ist nicht zu Hause — er ist in der Sitzung der Metallarbeiter. Eine Stunde später rufe ich ihn wieder an — er ist da.
— Die Budapester Arbeiterschaft greift zum Gewehr — sagt er ins Telefon, bevor ich noch ein Wort sagen konnte — Kun und Landler haben aufgerufen...
— Die Neupester Arbeiterschaft ist auch bereit, fiel ich ihm ins Wort.
— Die Revolution wird die Sozialdemokratie besiegen. Otto schrie ins Telefon, dann lachte er laut auf. Ich
sagte darauf, was er mir mehr als einmal vorwurfsvoll gesagt hatte:
— Du bist wie ein Kind!
Otto lacht noch heller auf. Er lacht jetzt über mich.
— Auf zur Arbeit, Peter!
Am nächsten Tag: Die Partei mobilisiert. Die Gewerkschaften mobilisieren. Die Arbeiterräte mobilisieren.
Sämtliche Fabriken mobilisieren.
Sämtliche Kriegsrüstungsgegenstände werden requiriert.
Die Schornsteine der Fabriken stoßen dichte Rauchwolken aus: sämtliche Fabriken arbeiten für das rote Heer: Budapest, Neupest, Csepel, Leninstadt sind eine einzige Waffenschmiedewerkstatt.
— Alles für die Rote Armee!
— Zu den Waffen, Proletarier!
— Zu den Waffen! Zu den Waffen!
Drei Tage später ging das erste Arbeiterbataillon ab. Nach zwei Tagen ein zweites — dann ein drittes. Ich ging mit dem dritten Arbeiterbataillon an die Front.
Als das erste Bataillon verabschiedet wurde, ging ich nach Budapest hinein. Ich kam eben zur rechten Zeit: der revolutionäre Vollzugsrat hielt eine Heerschau über die bewaffnete Arbeiterschaft ab.
Die Andrassystraße entlang marschierte in unendlichen Reihen das Heer der proletarischen Revolution. Alte, schmutzige, abgetragene Arbeiterkleider — neue Waffen.
Die neuen Soldaten gingen noch nicht im Takt — aber sie hielten die Gewehre fest in den Händen. Die prunkvollen Paläste erzitterten.
Am Abend vor dem Abmarsch nahm ich noch Teil an der Sitzung des Arbeiterrates.
Lebensmittel, Wohnung, Kleidung, Möbel, Holz — alles — außer der Reihe für die Angehörigen der Roten Soldaten.
Als erster bekommt der Handarbeiter Lebensmittel, dann der Kopfarbeiter — und als letzter der Bourgeois.
Das Revolutionstribunal muss schärfer zugreifen. Die Hälfte der Mitglieder des Arbeiterrates geht an die Front.
In den Straßen singen die Soldaten. An den Mauern riesige Plakate:
— Zu den Waffen! Zu den Waffen!
Von den Plakaten ruft ein riesiger Matrose mit einem roten Tuch in der Hand
— Zu den Waffen! Zu den Waffen!
— Rote Soldaten, vorwärts!
— Für eure Frauen, für eure Kinder — vorwärts!
— Kun Belas Soldaten — vorwärts!
— Vorwärts! Vorwärts! Vorwärts! Der Bahnhof.
— Einsteigen!
Die Soldaten singen!
— Möchte gerne, möchte gerne mit Bela Kun sprechen...
Beim Einsteigen küsst mich Pojtek:
— Auf Wiedersehen, Peter!
... Nie wird enden, nie wird enden, die kommunistische Welt!
— Fertig! Abfahren!
Wie das Messer in das weiche Brot — so schneidet die Rote Armee in die tschechische Front hinein.
Wie eine von Kinderhand gebaute Sandburg vor einer von der Bergspitze herunterrollenden Lawine auseinanderstäubt — so löste sich die tschechische Front auf.
Das Fest der Internationalität: der slowakische Arbeiter, der russische Bauer wird Bela Kuns Freund. Der ungarische Bischof lässt für den Sieg der Legionäre Massaryks eine Messe lesen.
Und das rote Heer zog die Siebenmeilen-Stiefel aus dem Märchenbuch an.
Der französische Kommandant der tschechischen Soldaten flüchtet mit dem Flugzeug nach Prag.
Die roten Soldaten folgen dem durch das Flugzeug gewiesenen Weg.
Losoncz.
Miskolcz.
Kaschau.
Bartfa.
— Vorwärts! Vorwärts! Vorwärts!
— Slowakische Räterepublik.
— Russische Rote Garde.
— Vorwärts! Vorwärts! Vorwärts!
— Die Rote Armee hat die tschechische Grenze erreicht.
. — Die Arbeiterschaft Brünns streikt! Der Weg nach Prag steht offen!
— Wenn da... Oh, wenn da...
Ich habe nicht den ganzen Ostfeldzug mitgemacht. Ich wurde gleich in der ersten Schlacht verwundet.
Unsere Kompanie lagerte in einem kleinen Wald, einen Gewehrschuss von der Landstraße entfernt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Landstraße lagerten tschechische Legionäre. Rechts von uns standen die Csepeler, links Budapester Metallarbeiter. Wir lagen auf frischem, feuchtem, grünem Gras.
Ich stieg eben von einer riesigen Eiche herunter, von wo aus ich die Tschechen mit einem Feldstecher beobachtet hatte. Unsere Artillerie schoss die Kanonen der Tschechen über den Haufen — auf der Ipoly-Brücke liegen Leichen, stumme Kanonen und krepierte Pferde. Der Weg nach Losoncz liegt offen! Goldmann erklärt die Kriegslage.
— Ein Kinderspiel, Burschen! Seht hierher auf die Landkarte. Dieser Fliegendreck hier ist Losoncz — dasselbe Losoncz, das von hier eine kleine halbe Stunde entfernt ist. Also, das hier ist Losoncz. Na und jetzt seht hierher! Von Losoncz bis Prag ist nicht ein Haar breit weiter als eine Spanne — mit der linken Hand gemessen. Also das ist alles — eine kleine Spanne bis Prag. Das ist doch nicht viel für Neupester Proleten.
Es hängt davon ab, was wir im Magen haben, wenn wir laufen sollen.
— Fleisch und Wein.
— Dann ist Amerika auch nur einen Sprung weit.
— So ist's richtig.
Auf der Landstraße saust ein Auto — eine kleine rote Fahne flattert auf der Nase. Die Tschechen beschießen es mit Maschinengewehren. Das Auto biegt ein, fährt auf die Wiese, die zwischen dem Wald und der Landstraße liegt. Es hält im Graben.
Landler steigt aus dem Auto.
Die Tschechen beschießen das Auto mit einer übrig gebliebenen Mörserkanone.
— Na, was gibt es, Genossen? Ich rieche, dass Paprikafleisch gekocht wird.
— Ja, es ist bald fertig. Essen Sie mit uns, Genosse Landler?
— Glaubt ihr, ich werde euch euer Paprikafleisch
wegessen? Ihr habt gewiss nicht zuviel. Woher seid ihr?
— Wir sind Neupester.
— Schön. Wer ist der militärische Leiter?
Goldmann tritt vor.
— Und der politische Bevollmächtigte?
Ich melde mich.
— Also gut. Wie ich sehe, ist euer Fleisch noch nicht fertig. Bis es fertig wird, könnt ihr noch einen kleinen Spaziergang machen.
— Was liegt denn vor, Genosse Landler?
— Die Tschechen bedrängen die Salgotarjaner, aber wenn wir nach Losoncz hineinspazieren, müssen sie sich zurückziehen. Die Csepeler hier rechts und noch zwei Budapester Kompanien sind schon zum Angriff bereit. Binnen zehn Minuten könnt ihr auch bereit sein.
— Ist das ein Befehl?
— Kein ausgesprochener Befehl. Die Armeeoberkommandantur, d. h. Genosse Böhm hat keinen Befehl zum Angriff gegeben — aber ein guter roter Soldat schlägt sich auch ohne Befehl. Von den Neupestern heißt es, sie seien gute Revolutionäre.
— Das ist gut gesagt.
— Dann also...
Während acht Jungens Landlers Auto aus dem Graben herausholten, machten wir uns marschbereit.
— Versalze die Suppe nicht — gab Goldmann dem Koch noch die Anweisung. Wenn das Fleisch fertig ist — mach eine breite Sauce — wenn's ganz fertig ist, bringe es uns nach Losoncz nach.
— Es kühlt unterwegs aus.
— Wir wärmen's in der Küche des Bischofs auf.
— In Losoncz gibt es keinen Bischof.
— Dann... dann... Das Wichtigste ist, dass du viel Paprika hineintust, denn das Fleisch ist sehr fett — es kann uns sonst noch schaden.
Landlers Auto war nicht mehr zu sehen. Die Tschechen hörten mit der Schießerei auf. Daraus, dass das Auto nicht beschädigt wurde, war leicht zu erraten, dass die Tschechen weit von der Landstraße entfernt waren.
— Fertigmachen — brüllte Goldmann los, der schon mit aufgepflanztem Bajonett dastand.
Landler sagte, die Csepeler würden das Signal zum Angriff geben — mit einer Husarentrompete. Wir senden eine Patrouille zu den Csepelern, aber das Signal kommt nicht. Die Burschen blicken ungeduldig aufeinander — der eine oder andere setzt sich wieder hin — gleich legt sich die ganze Bande wieder nieder — das Paprikafleisch ist da — dann können die Csepeler blasen. Ich stoße Goldmann in die Seite, er nickt, dass er verstanden hat. Einen Augenblick später hält er die Hand vors Ohr, dann wirft er den Kopf nach hinten, wie wenn gerade jetzt der ferne Trompetenton sein Ohr gepackt hätte — und schon brüllt er auch los:
— Fertig! Jungens! Genossen! Im Namen der Weltrevolution — vorwärts!
Goldman stellt sich mit einem Sprung an die Spitze des Zuges — ein heißer Strom kreist durch meinen Körper, meine Hand mit dem Gewehr erzittert für einen Augenblick. Ich schreie los und stürze Goldmann nach.
— Los!
— Los! Auf! Los! Auf!
Stampfen der schweren Stiefel, Keuchen, Gewehrklirren, abgehackte Flüche — wir rennen der Landstraße zu.
Vom Wald bis zur Landstraße führt der Weg durch eine Wiese mit bunten Blumen. Wir rennen schon so lange die Landstraße ist noch immer so weit. Wir hätten
es nicht geglaubt... Die Csepeler... noch immer nicht... Doch...
— Los! Auf! Los!
Goldmann springt jetzt über den Graben — er steht schon oben auf der Landstraße — Jungs! — er droht, wütend mit der Faust auf die Tschechen weisend.
— Ta— ta— ta— ta— ta— ta—
— Genossen!
— Verfluchte Bande... Wir haben zu früh geschrieen.
— Los!
Jetzt springe ich auch aus dem Graben — der Damm...
Etwa zehn waren vor mir, die anderen klettern keuchend und fluchend hinter mir.
— Ta— ta— ta— ta— ta— ta— ta—
— Hurengesindel!
Ich stolpere. Bis ich mich aufrichte, rast die Kompanie schon durch das Feld weiter, nur ein paar bleiben auf der Landstraße liegen. Rasch — ich mache nur einen Schritt — ein heftiges Stechen im linken Bein, und ich kollere in den Graben.
Die Schufte haben mich angeschossen.
Jetzt ertönt die Trompete der Csepeler. Sie bläst keinen Schlachtruf.
Der Graben ist voll Wasser — ich will herauskriechen. Aber... Sie haben mich ins Bein geschossen, und mein Kopf ist schwer. Wenn jetzt... zum Teufel, ich habe vergessen zu sagen, dass meine Wohnung — die rothaarige Frau — nein — aber doch...
Mein Kopf ist schon außerhalb des Grabens. Ich sehe niemanden. Sie haben mich hier vergessen. Gewiß, wenn Pojtek da wäre... aber Fellner...
Gegen Abend fanden mich zwei Sanitäter.
— Na? — fragte ich, als ich auf der Tragbahre schaukelte — ich habe keine Kraft weiterzusprechen. Es ist nicht nötig — die Sanitäter verstehen mich schon.
— Wir sind eingezogen, sagten beide gleichzeitig, wie wenn sie's einstudiert hätten.
— Aber das Fleisch hatte der Tölpel versalzen — sagte der eine, Boder aus der Wolfnerischen Fabrik. — Er ist gewiss verliebt, der Lümmel.
— Haben wir viele Tote?
— Einige. Wir hätten's billiger haben können.
Ich lag acht Tage im Losonczer Krankenhaus. Den linken Oberschenkel hatte eine Kugel durchschlagen. Sie streifte den Knochen, spaltete ihn aber nicht. Die Sache war nicht so gefährlich, aber der starke Blutverlust machte mich furchtbar matt. Am neunten Tag wurde ich nach dem Krankenzug gebracht, und am nächsten Tag lag ich schon im Neupester Karolyi-Krankenhaus. Im Zimmer, wo ich lag, standen zwei Betten. Das eine neben dem Fenster, gehörte mir, im anderen lag Onkel Kecskes. Der Alte war mit einem Schulterschuss von der rumänischen Front zurückgekommen. Seit drei Wochen schon lag er in diesem Bett. Sein Bett stand so, dass wir uns nicht sehen konnten, er sagte auch immerfort, es sei besser, wenn er mich nicht sähe — er wolle keinen Kommunisten mehr sehen, er hätte genug und zuviel von der Sorte.
— Wegen der blöden rumänischen Kugel gehen Sie jetzt auf die Kommunisten los?
— Hältst du mich für einen Rotzkerl, der dem Tisch böse wird, weil er sich an der Ecke stieß? Wenn die Kugel der Rumänen keinen besseren Platz gefunden hat — hol's der Teufel... Aber den Kommunisten verzeih Gott ihre große Sünde — ich bin kein Gott.
— Was ist denn die große Sünde, Onkel Kecskes?
— Das fragst du noch? Kannst du das selbst nicht
erraten? Ihr seid ja schlimmer als... Ich finde nichts, was schlimm genug ist, dass ich euch damit vergleichen könnte.
— Wenn ich nur wüsste...
— Wenn du wüsstest... Hörst du vielleicht von mir zum ersten Mal, dass ihr den Boden nicht aufgeteilt habt, und dass der Häusler zu Kun Belas Zeiten ein ebensolcher Hundsfott geblieben ist wie zu Kaisers Zeiten? Es ist doch auch für dich kein Geheimnis, dass die Frauen der Verwalter und der Dorfnotare auch heute noch keine Witwen sind? Wie viel Dorfnotare hast du gehängt, du kommunistischer Held?
— Aufhängen? Das wäre keine so schwere Sache. Wir haben uns etwas viel Schöneres vorgenommen. Wir wollen den Sozialismus aufbauen.
— So? Und was hast du dafür schon alles getan, wenn ich fragen darf ?
— Na, das geht nicht so einfach, Onkel Kecskes, das...
— So? — fiel mir der Alte ins Wort. Na gut. Die eine Sache macht ihr nicht, weil sie euch zu einfach ist — die andere macht ihr wieder — deswegen nicht, weil sie nicht einfach genug ist — und zum Schluss sind euch die Herren böse, weil ihr ihnen den Boden weggenommen habt — die Armen lieben euch nicht, weil sie von euch vergebens ihr Teil erwarten. Das wird ein schlechtes Ende nehmen, Peter, ein sehr schlechtes Ende — ich sage dir's, der alte Kecskes — mir kannst du's glauben. Ihr seid genau wie der Dorfbursche, der mit einem Arsch auf zwei Pferden sitzen wollte, und den beide im Dreck liegen ließen...
Ich konnte dem Alten erzählen, was ich wollte, je mehr ich erklärte, um so wütender wurde er. Wenn ich ihm sagte, man muss klug sein, sagte er mir, ich sei ganz blöde; wenn ich beweisen wollte, dass die Sozialdemokraten an der zwiespaltigen Politik der Räteregierung schuld seien, hatte er auch darauf eine Antwort.
— Wenn einer sich eine Hure zur Frau nimmt, soll er sich bei mir nicht darüber beklagen, dass ihr die Brüste bis an den Bauch herunterhängen.
Eine schlanke blonde Frau pflegte uns. Sie war vor der Revolution Nonne gewesen, jetzt ist sie die Frau eines Assistenzarztes. Sie ging leise, sprach leise, war immer da, wo sie gebraucht wurde, aber der Alte stieß auch mit ihr immer wieder zusammen.
— Alles gehört der Arbeiterklasse, und nicht einmal eine Pfeife Tabak kann man bekommen.
— Sie dürfen nicht rauchen, Genosse — sagte leise die blonde Frau — Ihre Lunge ist verwundet.
— Erzähle deinem Großvater nicht, was man darf und was man nicht darf — zankte der Alte. — Im Gefängnis durfte man auch nicht rauchen, trotzdem kam die Pfeife keinen Moment aus meinem Mund.
— Im Gefängnis war's etwas anderes — sagte die Pflegerin, aber es wurde zu ihrem Verderben, denn der Alte brach jetzt ernstlich in Zorn aus.
— Etwas anderes? Wenn's etwas anderes war, war's doch besser als dies hier... ich will dir's mal richtig sagen, wenn bisher keiner noch den Mut hatte...
Der Alte bekam wieder den Husten, man musste den Arzt holen.
— Sie bringen mich ins Grab — sagte der Alte, als wir wieder allein waren.
— Wenn Euch unsere Revolution so schlecht gefällt, weshalb seid Ihr in die Rote Armee eingetreten?
Kümmere dich nicht um das, was ich tue — sagte Alte.
Als ich mich dann, wenn auch noch mit fremder Hilfe, endlich auf meine Beine stellen konnte, setzte ich mich zu allererst an den Bettrand des alten Kecskes. Er war jetzt wirklich sehr alt geworden. Abgemagert, totenbleich, sein herabhängender Schnurrbart fast schneeweiß — unter den Augen tiefe Furchen. Aus seinen Augen flossen Tränen, als ich ihn küsste.
— Die Roten haben Kaschau eingenommen — las ich ihm aus der Zeitung vor.
— Gott sei Dank — seufzte Vater Kecskes, der Todfeind der Kommunisten, — und doch werden nur sie, die Kommunisten, das Recht der armen Häusler erkämpfen — fügte der grauhaarige rote Soldat hinzu.
Der Alte hustete schwer.
„ Mein einziger teurer Bruder!"
Wir weiden uns. Wir wurden hierher an die serbische Front auf die Weide gebracht, ich muss sagen, die Soldaten krepieren noch vor lauter Muße. Ich wollte dir gleich damals schreiben, als wir Kaschau eingenommen haben, aber ich komme erst jetzt dazu, Dir zu schreiben, und jetzt hab' ich wieder nichts mehr zu schreiben. Was wir besetzt haben, geben wir wieder zurück — der Teufel mag glauben, dass auch die Rumänen das zurückgeben, was sie uns genommen haben, die verfluchte Bojarenbande. Na, das ist auch das Werk der Sozialdemokraten. Wo die ihren Fuß hinsetzen, dort ist nicht viel zu hoffen, deshalb muss ich dir auch sagen, dass nicht ich auf dem Schlachtfeld stehe, sondern Du bist mitten in der Schlacht, denn der gefährlichste Feind sitzt in Budapest und nicht an der Save. Wenn Du ausgehen kannst, gehe, mein Junge, zu Kun und sage ihm, dass die Armee zerfällt, die Proleten zugrunde gehen, die Revolution kaputt gemacht wird, wenn es so weiter geht und sage ihm, wo der wahre Feind zu finden ist.
Werde bald gesund — hier merkt man erst, wie dringend wir jeden einzelnen Bolschewisten benötigen. Pojtek, Potyondi und die andern umarme ich vielmals und wünsche Dir alles Gute.
Dein treuer Genosse Goldmann."
NB.: Szappanos ist bei Kaschau gefallen. Er kämpfte tapfer bis zum letzten Augenblick.
Pojtek besuchte mich oft. Als ich noch im Bett lag, war er guter Laune; jetzt aber, als ich die Krücken wegwarf, wurde sein Gesicht immer düsterer. Ein Blinder konnte merken, dass sich schlimme Dinge abspielten.
— Weshalb haben wir die Truppen aus dem Norden zurückgezogen?
— Da musst du Böhm fragen. Sie haben die Armee zersetzt, bewusst zersetzt, es blieb uns nichts anderes übrig — wir müssen jetzt so tun, als ob wir daran glaubten, dass die Entente die Rumänen zurückbefiehlt. Wenn wir stark genug sind, werden wir sie wieder zurückdrängen.
Ich zeigte ihm den Brief von Goldmann. Er schüttelte den Kopf und sagte kein Wort.
— Du, dein lieber Nemes hat seinen Mann gestellt — begann Pojtek nach einigen Augenblicken. — Er wurde zum Einkauf nach Wien geschickt, das Geld hat er unterschlagen und in den Wiener Zeitungen Artikel gegen die Bolschewisten geschrieben.
— Hat er viel Geld gestohlen?
— Viel. Aber wenn er hier geblieben wäre, hätte er gewiss mehr Schaden angerichtet als mit dieser offenen Schurkerei.
— Ja, lauter Schufte.
— Na, lass den Kopf nicht hängen, ich habe auch gute Nachrichten. Die Russen haben Koltschak geschlagen.
— Ist das sicher?
— Ganz sicher. Und dort ist der Hauptkriegsschauplatz, nicht bei uns. Wenn wir dort siegen, werden wir auch hier siegen.
Der alte Kecskes hustete wieder. Er verlangte Wasser. Wir gaben ihm zu trinken und setzten uns an sein Bett. Die Augen des Alten brannten im Fieber — sein Gesicht schien seit ein paar Tagen kleiner geworden zu sein — seine Hände waren nur noch Haut und Knochen.
— Den Boden müsste man aufteilen — sagte er flüsternd.
— Das kommt auch noch — sagte Pojtek überzeugt.
— Jetzt, jetzt gleich — stöhnte der Alte. — Es wird zu spät, wir dürfen keine Zeit verlieren — es wird zu spät.
— Es wird nicht zu spät, Genosse Kecskes, alles kommt nacheinander.
— Aber...
Pojtek, dem sonst nichts schnell genug gehen konnte, erklärte mit größter Ruhe die Situation.
— Hoffnungen, Enttäuschungen, die verschiedensten Länder, Völker, Klassen, große zusammenhängende gewaltige Ereignisse: bilden den unaufhaltsamen Weg der Revolution. Die Russen, die Deutschen — die Kolonialvölker... Österreich, Deutschland, die tschechischen Sozialdemokraten und der Balkan, das ungarische Proletariat...
— Und der Bauer? Den behandelt man nur wie einen Hund! — fiel ihm Vater Kecskes ins Wort — , er hörte Pojtek zu und setzte sich mit großer Mühe im Bett auf.
— Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen, Vater Kecskes.
— Gewiß, ihr versteht nie, was wir sagen wollen. Das hatte ich eben auf der Zunge.
Pojtek lachte verlegen.
Er antwortete nicht, er fand keine Antwort.
Ich hatte Pojtek noch nie so unsicher gesehen wie jetzt — gegenüber dem sterbenden rebellierenden Bauern.
Am 24. Juni kam ich aus dem Krankenhaus heraus, zwei Tage nach dem Begräbnis des Vater Kecskes, rote Blumen, rote Fahnen, Militärmusik begleiteten ihn.
Der 24. Juni war der Tag der Gegenrevolution der nationalistischen Sozialdemokraten.
Nach der Niederschlagung der Gegenrevolution arbeitete ich einige Tage unter den Bauern — dann ging ich nach der rumänischen Front ab.
Ich habe die Überschreitung der Theiß mitgemacht, danach lief ich kopflos mit dem geschlagenen Heer zurück und blieb erst auf der Szolnoker Brücke stehen, erst dann erfasste ich, was geschehen war, als der Führer den Zerfall, den Tod, die Gegenrevolution, die sich im Zurückrasen des Heeres ankündigte, mit dem eigenen Körper aufhalten wollte.
— Ta-ta-ta-ta-ta-ta-
Auf der Szolnoker Seite brennt flackernd ein Schindeln bedecktes Haus.

 

VIII.

Wir rannten kopflos zurück. Die Toten, die Verwundeten, die Kanonen, die Maschinengewehre, die Fahnen blieben alle an der Theiß. Wir hatten noch die Uniform der roten Soldaten an, aber wir waren keine roten Soldaten mehr. Wir liefen nur noch, um unser Leben zu retten. Hinter uns brennende Dörfer — die siegreichen Rumänen, der Tod. Was vor uns war, wie es dort aussah, wohin wir rannten — das wusste niemand. Wir liefen kopflos in der Richtung, wo wir Budapest ahnten.
Ich hatte noch die letzte Schlacht mitgemacht: wir nahmen Szolnok im Sturm zurück. Währenddessen überschritten die nördlich von uns stehenden rumänischen Truppen die Theiß und schnitten uns so den direkten Weg nach Budapest ab. Wir mussten daher einen großen Umweg machen — uns aber auch tüchtig dranhalten, denn sonst waren die Rumänen früher in Budapest als wir.
Die rote Armee hatte sich vollständig aufgelöst. Ein Teil geriet in rumänische Gefangenschaft, der andere Teil näherte sich Budapest, als wir Szolnok endgültig aufgegeben hatten. Die Rumänen hielten den Bahnhof unter Kanonenfeuer, eine Lokomotive in Gang zu setzen war unmöglich.
— Reich mir die Hand und spring auf! Das Gewehr aber wirf fort. Soviel Platz haben wir nicht mehr. Na, eins — zwei, überleg nicht lange, sonst bleibst du hier zurück!
Antalfy streckte seinen Arm aus, und mit einem guten Sprung war ich auf dem Lastauto, das mit roten Soldaten voll gepfropft war. Es schien, als ob keine Stecknadel mehr auf dem Lastauto Platz hätte. Ein paar Schritte hinter uns sauste eine Granate in eine Pfütze — das Auto fuhr los. Binnen einer halben Stunde nahmen wir noch zwei Mann auf.
— Na, jetzt ist aber wirklich alles ausverkauft — sagte Antalfy, dessen Gesicht voller Stacheln war. Ihm fiel das Herz auch jetzt nicht in die Hose, er führte das Wort auf dem Auto. Er zog seinen Kittel aus und spielte in Hemdsärmeln auf der größten Bühne der Welt. In der Hand hielt er eine Handgranate, damit dirigierte er.
— Weiter! Weiter!
Das Auto warf den dicken Staub der Landstraße auf. Das Auto schüttelte uns durch wie im Veitstanz. Unterwegs trafen wir vereinzelte rote Soldaten, die sich verzweifelt dahinschleppten.
— Mit den Rumänen kommen auch ungarische Offiziere. Wen sie erwischen, dem schinden sie die Haut ab.
— Nehmt mich auf, Brüder, nehmt mich auf, Gott wird's euch vergelten!
— Nehmt mich auf, ich habe vier Kinder zu Hause!
— Es geht nicht, Bruder — du siehst doch — , kein Floh hätte mehr Platz.
Antalfy antwortete den Flehenden. Wir übrigen schwiegen, wie wenn man uns mit dem Gewehr auch die Zunge weggerissen hätte.
— Krepieren mögt ihr, ihr Hunde! — schrieen uns die zurückgelassenen Soldaten nach.
Am Ende eines Dorfes versperrten uns bewaffnete Bauern den Weg. Die meisten waren zwar nur mit Heugabeln ausgerüstet, aber einige hatten auch Gewehre. Quer über die Landstraße lag ein dicker Baumstamm.
— Halt!
— Hol euch der Teufel, ihr Hundesöhne!
Das Auto blieb stehen.
— Was gibt es denn, Genossen? — nahm Antalfy das Wort auf.
— Schluss mit den „Genossen-Zeiten" — sagte ein Bauer mit grauem Schnurrbart, die anderen lachten ihm Beifall.
— Schluss! — wiederholte Antalfy. — Die Rumänen rücken uns auf den Hals.
— Ihr habt sie uns auf den Hals gehetzt!
— Zum Teufel noch mal! — Wir haben die Theiß gegen sie verteidigt! Die Herren Offiziere bringen sie euch, dass der alte Herrgott sie dort...
— Na, nicht so heftig. Was führt ihr denn da alles mit?
— Dreck. Das ist alles, was wir anhaben.
Weiß der Teufel woher, Antalfy zog zwei Handgranaten hervor, die eine drückte er mir in die Hand, die andere gab er einem Riesenkerl, der neben mir stand. Dann kamen auch einige Revolver aus den verschiedenen Taschen zum Vorschein.
— Räumt die Stange hier aus dem Weg!
— Wenn ihr eure Gewehre abgebt, könnt ihr weiterfahren.
— Das können wir nicht machen, Bruder! Die Rumänen sind uns auf den Fersen, da brauchen wir schon ein paar Waffen.
Vier Jungens sprangen herunter, um den Baumstamm wegzuschieben, die Bauern stellten sich ihnen entgegen.
— Na, wie ist's? — schrie ein kleiner junger Bauer und richtete sein Gewehr auf den Schofför.
— Gergely Balog! — erkannte ich plötzlich den Bauern. Vor zehn Monaten lernte ich mit ihm zusammen das ABC des Kommunismus. — Gergely Balog!
— Na, was — stotterte er verlegen. Wer bist du denn? — ich kenne dich nicht — sagte Balog mit gespieltem Hochmut.
— In Ungvar saßen wir zusammen im Gefängnis und...
— Wie denn...
— Ihr wart große Herren! — sagte ein Bauernweib.
— Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig— zählte Antalfy brüllend und ließ die Handgranate über seinem Kopf kreisen. Plötzlich zogen sich die Bauern zurück, viele verkrochen sich in den Graben an der Landstraße, von dort aus drohten sie mit kreischender Stimme. Ein Schuss ging los, Antalfy flog die Mütze vom Kopf. Drei Revolverschüsse waren die Antwort und die Bauern zogen sich noch weiter zurück. Vier rote Soldaten räumten den Baum aus dem Weg.
— Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig— heulte Antalfy — die Handgranate in der Hand schwingend. — Schnell, schnell! Na, springt herauf! So. Abfahren!
Aus dem Graben kamen mehrere Schüsse. Der rote Soldat, der als letzter auf das fahrende Auto hinaufkletterte, schrie auf, und er wäre bestimmt hingesaust, wenn ich ihn nicht rechtzeitig am Arm gepackt hätte.
— Schnell! Schnell! — schrie Antalfy dem Schofför zu.
— Sie haben mich angeschossen.
— Na, wartet ihr Hunde!
Die Bauern schossen noch ein paar Mal in die Luft, aber wir waren schon über das Dorf hinaus, draußen auf der freien Landstraße. Keine Menschenseele. Auf beiden Seiten — in riesigen Tristen aufgehängt —
goldene Weizenähren. Der Verwundete stöhnte, quer über unseren Stiefeln liegend. Bei jedem Ruck fluchte er los. Antalfy verband so gut er konnte — den durchschossenen Oberschenkel mit einem Hemdsärmel.
Noch vor Sonnenuntergang kamen wir in die Stadt, Die Budapester machten sich bald fort, der eine dahin, der andere dorthin. Auch den Verwundeten hoben wir in der Nähe des Ostbahnhofs herunter: die Frau und drei Kinder erwarteten ihn. Am Abend waren wir nur noch vier, vier, die in der Provinz wohnten. Jetzt wussten wir wirklich nicht, was wir beginnen, wohin wir uns wenden sollten.
— Fahren wir zu irgendeiner Kaserne — sagte der Schofför.
— Das doch nicht — entgegnete Antalfy — ich habe ehrlich bis zum Schluss der roten Sache gedient, die Zeit ist zu Ende. Jetzt spiele ich bei niemand mehr Soldat. Nein. Keinen Augenblick! Erst in der nächsten roten Republik.
— Ich muss doch das Auto irgendwo unterbringen. Ich fahre zu einer Kaserne.
— Meinetwegen, aber ich gehe 'runter.
Antalfy und ich stiegen ab. Das Auto setzte sich sofort in Bewegung.
— Viel Glück, Genossen!
— Dir auch.
— Nna! — atmete Antalfy tief auf. — Von diesem Augenblick an bin ich kein roter Soldat mehr, ich bin wieder Herr Schauspielkünstler Geza Antalfy, der Teufel soll's holen. Ich muss nur noch diesen Aufzug loswerden, dann kann ich auch auf die Bolschewiken schimpfen. Was willst du beginnen, Bruder?
— Ich weiß selbst nicht, was ich mache. Ich habe keinen Bekannten in Budapest.
— Du musst in erster Linie deine Klamotten loswerden. Ich bin hier auf dem Pester Asphalt aufgewachsen — ich hab tausend Freunde hier, dass sie der Teufel hole. Servus — servus — guten Tag, sehr gern — sehr gern — wenn ich Geld habe, lecken sie mir auch den Hintern ab, jetzt werden mich vielleicht viele von den Schuften gar nicht erkennen, und die, die mich vielleicht kennen, schmeißen mich am Ende 'raus, wenn nichts Schlimmeres. Na — hol's der Kuckuck — ich nehme dich mit. Keine Angst. Antalfy hat seinen Verstand am richtigen Fleck.
Die Straßen waren voll von Menschen. Ich fasste Antalfy unter, um ihn im großen Gedränge nicht zu verlieren. Wir blieben vor dem beleuchteten Schaufenster einer Zeitung stehen, eine dichtgedrängte Menge wartete auf die neuesten Nachrichten. Auf einem riesigen Blatt Papier standen mit faustgroßen Buchstaben die Namen der Mitglieder der neuen Regierung.
— Lauter Sozialdemokraten — sagte ich — , halb so schlimm.
— Du bist sehr naiv... — fing Antalfy an, kam aber nicht weiter.
— Hören Sie! Nehmen Sie sofort den Mist hier weg! Ein schlanker Fähnrich stand vor mir und zeigte mit
seiner behandschuhten Rechten auf den Sowjetstern an meiner Brust.
— Reißen Sie das sofort 'runter, ehe etwas passiert!
— Hören Sie, Kadettchen — sagte Antalfy mit tiefer, theatralischer Stimme — , wenn Sie noch keinen richtigen Fußtritt...
Wir standen mitten im Gedränge und plötzlich lenkten wir die Aufmerksamkeit auf uns. Die um Antalfy standen, nahmen seine Worte auf, die weiter entfernt waren — begannen, ohne zu wissen, um was es sich handelt, zu brüllen:
— Die Schweine haben den Wagen der Juden geschoben!
— Aus den Kirchen haben sie Kientöppe gemacht!
— Wir haben Kürbis gefressen, im Hotel Hungaria
haben die Saujuden Champagner gesoffen!
— Ihr habt ja Ärsche statt Köpfe — brüllte
Antalfy — elende Lakaien, das bisschen Freiheit war euch schon zuviel...
Auf Antalfys Gesicht klatschte eine Ohrfeige nieder. Ein Herr in weißer Hose und mit einem Monokel haute ihm eine herunter. Ich schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Im nächsten Augenblick zählte Antalfy brüllend:
— Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig... Die Handgranate erblickend, zog sich die Menge
plötzlich nach hinten zurück. Der Herr in der weißen Hose brüllte, mit der Faust herumfuchtelnd, den Kadetten an, in dem Tumult verstand ich nicht, was er sagte. Ich sah nur noch, dass der Kadett dem Herrn eine Ohrfeige verabreichte — wir waren auch schon weit entfernt von der wildtobenden Menge. Ein Arbeiter fasste mich und Antalfy beim Arm und zog uns mit sich fort.
— Jetzt aber verschwinden, Genossen!
Als ich mich umblickte, sah ich, dass hinter uns eine große Schlägerei entbrannt war.
— Verduften, Genossen!
Wir eilten, ohne ein Wort zu sagen, immer weiter fort. Der Arbeiter sprach zuerst.
— Nehmen Sie den Sowjetstern ab, Genosse. Es hat keinen Sinn, Straßenskandale zu provozieren.
Ich folgte seinem Rat.
— Das Schlimmste ist, dass wir keine Unterkunft haben — sagte Antalfy in unmissverständlichem Ton. — Wir sind heute von der Front gekommen, als wir hierher kamen, war es aus.
— Bei mir können die Genossen bleiben, sofern ich noch meine Wohnung habe. Ich wohne in einem requirierten Zimmer — wir können hingehen, wir werden sehen, ob es noch mein Zimmer ist.
— Solange die Sozialdemokraten an der Regierung sind, werden doch die Proleten nicht auf die Straße geworfen — meinte ich.
— Wer weiß — sagte der Arbeiter. — Auf alle Fälle wird es gut sein, wenn wir uns beeilen.
— Darf ich Ihren Namen wissen, Genosse? — fragte Antalfy, als wir draußen auf der Uellöerstraße gingen.
— Ich heiße Ladislaus Kuszak, Maschinenschlosser. Ich war Mitglied des Arbeiterrats der Fünfhundert.
— Ja, gewiss.
Es war schon dunkel, als wir bei Kuszak ankamen. Das Zimmer gehörte noch ihm. Es war ein geräumiges zweifenstriges Zimmer im zweiten Stock. Durchs Fenster sah man weit hinaus bis zur Kaserne, wo ich seinerzeit dem Kaiser gedient hatte. Kuszak öffnete ein Fenster und beugte sich hinaus.
— Jetzt ziehen die ersten rumänischen Truppen ein — sagte er leise.
Wir standen lange wortlos am Fenster. Antalfy seufzte tief, wie wenn er in einem großen Theater, vor vielen tausenden Zuschauern eine tieftraurige Tragödie spielte.
— Daran können wir vorläufig nichts ändern — sagte Kuszak, als er das Fenster schloss.
Vorläufig.
Er drehte das Licht an und ließ die Vorhänge herunter.
— Die Genossen sind gewiss hungrig?
— Nicht zu leugnen, wir sind wirklich hungrig.
— Ich koche Kaffee, und etwas Brot ist auch noch da.
Er steckte den Spirituskocher an und setzte einen kleinen Topf Wasser auf.
Es klopfte an der Türe.
— Man wird uns doch nicht hinauswerfen, bevor wir
gegessen haben — flüsterte Antalfy, der sich in den Kleidern aufs Bett legte, und sich eben damit beschäftigte, liegend die Stiefel auszuziehen.
.— Herein — rief Kuszak energisch.
Ein kleiner, wie ein Arbeiter aussehender Mann mit rotem Schnurrbart trat ins Zimmer.
— Ich hatte schon Angst, dass ich den Genossen Kuszak nicht mehr hier treffen würde.
— Wo sollte ich denn hin? fragte Kuszak achselzuckend. — Setzen Sie sich, Genosse Laufer.
— Man muss irgendwie verschwinden, das ist klar, denn hier — so aufgebracht wie die Leute sind — wird man Ihnen die Haut abschinden, das ist sicher. Ich habe aus meiner Meinung nie einen Hehl gemacht — was wahr ist, ist wahr, Sie verdienen auch, dass Sie geschunden werden.
— Wirklich? — Wir verdienen das? — fragte leise lächelnd Kuszak.
— Ja. Sie verdienen es. Ganz gewiss, denn Sie alle sind verrückt oder noch Schlimmeres. Die Führer — wenn die wenigstens hiergeblieben wären, hätten die armen Menschen immerhin die Freude, diese ganze Schweinebande mal nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Diese Schufte verdienen es wirklich, in Stücke gerissen zu werden. Aber gewiss, für sich hat die Bande Verstand genug. Stopfen sich die Taschen voll — noch ein Pfund Gold, noch eine handvoll Brillanten — und schon sind sie über alle Grenzen. Die werden für ihr Leben lang in Hülle und Fülle zu prassen haben, den Arbeitsmann mögen sie nicht mehr riechen, während wir hier bis zum Hals in dem Dreck stecken, den sie angerichtet haben. Möchten sie doch krepieren, wo immer sie ihren Unterschlupf suchen!
Kuszak war mit dem Kaffeekochen beschäftigt, er antwortete Laufer mit keinem Ton. Antalfy winkte mir zu. dass ich den Mund halten sollte, es interessierte ihn anscheinend, was Kuszak entgegnen würde. Aber Kuszak beeilte sich nicht sehr mit der Antwort.
— Na, der Kaffee ist fertig — sagte er einfach, wie wenn bisher von nichts anderem die Rede gewesen wäre. Ich habe nur drei Tassen, die Genossen können trinken, ich warte, bis eine Tasse frei wird.
— Ich danke, ich habe genug von dem Kaffee mit dem gelben Rohzucker, genug von der Grütze und dem Kürbisgemüse. Ich danke, ich verzichte gern.
— Schon gut, Genosse Laufer, gut, Sie müssen sich deshalb nicht so aufregen, ich wollte Sie wirklich nicht verletzen. Und — was das anbelangt — wir werden auch noch allein mit dem bisschen Kaffee fertig werden. Greifen Sie zu, Genossen!
Der Kaffee war unglaublich schlecht, aber wir schluckten ihn dennoch hinunter. Währenddessen blieben wir stumm, nur Laufer fing immer wieder von neuem an.
— Die Sterne vom Himmel hatten sie uns versprochen, und was haben sie gegeben? Badewasser, Theaterkarten und diese Papierfetzen — hier friss Prolet, kleide dich damit — da hast du's, stinkiger Prolet, gut genug für dich. Im Hotel Hungaria — im Sowjethaus, — in der Burg, da war's anders, Pfui, reden wir nicht darüber! Der arme Prolet duldete und duldete...
— Was wollen Sie eigentlich, Genosse Laufer? — fragte Kuszak, als wir zu Ende gegessen hatten.
— Kann ich hier sprechen? — er wies mit den Augen auf uns hin.
— Sie können ruhig reden, Genosse Laufer.
— Also, ja: So ist's. Die Fabrik wurde geschlossen, das
haben Sie ja gewiss gehört, Genosse Kuszak. Gestern früh gingen wir hinein — der Teufel dachte an etwas Schlimmes.
— Wir glaubten, wir arbeiten weiter und also — da
kam der gewesene Direktor. Grüß Sie Gott, grüß Sie Gott, Herr Direktor. Er lächelte nur und nickte mit dem Kopf nach allen Seiten hin. Und dann — Sie haben es ja gewiss auch schon gehört, Genosse Kuszak — rief er uns mittags zusammen und verhandelte, dass die Fabrik auf einen Monat geschlossen wird. Der stinkige Jude machte auch noch Witze — jetzt könnt ihr auch streiken — sagte er und grinste noch dazu. Mit einem Wort, wir wurden hinausgeworfen. Gestern alles unser — und heute kann ich mit einem Paket Geldfetzen in der Tasche glatt verhungern.
Er zog ein Paket Sowjetgeld aus seiner Tasche und warf es auf den Tisch.
— Vor einer Woche hätte ich noch Vaseline oder Rosenwasser dafür kaufen können, heute gibt man mir einen Dreck dafür... Also — ja — ich dachte, da ich doch eigentlich ein Opfer des Bolschewismus bin — Sie wissen doch, Genosse Kuszak, am Anfang, als ich noch glaubte, dass — mit einem Wort, damals hab' ich auch den Genossen geholfen, jetzt steh' ich hier mit diesen Lappen — ja. Verstehen Sie mich nicht falsch, Genosse Kuszak, ich verlange nicht, dass wir teilen, was wir haben, ich verlange nicht, was der andere besitzt, — das aber erwarte ich von Ihnen, ich erwarte es mit vollem Recht, dass Sie mich von diesem Bolschewistengeld befreien, dass Sie es mir gegen echtes Geld einlösen. Sie haben doch gewiss noch etwas echtes, blaues Geld, Genosse Kuszak — vielleicht mehr, als Sie unbedingt benötigen — also mit einem Wort, ich will Sie nur darum bitten, dass Sie mir diese Papiere gegen blaues Geld einlösen. Das Ganze ist nicht mehr als zweitausend Kronen, aber ich will nur — Sie kennen mich ja, Genosse Kuszak, fünf Jahre haben wir in der Fabrik nebeneinander gearbeitet — mit einem Wort...
Anfangs staunte Kuszak über Laufers Gerede, dann lächelte er, schließlich lachte er laut auf.
— Also gut, Genosse Laufer, Sie sind auch ein Opfer des Bolschewismus, ich teile mein ganzes blaues Geld mit Ihnen. Nein, ich teile es nicht einmal, ich gebe Ihnen alles, was ich habe. Sie verdienen es, Sie verdienen es wirklich.
Er öffnete seine Geldtasche und zog einen vierfach zusammengefalteten Zehnkronenschein heraus.
— Hier, bitte!
Gut... Sie halten mich zum Narren, Genosse Kuszak? Gut. Es ist schon gut so. Ehrlich gesagt, ich hatte das von Ihnen erwartet. Ich kam auch nur meiner Frau zuliebe hierher, denn die Frau — langes Haar, kurzer Verstand, das alte Sprichwort — sie hat ihren Glauben an die Bolschewiken noch nicht ganz verloren. Na, ich lobe mir Ihren Verstand. Es ist schon richtig so, Genosse Kuszak, sehr richtig... Wenn's so ist... Na gut — wenn das Ihr letztes Wort ist, dann...
Unter dem Fenster marschierten Soldaten mit harten Schritten, Kuszak zog den Vorhang hoch und sah hinaus, er hörte nicht, was Laufer stammelte. Hinter Kuszak stehend, sah ich auch auf die Straße hinaus, ich erschauerte.
— Rumänen!
Wie von Ferne hörte ich Antalfys krächzende Stimme:
— Hören Sie, Genosse Laufer, es wird besser sein, wenn Sie sich entfernen. Nicht, dass ich Sie vor die Tür setzen wollte, wie wenn wir Sie hier nicht gern sähen, aber wissen Sie, wir können jeden Augenblick von Kriminalbeamten überrascht werden.
— Ich habe keine Angst vor Kriminalbeamten. Ich habe gar keinen Grund...
— Gut so, sehr gut. Ich sage es auch nicht, um Ihnen
Schrecken einzujagen, ich hielt es nur für meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, aber wenn Sie keine Angst haben, um so besser. Ich habe mutige Menschen immer hochgeschätzt.
Als ich mich wieder zurückwandte, befanden wir uns nur noch zu dritt im Zimmer. Das Papiergeld des Genossen Kuszak war auch vom Tisch verschwunden.
— Die Nacht können wir vielleicht noch hier verbringen, morgen müssen wir uns nach einem sichereren Platz umsehen — sagte Kuszak.
— Am besten wäre, über die Grenze zu gehen — meinte Antalfy.
Kuszak zuckte mit den Achseln.
— Aber nicht alle — sagte er leise. — Für die Arbeit hier im Lande müssen auch einige zurückbleiben. Und wenn die Genossen gute Bolschewiken sind...
— Das sind wir mit Leib und Seele — sagte Antalfy etwas pathetisch. — Wenn wir doch endlich diese Kleidung loswerden könnten.
— Ich habe noch einen Anzug hier — sagte Kuszak — , den kann ich dir geben.
— Das genügt vorläufig — griff Antalfy sofort das Wort auf. — Wenn ich einmal wieder Zivilist bin, verschaffe ich mir spielend einen anderen.
Dabei blieb es. Aus einer Truhe kam Kuszaks Sonntagsanzug hervor. Er war ein wenig abgetragen und auch etwas zu eng für Antalfy, und besonders war die Hose zu kurz. — Aber um so besser wird der andere sein, den ich besorgen werde — tröstete sich der alte Komödiant.
Am Abend wurde wenig gesprochen. Wir waren alle drei hundemüde. Kuszak machte uns das Lager zurecht.
Antalfy legte sich aufs Bett, Kuszak auf den Diwan, ich wurde auf den Boden gebettet — ein dicker Mantel und eine Decke dienten als Lagerstätte. Kaum hatten wir aber das Licht ausgemacht, klopfte es an der Tür.
— Wer ist da?
— Öffne schnell! Ich bin's — Anna!
Kuszak öffnete die Tür. Eine junge blonde Studentin kam herein. Anscheinend war sie ein schönes Mädchen, aber jetzt war ihr Gesicht ganz grün vor Blässe und bebte derart, dass es einem wehtat, sie anzusehen. Sie sprach kein Wort, als sie die Tür hinter sich zumachte, mit aufgerissenen Augen sah sie bald mich, bald Antalfy an. In der Hand hielt sie eine zerknitterte Zeitung.
— Was ist los. Anna? Setz dich! Ist dir übel?
— Du weißt noch nicht, was geschehen ist? Kuszak stand einen Augenblick stumm da, sah uns
hilflos an.
— Vielleicht...
— Das Mädchen winkte verneinend mit der Hand, in der sie die Zeitung hielt.
— Sie haben Otto festgenommen. Sie haben ihn auf der Straße überfallen.
— Unfassbar!
Das Mädchen setzte sich zum Tisch, stützte die Ellbogen auf, legte ihren Kopf zwischen die Hände und sah vor sich hin. Sie merkte nicht einmal, dass das Licht gerade auf ihre Augen fiel. Sie blinzelte nervös, dann schloss sie die Augen.
— Heute Nachmittag erwischten sie ihn auf der Straße.
— Die Sozialdemokraten haben doch noch...
— Ah... Du hast dich geirrt, wie ich und Otto auch. Alle haben wir uns geirrt. Sie sind noch viel niederträchtiger, als wir für möglich hielten.
— Wer ist Otto? — fragte Antalfy.
— Korvin.
Otto Korvin war festgenommen. Jetzt sah ich die Situation klar. Die Sozialdemokraten sind an der Regierung und fangen die Kommunisten auf den Straßen ab. Plötzlich überfiel auch mich ein Zittern. Wer mich jetzt gesehen hätte, würde kaum glauben, dass ich vor zwei Tagen im dichten Kugelregen meinen Mann gestanden hatte.
Einige Augenblicke lang herrschte Stille im Zimmer. Kuszak strich sich einige Mal mit der Hand über die Stirn, wie wenn er einen bösen Traum vertreiben wollte.
— Gehn wir auf die Straße hinunter — sagte Kuszak
mit heiserer Stimme zu dem Mädchen.
— Es geht nicht. In dieser Gegend streifen rumänische Patrouillen umher, fast wäre ich ihnen auch in die Hände gefallen.
— Wenn wir stören, Genossen, können wir fortgehen — sagte ich.
— Keine Rede! Schlafen Sie nur ruhig, Genossen, wir können nichts Besseres tun.
— Ist jetzt jede Verbindung abgebrochen? fragte Kuszak das Mädchen.
— Vorläufig ja.
Eine gute Weile wurde es wieder still im Zimmer.
— Leg' dich hin, Anna, hier auf den Diwan. Ich kann hier im Stuhl schlafen.
— Ich kann heute nicht schlafen — sagte das Mädchen.
— Du musst heute schlafen, du kannst morgen nicht mehr auf den Beinen stehen, wenn du dich nicht endlich diese Nacht einmal ausruhst.
— Legen Sie sich zu mir ins Bett — Genosse Kuszak — sagte Antalfy. — In der Nacht nach der Gegenrevolution der Sozialrevolutionäre schlief ich mit Szamuely in einem Bett — in Moskau, im Kreml.
Kuszak drehte das Licht aus, und wie wenn das Zittern vom Licht gekommen wäre, überwand ich plötzlich das Angstgefühl. Ich hatte ein Gefühl, wie wenn ich an der Front wäre, ich weiß nicht, wieso, ich hatte das Gefühl, wir ständen am Vorabend einer großen Offensive — morgen, morgen schlagen wir den Feind — morgen... Ich war im Halbschlaf, als das Mädchen wieder sprach:
— Glaubst du, dass Szamuely Selbstmord begangen hat?
— Nein, das glaube ich nicht. Die Halunken haben ihn bestimmt ermordet.
— Ich glaube nicht einmal, dass er ermordet worden ist. Ich glaube, er lebt. Du wirst's schon erfahren, dass er lebt, er lebt bestimmt. Die Partei braucht ihn noch. Glaube mir...
Das Gespräch kam vom anderen Ende des Schützengrabens. Um mich schnarchten laut die schlafenden roten Soldaten. Plötzlich schrie ich auf. Der Feind blies todbringendes Gas auf den schlafenden Schützengraben. Alle erstickten.
Als ich in der Früh erwachte, war das Mädchen schon fort. Kuszak und Antalfy saßen am Tisch und tranken Kaffee. Ich wusch mich rasch und trank schnell eine Tasse mit.
— Ich gehe fort, Genossen, und ich komme nicht mehr zurück. Ich empfehle auch Ihnen nicht, sich lange hier aufzuhalten. Leider stehen die Dinge so, dass ich Ihnen nicht weiter behilflich sein kann.
— Du wartest hier, bis ich zurückkomme — wandte sich Antalfy zu mir. Ich werde mich möglichst beeilen und dir einen Anzug bringen, und — was wir später machen, wird sich schon finden. Also, du wartest hier
auf mich. — Wenn die Genossen irgend etwas von den Sachen,
die ich zurücklasse, brauchen können, nehmen Sie es
ruhig. Kuszak drückte mir zum Abschied fest die Hand.
— Machen Sie's gut, Genosse. Auf Wiedersehen!
— Auf Wiedersehen!
— Warte nur ruhig hier, ich komme bestimmt zurück — verabschiedete sich Antalfy.
Ich blieb allein. Auf der Straße spielte Militärmusik. Rumänische Truppen marschierten nach der inneren Stadt. Ich ging vom Fenster weg. Ließ den Vorhang herunter: ich wollte nichts sehen und nichts hören. Ich hatte keine Ruhe, ich wusste nicht, wie spät es war, für mich zog sich der Vormittag unendlich lange hin. Ich ging im Zimmer auf und ab. Ich stolperte über einen Stuhl, steckte das Licht an und spazierte wieder im Zimmer herum. Wie in einem Gefängnis — fünf Schritte nach vorn, fünf Schritte nach hinten. Auf dem Tisch lag ein halbes Schwarzbrot. Mehr aus Langeweile als aus Hunger begann ich zu essen. Fünf Schritte vorwärts, fünf Schritte nach rückwärts. Ich merkte es gar nicht, und schon hatte ich das schwere lehmfarbene Brot heruntergewürgt.
— Ist Herr Kuszak zu Hause?
Eine kleine dicke Frau trat ohne zu klopfen ins Zimmer.
— Er kommt sofort zurück — sagte ich, ohne mir Rechenschaft zu geben, weshalb ich log.
— Sie wohnen auch hier? — fragte die dicke Frau, die, an der Tür stehend, bald, vor Staunen mit dem Kopf wackelnd, auf das durcheinander gewühlte Bettzeug blickte, bald mich selbst voll Mißtrauen betrachtete.
— Nein. Ich bin nur als Gast hier, Kuszak ist mein Vetter — antwortete ich.
— Wissen Sie nicht, wo er hingegangen ist?
— Das weiß ich nicht, aber er sagte, er komme bald zurück.
— Wenn er nach Hause kommt, schicken Sie ihn zu mir herunter, sagen Sie ihm, die Hausmeisterin will ihn sprechen.
— Ich schicke ihn hinunter.
— Sagen Sie es ihm sofort, wenn er nach Hause kommt, er muss noch heute hier ausziehen. Morgen kommen die Herrschaften Kerdesz, und ich muss die Wohnung bis dahin in Ordnung bringen. Alles ist hier so verdreckt, wie wenn Schweine und keine Menschen da gehaust hätten. Die Gnädige würde in Ohnmacht fallen, wenn sie ihre Wohnung in einem solchen Zustand sähe.
— Ich schicke bestimmt meinen Vetter herunter. Ich wusste nicht, war es noch Vormittag oder war es
schon Nachmittag. In einer Ecke lagen meterhoch Bücher und Broschüren, aber erst spät fiel mir ein, dass ich die Bücher ansehen könnte. Ich nahm eine Broschüre zur Hand. Ich erinnere mich sofort, dass ich, als ich noch in Molodetschno als Soldat diente, solche Broschüren aus Russland bekam, um sie weiter nach Ungarn zu befördern. Ich schlug die erste Seite auf, legte die Broschüre aber bald wieder in die Ecke. Ich wollte lesen, aber es ging nicht. Mein Kopf konnte nichts aufnehmen. Vergebens versuchte ich ihn zu zwingen, er wollte nicht arbeiten.
Ich warte nicht länger auf Antalfy — beschloss ich plötzlich. Ich warte nicht länger. Er hat mich sitzen lassen. Er denkt gar nicht daran, mich hier abzuholen. Wie konnte ich nur so dumm sein und sein Versprechen ernst nehmen. Nein, ich warte nicht länger, es ist vergebens. Was kann mir denn passieren? Höchstens sperrt
man mich für ein paar Wochen ein. Es ist ja nicht das
erste Mal. Ich werde schon wieder herauskommen. Ich
koche mir noch eine Tasse Kaffee und dann haue ich ab.
Ich machte den Spirituskocher zurecht, stellte einen kleinen Emailletopf, halbvoll mit Wasser auf die Flamme und setzte mich an den Tisch.
— Was ist los? Schläfst du im Sitzen?
Antalfy stand vor mir. Der Spirituskocher flackerte lustig, ich hatte nur ein paar Minuten lang geschlafen.
— Rasch, rasch. Zieh dich um, wir müssen gehen. Ich
habe mich verspätet. Es wird bald dunkel. Ich konnte nicht früher kommen. Es war nicht leicht, den Anzug zu beschaffen; hol der Teufel diese Halunken. Na, also, rasch, rasch. Antalfy öffnete ein auf dem Tisch liegendes, in Zeitungspapier eingewickeltes Packet; mit einer Handbewegung, wie ein Schauspieler, der sich für den Beifall des Publikums bedankt, nahm er die einzelnen Stücke meiner neuen Kleidung auf und legte sie tänzelnd und sich immerfort verbeugend auf den Tisch: eine karierte Hose, ein dunkelblauer Rock, ein paar Lackschuhe mit schiefgetretenen Absätzen und ein breitrandiger Strohhut. In den Rock war ein Hemd, Kragen und Krawatte eingewickelt.
— Na, siehst du!
Während ich die Militärkleider abwarf, betrachtete er nochmals liebevoll meine neue Ausrüstung.
— Alles ist da, alles, was ein Schauspieler, der etwas auf sich hält, benötigt. Kein Stückchen fehlt. Nur schade, dass du nicht rasiert bist, aber morgen besorgen wir auch das.
Als ich die karrierte Hose in die Hand nahm, schreckte ich etwas zurück. In einer solchen Maskerade sollte ich über die Straße gehen.
— Bist du am Ende noch unzufrieden mit deiner Toilette? — fragte Antalfy vorwurfsvoll. — Schließlich hättest du auch schon merken können, dass ich mich selbst auch ordentlich herausstaffiert habe.
Tatsächlich bemerkte ich erst jetzt, dass Antalfy ganz verändert aussah. Er hatte hellgelbe Halbschuhe an, einen braunen Sommeranzug und eine hellblaue Seidenkrawatte. Er war frisch rasiert, in seiner behandschuhten linken Hand hielt er einen vergilbten Strohhut.
Ich schlüpfte schnell in die Hose. Kragen und Krawatte rückte mir Antalfy zurecht. Der Rock war viel zu eng, aber ich presste mich irgendwie doch hinein. Die Schuhe aber waren eine Katastrophe. Für einen Konfirmanden hätten sie gerade ausgereicht.
— Hol der Teufel den lausigen Schmierfritzen — fluchte Antalfy — hat er mir nicht Säuglingsschuhe aufgehängt, der Schweinehund ?!
Na, hab keine Angst, dem Kerl spuck ich schon ins Maul. Na ja — s'ist schon gut. Zieh nur deine alten Kähne an.
Ein Spiegel war nicht im Zimmer, aber ich wusste auch ohnedies, dass ich höchst lächerlich aussah. Antalfy gefiel ich aber sehr gut in diesem Aufzug.
— Fabelhaft! — schrie er auf. — Ich glaube, du hast Talent zum Schauspieler. Gewiß, die Schuhe. Na, das schieben wir schon. Dem Schuft aber spucke ich bestimmt ins Maul.
Ich nahm nur mein Geld aus den Taschen heraus und zerriss meine Schriften in kleine Fetzen, sonst ließen wir alles im Zimmer zurück. Wir machten die Tür schön langsam zu, und schon waren wir unten auf der Straße.
— Aber jetzt heißt es laufen!
Ich hatte Angst, alle Leute würden mich anstarren, aber anscheinend hatten die Leute andere Sorgen, sie schenkten mir keine besondere Aufmerksamkeit. Es gab interessantere Dinge zu sehen.
Zivilisten waren wenig auf der Straße, aber um so häufiger sah man rumänische Patrouillen: vier rumänische Soldaten unter Führung eines rumänischen Unteroffiziers. Als die erste Patrouille an uns vorbeiging, klopfte mein Herz laut — bei der dritten und vierten war es mir schon gleich. Uns beide ließen sie in Ruhe. Auf dem Ring eskortierten rumänische Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten etwa zweihundert entwaffnete rote Soldaten, sie gingen in der Richtung, aus der wir kamen. Den Zug führte ein Honvedhusaren-Oberleutnant — ein junger blonder Bursche.
— Ja richtig — sagte Antalfy flüsternd — du heißt Emil Balint. Merke es dir gut: du bist Emil Balint, Schauspieler für Nebenrollen am Kaschauer Theater. Verstehst du? Deine Legitimation hab' ich bei mir, ich gebe sie dir an einer ruhigeren Stelle. Fabelhafte, beinahe echte Papiere.
— Wo beim Teufel hast du die hergeholt?
— Keine Angst, hier ist Verstand genug, mehr als bei zehn Zentnern Bischöfen. Ja, hier hab' ich dir auch Handschuhe gebracht, ich habe vergessen, sie dir dort oben zu geben, aber du kannst sie ruhig hier unterwegs anziehen.
Die grauen Zwirnhandschuhe platzten, als ich zwei Finger hineinstreifen wollte.
— Na, das macht nichts. Nur rasch weiter.
In der inneren Stadt sah ich schon mehr Menschen und auch weniger Patrouillen. Es war, wie wenn keiner was zu tun hätte, alles spazierte, die Leute sahen sich die Straßen an, wie wenn sie im Kino säßen — alle erwarteten etwas Interessantes, irgendeine Sensation. Ich selbst hätte all das nicht einmal bemerkt, wenn mich Antalfy nicht darauf aufmerksam gemacht hätte. Vor den Auslagefenstern der Zeitungsredaktionen standen auch jetzt große Menschenmengen.
— Warte hier auf mich. Ich gehe für einen Augenblick in das Kaffeehaus hier hinein, aber rühr' dich nicht von diesem Platz, ehe ich komme, wenn wir uns hier verlieren, finden wir uns nicht so leicht wieder.
Ich blieb allein auf der Straße. Ich blieb an einer Stelle stehen, wie wenn ich als Wachtposten stände. Es war nicht so einfach, denn die Leute drängten sich um mich herum, als ob sie einander zertreten wollten. Jeder wollte mit eigenen Augen die mit faustgroßen Buchstaben beschriebenen riesigen Papierbogen lesen, auf denen die Zeitungen die neuesten Telegramme zur Kenntnis der Öffentlichkeit brachten: Auf die Nachricht vom Zusammenbruch der ungarischen Räterepublik hat die russische Sowjetregierung abgedankt. Lenin ist nach Schweden geflüchtet.
Ich zerbrach mir nicht lange den Kopf über die Sache, ich wusste gleich, dass die Abdankung der russischen Räterepublik in irgendeinem Budapester Kaffeehaus ausgeheckt worden war. Aber, welches Fressen für dieses Pack! Schlank geschnürte Offiziere, Frauen mit bemalten Gesichtern, geiles Gelächter. Auf dem Fahrweg trieben drei berittene rumänische Soldaten vier zusammengekettete Arbeiter vor sich her. Dem einen floss Blut aus dem Mund, der andere hinkte mit dem linken Fuß, die zwei anderen Kameraden stützten ihn.
— Na, was gibt's, Genossen? — rief ihnen von der Kaffeehausterrasse ein Fähnrich zu — was gibt's? Alles gehört euch, was?
— Alkoholverbot? — brüllte mit heiserer Stimme ein Riesenkerl in Oberleutnantsuniform.
Alles lachte. Plötzlich erfasste mich eine solche Wut, dass ich bestimmt einen Unsinn begangen hätte, wenn mich nicht im selben Augenblick Antalfy beim Arm gefasst hätte.
— Alles in Ordnung, Herr Kollege, morgen fahren wir ab.
— Wohin fahren wir? — fragte ich erstaunt.
— Na, wohin fahren wir? Dahin, wo wir uns laut Vertrag verpflichtet haben. Nach Salgotarjan, dann weiter nach dem Norden, nach Kaschau, vielleicht nach Pressburg
— das wird sich noch zeigen. Die Hauptsache ist,
dass wir morgen fahren. Ich bin als Heldenvater engagiert, — nichts zu machen, ich bin schon zu alt für Liebesszenen — du bist vorläufig fürs Nebenfach bestimmt.
— Werd' ich auch spielen?
— Selbstverständlich. Aber vorläufig nur in Nebenrollen, und wenn wir Operette spielen, musst du im Chor mitsingen.
— Aber...
— Gut, gut. Ich weiß alles. Der Direktor ist ein guter alter Freund von mir, noch von Friedenszeiten her. Mit einem Wort — aber jetzt die Beine in die Hand genommen — oder, wart einen Augenblick...
Er rief eine Droschke heran. Der Kutscher war geneigt — bei fetter Berechnung — Sowjetgeld anzunehmen, und so fuhren wir mit der Pferdedroschke bis zur Ecke der Uellöerstraße. Dort zahlte Antalfy dem Kutscher die ausgemachte Taxe, und nun ging's wieder zu Fuß durch die Uellöerstraße.
Wir gehen nicht weit — sagte Antalfy. — Hier um die zweite Ecke herum wohnt mein Schwager, der alte Schweinehund. Er hat eine Kneipe hier, der gemeine Giftmischer. Wir wollen heut bei ihm übernachten. Deine Arbeit besteht darin, dass du schweigst, was immer ich auch erzähle. Kümmere dich diesmal nicht um die Wahrheit!
Die kleine Gastwirtschaft an der Ecke war geschlossen. Durch den Hof gingen wir in die Wohnung. Wir trafen nur die Frau an, Antalfys Schwester. Frau Schuhmacher sah dem Bruder ähnlich, wie eine Granathülse der anderen. Sie hatte auch so eine Hopfenstangenstatur wie mein Freund, und ihre Augen waren ebenfalls so blau wie die eines Säuglings. Nur die Nase der Frau war etwas kleiner als die Antalfys und auch ihr Gesicht sah etwas blasser aus. Antalfys blondes Haar war schon etwas grau, das Haar der Frau war fahl, aber noch keine Spur von weiß.
Antalfy umarmte und küsste seine Schwester.
— Morgen fahre ich — begann er gleich.
— Um Gottes Willen, wo fährst du denn hin? Ich dachte, du bist...
— Mein Sekretär — stellte mich Antalfy ganz plötzlich vor. — Ich habe nämlich eine Schauspielertruppe organisiert, und morgen beginnen wir eine Tournee in der Provinz. Ich komme eigentlich, um mich von dir zu verabschieden. Ich halte es für meine Pflicht, mich von meinen Lieben zu verabschieden. Ist Hermann zu Hause?
— Er ist nicht da, aber er kommt bald.
— Das ist schlimm — sagte Antalfy, wobei man nicht recht wusste, ob das schlimm war, dass der Wirt nicht da war, oder dass er bald wiederkommen sollte.
Die Frau stellte Paprikaspeck, Zwiebel und Brot vor uns auf den Tisch, auf Antalfys Verlangen kam auch eine Flasche Wein heraus. Wir griffen tüchtig zu.
— Ich dachte, du bist... fing die Frau schon zum dritten Mal an, aber Antalfy fiel ihr jedes Mal ins Wort. Anscheinend war er nicht neugierig auf das, was seine Schwester sich dachte. Trotz des vollen Mundes erzählte er mit wie rasend rollender Zunge von seinen künstlerischen Plänen, von den glänzenden materiellen Aussichten der Tournee in der Provinz, von den hervorragenden jungen Schauspielern der Truppe, so dass schließlich die Frau ihre vergeblichen Versuche aufgab und sich damit abfand, dass Antalfy niemals erfahren werde, was sie ich eigentlich gedacht hatte. Sie sah, die Hände im Schoß, zu, wie wir aßen und lauschte mit Ergebung den Worten ihres Bruders.
— Ich habe die Sache so gedreht, dass meine Truppe
in jeder Hinsicht so vollkommen ist, dass nicht nur irgendeine dreckige Provinzstadt, sondern selbst Budapest sich nach einer solchen Truppe die Finger lecken könnte. Das sage ich dir, du kannst mir's glauben. Gut war der Weißwein, obzwar ich glaube — der Wirt hat ihn ein wenig getauft.
Eben war die Flasche leer geworden, als der Wirt kam. Antalfy sprang mit weitgeöffneten Armen vor ihn hin, aber Schuhmacher zeigte nicht viel Lust zu einer Umarmung.
— Na, was ist los, alter Gauner, haben sie dich noch nicht gehängt? — fragte er und trat einen Schritt zurück.
— Aber Hermann! — sagte Antalfy vorwurfsvoll. Hermann sah auf die Speisereste, dann auf die Frau,
auf mich, dann wieder auf Antalfy, der noch immer mit weitgeöffneten Armen vor ihm stand. Hermann war um einen guten Kopf kleiner als Antalfy. Ein kräftiger, breitschultriger Mann mit großen Händen und Füßen. Seine grünlichen, stechenden kleinen Augen bewegten sich unaufhörlich.
— Ich wollte mich eigentlich von euch verabschieden — fing Antalfy wieder an.
— Verabschieden? — hakte der Wirt ein. — Gut, Adieu. Geh' in Gottes Namen. Ich rühr' dich nicht an, ich will meine Hand nicht beschmutzen, aber ich mache dich darauf aufmerksam, wenn du noch einmal deinen Fuß in mein Haus zu setzen wagst, schlage ich dir die Rippen kaputt, darauf kannst du Gift nehmen.
— Aber Hermann, um Gottes Willen, es ist doch dein Schwager! — schrie die Frau laut auf.
— Mein Schwager? Ich danke schön. Als er am Wagen der Juden geschoben hat, als er durch das ganze Land geraubt, gemordet und geplündert hat, — vier Monate lang war das die einzige Beschäftigung deines teueren Bruders, — ja, als es ihm so gut ging, da kannte er uns nicht, jetzt, wo er den Strick um den Hals spürt, drängt er sich hier ein. Ich danke. Danke schön, ich brauche keine solche Schwagerschaft. Ich bin ein anständiger christlicher Magyar, ich dulde diesen Halunken keinen Augenblick länger in meinem Hause. Ich sage dir, verschwinde von hier, ehe ich auf andere Gedanken komme!
Antalfy stand mit ineinander geschlungenen Armen da und zeigte gar keine Lust zu gehen.
— Die Sonne geht unter — sagte er pathetisch — bald umhüllt die Nacht mit ihrem schwarzen Mantel die vielgeprüfte Stadt. Auf der Straße machen die Rumänen Jagd auf Menschen. Willst du, hilfst du dazu, dass rumänische Bajonette mein Herz durchbohren? Willst du das auf dein Gewissen, auf deine Seele nehmen?
— Ich will gar nichts, nur eins, dass du sofort von hier verschwindest, und dass du nie in diesem Leben die Schwelle meines Hauses wieder überschreitest.
Die Frau weinte und schluchzte. Antalfy wandte sich ihr zu und sagte:
— Weine nicht, liebe Schwester! Demütige dich nicht vor einem solchen Menschen. Ist das ein Magyar? Ha— ha! Ist das die vielgerühmte magyarische Gastfreundschaft? ! Ist das die vielgerühmte ungarische Ritterlichkeit: den Besiegten, den Verfolgten, den Todesbereiten... auf die Straße zu werfen.
— Hol der Teufel deine Schnauze, du alter Schmierenkomödiant — sagte der Wirt schon etwas sanfter.
Antalfy konnte die Szene nicht zu Ende spielen. Es kamen Gäste. In einem von den zweien erkannte ich — nicht gerade zu meiner Freude — Laufer, den gestrigen Gast beim Genossen Kuszak. Wahrscheinlich hatte er uns auch erkannt, er machte große Augen, aber er sagte nichts davon, dass er uns schon einmal gesehen hatte. Er lächelte freundlich, als 6ich Antalfy ihm vorstellte.
— Mein Name ist Antalfy, Direktor der oberungarischen Theatertruppe. Mein Sekretär — zeigte er auf mich.
— Wir kommen zu Ihnen, Herr Schuhmacher, im Namen der Nationalen Christlichen Arbeiterpartei, — fing Laufer an. Wir sind sicher, dass Ihr gutes magyarisches Herz ebenso schlägt wie das gemarterte, gedemütigte Herz der Nation — wir sind dessen sicher...
— Bring zwei Flaschen Rotwein und etwas zum Beißen
ins Speisezimmer, Frau, und für die hier mach die Betten in der hinteren Stube zurecht. Morgen fährt mein Schwager auf eine Propaganda-Tournee in das besetzte Gebiet — erklärte Schuhmacher den Gästen die Situation.
Die Frau machte uns ein Lager auf dem Fußboden, aber sie gab uns soviel Bettzeug, dass es für zehn Betten genügt hätte.
Auf den Tisch stellte sie eine Flasche Wein.
— In der Früh musst du fort, Miklos — sagte sie weinend zu Antalfy.
— Was du glaubst, und wenn ihr mich mit Tokajerwein tränktet, würde ich keine Minute länger mit einem solchen Menschen unter einem Dach bleiben!
— Na, Junge, ich verstehe doch die Sache? — fragte Antalfy, als wir allein waren. — Kleider habe ich besorgt, Abendessen, Nachtquartier. Also alles. Und am Morgen fahren wir ab.
— Ich habe solche Situationen schon in Russland erlebt — sagte er während des Auskleidens. — Jetzt kommen erst die Menschewiken, — aber die halten sich nur ein paar Tage, dann geht die Macht in die Hände der Offiziere über. Die scherzen nicht, die wissen, was Diktatur heißt — dass sie die Erde verschlinge! Oh, fürchterliche Zeiten kommen jetzt über die Proleten! Es ist schrecklich zu denken, wie viel Blut das kosten wird, bis... Dass sie verdorren möchten, in ein paar Monaten zahlen wir es ihnen zurück. Nicht drei Monate, Junge, und die Macht gehört wieder uns. Aber dann... Vorläufig aber müssen wir retten, was sich retten lässt. Wir fahren morgen früh.
Am nächsten Morgen schlug der Blitz ein. Gleich zweimal nacheinander.
— Die Regierung hat abgedankt! Gott sei Dank, dass die Halunken hinter Schloss und Riegel sind! — weckte uns unser lieber Wirt. — Nun verdufte aber wirklich, denn auch meine Geduld hat Grenzen!
Wir ließen uns nicht lange bitten, wir kleideten uns an und gingen los.
— Ich wusste, dass es so kommen würde — sagte Antalfy, als wir auf der Straße waren. — Es kommt immer so. Sie reden den Proleten den Kopf voll, wir brauchen keinen Terror, wir brauchen keine Diktatur, und wenn der Prolet sich damit einverstanden erklärt, dass man auch ohne roten Terror auskommen kann, ist schon der weiße Terror da. Ich hab' das in Serbien reichlich erlebt. Ich hab's satt. Ich fahre noch heute fort.
Die Theatertruppe sollte in einem Kaffeehaus zusammenkommen. Dort erfuhren wir, dass die Rumänen den Bahnverkehr für ein paar Tage eingestellt hatten. Die Reise fiel — wenigstens vorläufig — ins Wasser. Der Theaterdirektor — ein alter Freund von Antalfy — wusste, wo uns der Schuh drückte.
— Macht nichts — sagte er — wegen ein paar Tagen Verspätung geht die Welt nicht unter. Budapest ist eine Kulturstadt, hier kann niemandem etwas passieren und — wie gesagt — mit dem ersten Zug fahren wir los.
Ü brigens, wer zum Teufel schert sich um dich? Du hast wirklich nichts Besonderes getan. Im Grunde genommen bist du kein Bolschewik, du bist nur ein Opfer der Bolschewiken. Man hat dich durch Terror gezwungen in die Armee einzutreten, du warst machtlos demgegenüber.
Du hattest Angst, und deshalb hast du dich dem Terror gefügt. Du hast recht gehabt. Du hast dich im Interesse des Vaterlandes gerettet. Das ist alles. Und übrigens fahren wir innerhalb einiger Tage bestimmt ab.
Als wir über den Ring gingen, trafen wir dreimal gefangene Arbeiter in Begleitung von Polizisten. Rumänische berittene Soldaten trieben rote Soldaten vor sich
her.
— Die Straße ist nicht sehr sicher — meinte Antalfy.
— Wenn wir uns in eine kleine Kaffeestube setzen, ist
die Wahrscheinlichkeit viel kleiner, dass wir über einen Bekannten stolpern.
— Geben Sie Kaffee für Sowjetgeld? — fragten wir die Kellnerin, ein kleines verwachsenes, rothaariges Judenmädchen.
— Fünf zu eins berechnet, geben wir schwarzen Kaffee mit gelbem Rohzucker — sagte die kleine Bucklige mit singender Stimme.
— Das hatte ich mir längst gewünscht! — sagte Antalfy! — Also bringen Sie zwei Tassen, liebes Fräulein!
— Jawohl.
Ich saß mit dem Rücken zur Tür. — Antalfy betrachtete die Passanten — und so merkte ich nicht, dass sich mir jemand näherte; mir fiel fast die Kaffeetasse aus der Hand, als ich einen Druck auf meiner Schulter spürte.
— Bleib ruhig sitzen, Bruder.
In Feldwebeluniform, mit zwei Auszeichnungen auf der Brust, setzte sich Daniel Pojtek an unseren Tisch.
— Ich erkannte dich an deiner Stimme. Es ist besser, wenn du leiser sprichst, obzwar ich dir diesmal nicht böse bin, dass du so laut warst.
— Noch einen Kaffee, Fräulein, für Herrn Feldwebel — sagte Antalfy zu der Buckligen.
Wir saßen lange in der Kaffeestube. Wir glaubten, hier ganz in Sicherheit zu sein. Pojtek fragte mich bis aufs Kleinste aus, was seit unserer Trennung vorgefallen war. Er hörte zu, ohne ein Wort zu sagen, er nickte bloß mit dem Kopf.
— Wir brauchen jetzt nur noch eine Schlafgelegenheit für ein paar Tage, dann fahren wir ab — fügte Antalfy hinzu.
— Seit drei Tagen wohne ich in einem Strauch in Hüvosvölgy. Ein feiner Platz, ich kann ihn euch empfehlen.
— Gut, wir machen mit.
Eine tüchtige Tour, vom Zentrum der Stadt bis nach Hüvosvölgy — nachdem wir eine Stunde gelaufen waren, hätten wir gern den Weg mit der Straßenbahn fortgesetzt, aber weder Antalfy noch Pojtek waren geneigt, sich in eine Bahn zu begeben.
— Wenn ich auf der Straße einen Bekannten treffe — bis der etwas Schlimmes ausheckt, bin ich schon längst über alle Berge. In der Straßenbahn ist die Sache nicht so einfach.
Als wir die Stadt hinter uns hatten, erzählte Pojtek in ruhigem Ton alles, was vorgefallen war, bis ins Kleinste. Die Führer der Gewerkschaften hatten unter sich besondere Beratungen abgehalten, wie man die Räteregierung stürzen könne — die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder unterstützten sie dabei. Die Kommunisten wussten, dass sie die Schwächeren waren, sie wollten aber den Zusammenstoß um jeden Preis hinausschieben, sie wollten die Macht unbedingt solange in ihren Händen behalten, bis wir die gegen Sowjetrussland bestimmten Ententetruppen auf uns abgelenkt hatten.
— So bewusst wurde die Sache betrieben?
— Ein paar Genossen wussten, um was es ging. Die
Mehrzahl der Genossen fasste die Sache nicht so auf und jetzt, nachdem wir niedergeschlagen sind, glauben sie, dass... mit einem Wort, sie sehen nicht, sie verstehen nicht, worin die Bedeutung unserer Revolution lag. Ehrlich gesagt, ich selbst verstand die Sache auch erst, als ich Gelegenheit hatte, mit Szamuely zu sprechen. Was zum Teufel macht ihr denn? — fragte ich ihn. — Wie lange wollte ihr noch dulden, dass diese Schweine euch auf den Kopf spucken? Koste, was es wolle, wir müssen mit ihnen abrechnen. — Koste, was es wolle, wir müssen die Macht in Händen halten, bis die Russen sich etwas erholt haben — sagte er. — Aber auf diese Weise können wir die Macht nicht lange halten. — Die Lage ist nicht günstig, — sagte er. — Die tschechischen Sozialdemokraten führen Krieg gegen uns, die Wiener, die Schweine, drängen auf eine Intervention der Entente; und die Unseren — darüber lässt sich gar nicht reden. — Er wusste wohl, was kommen würde, aber... er zeigte uns auf einer Landkarte: hier lenkten wir Truppen auf uns ab, die gegen Sowjetrussland bestimmt waren, hier und dort. — Also, das war unsere wichtigste Aufgabe, und die haben wir auch erfüllt. Wir hätten vielleicht noch mehr machen können, aber so ist es nun einmal. Das nächste Mal machen wir's besser.
Zum Schluss seufzte Pojtek tief auf.
— Glaubst du, dass Szamuely Selbstmord begangen hat? — fragte ich.
Pojtek sah mich an, wie wenn ich ihn gefragt hätte, ob er glaubt, dass die Donau den Berg hinauffließt.
— Unsinn — sagte er und lachte. — Wir werden noch von Szamuely hören. Ich bin sicher, er wusste schon, was er zu tun hatte. Sei beruhigt, er wird an seinem Platz sein, wenn die Reihe wieder an uns kommt. Wir kamen in Hüvösvölgy an.
— Hier — bog Pojtek in einen schmalen Waldsteig ein. — Hier wohne ich. Ein schöner Platz, was?
— Sehr schön — sagte Antalfy mit saurer Miene — , nur ein wenig zu luftig.
— Wieso hast du keinen sichereren Platz gefunden als Hüvösvölgy? — fragte ich. — Du warst doch in Budapest. Hast du keine Möglichkeit gehabt, etwas Besseres zu finden?
— Ich war gerade so dumm wie die anderen. Das ist alles. Ich kannte diese sozialdemokratischen Hunde ganz genau, klärte auch viele über sie auf, doch irgendwie sagte ich mir: na, deshalb sind sie doch noch... Ein paar Genossen blieben hier zurück, um zu arbeiten. Wir dachten, dass wir wenigstens solange, wie die Sozialdemokraten an der Regierung sind, ruhig arbeiten könnten. Wie ich schon sagte, wir waren furchtbar dumm. Gleich am ersten Tag hoben sie unsere Verbindungsmänner aus, die wussten, wo die einzelnen steckten. Nun konnte ich die suchen, die gerade so wie ich, nur von denen wussten, die schon im Polizeipräsidium, in der Zrinyigasse, saßen.
Drei Tage verbrachten wir in Hüvösvölgy. Es war schönes, warmes Augustwetter. In Hüvösvölgy merkte man nicht viel von dem, was sich in der Stadt ereignete. Nur hie und da sahen wir Menschen, die plötzlich eine andere Richtung einschlugen, wenn sie uns bemerkten. Pojteks Montur jagte ihnen Schreck ein. Am Tage gingen wir spazieren oder wir lagen halbnackt in der Sonne, nachts hielten wir uns tief im Wald versteckt auf und schliefen im Gebüsch. Den ersten Tag ging Pojtek, den zweiten Tag ging ich, den dritten Tag ging Antalfy in die Stadt, um Lebensmittel und Zeitungen zu holen. Die Esswaren waren sauschlecht — die Zeitungen — noch niemals hatte ich ein solches Mistblatt in der Hand. — Steckbriefe, Verhaftungen, schmutzige Verleumdungen und als Schlimmstes: die tägliche Dementierung der Gerüchte, dass die festgenommenen Kommunisten auf der Polizei mörderisch geschlagen würden. Antalfy brachte schließlich eine gute Mitteilung — dass die Züge den Verkehr wieder aufnahmen. Für uns beide bedeutete das sehr viel. Nachmittags kam er mit der Botschaft zurück, dass unsere Truppe am nächsten Morgen nach dem von den Tschechen besetzten Ort Salgotarjan abfahre.
— Deinen Anzug hast du nicht gerade gut behandelt — sagte er — , aber zum Glück sind die anderen Nebenspieler auch nicht allzu elegant. Ich hab dir ein Paar Schuhe mitgebracht, endlich kannst du deine schweren Stiefel zum Teufel schicken. In der Früh sorge ich dann noch für ein frisches Hemd.
— Ich habe noch dreitausend Kronen alte blaue Scheine — sagte am Morgen beim Abschied Pojtek zu mir — , ich gebe dir die Hälfte davon, du wirst es unterwegs gut brauchen können.
— Das kann man wirklich gut brauchen... — antwortete Antalfy statt meiner — , bei mir geht das Sowjetgeld auch schon zur Neige und vielleicht hängt unser Leben davon ab, ob wir Geld haben oder nicht.
An der Endstation der Straßenbahn trennten wir uns von Pojtek. Wir schüttelten uns fest die Hand, aber keiner von uns sprach ein Wort. Wir fuhren diesmal mit der Straßenbahn in die Stadt hinein. Um sieben Uhr morgens trafen wir die Truppe am Ostbahnhof. Alles ging glatt vor sich. Der Direktor steckte einem rumänischen Feldwebel hundert Kronen zu, der Feldwebel stempelte all unsere Papiere anstandslos ab. Unsere Bewilligung lautete auf eine Theatertruppe von dreiundzwanzig Mitgliedern, und wir waren auch dreiundzwanzig. Pojtek hätte ohne weiteres auch mit uns fahren können, aber er wartete noch immer auf ein Wunder, er war überzeugt, dass er auf irgendeine Weise die Genossen treffen werde, mit denen er zusammenarbeiten sollte.
Einige Minuten vor acht fuhr der Zug ab, und gegen Abend kamen wir in Salgotarjan an. Unterwegs durchsuchte eine rumänische Patrouille von vier Mann und eine tschechische von zwei Mann den Zug, jede der Patrouillen ließ einige Passagiere aussteigen, aber bei uns hatte keiner etwas auszusetzen. Auch das tschechische Bahnhofskommando fand unsere Dokumente in Ordnung und als die Straßenlaternen brannten, saßen wir bereits im Speisesaal des Hotel Pannonia.

 

IX.

Ich hatte gefürchtet, meine Kleidung würde auffallen. Auch schien es mir keine besondere Empfehlung, dass ich kein Gepäck hatte. Im Gegenteil. Ich merkte schon am Bahnhof, dass die meisten Kollegen genau so abgerissene Kleider hatten wie ich und dass fast keiner einen Koffer hatte, fast alle trugen ihre wenigen Sachen in Zeitungspapier eingewickelt. Unterwegs erfuhr ich auch, dass meine Schauspielerkollegen deswegen so arm waren, weil die Bolschewiken sie ausgeraubt hatten. Alle waren sie von den Bolschewiken ausgeraubt worden. Dass man sie ausgeraubt hatte, das war noch gar nichts, aber die meisten waren fürchterlich gepeinigt, ja, zum Tode verurteilt worden und nur ihre besondere Geistesgegenwart, ihr außerordentlicher Mut oder ein unerhörter Zufall hatte sie vor dem Foltertod gerettet. Wenn jemand unsere Gespräche von Budapest bis Salgotarjan mit angehört hätte, er wäre zu der Überzeugung gekommen, dass die Bolschewiken ihre gefährlichsten Feinde in den Provinzschauspielern sähen und in erster Linie mit diesen abrechnen wollten.
Eine der interessantesten und nicht einmal unwahrscheinlichsten Geschichten war die, die Antalfy zum Besten gab.
— Ich habe mich mit Bela Kun selbst überworfen — fing er an. — Gleich in den ersten Tagen, Anfang April, bekam ich einen Brief von ihm. Er bat mich zu sich. Na, dachte ich, ich will mir den Kerl mal von der Nähe ansehen und ihm meine Meinung sagen. Also, ich ging zu ihm hin. Das wisst ihr ja, er wohnte im Hotel Hungaria, im Sowjethaus. Vom Hotel Hungaria will ich jetzt weiter nichts erzählen, ihr kennt es ja wahrscheinlich alle — das Hotel hatte sich im Wesentlichen nicht viel geändert, nur dass es voll von gestohlenen Gegenständen war, und auf Schritt und Tritt traf man einen bewaffneten Leninburschen. Ich sage, ich gehe zu Kun. Er wartet mir mit Sekt und Zigarren auf. — Ich kam nicht hierher, um mit Ihnen Brüderschaft zu trinken— sagte ich— ich glaubte, Sie wollten mich in einer ernsten Angelegenheit sprechen. — Natürlich will ich Sie in einer ernsten Angelegenheit sprechen, Genosse Antalfy — sagte er. Ich wollte sie ersuchen, als Direktor die Leitung des Nationaltheaters zu übernehmen.— Vor allem bin ich nicht Ihr Genosse — erwiderte ich darauf — und dann ist es wohl besser, wenn Sie mich überhaupt um nichts ersuchen, ich übernehme auf keinen Fall die Leitung des Nationaltheaters, wenigstens solange nicht, wie Sie die Macht usurpiert haben, denn — merken Sie sich das — ich bin mein Leben lang ein anständiger, christlicher Magyar gewesen, und der bleibe ich bis zu meinem Tod, — ob es Ihnen gefällt oder nicht. — Na — sagte Bela Kun — was Ihre Christlichkeit anbelangt, das lässt sich leicht ändern. Hier im Nachbarzimmer befindet sich ein Rabbiner, der würde schon die Beschneidung besorgen. Mit dem Magyarentum wird es auch nicht viel Schwierigkeiten geben — ich gebe mich zufrieden, wenn Sie in meiner Anwesenheit die Nationalflagge mit dem heiligen Mariabild dreimal bespucken. — Darauf können Sie warten — sagte ich lächelnd — ich werde Sie bespucken, wenn Sie zum Galgen geführt werden. Da stieg ihm das Blut in den Kopf. Na, wir werden schon sehen — sagte er und öffnete die Tür des Nachbarzimmers. — Komm her, Adolf — schrie er in das Zimmer hinein — und ein ekliger, sommersprossiger, rothaariger, jüdischer Rotzjunge kam aus dem Zimmer hervor, in jeder Hand hielt er einen Riesenrevolver und fuchtelte damit herum. Er sprach etwa zwei Minuten mit Kun — was sie sprachen, weiß ich nicht, denn Gott sei Dank, verstehe ich kein Wort von diesem jüdischen Kauderwelsch, aber ich wusste dass von mir die Rede war, denn Kun deutete immerfort auf mich und es war leicht zu erraten, was mich erwartete, denn der eklige rote Adolf schrie dreimal nacheinander Gajdes. Na, ich werd' dir's schon zeigen, du stinkiger Christ — sagte er, zu mir gewandt. — Deiner Großmutter kannst du's zeigen — antwortete ich, und wollte dem Rotzkerl eine runterhauen, als man mir von hinten eine Schlinge um den Hals warf und mich zu Boden schleuderte. Im nächsten Augenblick sprangen etwa zehn Terroristen, zehn Judenbengels auf mich zu,
— ich will die Sache hier nicht verschönern — sie hielten
mich fest und banden mich an Händen und Füßen. Ins Gajdes mit ihm! — schrie Kun heiser vor Wut. Sie nahmen mich vom Boden auf und schleppten mich ins Gajdes. Gajdes — dies wisst ihr ja wohl — ist eine dunkle, feuchte und entsetzlich stinkende Kammer. Na — ich will weiter keine Einzelheiten erzählen, wie das Loch aussah, pfui, es schaudert mich noch heute. Zwei Tage und zwei Nächte lag ich ohne Essen und ohne Trinken auf einem Misthaufen. Am dritten Tag öffnete sich die Tür, und mit einer großen Schüssel in der Hand, kam der sommersprossige Adolf herein. — Na, dreckiger Christenbengel — sagte er — heut wirst du krepieren. Vor deinem Tode aber musst du diese große Schüssel voller Schalet auffressen. — Eine jüdische Speise soll ich essen? — sagte ich mit tiefer Entrüstung — nein, das erlebst du nicht, du Saujude! Du kannst mich töten, aber demütigen lass ich mich nicht! — Na, wir werden's ja sehen — antwortete der Jude. — Das wirst du auch sehen — antwortete ich lächelnd — aber was du noch lieber sehen möchtest, meine verborgenen Schätze, die wirst du niemals sehen, du Halunke; wenn ich dir nur ein Viertel von dem überlasse, was ich in der Erde vergraben habe, könntest du noch immer ein Herr sein, solange du lebst, du Bandit. — Der gnädige Herr hat Schätze vergraben? — fragte jetzt unter tiefen Verbeugungen der sommersprossige Ganef. Ja, ich hab' Schätze vergraben, du Schuft, du — sagte ich lächelnd.
— Das möcht' dir passen, was? Eine volle Stunde bettelte mich der Mordbube an, dass ich ihm verrate, wo ich die Schätze vergraben habe. Na — sagte ich ihm, nachdem er mich eine Stunde lang angefleht hatte — darüber lässt sich reden, Adolf, aber erst, wenn du vorher in meiner Gegenwart ein faustgroßes Stück Paprikaspeck auffrisst. — Oh weh, nur das verlangen Sie nicht von mir, gnädiger Herr, Sie wissen doch, dass die jüdische Religion das Essen von Speck verbietet.— Na, Adolf— sage ich zu ihm
— solange du nicht den Speck gegessen hast, verhandle ich überhaupt nicht mit dir. Der Jude weinte, flehte mich an, versprach alles, was es nur gibt, aber ich blieb standhaft, schließlich zwang er sich den Speck hinunter. Als er unter lautem Weinen und Jammern den Speck zu Ende gegessen hatte, sagte ich zu ihm: Löse schnell die Stricke von meinem Körper und wir gehen. Ich zeige dir, wo meine Schätze vergraben sind, du sollst auch einmal einen guten Tag haben, du Mistkerl. — Glauben Sie mir, gnädiger Herr — begann er, während er mit dem Loslösen der Stricke beschäftigt war, aber ich schnitt ihm das Wort ab. — Wenn du die Schätze haben willst, Adolf, dann halte in meiner Anwesenheit das Maul!
— Ich schweige schon, gnädiger Herr, ich halte schon mein Maul, wenn es der gnädige Herr so befiehlt — und wir gingen los. Ich bringe ihn in das Hauptgajdes, den Schweine-Magyaren — sagte Adolf beim Ausgang der Hungaria, und die herumstehenden Terroristen öffneten uns unter lautem Gelächter das Tor.
— Wozu noch viel Worte machen — fuhr Antalfy fort, da wir vom Fenster in der Ferne Salgotarjan sahen.
— Wir gingen auf den Gellertberg hinauf und ich zeigte
Adolf den Ort, wo die Schätze vergraben waren. Die
Turmuhr auf der Kirche der inneren Stadt schlug gerade
Mitternacht, als Adolf zu graben begann. Er grub und
grub, dass der Schweiß nur so tropfte, ich lag auf dem
Rasen und rauchte eine Zigarette. Es vergingen etwa
zwei Stunden, die Grube war auch schon etwa zwei Meter tief, als ich plötzlich merkte, dass meine Zigaretten ausgegangen waren. — Na, jetzt hab' ich genug von dieser Geschichte — dachte ich — und versetzte Adolf mit dem linken Fuß einen Tritt in den Hintern, dass er direkt mit dem Kopf in die selbstgegrabene Grube sauste. Das Weitere war nur noch ein Kinderspiel. Ich schaufelte die Erde über dem Halunken zu und ging nach Hause schlafen.
Es ist möglich, dass nicht alle der Geschichte ohne weiteres Glauben schenkten, aber eins war erreicht: über die Schreckensgeschichten der Diktatur fiel kein Wort mehr.
Der Zug blieb stehen.
— Salgotarjan! — schrie der Schaffner.

 

X.

Gleich am ersten Abend befreundete sich Antalfy mit zwei tschechischen Offizieren. Die Offiziere suchten ursprünglich nicht Antalfys Bekanntschaft, aber die Schauspielerinnen sprachen weder deutsch noch tschechisch, und die Herren Offiziere konnten nicht ungarisch, so übernahm Antalfy die Rolle des Dolmetschers. Die Offiziere bestellten Rotwein, Antalfy machte den Dolmetsch, trank und sang:
„ Die Nacht verbirgt mich Der Regen wäscht meinen Mantel rein Und doch sind tausend klingende Taler Auf meinen Kopf gesetzt..."
Als der Dolmetsch überflüssig wurde, setzte sich Antalfy an meinen Tisch, wo ich mir bei einem Glas Sodawasser die Schreckensgeschichten über die Bolschewiken anhörte. Die erste Nacht verbrachten wir in einem Hotelzimmer.
— Diese Tschechen sind nicht einmal so dumm, wie man denkt — sagte Antalfy während des Auskleidens. — Sie haben keinen von den hiesigen Bolschewiken festgenommen, alle laufen noch frei herum. Diese Nachsicht kostet sie nicht viel, aber um so mehr bringt sie ein. Die Bergarbeiter schuften wie die Tiere, nur damit die tschechischen Herren zufrieden sind und die Magyaren nicht hineinlassen.
— Du musst heiraten — sagte Antalfy plötzlich, ohne jeden Übergang. — Du musst unbedingt heiraten. Auswahl gibt es genug. Welche immer von den vier Chormädchen du wählst, jede spielt gern für einige Monate die anständige Frau.
Am nächsten Morgen half ich auf Antalfys Zureden die Flugzettel austeilen. Theaterdirektor Gustav Sarkadi wandte sich mit Flugzetteln an das hochverehrte Publikum und bringt zur Kenntnis, dass er heute Abend — mit seiner aus hervorragenden künstlerischen Kräften bestehenden Schauspielertruppe — die auf drei Wochen berechnete Theatersaison eröffnet, und bittet mit vaterländischem Gruß um wohlwollende Unterstützung. Auf mich entfiel der leichtere Teil der Arbeit: ich teilte die Aufforderungen nicht in den Wohnungen, sondern in den Geschäften aus. In den Geschäften wie überall — waren Juden, die die ungarische Schauspielertruppe mit heller Freude begrüßten. Sie fragten, — wer die Primadonna sei, was wir spielen würden, wie groß das Orchester sei? An mehreren Stellen wurden mir Zigaretten angeboten. Am liebenswürdigsten aber empfing mich ein alter sommersprossiger Barbier.
— Na endlich! Gott sei Dank! Dass man endlich wieder Magyaren sieht. Wenn's auch nur Schauspieler sind, die Hauptsache, dass es Magyaren sind. Mit Gottes Hilfe werden auch die anderen kommen. Ich rasiere einen ganzen Tag umsonst, wenn ich den ersten magyarischen Gendarmen erblicke.
Und um mir zu beweisen, dass er nicht prahlte, rasierte er eins, zwei, drei mein Gesicht und schor meinen Kopf kahl — aus lauter Freude.
Auf meiner Tour durch die Geschäfte ging ich — trotzdem ich dazu keinen Auftrag hatte — über den Eisenbahndamm hinüber, in der Richtung nach dem Eingang der Kohlengrube. Neben dem Eisenbahndamm — links von der Barriere — lag Kohle in zwei riesigen Haufen, wie zwei hohe Hügel aufgestapelt. Die Arbeit war im Gange. Wagen auf schmalen Geleisen beförderten die Kohle aus der Grube heraus. Je ein Pferd zog die Wagen. Eins — zwei und schon lag die frische Kohle zwischen der anderen. Nacheinander kamen die einspännigen Wagen, aber die Kohlenberge wurden nicht höher, denn auf der anderen Seite wurde stets geschaufelt. Was auf der einen Seite die vielen kleinen Wagen ausspieen, das verschluckte auf der anderen Seite ein großer Eisenbahnwaggon. Ein unendlich langer Güterzug stand auf dem toten Geleise. Tschechoslowakische Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten hielten Wache.
Von der Sperre aus sah ich lange zu, wie gearbeitet wurde. Die Menschen bewegten sich müde, die meisten hielten die Kohlenschaufel, wie wenn nicht sie selbst die Kraft aufbringen müssten, sondern die Schaufel sie nach sich zöge. Es war kein Schwung in der Arbeit, und wie wenn keiner sich darum kümmerte, was sein Nachbar tat: arbeitete jeder für sich.
Der eine wachestehende tschechische Soldat rief mir etwas zu, nur verstand ich nicht, was er auf tschechisch sagte. Als der Soldat mich darauf wütend anschrie, dachte ich, es sei verboten, am Eisenbahndamm zu stehen und wandte mich langsam nach der Stadt zurück. Ein anderer tschechischer Soldat stellte sich mir in den Weg. Einen Augenblick später standen schon zwei Soldaten neben mir, und während der eine das Gewehr auf mich richtete, riss der andere die Flugzettel unter meinem Arm heraus. Er sah sich die Flugzettel genau an, aber er verstand genau so viel ungarisch, wie ich tschechisch. Er fragte mich etwas, ich verstand zwar nicht, was er sagte, es war aber nicht schwer zu erraten, was er wollte, und so erklärte ich ihm bereitwilligst, was ich vorhatte. Die Tschechen verstanden das gesprochene ungarische Wort gerade so wenig wie das geschriebene, und daher schrie mich der tschechische Soldat noch wütender an. Noch zwei Soldaten kamen zur Hilfe — der eine schien ein Unteroffizier zu sein — sie versuchten, ohne mich zu befragen, herauszubekommen, was der Inhalt der Flugzettel sei. Sie diskutierten untereinander, aber das Wort Bolschewiki sprachen sie fast genau so aus, wie bei uns. Sie lieferten mich bei der Stadtkommandantur ab und hielten mich bis fünf Uhr nachmittags da. Wer weiß, wie lange ich noch hier gesessen hätte, wenn mich Antalfy nicht abgeholt hätte. Der Inspektionsoffizier kannte Antalfy von gestern Abend, und da mein Freund den Flugzettel vorzeigte, auf dem der Stempel des Militärkommandos angebracht war — war die Sache in Ordnung.
— Jeden Menschen, auch den anständigsten halten sie für einen bolschewistischen Agitator, — die blöden Kerle! — brüllte der Offizier und befahl die zwei Soldaten, die mich bisher bewacht hatten, für den nächsten Tag zum Rapport. Diese verteidigten sich mit einem unendlichen Wortschwall, dass sie ja gar nicht gewusst hätten, wer ich sei und weshalb ich hier sei, sie könnten nichts dafür, es sei ihre Pflicht, die eingelieferten Gefangenen zu bewachen. Aber diese unmilitärische Hin-und Herrederei brachte den Leutnant noch mehr in Wut, er drohte den Soldaten, sie gefesselt abführen zu lassen.
— Marsch!
Bei der Eröffnungsvorstellung am nächsten Abend — sang ich mit vier anderen Choristen zusammen im Chor, ich sprach sogar einige Worte ganz selbständig. Nach dem zweiten Akt kanzelte mich der Direktor fürchterlich ab, weil ich ein Glas hatte hinfallen lassen. Natürlich war das Glas zerbrochen. Da Antalfy den Schaden auf sich nahm, war der Frieden wieder hergestellt. Die Bühne — an deren Zusammenkleisterung auch ich teilnahm — stand im großen Saal des Hotels Pannonia. Der Saal war voll gestopft von Menschen, alles was Namen und Glanz hatte, war vertreten. Der Erfolg war ungeheuer.
Wenn der Barbier, der mich kahl geschoren hatte, tatsächlich Wort halten wollte, hatte er am vierten Tag Gelegenheit, von morgens bis abends unentgeltlich zu rasieren: zwei magyarische Honvedoffiziere und vierzig magyarische Gendarmen trafen in der Stadt ein. Wir, Antalfy und ich, wohnten schon in einer Privatwohnung: wir mieteten ein Zimmer beim Küster. Die Frau unseres Hauswirts erzählte uns, dass die magyarischen Soldaten am Bahnhof von zwei tschechischen Offizieren empfangen worden seien. Die Gendarmen wurden in einer Schule untergebracht. Die zwei Honvedoffiziere tranken bis zum Morgen mit den tschechischen Offizieren in der Wohnung des Stadtkommandanten. Unsere Wirtin wusste das alles so genau, weil ihr Mann, der Küster, die ganze Nacht Wein für die Herren Offiziere aus dem Keller des hochwürdigen Herrn Pfarrer heraufgeschleppt hatte.
— Die Herren Offiziere bevorzugen den süßen Rotwein — sagte die Frau.
— Ich bewundere ihren guten Geschmack — sagte Antalfy.
— Am Abend hatten wir dann auch Gelegenheit, den süßen Rotwein des hochwürdigen Herrn kennen zu lernen. Unser Hauswirt lud uns zu einem Gläschen ein, zum Dank für die zwei Freikarten, die wir ihnen geschenkt hatten. Das „Gläschen" wäre auch als Bierkrug groß genug gewesen — und nach einer kleinen halben Stunde erschloss unser Hauswirt uns auch sein Herz.
— Ehrlich gestanden — sagte er — ich hätte früher um keinen Preis Komödianten in meine Wohnung aufgenommen, aber heute sind die Zeiten so, dass die Magyaren fest zusammenhalten müssen, und Sie können mir glauben — dass mein Herz lacht, dass ich magyarische Herren in meinem Hause sehe, auch wenn die Herren bloß Komödianten sind. Na, noch ein Gläschen, meine Herren!
— Denn ich muss sagen — fuhr der Küster Nagy weiter fort — nirgends ist es so dringend nötig, wie hier bei uns in dieser unglücklichen Stadt, dass alle Menschen, die ein magyarisches Herz besitzen, die an das tausendjährige Ungarn glauben, fest zusammenhalten — wie der hochwürdige Herr Pfarrer zu sagen pflegt, und ich selbst bin auch der Ansicht. Denn in dieser Stadt leben die Menschen, wie wenn sie der Allmächtige nur dazu geschaffen hätte, einander zu zerfleischen. Denn nicht nur die Hände, das Gesicht und die Kleidung sind schwarz bei dem zahllosen Kohlenbergwerksgesindel, das in unserer Stadt wohnt, — auch ihre Seele ist so schwarz, wie wenn sie aus Kohle wäre. Die Herren mögen den hochwürdigen Herrn Pfarrer befragen, wenn ihnen meine Worte nicht glaubhaft genug erscheinen.
— Was Sie uns sagen, Herr Nagy, das ist uns heilig — sagte Antalfy.
— Meine Herren, ich kann Ihnen sagen, dass aus meinem Mund in diesem Leben noch kein unredliches Wort gekommen ist, und wenn ich es sage, können Sie mir's glauben, dass der kein Magyar ist, der für die Tschechen auch nur einen Finger rührt. Wenn die Bergarbeiter ehrliche Magyaren wären, würden sie die Kohlenhacke zu Boden werfen und sagen: für einen Hund, für einen Tschechen arbeite ich nicht, verschwindet von hier und geht dahin zurück, von wo ihr gekommen seid, ihr lumpiges Tschechengesindel. So würden die Bergarbeiter handeln, wenn sie ehrliche Magyaren wären, aber statt dessen — na, noch ein Gläschen, meine Herren, auf das Wohl des magyarischen Vaterlandes!
— Möge der Allmächtige dem magyarischen Vaterland viel solcher Söhne schenken, wie wir hier einen begrüßen können, lieber Herr Nagy — sagte Antalfy feierlich.
— Meine Herren, an mir kann wirklich keiner was aussetzen — was die vaterländische Gesinnung und die magyarische Moral anbetrifft. Aber ich sage — und Hochwürden verkünden es auch — dass Gott nicht mit dem Stock schlägt, und jeden trifft seine belohnende oder strafende Hand, wie er es verdient!
Hierbei lachte der Alte verschmitzt und blinzelte mit dem linken Auge Antalfy zu.
— Mit den Tschechen sind aber die Bergarbeiter tüchtig hereingefallen — fuhr Herr Nagy mit gedämpfter Stimme fort.
— Na, na — meinte Antalfy zweifelnd. — Die Tschechen sind große Gauner, sie stecken mit den Bergarbeitern unter einer Decke.
— Ja, mit Worten, meine Herren, mit Worten — sagte Herr Nagy lächelnd. — Aber wenn es sich um Taten handelt... Gewiß, viel Mut hat der Tscheche nicht, er sieht in dem Bergarbeiter auch den Magyaren, und das wissen die Hunde, mit Magyaren ist nicht gut anzubinden, deshalb ducken sie sich... Aber hintenherum ... Denn was glauben denn die Herren, wozu haben die Tschechen die magyarischen Gendarmen hierher geholt? Etwa vielleicht, um die Zahl der Theaterbesucher zu vergrößern? He— he, nein, nicht darum, ich kann den Herren versichern, sie haben sie nicht darum hierher geholt. Ganz etwas anderes wird in den Köpfen der Tschechen gebraut, meine Herren, es handelt sich hier um ganz etwas anderes, wenn ich es sage, können Sie's ruhig glauben.
— Na — na, sagte Antalfy, — auch ein Blinder sieht, dass Herr Nagy sich auf Politik versteht — uns Künstlerleuten wurde diese Wissenschaft nicht gerade eingelöffelt, und damit wir den Lauf der Welt nicht nur so sehen, wie der blinde Bettler den falschen Sechser, so erzählen Sie uns doch, lieber Herr Nagy, weshalb denn eigentlich die Tschechen die magyarischen Helden hierher geholt haben?
— Das hat schon einen wichtigen Grund, he— he— he — lachte der kleine Mann, aus dem nur noch der Rotwein des hochwürdigen Herrn sprach, — meine Herren, wenn ich es sage, können Sie's schon glauben. Nicht umsonst ist der Tscheche ein roter Fuchs. Es dauert nicht zwei Tage — zwei Tage? — o nein, die Herren werden's vielleicht schon morgen erfahren, welch ein schlauer Hund so ein Tscheche ist. Sie werden's schon erfahren — wiederholte er fast schreiend — aber nicht von mir. In meinem Innern ist das Geheimnis tief vergraben. Denn ich befolge denselben Wahlspruch, wie der Hochwürdige Herr Pfarrer: die rechte Hand darf nicht wissen, was die linke tut. He— he— he — Na, noch ein Gläschen, meine Herren!
Mehr hätte man selbst mit Zangen nicht aus Herrn Nagy herausgezogen. Ein- zweimal versuchte er aufzustehen — der Wein auf dem Tisch ging zur Neige — als er aber sah, dass er nicht mehr Herr über seine Beine war, ergab er sich in christlicher Demut dem unabänderlichen Schicksal und begann mit krächzender Stimme, den Kopf zwischen den Händen, über den Tisch gebeugt, zu singen:
„ Weinet Christen, Trauert, schauert, Zerknirscht sei jedes Herz, Das seinen Jesus ruft."
Frau Nagy schnarchte nach Noten. Wir legten den Mann neben sie ins Bett, natürlich so wie er dasaß, mit Kleidern und Schuhen.
— Da, krepiere du Aas — und gute Nacht — Antalfy und spuckte aus.
Antalfy setzte sich auf den Bettrand und nahm seinen Kopf in die Hände. Sein Kopf war auch schwer von dem Rotwein des hochwürdigen Herrn.
— Den ganzen Abend geht mir's im Kopf herum — fing Antalfy an — dieses Schwein — dieser Nagy — schaut neben seiner Frau aus, wie eine lungenkranke Ziege im Schatten einer Mutterfreuden entgegensehenden Kuh. Meinst du nicht?
— Du — antwortete ich mit einer Frage an Stelle einer Antwort — was zum Teufel mag dieser alte Gauner noch wissen? Was für eine Niederträchtigkeit kann das sein, zu der die Tschechen so großartige Vorbereitungen treffen?
— Ich kann mich auch nicht hinlegen, weil ich mir die ganze Zeit den Kopf darüber zerbreche. Ich will nie im Leben einen gehenkten Pfaffen sehen, wenn ich mich täusche: die Magyaren sind hier, um die hiesigen Kommunisten zusammenzufangen. Klare Sache: die Herren Tschechen bleiben auch weiter liebe Kerle, und die Genossen werden irgendwo in Ungarn zu Tode gepeinigt. Ganz gewiss, dass diese lungenkranke Ziege darüber etwas erschnüffelt hat. Das haben die Herren Offiziere gestern ausgekocht.
— Ja, das ist sehr wahrscheinlich.
Einige Augenblicke später schlüpfte ich hastig wieder in meine Kleider.
— Irgendwie müsste man die Genossen von der drohenden Gefahr verständigen.
— Aber wie? — fragte Antalfy achselzuckend. — Wir kennen sie doch nicht einmal dem Namen nach, geschweige ihre Adressen.
— Irgend etwas müssten wir doch unternehmen...
— Wir können nichts machen. Auf keinen Fall heute Nacht. Vielleicht morgen.
Ich nahm meinen Hut und eilte auf die Straße hinaus, wie wenn ich Antalfys Befürchtungen gar nicht gehört hätte. Ein paar Augenblicke später stand Antalfy neben mir.
— Du bist wohl ganz von Sinnen — sagte er wütend.
Ich antwortete nichts, er sagte auch nichts mehr. An der katholischen Kirche bogen wir nach der Pannonia ein, von dort wieder zur Hauptstraße zurück. Wir stürmten vorwärts, wie wenn wir etwas Dringendes zu erledigen hätten, dabei wusste keiner von uns, wohin wir eilten. Die Straßen waren leer, die Häuser alle dunkel. Ein leichter Wind blies und jagte den Weindunst aus meinem Kopf. Da ließ auch meine Besorgnis von vorher nach. Wir haben uns durch Altweibergeschwätz schrecken lassen — dachte ich beschämt. Mitten in der Hauptstraße kehrten wir plötzlich um, aber jetzt eilten wir nicht mehr, wir schlenderten nur so dahin.
— Der alte Gauner hat sich wichtig gemacht, er wollte den Eingeweihten mimen. Wonach der Schweinekerl lechzt, das prophezeit er.
— Möglich, dass du recht hast, vielleicht aber auch nicht — entgegnete Antalfy. Eins steht fest, tun können wir gar nichts.
— Halt!
Aus einer Querstraße bog eine magyarische Gendarmenpatrouille in die Hauptstraße ein. Sie schlichen so leise heran, dass wir sie erst bemerkten, als sie unmittelbar an uns vorbeikamen.
— Halt! — schrie uns der die Patrouille führende Offizier an.
Antalfy wartete gar nicht, bis ihm der Offizier irgendwelche Fragen stellte, er begann sofort zu reden.
— Wir sind Schauspielkünstler — sagte er und lachte laut auf. — Wir genießen die nächtliche Stille. Hier ist meine Legitimation, leider ist sie nur mit einem tschechischen Stempel versehen. Zeig doch auch du, mein Sohn, deine Legitimation vor.
— Was suchen Sie so spät auf der Straße?
— Eigentlich suchen wir gar nichts, wir lüften nur unsere Köpfe aus, bisher haben wir nämlich die Wahrheit gesucht, und dabei bekommt man meistens Kopfschmerzen.
— Die Wahrheit haben Sie gesucht? — fragte der Offizier streng.
— Ja. Nur die Wahrheit. Und wie es einem guten Magyaren ziemt, suchten wir die Wahrheit im Wein, he— he. Roter Wein, weißer Wein, saurer Wein, süßer Wein, alter Wein, neuer Wein. Wo steckst du, Wahrheit? Komm hervor! Mit einem Wort, was ist da noch zu beschönigen, wir bekamen Kopfschmerzen.
Der Offizier lachte und gab uns unsere Legitimation zurück.
— Es wird Zeit, nach Hause zu gehen — sagte er jetzt in freundlichem Ton. — Wer das Trinken nicht verträgt, der soll es lieber lassen. Und außerdem — mit einem Wort, es ist Zeit, dass Sie nach Hause gehen.
— Zu Befehl, Herr Oberleutnant.
— Ich bin nur Leutnant.
— Entschuldigen. Ich sehe scheinbar doppelt.
— Na, genug davon. Eins — zwei, Marsch! Ein Gendarm begleitete uns bis nach Hause.
— Gott behüte unser magyarisches Vaterland vor jedem Unglück — verabschiedete sich Antalfy mit Hebenswürdigem Händedruck.
— He— he— he— he — lachte der Gendarm.
— Wir haben uns nicht geirrt — sagte Antalfy, als wir wieder in unserem Zimmer waren. — Diese Halunken !
Ich kleidete mich nicht aus, ich hoffte noch immer, dass 6ich etwas tun ließe. Ich bohrte meinen Kopf in die bunten Kissen, in meinem Gehirn jagten sich phantastische Träume. In der Früh erwachte ich mit starken Kopfschmerzen.
Unsere Wirtin war schon vom Markt zurück, sie hatte
sogar schon eine saure Katersuppe fertig. Die Suppe war für Herrn Nagy — nach dem Rezept des hochwürdigen Herrn Pfarrers — aber wir bekamen auch einen Teller.
— In der Stadt heißt es, dass heute Nacht...
— He— he— he — , mir willst du das erzählen? — unterbrach Herr Nagy seine Frau. — Ich wusste das schon vorgestern Abend! Magyarische Gendarmen verstehen keinen Spaß! He— he. Sie haben die Halunken zusammengefangen. Na, jetzt sollen die Schurken noch einmal versuchen, aus dem Hause Gottes einen Pferdestall zu machen!
— Was ist denn los? Was haben Sie denn? Schmeckt die Suppe nicht?
Ich stand auf und ging in den Hof hinaus. Dort lehnte ich mich gegen den alten Aprikosenbaum, um nicht umzufallen.
— Was ist denn? Die Suppe ist doch nicht schuld daran?
— Oh, die Suppe ist fabelhaft, noch nie habe ich eine so vorzügliche Suppe gegessen — kam mir Antalfy schnell zu Hilfe — aber der gestrige Wein war zu gut. Der Junge arbeitet noch nicht lange im Künstlerberuf, aber der Wein des Herrn Nagy hat auch mich alten Weltenbummler zu Boden gebracht. Na, Junge, jetzt ist aber Schluss, bring' keine Schande über die Schauspielertruppe.
Noch einen Teller Suppe, Frau! — schrie Herr Nagy aus der Küche, die zugleich als Speisezimmer diente. — Mein Magen verträgt nämlich kleine Bissen nicht, he— he— he.
Die Straße war den ganzen Vormittag durch so menschenleer, als sei Nacht. Das helle Sonnenlicht ließ die kahlen Straßen noch deutlicher hervortreten. Auf dem Weg zum Theater trafen wir nur tschechische Soldaten. Die Schauspieler, die sich zur Probe eingefunden hatten, wussten schon alle, dass in der Nacht etwas vorgefallen war.
— Die Kommunisten wollten die Kohlengruben in Brand stecken — erzählte gleich zuerst ein Chormädchen. — Aber Gott sei Dank, die Gendarmen haben sie noch rechtzeitig erwischt.
— Im letzten Augenblick — sagte ein Schauspieler. — Sie hatten schon die Zündhölzer in der Hand.
— Zweiundsechzig wurden festgenommen, die übrigen sind nach Russland geflüchtet.
— Nicht zweiundsiebzig, nur achtunddreißig sind festgenommen.
— Wie ich gehört habe, waren es einundachtzig. Ich weiß es aus zuverlässiger Quelle, mein Hauswirt ist Bezirksgerichtsvollzieher, und seine Frau hat es mir erzählt: genau einundachtzig Kommunisten haben die Gendarmen festgenommen. Unter ihnen befand sich auch der, der Stephan Tisza ans Kreuz geschlagen hat.
— Stephan Tisza ist nicht ans Kreuz geschlagen, sondern erhängt worden.
— Das willst du mir erzählen? Ich weiß es doch vom Gerichtsvollzieher.
— Der Teufel hat sie gezählt — antwortete Herr Nagy, als ich mich beim Mittagessen erkundigte, wie die Sache in Wirklichkeit stand. Eines stand fest: insgesamt sind elf Mann erschossen, die übrigen kamen mit ein paar Hieben davon.
— Vorläufig — fügte er nach einer Weile hinzu. — Die elf Rädelsführer sind aber erschossen, das ist das Wichtigste.
— Und woher wussten die gestern angekommenen Gendarmen, wer die Hauptbolschewiken sind?
— Woher sie es wussten? Haben Sie keine Angst, die irren sich nicht. Der hochwürdige Herr Pfarrer, der Herr Bezirkskommissar Nedeczky, na, und — ich will nicht eden, nein. Soviel aber kann ich mit Bestimmtheit behaupten, ein magyarischer Gendarm irrt sich nicht. Der magyarische Gendarm — den gibt es nicht noch einmal auf der Welt.

Ich stand in Salgotarjan nicht zum ersten Mal einer Gefahr gegenüber, es bestand eigentlich nicht einmal eine so große Gefahr für mich, — trotzdem verlor ich völlig den Kopf. Ich hatte Angst, wahnsinnige Angst. Mich überfiel eine derartige Furcht, dass ich mich nach dem Mittagessen, als Herr Nagy aus vollem Herzen das Lob der magyarischen Gendarmen sang, nicht mehr auf die Straße traute.
— Nimm dich zusammen — Junge — wies mich Antalfy zurecht, als wir allein waren.
— Ich weiß selbst nicht, ich weiß wirklich nicht, was mit mir los ist. Bisher — bisher hatte ich nie Angst, trotzdem...
— Ja, gewiss, damals bewegte sich die Revolution in aufsteigender Linie, jetzt gleitet sie abwärts: sie liegt hinter uns. Glaube mir, ich habe das schon einmal mitgemacht: es geht auch wieder aufwärts, man muss nur nicht gleich die Hosen voll machen.
Abends erfasste auch Antalfy die Angst. Er blieb auf offener Bühne stecken, trotzdem der Souffleur brüllte, wie ein besoffener Feldwebel. Nach der Vorstellung sprach er über die Angelegenheit mit dem Direktor unter vier Augen, er machte ihm klar, dass wir hier nicht länger bleiben könnten, die Situation sei auch für uns brenzlig, aber wir könnten auch die ganze Truppe in Schwulitäten bringen, wenn die Gendarmen nur vermuteten, dass unsere Sache nicht in Ordnung gehe. Der Direktor bekam natürlich einen noch größeren Schreck als wir selbst.
— Siehst du — sagte er vorwurfsvoll — siehst du, in welche dreckige Situation du mich gebracht hast. Es wird wohl am besten sein, wenn ihr sofort, noch heute, mit dem Nachtschnellzug nach Budapest zurückfahrt. Ich trage die Fahrtkosten.
— Nach Budapest? Nein. Wir fahren in die Slowakei. Du beabsichtigst doch ohnehin diese Route zu nehmen, schick uns als Quartiermacher voraus.
— Die Tschechen geben keine Reisebewilligung.
— Das überlasse mir. Ich besorge die Bewilligung schon.
— Und Geld hab ich auch keins — sagte der Direktor mit griesgrämigem Gesicht. — Ein solcher Ausflug kostet viel Geld. Das Beste ist, ihr fahrt nach Budapest zurück.
— Wir fahren in die Slowakei, auf eigene Kosten — beendete Antalfy die Diskussion.
Am nächsten Mittag war die Bewilligung in unseren Händen. Der tschechische Inspektionsoffizier gab Antalfy auch noch verschiedene Ratschläge.
— Sagen Sie nur dem Rimaszombater Stationskommandanten, Herrn Hauptmann Riedl, dass in der Truppe ein paar schöne Schauspielerinnen sind. Nehmen Sie ein paar Photographien mit und Sie werden sehen, alles geht glatt.
Die Fahrt von Salgotarjan bis Rimaszombat war nicht sehr angenehm. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung verkehrte ein Panzerzug zwischen den zwei Städten. An den Panzerzug wurden drei Viehwagen angekuppelt. Wer Fahrkarte, Reisebewilligung und genügend Kraft hatte, sich einen Platz zu erobern, der fuhr in einem der Viehwagen mit. Da der Panzerzug täglich nur einmal hin- und zurückfuhr, war diese Rauferei um den Platz nicht ganz ohne Gefahr. Als es mir gelang, mich in den mittleren Viehwagen hineinzudrängen, haute der wachhabende Soldat der hinter mir stehenden Bäuerin eine derartige Ohrfeige herunter, dass ihr das Blut aus dem Gesicht spritzte. Ich hatte keine Zeit, mich zu erkundigen, was denn eigentlich geschehen war, aber es wäre auch nicht ratsam gewesen. Eines stand fest: als der Zug abfuhr, waren wir beide im Wagen. Der größte Teil der Passagiere blieb zurück, der Waggon war halb leer.
— Benötigen die Herren nicht vielleicht tschechisches
Geld?
— Wie wechseln Sie es? — fragte Antalfy den beweglichen tschechischen Eisenbahner mit dem Spitzbart, der gebrochen ungarisch sprach und in singendem Tonfall, wie wenn er auch zur Bühne gehen wollte.
— Nach dem offiziellen Kurs — wie die Herren wahrscheinlich wissen werden, machen zwei ungarische Kronen eine tschechische Krone aus. Ich habe die tschechischen Kronen noch früher zu einem billigeren Kurs gekauft, ich bin also in der Lage, den Herren zehn tschechische Kronen für fünfzehn ungarische Kronen zu geben.
Antalfy wartete ein paar Augenblicke, ehe er antwortete.
— Also, wenn Sie's nicht benötigen — sagte der Eisenbahner, und wollte schon weitergehen.
— Zeigen Sie mal das tschechische Geld her — rief ihm Antalfy nach.
Der Tscheche zog ein Bündel Geldscheine aus seiner Hosentasche.
— Hier.
Antalfy nahm einen Hundertkronenschein in die Hand, untersuchte ihn, drehte ihn hin und her, ja, er beschnupperte die zerknitterte Banknote.
— Wieso ist das tschechisches Geld? — fragte Antalfy misstrauisch. Das ist doch altes österreichisches Geld, es sieht doch genau so aus wie meine ungarischen Noten.
— Woher denn, mein Herr, woher, sagte der Tscheche etwas gekränkt. Schauen Sie doch, da ist die Abstempelung. Hier: sehen Sie doch, hier ist der Löwe mit dem doppelten Schwanz.
— Ich sehe ihn — sagte jetzt Antalfy etwas vertrauensvoller. — Tatsächlich hat das Biest zwei Schwänze. Na, hol's der Teufel: ich gebe zwölf ungarische für zehn von Ihren Scheinen.
— Glauben die Herren vielleicht, ich sei ein Narr? Nach einer Viertelstunde Herumhandeln schlossen wir
das Geschäft ab. Für die tausendfünfhundert ungarischen Kronen, die mir Pojtek beim Abschied gegeben hatte, gab mir der Eisenbahner tausendeinhundertfünfzig tschechische Kronen.
— Sehen Sie, bitte — zeigte der Eisenbahner auf ein tschechisches Wächterhaus — ein Ort von historischer Bedeutung: hier brachen die tschechischen Legionen die Übermacht der Bolschewiken. Die Roten rannten zurück, rannten... Die moralische Überlegenheit der Demokratie besiegte sie. Die Demokratie...
Mittags fuhren wir von Salgotarjan ab, am Abend waren wir in Rimaszombat.
— Gehen wir in irgendein Hotel — sagte Antalfy. — Das ist der sicherste Platz, denn das weiß auch der dümmste Gendarm, dass ins Hotel kein Mensch geht, dessen Sachen nicht ganz in Ordnung sind. Wer etwas zu verbergen hat, wessen Papiere nicht einwandfrei sind, der geht nicht an eine Stelle, wo man Meldezettel ausfüllen muss. Ich weiß nicht, wie hoch die Kaufkraft der doppelschwänzigen Krone ist, ich bin in meinem Leben zum ersten Mal im Tschechenland, aber auf alle Fälle gehen wir in ein anständiges Lokal. Und weil ich, trotzdem ich noch nie im Tschechenland war — Rimaszombat ganz gut kenne, mit einem Wort, gehen wir ins Hungaria.
Das Hotel Hungaria nannte sich jetzt Hotel Sokol und war bei weitem nicht so elegant, wie ich mir's nach Antalfys Schilderungen vorgestellt hatte. Teuer genug war es aber: ein zweibettiges Zimmer kostete pro Tag dreißig Kronen. Wir wuschen uns rasch und gingen zum Abendessen in den Speisesaal.
Der Speisesaal war fast leer. In einer Ecke spielte eine ungarische Zigeunerkapelle. An einem großen Tisch saßen tschechische Offiziere in Gesellschaft von stark geschminkten Damen. Die Offiziere tranken Sekt. Am anderen Ende des Saales saß mit aufgestützten Armen bei einem Glas Bier ein Herr in schwarzem Anzug und lauschte der Musik. Die übrigen Tische warteten vergebens auf Gäste. Von der Wand, die dem Eingang gegenüber lag, blickten die bekränzten Bilder Massaryks und Wilsons auf uns herab.
— Der tschechischen Demokratie zu Ehren schlucke ich ein Dutzend Klöße herunter — sagte Antalfy, als er die Speisekarte durchstudierte. — Dir kann ich auch nichts Besseres raten. Und um auch beim Trinken loyal zu sein: trinke ich Pilsner.
Wir aßen und tranken. Als es dann ans Zahlen ging, nahm Antalfy einen doppelschwänzigen Hundertkronenschein heraus. Der Kellner drehte das Geld hin und her, er zog ein Vergrößerungsglas aus seiner Westentasche und untersuchte damit den Löwen mit dem doppelten Schwanz, dann schüttelte er verwundert den Kopf und legte das Geld auf den Tisch.
— Falsch — sagte er.
— Wie zum Teufel sollte die Note falsch sein — sagte Antalfy entrüstet. — Sehen Sie denn nicht, dass der Löwe zwei Schwänze hat?
— Die Herren sind Ausländer — sagte der Kellner. — Die Abstempelung ist falsch. Es sind viele falsche Stempel im Verkehr, aber einen so schlechten habe ich noch nicht gesehen. Magyarische Arbeit. Die Magyaren wollen auf diese Weise das Vertrauen zum tschechischen Geld diskreditieren.
— Das ist wohl meine größte Sorge, mich mit dem Kredit des tschechischen Geldes zu befassen! Aber, egal. Da, ein anderer Hundertkronenschein, der wird doch nicht auch falsch sein?
— Aber ja. Der ist auch falsch. — Nach einigen Minuten stellte sich heraus, dass der tschechische Eisenbahner mit dem Spitzbart uns lauter solches Geld aufgehalst hatte, mit dem die Ungarn den Kredit der Tschechen vernichten wollten.
— Wollen die Herren bitte mitkommen — sagte der Herr im schwarzen Anzug, der auf einen Wink des Kellners sein Bier am Tisch verlassen und unser Geld ebenfalls mit dem Vergrößerungsglas untersucht hatte.
— Mit wem haben wir die Ehre? — fragte Antalfy. Der Schwarzgekleidete zeigte seine Legitimation als Polizeibeamter. Wir fuhren mit einem Wagen zur Polizei. Der Polizeibeamte bezahlte den Kutscher mit einem von unseren falschen Hundertkronenscheinen, das Geld, das der Kutscher zurückgab, legte er als corpus delicti zu unserem konfiszierten Vermögen. Wie sich später herausstellte, mit vollem Recht, denn das Geld, das der Kutscher herausgab, war genau so falsch, wie der Hundertkronenschein, mit dem der Kriminalbeamte bezahlt hatte.
Der Inspektionspolizeioffizier spielte in Hemdärmeln mit zwei Militäroffizieren Karten. Als der Kriminalbeamte uns in das eingeräucherte, qualmige Zimmer führte, blickte der Polizeioffizier für einen Augenblick vom Kartenspiel auf, ließ sich aber weiter nicht stören, er spielte ruhig die Runde zu Ende. Er hatte gewonnen, er nahm das Geld, füllte drei Gläser mit Wein, stieß mit den Spielkumpanen an, trank und wandte sich erst dann zu uns hin.
— Na? — fragte er den Kriminalbeamten.
— Geldfälscher — antwortete dieser. — Tausendeinhundert Kronen hatten sie bei sich!
— In die gemeinsame Zelle — sagte der Polizeioffizier.
— Ich bin am Geben — wandte er sich wieder der Spielgesellschaft zu.
Die gemeinsame Zelle war ein besonders unfreundlicher Ort, aber um so freundlicher waren die Menschen da. Vier Strohsäcke, ein Toilettekübel und etwa zwanzig Gefangene — Frauen, Männer durcheinander.
— Politisch, oder... fragte eine Frau mit blondgefärbtem Haar, sie saß auf einem hohen Fensterbrett und zeigte ihre in Seidenstrümpfe gehüllten Beine.
— Und wenn politisch, welcher Farbe — ergänzte die Frage ein älterer Herr, in einem Sportanzug und mit einem Strohhut auf dem Kopf.
— Geldfälscher — sagte Antalfy voller Ruhe.
— Haben Sie Zigaretten mitgebracht? fragte die Frau.
— Man hat sie uns abgenommen. Was ist denn hier los?
— Nichts — antwortete ein kleiner schwarzer Mann in Militärkleidung und Zivilhut. — Die Zelle ist eigentlich nur eine Übergangsstation für ein, zwei Tage. Die Bolschewiken werden nach Ungarn zurückbefördert. Wer für die ungarischen Weißen arbeitet, wird nach Nordtschechien gebracht, die berufsmäßigen Einbrecher, Taschendiebe, aber auch Raubmörder — das Fach spielt keine Rolle, die Berufsmäßigen werden zwischen Ungarn und Rumänien verteilt. Was nun Sie anbetrifft, meine Herren, wenn Sie vielleicht falsches Geld in den Verkehr gebracht haben, das von Bela Kun stammte, dann werden Sie nach Ungarn zurückgebracht und in Ihren Papieren wird vermerkt, Sie hätten den Bischof von Neutra ans Kreuz geschlagen. Wenn Sie aber das falsche Geld von den ungarischen Weißen bekommen haben, dann werden Sie nach Rumänien geschickt und in Ihren Papieren wird stehen, dass Sie eine Freiwilligen-Armee organisieren wollten für einen Krieg gegen Neurumänien.
— Wirklich — sagte Antalfy kühl — wir sind richtige Geldfälscher.
— Das macht nichts — sagte der Mann im Militäranzug — in Tschechien ist heute jeder ein Geldfälscher, der Unterschied ist nur, dass der eine es im kleinen, der andere im großen macht. Die meisten fallen wegen der Farbe der Stempel herein. Wenn Ihnen zufällig mal echtes Geld in die Hand gerät, sehen Sie sich die Farbe der Stempelmarke genau an: der Löwe ist weder orangegelb noch zitronengelb, sondern er hat eine Übergangsfarbe zwischen beiden. Auf dem Geld, das Kun Bela fabrizieren ließ, war der Löwe zitronengelb, bei den ungarischen Weißen war er orangegelb, bei den Polen strohgelb, bei den Rumänen blassrot. Ich will nicht behaupten, dass es so leicht ist, die echte Farbe zu erraten, aber Sie können mir glauben, meine Herren, es ist nicht einmal so schwer, wie sich das der Fremde vorstellt. Wollen die Herren vielleicht einen Zigarettenstummel?
— Wenn Sie so gut sein wollen... Sind Sie auch Geldfälscher?
— Man beschuldigt mich dessen, aber glauben Sie mir, meine Herren, die Anklage hat keinerlei ernste Grundlage, vollständig aus der Luft gegriffen. Man wird mich bestimmt rehabilitieren. Sie müssen wissen, bis vorgestern war ich Oberkontrolleur beim Geldwechselamt. Wenn ich fragen darf, welche Farbe hatte Ihr Löwe, meine Herren?
— Weiß der Teufel. Ich weiß nur soviel, er hatte einen doppelten Schwanz.
— Pas hat nichts zu sagen. In der Republik hat jeder
Löwe einen doppelten Schwanz.
— Bitte, sehen Sie für eine Minute beiseite — schrie
die auf dem hohen Fensterbrett sitzende Dame mit den Seidenstrümpfen. — Ich muss auf den Kübel.
Ich lag dicht neben Antalfy auf dem bloßen Fußboden. Die Politiker wurden still, nur das Schnarchen störte die Ruhe und von einem Strohsack her das Weinen der Frau mit den Seidenstrümpfen. Antalfy beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr:
— Wenn's brenzlig wird — sagte er — sind wir Weiße. Verstehst du?
— Nein.
— Hör zu! Wenn wir Weiße sind, schickt man uns gewiss nicht zu den Weißen zurück. Und vorläufig ist das das Wichtigste. Also, wenn's schlimm wird...
— Ich verstehe
— Ich bin Hauptmann, du bist Leutnant.
— Was für einen Sinn hat das?
— Verlass dich auf mich.
— Ich glaube, das Schlaueste wäre, wenn wir ganz einfach sagen, wie wir zu dem Geld gekommen sind.
— Das wäre die blödeste Verteidigung. Ich kann mir keinen Polizisten vorstellen, der so dumm ist, dass er uns das glaubt, und — ehrlich gesagt — schäme ich mich auch selbst darüber. Also: du bist magyarischer Leutnant, ich bin Hauptmann. Du wirst sehen, es wird ganz gut gehen.
Ich mag solche Geschichten nicht.
— Tja, die Gegenrevolution ist kein Hochzeitsschmaus. Aber dann... Versuchen wir, für den Augenblick etwas zu schlafen. Gute Nacht, Peter.
Etwa um zwölf Uhr mittags wurde in einer Schüssel das Frühstück hereingebracht: vom Krieg zurückgebliebener, stinkiger, bitterer Kaffeesatz. Eine halbe Stunde später wurde in derselben Schüssel das Mittagessen hereingebracht. Dieses Essen hatte dieselbe bräunliche Farbe wie der Frühstückskaffee, wie es schmeckte erfuhr ich aber nicht, denn bevor wir noch zu essen begonnen hatten, öffnete sich wiederum die Tür.
— Peterfy! zum Verhör. Emil Balint! zum Verhör — brüllte ein tschechischer Unteroffizier in die Zelle hinein.
Während Antalfy verhört wurde, wartete ich im Vorzimmer. Eine Sitzgelegenheit war nicht vorhanden: ich ging auf und ab, dann starrte ich — da ich nach der schlaflosen Nacht zu müde war — an die Wand gelehnt, auf die Bilder des Kaisers Franz Joseph und des Erlösers Wilson, die einander gegenüber an den Wänden hingen. Ein mürrischer tschechischer Gendarm mit rotem Gesicht bemerkte mich, und wollte sich um keinen Preis mit mir in ein Gespräch einlassen, es ist möglich, dass ihm der gute Wille dazu nicht einmal fehlte, er verstand einfach nicht ungarisch.
Die Tür, hinter der Antalfy verhört wurde, war nicht tapeziert, zeitweise hörte ich die schallende Stimme meines Freundes, aber ich konnte nicht entnehmen, wovon die Rede sein mochte. Nach einer ganzen Stunde endlich öffnete sich die Tür. Ein großer schlanker Gendarmeriehauptmann erschien in der Tür.
— Kommen Sie herein, Herr Leutnant — sagte er höflich. — Kommen Sie herein — wiederholte er und nickte, mit dem Kopf auf mich deutend.
— Ich? — fragte ich verwundert.
— Sie, Herr Leutnant.
Ich sah mich um, für wen wohl die Einladung gelten mochte. Der Hauptmann kam auf mich zu und legte seine Hand auf meine Schulter:
— Es hat gar keinen Sinn zu leugnen, Herr Leutnant.
Ich bin über alles informiert.
Ich hätte mich vielleicht noch immer nicht vom Platz gerührt, wenn mich der Gendarmeriehauptmann nicht — mit einer fast zärtlichen Höflichkeit — aufgefordert hätte, in das Nachbarzimmer zu gehen, in dem Antalfy verhört wurde, wobei er mich sogar vorangehen ließ.
Er sagte dem Gendarmeriekorporal etwas auf tschechisch, der salutierte stramm vor mir und trat von der Schwelle zurück. Der Hauptmann schloss die Tür hinter sich.
Im Zimmer standen ein Schreibtisch aus lackiertem Tannenholz und ein paar gebogene Rohrstühle. An der einen der geweißten Wände hing ein vielfarbiges Massaryk-Bild, an den anderen drei Wänden waren Landkarten befestigt: Landkarten der früheren ungarischtschechischen, ungarisch-rumänischen und ungarischjugoslawischen Front. Budapest war mit einer weißen Fahne bezeichnet.
— Nehmen Sie Platz, Herr Leutnant, nehmen Sie eine Zigarette.
— Sprechen Sie zu mir, Herr Hauptmann?
— Ich hatte ihnen doch schon gesagt, Herr Leutnant, ich bin genau informiert. Herr Major Peterfy hat alles ehrlich ausgesagt. Das wird auch für Sie das richtigste sein.
— Ich habe alles gestanden, Herr Leutnant — wandte sich jetzt Antalfy zu mir, der mir bisher den Rücken gezeigt und die Karte der Slowakei an der Wand studiert hatte. — Der Herr Hauptmann wird die Freundlichkeit haben, ihnen meine Aussagen vorzulesen und Sie, Herr Leutnant, wollen auch alles offen erzählen. Schließlich sind wir doch unter uns: alle drei kaiser- und königliche Offiziere. Vielleicht beginnen Herr Hauptmann gleich mit der Verlesung.
— Das ist nicht ganz vorschriftsmäßig, Herr Major — sagte der Hauptmann mit schwankender Stimme.
— Versteifen wir uns nicht so sehr auf die Vorschriften, Herr Hauptmann. Auf das Wesentliche kommt es an. Und schließlich sind wir ja unter uns. Alle drei trugen wir des Kaisers Rock.
Es war nicht schwer zu erraten, was Antalfy ausgesagt hatte. Es war mir auch klar, dass ich jetzt genau in dem Sinne lügen musste wie Antalfy, trotzdem stand ich in größter Verlegenheit da. Der Gendarmeriehauptmann war so übertrieben höflich uns gegenüber, dass ich an seiner Aufrichtigkeit zweifelte. Wahrscheinlich hatte er sofort den Schwindel durchschaut, jetzt spielt er nur noch mit uns und sobald er genug hat, wird er uns schon richtig versorgen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte: ich schwieg.
— Geben Sie mir doch keinen Korb, Herr Leutnant, nehmen Sie doch eine Zigarette!
Ich wollte den Hauptmann tatsächlich nicht beleidigen, ich nahm eine deutsche Zigarette mit Goldmundstück und steckte sie an.
— Na? — wandte sich Antalfy an den Hauptmann.
— Ja — sagte der Hauptmann und verbeugte sich vor Antalfy.
— Ja, Herr Major! Also...
Er nahm ein dicht beschriebenes Blatt Papier zur Hand, wandte sich zu mir und begann zu lesen. Ich war auf manches gefasst, aber einen solchen Unsinn, wie ihn Antalfy dem Hauptmann zu Protokoll gegeben — hätte ich mir doch nicht vorgestellt. Es kam irgendwie so heraus, dass Antalfy ein österreichischer Adeliger war, der zur Bekämpfung der Bolschewiken erst nach Ungarn, dann in die Tschechoslowakei gefahren ist, weil sich in Ungarn das Gerücht verbreitet hat dass die bolschewistischen Agitatoren hier ungehindert ihre Wühlarbeit verrichten können. Der Major spricht sich deshalb so offen aus, weil ihn das Gespräch mit dem Hauptmann vollständig beruhigt hat und die Persönlichkeit des Hauptmanns ihm genügend Garantien bietet, dass die Tschechoslowakei vor den Bolschewiken bewahrt ist und das Schicksal des tschechischen Volkes in den besten Händen liegt.
Als der Hauptmann soweit gekommen war, hielt er für einen Augenblick inne und reichte Antalfy die Hand. Antalfy schüttelte die Hand fest und fast hätte er den Gendarmeriehauptmann umarmt.
— Nein, so dumm kann einer doch nicht sein, dass er das alles glaubt — dachte ich bei mir, und sah Antalfy vorwurfsvoll an, der uns mit diesem Unsinn wahrscheinlich das Genick gebrochen hatte. Antalfy sah mich an, wie wenn er sagen wollte: warte nur den Schluss ab, du Angstmeier.
Als die Vorlesung zu Ende war, gab Antalfy auch meine Aussage zu Protokoll, sie war nicht so lang wie die seine, aber genau so unglaubhaft.
— Es tut mir leid, es tut mir unendlich leid, es tut mir wirklich unaussprechlich leid, dass ich im Interesse der Herren nur so wenig tun kann, aber die Vorschrift... Die Herren wissen ja wahrscheinlich, dass in der tschechischen Armee den Offizieren, die des Kaisers Rock getragen haben, mit großem Mißtrauen begegnet wird, meine Lage wird dadurch noch schwieriger, dass ich ungarisch spreche, mit einem Wort...
Der Gendarmerieoffizier schüttelte uns fest die Hand, dann rief er den Korporal hinein. Der Korporal kam herein, aber inzwischen hatte sich der Hauptmann die Sache überlegt, er schickte ihn wieder hinaus. Als wieder nur wir drei im Zimmer waren, nahm der Hauptmann die Telefonmuschel in die Hand und verhandelte da mit jemandem auf tschechisch. Nach dem Ton der Stimme zu urteilen, verlangte er zuerst irgend etwas, dann drohte er. Er brüllte, wie wenn er ein ganzes Regiment kommandierte, dann wurde er wieder leise. Scheinbar hatte das Brüllen Erfolg gehabt. Wir zwei rauchten friedlich am Tisch sitzend während des langen Telefongesprächs.
— Die Sache ist in Ordnung, meine Herren — wandte sich der Hauptmann zu uns, als er den Hörer hinlegte. — Solange die Herren hier bleiben, wenn ich so sagen muss — auf alle Fälle bekommen Sie gleich ein anständiges Zimmer und genießbares Essen — ja. Was das Geld anbelangt, da...
— Das ist nicht wichtig — fiel ihm Antalfy ins Wort.
— Ich weiß, aber immerhin... die Sache ist noch nicht erledigt. Die Herren können sich aber darauf verlassen, dass ich in ihrem Interesse nichts unterlassen werde. Ja. Einige Augenblicke müssen sich die Herren noch gedulden, wenigstens so lange, bis Ihr Zimmer in Ordnung gebracht wird, bis die Betten usw....
Vier Tage wohnten wir in einem geweißten, geräumigen, zweifenstrigen Zimmer, nur das vergitterte Fenster und die verschlossene Tür erinnerten uns daran, dass wir Gefangene waren. Täglich konnten wir drei Stunden spazieren gehen. Das Essen, das wir bekamen, war gut und ausreichend. Zigaretten konnten wir uns für unser eigenes Geld besorgen. Geld hatten wir dadurch, dass uns die falschgestempelten tschechischen Kronen als richtiges ungarisches Geld berechnet wurden, wir erhielten dafür etwas über fünfhundert echte tschechische Kronen.
Am vierten Tag ließ der tschechische Hauptmann, der unsere Angelegenheit in Händen hatte, Antalfy zu sich rufen.
— Morgen fahren wir — sagte Antalfy, als er in das
Gefängniszimmer zurückbegleitet wurde. — Nur die Feigheit des Herrn Hauptmann ist größer als seine Dummheit. Wenn er noch so sehr die alten Kameraden in uns ehrt, so hat er doch Angst, der Hund. Er hat keinen Mut, uns freizulassen, er lässt uns nach Kaschau überführen. Na, macht nichts. In Kaschau treffen wir hoffentlich bessere Kameraden. Hauptsache ist, dass wir ins Innere des Landes fahren und nicht nach Ungarn zurück.
Wir waren vier im Wagenabteil: wir zwei und zwei begleitende Unteroffiziere. An der Polsterung, an der wir saßen, war das Leder herausgeschnitten und durch den abgebrauchten Leinenüberzug guckten überall die Stahlfedern heraus. Das Fenster war hochgezogen — aber im Rahmen fehlte die Glasscheibe. Die zwei Unteroffiziere passten ausgezeichnet zusammen: der eine war aus der Marmaroser Gegend und sprach russinisch und ungarisch, der andere, ein Deutscher aus Reichenberg, verstand nur seine Muttersprache.
Antalfy befreundete sich natürlich gleich mit dem Marmaroser Russinnen. Sie sprachen russisch miteinander, ich und der Deutsche verstanden keinen Ton vom Ganzen. Ich sah durchs Fenster hinaus: ich bewunderte die in der Ferne sichtbaren Bergriesen der Hohen Tatra. Hinter dem Gebirge ist Galizien, hinter Galizien befindet sich die Ukraine und dahinter...
Ich seufzte tief und betrübt.
— Ein Genosse — sagte Antalfy zu mir gewandt. — Ein russinischer Genosse.
— Ja — sagte der blonde blauäugige Korporal auf magyarisch. — Ich spreche auch ungarisch, in der Slatinaer Salzgrube spricht man ungarisch.
— Zum Teufel noch mal, wie kommen Sie in die tschechische Armee?
— Ich wurde einfach eingezogen. Es war nicht meine Schuld. Sie würden es vielleicht gar nicht glauben, wenn ich's Ihnen erzählte, wie man mich in diese Montur gesteckt hat.
— An den Worten eines Genossen sollten wir zweifeln? — sagte Antalfy etwas entrüstet. — Erzählen Sie mir, Genosse, uns interessiert Ihr Los.
Der Korporal blickte misstrauisch auf Antalfy, dann blieb sein Auge auf mir haften. Er hatte ein offenes, ehrliches Gesicht: über dem linken Auge war eine lange tiefe Narbe. Einige Augenblicke sahen wir uns an.
— Hm. Ich kann's ja erzählen. Es ist kein Geheimnis, keine Schande. Der sollte sich schämen, der eine solche Sache verschuldet hat. Ja. Wie soll ich nur beginnen? Ja, Slatina war schon von den Rumänen besetzt, als wir die Nachricht erhielten, dass in Ungarn die rote Welt errichtet wurde. Die Rumänen — diese Hunde! — Sie wissen ja wahrscheinlich auch, wer die Rumänen sind. Die Schweine hätten auch die Sterne am Himmel abgeleugnet — aber trotzdem wussten wir, wir wussten es stets, dass die Herren drüben tüchtig in die Enge getrieben wurden! Eines Abends kam Szederkenyi, der Maschinenschlosser, auf mich zu. Guten Abend, Kamerad. Zuerst sprachen wir von den Rumänen, dann kamen wir auf die Russen — ein Wort folgte dem anderen und schließlich fragte mich Szederkenyi, ob ich keine Lust hätte, nach Budapest zu gehen und mich bei den Roten einzureihen. — Gewiß habe ich Lust dazu — sagte ich. — Na, wenn du wirklich nach Budapest fahren willst, dann pack deine sieben Sachen zusammen, denn morgen abend gegen elf gehen wir los. Aber du musst stumm sein, die Rumänen prügeln uns tot, wenn sie irgend etwas erfahren.
Der Russine mengte urechte magyarische Ausdrücke dazwischen, doch hörte sich seine Sprache irgendwie fremdartig an. Der Reichenberger schnarchte friedlich.
— Na? — mahnte Antalfy den Russinnen, als er für einige Augenblicke aussetzte.
— Am nächsten Abend taten wir uns zu zweiundfünfzig zusammen und gingen los. Der Weg war nicht leicht. Erst die rumänischen Wachposten, dann die tschechischen. Am Tage schliefen wir im Wald, nachts marschierten wir. Ich muss sagen, es war ein harter Weg und als wir endlich nach Bereg kamen, waren die Roten schon drüben am anderen Ufer der Theiß, und als wir zur Theiß gelangten, waren am anderen Ufer auch schon Rumänen, die Roten kämpften irgendwo um Szolnok herum. Es war nichts zu machen, als umzukehren und zurückzugehen. Der Hinweg war schwer, ihr könnt euch vorstellen, wie es uns auf dem Rückweg erging! Auf dem Hinweg war uns nichts zu viel, beim Rückweg haben wir unter allem zehnfach gelitten. Kein Wunder, dass uns die Tschechen erwischten. Ich will's nicht leugnen: wir erschraken sehr, aber später stellte es sich heraus, dass die Tschechen nur halb so gefährlich sind wie die Rumänen; drei von uns wurden willkürlich ausgewählt und erschossen, einer wurde mit dem Gewehrkolben erschlagen, wir übrigen wurden in diese Montur gesteckt. Das ist alles. Etwa drei Monate war ich oben an der deutschen Grenze und erst seit kurzer Zeit bin ich hier, wo ohnehin alles aus ist.
— Na — na — sagte Antalfy. — Der Tanz ist noch nicht zu Ende.
Plötzlich, ich weiß nicht weshalb, fing ich laut zu lachen an. Ohne dass ich irgendeinen Grund dazu gehabt hätte, lachte ich, dass mir die Tränen kamen.
Antalfy sah mich verwundert an, der Soldat wurde misstrauisch. Während des Gesprächs hatte der Junge sein Gewehr in eine Ecke des Abteils gestellt und sich —
trotzdem genügend Platz im Abteil war — so nah an mich herangesetzt, dass sich unsere Schultern berührten. Jetzt rückte er plötzlich weiter von mir ab und nahm das Gewehr — wie wenn ihm eine Gefahr drohte — fest in die Hand.
— Sie sind Offiziere! sagte er plötzlich entfremdet.
— Der Teufel ist Offizier! — entgegnete Antalfy. — Ich sagte schon: wir sind Genossen. Wenn wir Offiziere wären, würden uns Offiziere begleiten.
— Das war früher mal! Womit können Sie beweisen, dass Sie zu uns gehören?
— Womit?
Ich hielt ihm meine Hände hin. Seit mehr als zwei Wochen schmierte ich auf Antalfys Rat — meine Hände mit allem möglichen Dreck ein, ich putzte sogar täglich meine Nägel, aber jeder, der einen Blick dafür hatte, merkte sofort, dass meine Handflächen nicht nur von der Benutzung des Gewehrs schwielig waren. Der Soldat sah sich meine Hand an. Die rechte Handfläche betastete er sogar.
— Ja — ja! — sagte er. — Einmal ist es mir schon schlimm ergangen. Ein rumänischer Soldat — der mir auf Himmel und Hölle beteuert hatte, er wäre Genosse — hat mir zwei Ohrfeigen heruntergehauen, dass ich mein Leben lang seine Faust nicht vergessen werde. Die war noch härter als Ihre! — sagte er, zu mir gewandt. — Das kann mir also nicht genügen. Zeigen Sie mir irgendwelche Dokumente, wenn Sie wirklich Genossen sind.
— Dokumente, die das beweisen, können wir nicht vorzeigen, weil wir einfach keine haben — sagte Antalfy — aber .,. jetzt wird sich's gleich zeigen, ob du ein wahrer Genosse bist, oder ob du nur dein Maul aufreißt? Also, jetzt sperr die Ohren auf!
Nicht nur der russinische Korporal, auch ich sah Antalfy verwundert und erwartungsvoll an. Eine Weile sah er nachdenklich vor sich hin, dann begann er leise zu sprechen. Er sprach über Moskau. Er erzählte von Rotgardisten, vom Genossen Lenin, von der Samstagnachmittagarbeit, vom Kreml, von den Arbeiteruniversitäten — vom Roten Moskau. Er sprach leise und wir hörten leise zu — aber, je mehr Antalfy in das Gespräch kam, um so mehr glühte das Gesicht des russinischen Genossen, dann spannte er den Mund weit auf und keuchte laut, wie wenn er wenigstens eine Stunde mit voller Ausrüstung Laufschritt gemacht hätte.
— Wirklich? Wirklich? fragte er von Zeit zu Zeit. Antalfy redete, redete immerfort, und je länger er erzählte, um so interessanter wurde das Thema.
— Genosse Lenin versteht die Sache schon richtig! — sagte der russinische Genosse mit strahlendem Gesicht, als Antalfy schließlich mit seiner Erzählung zu Ende war.
Auf der andern Bank lag lang ausgestreckt der Reichenberger Deutsche und schnarchte fest.
Auf der Kaschauer Polizei saßen wir sechs Wochen in der gemeinsamen Zelle. Da wir keine Papiere hatten, kümmerte sich kein Hund um uns. Nicht ein einziges Mal wurden wir verhört. Wer weiß, wie lange wir noch in dem Lausestall geblieben wären, wenn es nicht einem französischen General eingefallen wäre, die Gefängnisse zu inspizieren. Der hohe Besuch war für Sonntag angesagt, bis Sonnabend mussten also alle, die vor dem Antlitz des vornehmen hohen Herrn störend wirken konnten, verschwinden. Die Säuberung des Gefängnisses leitete ein Oberleutnant von den Legionen.
— Weshalb sind Sie hier? — wandte er sich an Antalfy.
— Ich bin ungarischer Staatsangehöriger — fing Antalfy an — ich bin Grundbesitzer in der Umgebung von Budapest. Ich und mein Vetter — er deutete auf mich hin — flüchteten vor den Bolschewisten hierher in die Slowakei. Als die bolschewistische Invasion zu Ende war, wollten wir nach Hause fahren, und um uns irgendeinen Fahrtausweis zu verschaffen, gingen wir zum Landesamt nach Pressburg. Dort wurden wir — ich weiß heute noch nicht weshalb — verhaftet, man nahm uns unser Bargeld von sechstausend Dollar und unsere goldenen Uhren ab, dann wurden wir unter Gendarmeriebegleitung hierher gebracht. Seit dieser Zeit hat sich niemand um uns gekümmert.
— Hm. Das haben Sie sich gut ausgedacht. Ich will Ihre Akten nachsehen.
— Ich bitte Sie vielmals darum — sagte Antalfy untertänig.
Dies geschah am Donnerstag vormittag. Freitag früh teilte uns ein Wachtmeister von der Legion mit, dass wir beide für ewige Zeiten aus dem Bereich der Republik ausgewiesen seien. Wir müssten sofort weg. Wir würden nach Österreich abgeschoben.
— Weshalb nicht nach Ungarn? — sagte Antalfy entrüstet.
Der Wachtmeister lachte.
Ja, gewiss. Na ja, nächstens machen wir die Ausweisungen auf Bestellung. Ja nächstens...
Um elf Uhr vormittags saßen wir schon im Zug. Außer uns wurde noch ein Gefangener nach Österreich abgeschoben: ein großer blonder Kerl. Ein kleiner dickbäuchiger Polizeibeamter, ein älterer Herr, begleitete uns, der weniger Angst davor hatte, dass wir entfliehen könnten, als dass er fürchtete, wir könnten ihm was antun.
— Sechs Kinder und eine kranke Frau warten zu
Hause auf mich — sagte er wenigstens hundertmal während der anderthalb Tage dauernden Reise. — Sechs Kinder bleiben als Waisen zurück, wenn ich ein Opfer meines Berufs werden sollte. Meine Frau, das unglückselige kranke Weib — sagt mir immerfort: Richard, du wirst sehen, dass dir noch einmal etwas zustößt! Du wirst sehen, dass dich noch einer von den Halunken erschlägt. Denn woher soll dieses Gesindel, mit dem du zu tun hast, wissen, woher könnten sie es auch erfahren, dass du ihnen nichts Böses wünschest, dass du ein so guter Mensch bist, dass du bist wie ein Stück Brot, dass dich nur dein Beruf so streng macht, und dass dein Herz nicht böse ist. Der Beruf, meine Herren, der Beruf. Sechs Kinder, eine kranke Frau und ein solcher Beruf! O weh! Wir leben in schweren Zeiten. In Friedenszeiten war ich Lehrer und als ich im Fünfzehner Jahr aus dem Heer entlassen wurde, gab ich weiter Unterricht, aber jetzt, nachdem die Tschechen die Schule gesperrt haben, finde ich gar keine andere Arbeit. Alles vergebens! Ich kann doch die sechs Kinder nicht Hungers sterben lassen? Und meine Frau, die unglückliche kranke Frau...
Die Fahrt dauerte anderthalb Tage, weil wir nicht auf dem direkten Weg über Pressburg fuhren, sondern erst — mit riesigen Umwegen — nach Brünn und von dort hinunter nach Znaim an die österreichische Grenze. Damit wir uns unterwegs nicht langweilten, erzählte Antalfy schon zum dritten Mal, wie man uns die sechstausend Dollar und die goldenen Uhren in Pressburg abgenommen hatte. Diese Geschichte machte den armen Kriminalbeamten ganz krank.
— Wenn wir armen Teufel nur ein Auge auf irgendeine Kleinigkeit werfen, gleich ist die Hölle los — sagte der Mann in weinerlichem Ton. — Die Herren können sich alles leisten. Sie glauben natürlich, dass die sechstausend Dollar die armen Gendarmen oder Polizeibeamten gestohlen haben? Das ist ausgeschlossen, meine Herren, ganz ausgeschlossen! Ich höre die Sache jetzt zum ersten Mal, aber ich könnte drauf schwören, bei meinem Seelenheil, dass das ganze Geld die Herren Offiziere gestohlen haben. Keinen Pfennig davon haben die Gendarmen oder die Polizeibeamten gesehen. Nur der Landeshauptmann nahm sich seinen Teil davon, das übrige — ich könnt's beschwören, alles was da war, alles bis zum letzten Pfennig haben die Herren Offiziere in die Tasche gesteckt.
— Ich weiß es nicht — sagte Antalfy — , aber es interessiert mich auch nicht besonders. Das wichtigste ist, dass wir endlich — wenn auch auf Umwegen — , endlich einmal nach Hause kommen.
— Zu Hause natürlich...
— Gibt es alles in Hülle und Fülle — sagte Antalfy stolz.
— Was ist mit Ihnen los? — fragte der Kriminalbeamte den dritten Gefangenen.
Wir sprachen ungarisch. Unser dritter Kollege konnte kein Wort ungarisch. Er erzählte seine Geschichte auf tschechisch. Antalfy verständigte sich irgendwie mit ihm, dann erzählte er uns die Sache auf ungarisch.
— Eine einfache Sache. Der Junge war tschechischer Legionär, drei Jahre hatte er in Frankreich gegen die Deutschen gekämpft. Er kam als Invalide nach Hause, und hier kam ihm der unglückliche Gedanke, sich um eine Stellung als Gerichtsvollzieher zu bewerben, auf die der Neffe eines Gendarmerieoberleutnants ein Auge geworfen hatte. Der Gendarmerieoberleutnant brachte heraus, dass der Junge irgendwo in der Nähe von Wien geboren war, und trotzdem der arme Kerl kein Wort deutsch verstand, wurde ihm angedichtet, dass er Österreicher sei und jetzt wird er einfach nach Österreich gebracht. Als er sagte, dass er nicht deutsch kann, beruhigte man ihn, es sei eine leichte Sprache, mit ein wenig Fleiß könne er's binnen einem Jahr erlernen.
Früh am Morgen kamen wir nach Znaim, an die Grenzstation. Der Bahnhof war genau so wie die anderen tschechischen Bahnhöfe, nur dass er von einem Drahtzaun umgeben war und beim Durchgang ein spanischer Reiter als Türe diente. Ein Gendarmeriewachtmeister übergab uns einem Korporal, der brachte uns in irgendeinen Stall: in eine dunkle, feuchte, stinkige Holzbaracke. Dort legten wir uns auf das nach Dünger stinkende Stroh, rauchten Zigaretten und sprachen miteinander. Viel Neues hatten wir uns nicht mehr zu erzählen, aus Langeweile schliefen wir bald ein. Gegen Abend weckte uns der Korporal mit einem zarten Rippenstoß.
— Na! Los!
Der Korporal brachte uns zum Wachtmeister. Der Wachtmeister erledigte uns jetzt nicht so kurz wie am Morgen, trotzdem er auch jetzt in militärischer Wortknappheit seine Anweisungen erteilte.
— Sie gehen um den Zug herum, der auf dem zweiten Geleise steht und klettern auf den Kohlenwagen hinauf. Der Heizer weiß, dass Sie da sind, aber niemand anders darf davon etwas erfahren, also verhalten Sie sich ruhig. Geben Sie acht darauf, dass Sie bis Wien niemand da bemerkt. Dort können Sie dann meinetwegen machen, was Sie wollen. Haben Sie mich verstanden?
— Ja, wir verstehen.
— Sind Sie hungrig?
— Gestern abend haben wir zum letzten Mal gegessen.
— Ja. Haben Sie Geld?
— Ich habe noch etwas — sagte Antalfy.
— Geben Sie's her. Und steigen Sie schnell da hinauf, ich hole für Sie etwas und schicke es Ihnen nach.
Antalfy gab ihm eine tschechische Zwanzig-Kronen-Note.
— Na, beeilen Sie sich!
Das war unser letztes Abenteuer in der tschechischen Republik. Den Feldwebel sahen wir natürlich nie wieder. Den Zwanzig-Kronen-Schein hat er sich wohl zum Andenken aufgehoben.
Kaum hatten wir uns im Kohlenwagen versteckt, da pfiff auch schon der Zug. Einige Minuten später fuhren wir an den Lagerfeuern vorbei, die die Grenze bezeichneten und hinter denen auf der einen Seite die Maschinengewehre der tschechischen Legionäre, auf der anderen Seite die österreichischen Gendarmen mit aufgepflanzten Bajonetten den Frieden hüteten.

 

XI.

Der Bahnhof war nur spärlich beleuchtet, es war nicht schwer, unbemerkt vom Kohlenwagen herunter zu kriechen. Die Ausgänge waren nicht besonders bewacht: wir gelangten ohne weiteres auf die Straße hinaus. Die elektrische Bahnhofsuhr zeigte kurz vor ein Uhr nachts.
Es war eine schöne lauwarme Herbstnacht. Nach allem, was wir hinter uns hatten, nach dem Gefängnis, nach dem Stall und nach dem Kohlenwagen tat uns die Luft in den Straßen Wiens ordentlich wohl. Wortlos gingen wir auf die Stadt zu, nur der Tscheche brummte etwas wie einen Fluch. Breite Straßen, hohe Häuser, Straßenbahnschienen, Bogenlampen — die Straßen sind leer, die Schienen verlassen, die Bogenlampen dunkel.
— Die Wiener gehen früh schlafen — sagte ich.
— Es ist eine kranke Stadt — sagte Antalfy so leise, als ob er Angst hätte, dass ein lautes Wort den Kranken aufwecken könnte.
Ohne ein Ziel zu haben, schleppten wir uns auf dem Pflaster langsam vorwärts. Wir hatten uns untergefasst: links der Tscheche, Antalfy in der Mitte, rechts ich. Wir beide sprachen ungarisch, das ärgerte den Tschechen. Wie Antalfy meinte, war er nicht nur darum böse, weil er unsere Sprache nicht verstand, sondern, weil er — als guter tschechischer Patriot — alles, was magyarisch war, aus tiefstem Herzen hasste.
Die Zeit verging, wir wurden hungrig und müde. Schließlich hatten wir genug von dem Spaziergang und setzten uns in irgendeiner Anlage auf eine Bank nieder.
— Am liebsten möchte ich etwas essen. Gleichgültig was.
— Mitten in der Nacht!
Auf der Bank überkam uns der Schlaf. Als uns in der Früh der ein wenig prickelnde Wind aufweckte, waren wir nur noch zwei. Der Legionär hatte uns ohne Abschied verlassen.
— Was fangen wir jetzt an?
— Vor allem gehen wir baden. Alles umsonst — ich bin schon ein alter Knochen. Die auf der Bank verbrachte Nacht hat mich noch mehr heruntergebracht als das Hungern. Das warme Wasser wird uns ein wenig erfrischen — es wäscht vielleicht auch den Schmutz von uns ab.
Nach langem Suchen fanden wir auch eine Badeanstalt, aber es war nichts zu machen, das Bad war wegen Kohlenmangel geschlossen. Ebenso erging es uns bei anderen Badeanstalten.
— Hör mal, Antalfy! Mich plagt eigentlich der Hunger mehr als der Schmutz.
Antalfy nickte nur mit dem Kopf, und einige Minuten später saßen wir schon in einer Kaffeestube. Auf der einen Seite waren die Stühle noch auf den Tischen umgelegt, auf der anderen Seite warteten zwei mit Papier bedeckte Tische auf die Gäste. Als wir eintraten, lehnte der weißhaarige, bleiche, gebeugte Kellner den Besen an die Wand, legte die Kehrschaufel über den mitten im Zimmer zusammengefegten Kehrichthaufen, und als wir uns an einem Tisch niedergelassen hatten, zog er aus der Tasche seiner abgetragenen Militärhose eine kleine Schere und näherte sich uns, mit der Schere klappernd.
— Bitte die Brotkarten!
— Brotkarten? Was für Brotkarten? — fragte Antalfy verwundert.
— Die Herren sind Ungarn — sagte der Kellner betont. — Gewiß Magyaren. Ich hab mir's gleich gedacht.
— Können wir als Ungarn auch nur auf Brotkarten
Brot bekommen?
Der Kellner lächelte. So lächelnd sah er noch älter aus als vorher.
— Bei uns ist Gleichheit — sagte er leise. — Es gibt keine Ausnahmen. Auch Ungarn bekommen ohne Brotkarten kein Brot.
— Wir haben keine Marken, wir wollen jedoch gut bezahlen für das Brot.
— Das ist keine Geldfrage — sagte der Kellner entrüstet. — Das gehört zur Ordnung und ohne Ordnung gibt es keinen Sozialismus. Das werden Sie auch aus eigener Erfahrung wissen. Die Marken, beziehungsweise die Ordnung...
— Wir haben fast zwei volle Tage nichts gegessen — unterbrach ihn Antalfy.
Der Kellner betrachtete uns mit weitgeöffneten Augen von Kopf bis Fuß, er schüttelte verlegen den Kopf, er sah aus, als ob man ihn an einem Seil hin- und herzöge wie eine Marionette. Dann steckte er mit einer plötzlichen Bewegung die Schere in die Tasche und trat näher an uns heran.
— Sind die Herren vielleicht Genossen? — fragte er flüsternd.
— Ja.
Der Kellner verließ uns für einen Augenblick, er verschwand hinter einer schmalen Klapptür, nach einer Weile kam er mit einer großen Holzplatte zurück. Er setzte die Platte, auf der zwei kleine schwarze Scheiben Brot lagen, vor uns hin.
— Wünschen die Genossen Kaffee oder Tee?
— Sind Sie Sozialist? — fragte Antalfy ziemlich unfreundlich.
— Gewiß. Ich bin organisierter Sozialdemokrat. Wünschen die Genossen Kaffee oder Tee?
Ich verstand blutwenig von dem Gespräch, aber als es so weit kam, erzählte mir Antalfy, was der Kellner gesagt hatte.
— Weiß der Teufel, wie wir die österreichischen Sozialdemokraten einschätzen sollen: als Freunde oder als Feinde.
Der Kellner hatte unsere Haltung wahrscheinlich missverstanden, er verschwand wieder für einige Augenblicke und kam mit einem Büchlein in der Hand zurück.
— Ganz recht, wenn die Genossen misstrauisch sind — sagte er mit weitgeöffneten Armen und in feierlichem Ton. — Das ist sehr, sehr richtig von Ihnen. Wien ist voll von Spitzeln, von Provokateuren, von allerlei Gesindel. Was mich anbelangt, kann ich mich ja leicht ausweisen. Hier ist mein Parteibuch, soeben habe ich meinen Beitrag bezahlt. Seit siebenundzwanzig Jahren bin ich organisierter Arbeiter! Seit siebenundzwanzig Jahren!
Antalfy sah sich das Parteibuch des Kellners an, er prüfte die Unterschriften und die Stempel, dann gab er das Buch zurück und nickte mit dem Kopf.
— Es ist in Ordnung, Genosse Bergmann. Ihre Dokumente sind vollständig in Ordnung. Aber — denken Sie — Genosse, wir haben seit zwei Tagen nichts gegessen. Einem Genossen, der Kellner ist, braucht man nicht zu erzählen, was zwei Tage Fasten bedeutet.
— Gewiß. Ich verstehe das wohl, ich werde Ihnen bei allem, was ich ohne Marken abgeben kann, zur Verfügung stehen. Ja, wir Sozialdemokraten unterstützen in weitestem Sinn die geflüchteten ungarischen Genossen, sowohl als Partei wie auch als Privatperson.
Hier platzte Antalfys Geduld.
— Zum Teufel mit euch — wäret ihr uns damals zu Hilfe gekommen, als eure Hilfe von Nutzen gewesen wäre! Jetzt könnt ihr mit eurem weitgehenden Wohlwollen die Mäuse aus ihrem Loch herauslocken. Und wir werden hier auch nur mit schönen Worten traktiert, statt dass wir etwas zu fressen bekommen!
Der gute alte Kellner wich erschrocken vor dem wütenden Antalfy zurück. Er hatte schon eine Entgegnung auf der Zunge, doch überlegte er sich die Sache und verschwand, ohne ein Wort zu sagen. Eine Minute später kam er mit zwei Tassen Kaffee und einer entzweigeschnittenen Brotscheibe in der Hand zu uns zurück. Er stellte uns das Essen hin, verbeugte sich und nahm wieder den an die Wand gestellten Besen. Er beugte sich herunter, wie wenn er die Kehrschaufel aufheben wollte, aber statt dessen legte er auch noch den Besen dorthin und kam dann wieder zu uns.
— Die Genossen sind Bolschewiken und die Bolschewiken beurteilen Österreich mit seiner besonderen Lage etwas ungerecht, oder wenigstens urteilen sie nicht ganz richtig — sagte der Kellner. Ich mache den Genossen keine Vorwürfe, ich will sie nur über die wahre Situation aufklären. Wir österreichischen Sozialdemokraten sind keine schlechteren Revolutionäre als die russischen Bolschewiken, nur dass wir überlegter, oder besser gesagt gebildeter, zivilisierter sind als die Russen. Ich will hoffen, dass die Genossen nicht bezweifeln, dass Otto Bauer ein ebenso guter Sozialist ist wie Ihr Lenin, und Otto Bauer sagt, und er hat es auch bewiesen, dass Österreich etwas ganz anderes ist als Russland. Ja, liebe Genossen, Sie dürfen schon glauben, Österreich ist nicht Russland. Österreich ist ein kleines, schwaches, armes, ausgehungertes Land, umgeben von großen mächtigen Feinden. Wenn die Entente die Lebensmittelzufuhr auch nur für drei Tage sperrt, bricht wieder die Hungersnot aus, und mit einer hungernden Arbeiterschaft kann man keine Revolution machen. Denn mit welchem Gefühl sollte der Arbeiter auf die Barrikade gehen, wenn er denken müsste, dass seine Familie zu Hause vielleicht nichts zu essen hat? Wenn diese schreckliche Not einmal vorbei ist, wenn wir wieder zu Kräften gelangt sind, wenn jeder Arbeiter oder wenigstens die große Mehrheit genügend, wenn auch nicht übermäßige Vorräte besitzt, dann — ja, unser Weg, der Weg der Österreicher führt zwar auf Umwegen, aber viel sicherer und fast ohne Blut und ohne Risiko bei viel menschlicheren Mitteln zum Sozialismus. Die Genossen werden erfahren, dass schon die nächsten Wahlen...
— ... Könnten wir noch zwei Tassen Kaffee ohne Brotmarken bekommen? — fiel ihm Antalfy ins Wort. — Über die weiteren Dinge können wir uns dann ruhiger unterhalten — fügte er noch hinzu, als er sah, dass der Kellner uns übel nahm, dass wir uns so wenig für die Vorteile der zum Sozialismus führenden österreichischen Methode interessierten.
— Für Kaffee braucht man keine Brotmarken — sagte der Kellner. — Und was das Weitere betrifft, werden sich die Genossen in Kürze davon überzeugen, dass wir recht haben.
Als wir uns vollgegessen hatten, zog Antalfy das Geld aus seiner Westentasche. Der Kellner war nicht gerade erfreut über das tschechische Geld, er sah misstrauisch auf den Löwen mit den zwei Schwänzen, dann aber überlegte er sich die Sache, er rechnete auf der Papiertischdecke aus, wie viel wir zu zahlen und wie viel wir in österreichischem Geld noch zurück zu bekommen hatten.
— Es würde mir sehr leid tun — wenn Sie als Kommunisten in Ihrem Vorurteil so weit gingen, meine Hilfsbereitschaft zu verschmähen. Ich kann den Genossen in zwei Dingen behilflich sein. Als erstes — hier.
Er drückte Antalfy zwei Zettelchen in die Hand.
— Was ist das? — fragte Antalfy.
— Brotmarken. Die Genossen können damit hundert Gramm Brot kaufen.
— Wir danken Ihnen.
— Das zweite, womit ich den Genossen dienen kann — ich gebe Ihnen hier die Adresse des Hilfskomitees für die ungarischen Flüchtlinge. Ich schreibe Ihnen die Adresse auf, gehen Sie dahin, dort wird man Sie beraten, aber nicht nur beraten, denn unsere Partei hilft — natürlich — den Flüchtlingen nicht nur mit Rat.
Mit Hilfe der Adresse, die uns der Kellner gegeben hatte, fanden wir nach einer guten Marschstunde das Lokal des Hilfskomitees. Dort kamen wir zunächst vor die Kontrollkommission. Wir wurden über alles ausgefragt: wer wir sind, was wir sind, woher wir kommen, und da Antalfy zwei Bekannte unter den Mitgliedern der Kontrollkommission hatte, wurden wir nach anderthalb Stunden auch offiziell zu ungarischen Flüchtlingen, die auf das Brot des Hilfskomitees warteten. Unter den Wartenden fanden wir mehrere Bekannte, wir reichten ihnen zur Begrüßung die Hand. Der eine oder andere fragte noch, wann wir gekommen seien und auf welchem Wege, aber weiter kümmerten sich die Menschen nicht umeinander. Alles war müde. Die vor uns nach Wien gekommen waren, waren vielleicht noch abgespannter als wir. Die Luft im Lokal der Holzarbeiter, wo die Brotausteilung erfolgte, war zwar ziemlich schlecht, aber doch kühl. Kaum einer hatte einen Mantel. Die meisten trugen, wie wir, einen Sommeranzug. In einer Ecke hatte ein Friseur seinen Laden aufgemacht. Fünf, sechs Leute standen um den Stuhl herum und warteten ruhig, bis die Reihe an sie gekommen war.
— Wir haben Zeit genug bis zur Weltrevolution! — tröstete sich ein Genosse, der eine weiße Sommerhose anhatte und seine unzeitgemäße sommerliche Kleidung dadurch ausgleichen wollte, dass er eine abgetragene Fellmütze, die er wahrscheinlich von einem russischen Kriegsgefangenen bekommen hatte, tief bis zu den Ohren herunterzog.
— Wir haben Zeit bis zur Weltrevolution!
— Bis — zur Weltrevolution? Es wäre besser, wenn sich die Genossen um Arbeit umsähen, anstatt hier solche dummen Witze zu verzapfen!
— Das ist doch Genosse Schwarz, der Sekretär des Komitees? Wie, kennen Sie mich nicht mehr, Genosse Schwarz? Sie gehen einfach an uns armen Teufeln vorbei — sagte jetzt Antalfy.
Der kleine kugelrunde Genosse Schwarz mit dem kahlen Kopf blieb stehen und sah Antalfy mit seinen kleinen Schweinsaugen einige Augenblicke verlegen an. Man merkte, dass er nicht wusste, wer ihn da angesprochen hatte.
— Ich sehe, Sie erinnern sich nicht. Wissen Sie nicht mehr, wie wir nach der Eröffnung des Sowjetkongresses die halbe Nacht durch debattierten.
— Na, gewiss, Sie sind das?! — schrie Genosse Schwarz auf, und schlug sich klatschend auf die Stirn. Gewiß, gewiss. Nach der Eröffnung des Sowjetkongresses... Ja. Ich hoffe, die Sache ist jetzt klar? Sagen Sie, wer hat recht behalten — Lenin oder Schwarz?
— Um ehrlich zu sein, ich stehe noch heute auf dem Standpunkt, dass Lenin recht hatte und nicht Sie, Genosse Schwarz.
— So? Lenin hatte recht? — fragte Genosse Schwarz lächelnd. Mit einem Wort: die Weltrevolution ist da? — Nein, Genosse, das weiß jeder vernünftige Mensch und jeder vernünftige Genosse wusste schon damals, dass Lenin nicht recht hatte und auch nicht recht haben konnte. Ich sah das schon damals klar. Aber jetzt weiß ich noch mehr. Jetzt weiß ich auch das, dass nicht nur Lenin nicht recht hatte, sondern dass auch ich mich geirrt habe. Ja, mein Standpunkt: die Neutralität, ist auch unrichtig, er bedeutet Unterwerfung, ist also ein unhaltbarer Standpunkt. Nicht ich, sondern Genosse Renner, der österreichische Kanzler, hatte recht. Er hatte recht, als er sagte, dass ein wahrer Sozialist in dem Augenblick nicht neutral bleiben kann, wo die Bolschewiken die Revolution kompromittieren, wo sie den Weg, der zum Sozialismus führt, versperren. Ja, wenn Sie's wissen wollen, Genosse Renner hat recht gehabt, als er die Intervention der großen westlichen demokratischen Staaten gegen das gewissenlose Abenteurertum der Kun-Leute verlangte. Ja, heute sieht jeder vernünftige Mensch ganz klar, dass der Weg zum Sozialismus über die Demokratie führt, und dass die Bolschewiken die gefährlichsten Feinde der Arbeiterschaft sind.
Schwarz sprach diese Worte pathetisch, mit ausgebreiteten Armen, und diese Belehrung galt nicht nur Antalfy, sondern der ganzen — auf Brot wartenden Menschenmenge. Bei seinen Worten wurde ein leiser Protest hörbar, der aber durch Beifall und laute Zustimmung übertönt wurde. Als Schwarz schließlich mit seiner Rede zu Ende war, machte ich den Mund auf.
— So weit sind wir noch nicht gesunken, Genosse Schwarz, dass wir den Verrat zum höchsten sozialistischen Gebot stempeln.
— Sie müssen noch viel lernen, junger Freund, wenn Sie mit mir debattieren wollen — sagte Genosse Schwarz lächelnd. Aber sein Lächeln konnte nicht verbergen, dass er plötzlich von Zorn gepackt wurde, von seinen Mundwinkeln floss der Speichel wie Geifer. Wenn Sie wollen — fuhr er äußerst liebenswürdig fort — , kann ich Ihnen die Werke aufschreiben, die Sie lesen müssen, um die Frage: Demokratie oder Diktatur — richtig zu beurteilen. Lesen können Sie — hoffentlich?
Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete. Eins ist sicher: ich war sehr frech. Das runde, dicke Gesicht des Genossen Schwarz wurde plötzlich feuerrot vor Wut. Er holte tief Atem, um aus voller Brust loszubrüllen, aber bevor er noch zu Wort kam, mengte sich eine neue Stimme in die Debatte.
— Du hast recht, Peter! Du hast vollständig recht, aber du musst deshalb nicht frech werden.
Ich sah mich um, Pojtek stand hinter mir.
— Pojtek!
Ich vergaß alles, ich vergaß Schwarz, ich vergaß Renner mitsamt dem zum Sozialismus führenden demokratischen Weg und fiel Pojtek um den Hals. Es fehlte nicht viel und ich hätte geweint.
— Ruhiger, Peter.
Genosse Schwarz stand schon auf dem Podium, wo das Brot ausgeteilt wurde.
— Genossen — sprach er, sich mühsam zurückhaltend, um leise und ruhig zu erscheinen — , nichts liegt mir ferner, als mich zum Richter in meiner eigenen Sache aufzuwerfen. Ein junger Genosse hat sich hier schwer vergessen und mich, einen Vertreter des Hilfskomitees, ungebührlich beleidigt. Ich wiederhole, nichts liegt mir ferner...
— Gut, schon gut! Wie steht's mit der Brotverteilung?
— Wie lange sollen wir noch auf das Stückchen Brot warten?
— Genossen!
— Gut, schon gut! Teilen Sie endlich das Brot aus!
— Genossen! — überschrie Schwarz die ungeduldigen Zwischenrufer — ich will nur sagen, dass ich dem Genossen, der sich gegen mich derart vergangen hat — volle Verzeihung gewähre...
— Geben Sie ihm zwei Stück Brot, wenn Sie ihm
verzeihen! — Los mit der Verteilung!
— Die Genossen sollten dem Genossen Schwarz gegenüber mehr Respekt zeigen. Seine ganze Arbeit gehört
uns.
— Dafür wird er ja bezahlt!
— Fangen wir an!
— Stehlen wir uns nicht die Zeit.
Genosse Schwarz breitete wieder seine Arme weit aus, man sah, dass er sprechen wollte, da aber auf dieses Zeichen die Zwischenrufe noch lauter und wütender wurden, überlegte er sich plötzlich die Sache, ließ die Arme sinken und griff achselzuckend und kopfschüttelnd in die riesige Kiste, die neben dem Tisch stand.
— Fangen wir an — brüllte er los und drückte das aus der Kiste herausgehobene Stück Brot dem ersten, der an der Spitze der Reihe stand, in die Hand. — Der nächste!
— Gehen wir — sagte ich zu Pojtek gewandt. — Ich will keine solche Unterstützung.
— Nimm's nur ruhig an, Peter — sagte Pojtek. — Nimm schon dein Brot, ich nehme auch, was mir zukommt, dann können wir über alles weitere sprechen.
— Ich bin nicht böse auf Sie, junger Freund — sagte Genosse Schwarz, als schließlich die Reihe an mich kam — , ich bin Ihnen nicht böse, ich bin keinem böse. Ein guter Sozialist, Marxist, Antinikotinist ist keinem Menschen böse, er wünscht jedem nur das Beste. Später werden Sie mir noch dankbar sein, dass ich Sie so energisch zurechtgewiesen habe, als Sie Unsinn sprachen. Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie die Worte des alten Schwarz befolgen, vom alten Schwarz können Sie nur Gutes lernen. Seien Sie morgen pünktlich hier, morgen zahlen wir auch Geld aus.
Während er sprach, nagte ich schon an dem Brot. Der erste Bissen fiel mir fast aus dem Mund, aber es gelang mir, ihn irgendwie hinunterzuwürgen. Wie ich später erfuhr, schmeckte das Brot darum so entsetzlich, weil Kastanienmehl darin verbacken war.
— Gehen wir — sagte Pojtek, als er seine Brotration erhalten hatte — , komm mit hinauf zu mir, du kannst bei mir wohnen.
— Und Antalfy?
— Soviel Platz habe ich leider nicht. Meine Wohnung besteht aus einem schmalen Eisenbett — für zwei Leute wird's auch schon zu eng sein, drei haben überhaupt keinen Platz darin, und um auf dem Boden ohne Bettzeug schlafen zu können, ist es schon viel zu kalt. Genosse Varga! Hätten Sie nicht Platz für einen der angekommenen Genossen?
— Wenn er keinen besseren Platz findet, kann er bei mir unterkommen. Er muss aber so aus- und eingehen, dass die Hausleute nichts davon merken.
— Darauf können Sie sich verlassen — sagte Antalfy. Ich verabschiede mich von ihm und ging mit Pojtek weg. — Wir treffen uns morgen bei der Brotverteilung.
Ich war noch nicht auf der Straße, und schon war ich mit dem Brot zu Ende. Pojtek steckte seines in die Tasche.
— Wie bist du herausgekommen?
— Die Hauptsache ist vorläufig, dass ich da bin.
— Für mich war es schwierig genug, mich bis hierher durchzuschlagen.
— Also Peter, du bist auch da. Wie du hergekommen bist, das hat Zeit, ein andermal. Seitdem wir uns zuletzt sahen, wurden einige tausend Arbeiter zu Tode gepeinigt. Die Rumänen sind wahre Engel im Vergleich zu den weißen ungarischen Offizieren. Wie werden wir wieder nach Hause zurückkehren und wann? Das ist jetzt die wichtigste Frage.
— Wann glaubst du, dass das sein könnte.
— Wahrscheinlich erst bei der zweiten Revolution,
das kann aber noch fünf bis sechs Monate, oder auch noch länger dauern. Früher kann in Ungarn nur dann eine Revolution kommen, wenn die Unsern in Italien oder in der Tschechoslowakei siegen. Die Lage hat sich verändert: vor einigen Monaten brachten noch wir den ausländischen Genossen Hilfe mit der Waffe in der Hand, jetzt sollen sie uns Hilfe bringen.
— Russland?
— Da ist die Situation auch nicht glänzend. Aber auf die russischen Genossen können wir uns verlassen. Die machen ihre Sache richtig.
— Wohnst du weit von hier?
— Eine kleine Stunde. Hoffentlich hast du heile Schuhe.
— Na, so einigermaßen.
— Also, dann los.
Das Wetter schlug von einem Tag auf den anderen um, es wurde kalt. Ein frostiger Wind blies uns ins Gesicht. Ich war abgespannt, müde und hungrig — mich fror. Pojtek stellte Fragen an mich, ich antwortete immer leiser vor Müdigkeit. Meine Beine wurden schwer wie Mühlsteine. Fast wäre ich unterwegs eingeschlafen. Pojtek zog aus seiner Tasche — um mich irgendwie wach zu halten — sein Brot heraus, teilte es und drückte mir die eine Hälfte in die Hand. Als ich trotz der Müdigkeit bald damit fertig war, reichte er mir auch die zweite Hälfte. Mein Kopf brummte. Ich sah nur dunkel, dass sich viel, sehr viel Menschen in den Straßen drängten. Der Lärm floss mit dem Summen meiner Ohren zusammen. Pojtek fasste mich unterm Arm und sprach mit ruhiger gleichmäßiger Stimme. Ich konnte kein einziges Wort verstehen.
Ich warf mich, wie ich war, mit Schuhen und Kleidern auf Pojteks Bett und schlief gleich ein. Ich schlief tief, starr wie ein Stück Holz. Als ich erwachte, war es dunkel. Ich wusste nicht, wo ich mich befand, ich bewegte mich ganz vorsichtig und sah mich misstrauisch um. Durch zwei schmale Fenster sickerte schwaches Licht, kaum soviel, dass ich das einige Schritt weit entfernte Bett sehen konnte. Ich stellte mich mühsam auf die Beine und suchte tastend irgendeine Ausgangstür. Ich betastete die eine Wand, dann die andere, ich war noch immer wie betrunken vom Schlaf — ich wusste nicht genau, ob ich tatsächlich in Wien war.
— Bist du wach?
Hinter meinem Rücken, in der Wand, die ich schon abgetastet hatte, öffnete sich eine Tür und Pojtek trat ins Zimmer. Er drehte das Licht an und plötzlich wurde das geweißte, zweifenstrige, vierbettige Zimmer hell. Als ich mich umsah, hatte ich den Eindruck, als ob ich mich in einem Krankenhaus befände, und wie sich später herausstellte — war meine Vermutung richtig. Die Baracke, in der wir wohnten, war im Krieg eine militärische Irrenanstalt gewesen. Nach dem Krieg liefen die Kranken auseinander und die leer gewordenen Baracken wurden in Notwohnungen umgewandelt. Die Umwandlung bestand darin, dass jeder, der dazu Gelegenheit hatte, aus dem Zimmer verschleppte, was ihm in die Hände geriet. Die Zurückeroberung der allerwichtigsten Gegenstände war die Aufgabe der neuen Bewohner.
— Bist du auf? Du hast Schwein, wir kochen grade Abendbrot.
Das andere Zimmer, in welches mich Pojtek führte, war ebenso eingerichtet wie das, in dem ich schlief.
Was ich als erstes erblickte, war ein Topf auf einem Spirituskocher. Aus dem Topf dampfte warmer Essenseeruch. Außer uns waren noch fünf Leute im Zimmer: zwei lagen auf dem Bett, drei standen um den Kocher herum. Als ich hereinkam, drückte mir ein sommersprossiger Mann, der viel älter aussah als ich, fest die Hand.
— Peter! Was ist denn, kennst du mich nicht mehr?
Gewiß, ich hatte irgendwo dieses Gesicht schon gesehen, ganz bestimmt hatte ich es schon irgendwo gesehen, aber wenn man mich totgeschlagen hätte, wäre es mir nicht eingefallen, wo.
— Ehrlich gesagt...
— Erinnerst du dich nicht? Na, macht nichts! Hauptsache ist, dass du das, was ich dich gelehrt habe, nicht vergessen hast.
— Was haben Sie mich denn gelehrt?
Plötzlich fiel mir alles ein: das Arbeiterheim, die Orthographiestunden, der erste Streik.
— Genosse Szekeres! Szekeres umarmte mich.
— Es sind zwei Jahre her, dass wir uns zum letzten Mal trafen.
— Wir trafen uns, Genosse Szekeres, als alles erst im Werden war und wir treffen uns jetzt wieder, wo alles zu Ende ist.
— Was ist zu Ende — fragte Szekeres und lachte hell auf. — Was ist zu Ende, Peter?
Jetzt merkte ich erst, was für Unsinn ich gesagt hatte. Mein Kopf wurde plötzlich feuerrot, ich schwieg und senkte den Kopf, um nicht in Szekeres' Augen schauen zu müssen. Er aber griff mir unter das Kinn und zog meinen Kopf hoch, dass ich ihm in die Augen sehen musste.
— Verrate mir doch endlich, Peter, womit es zu Ende ist?
— Peter hat schon recht — stand mir Pojtek bei. — Es ist zu Ende, zweifellos ist die erste proletarische Revolution zu Ende. Was jetzt vorgeht, gehört schon zur Geschichte der zweiten Revolution.
Ja, ja — nickte Szekeres mit dem Kopf. Die erste ist zu Ende. Das ist richtig.
— Leiert doch nicht immer wieder diesen Unsinn! Erste Revolution, zweite Revolution... Ihr redet in einem Ton, wie wenn ihr sagtet: Wilhelm der Erste, Wilhelm der Zweite; der erste April, der zweite April, der erste oder der zweite ist ganz gleich: der Bolschewismus ist Unsinn. Punktum. Die Revolution aber — wie unsinnig diese Revolution auch war — war eine Lehre für jeden — vernünftigen Menschen: wir haben gelernt, dass man durch Tyrannei der Tyrannei kein Ende bereiten kann. Der ganze Schweinestall muss bespien und in die Luft gesprengt werden!
— Hauptsächlich bespien, Vater Wilner, das nützt bestimmt! — lachte Szekeres.
— Ihr seid Ochsen! — fuhr Wilner ungestört fort und rührte während des Sprechens sein Essen um. — Alle, alle sind sie wie der Wurm im Meerrettich. Den Meerrettich halten sie für die süßeste Wurzel. Erste Revolution, zweite Revolution — ein wahres Irrenhaus! — Hat keiner eine Zigarette? — sagte er etwas leiser, aber noch immer energisch.
— Sehen Sie, Bruder Wilner — sagte jetzt ein großer junger Mann mit fast bis zu den Schultern herabhängendem Haar. Er lag auf dem Bett und fuchtelte mit den Händen herum — sehen Sie, Bruder Wilner, Sie verurteilen die Bolschewiken wegen ihrer Irrtümer und Sie selbst sind nicht frei von Verirrungen. Oder glauben Sie vielleicht, dass in dem von Alkohol, von Nikotin vergifteten Körper eine Seele Platz hat, die genügend stark und rein ist, um mit Erfolg den Kampf gegen das Schlechte aufzunehmen... ? — Geh zum Teufel, du Speicheldrüse... !
— Allein der auf die christliche Enthaltsamkeit aufgebaute...
Wilner sprang wütend auf ihn zu und kehrte ihm absichtlich den Rücken, dann stellte er sich an die Wand und begann zu schreien:
— Da bete in meinen Hintern hinein, du Schafskopf, dann kann ich dein Gefasel noch ertragen, aber wenn ich deine Visage sehe, werde ich gleich zum Antisemiten! Ich habe wirklich keine Vorurteile, ich bin geneigt, jede Hure, jeden Mörder als Bruder anzusehen, aber da muss ich schon das Kotzen kriegen, wenn mir der Sohn des Schames von der jüdisch-orthodoxen Gemeinde mit seinem weichen Gehirn immer von Christus predigt...
— Armer Bruder — sagte der Langhaarige, streckte seine Glieder und kroch aus dem Bett heraus.
— Du nennst mich deinen Bruder, du Krepierling? Na, wenn du mein Bruder bist, dann geh und hol mir etwas Salz. Die von Nr. 12 haben heute ein halbes Kilo gekauft, geh, lass dir eine Handvoll geben.
Der Langhaarige ging hinaus. Ich setzte mich auf eines der Betten neben Szekeres. Pojtek drückte mir einen Teller und eine Gabel in die Hand.
— Ist das die Emigration? — fragte ich Szekeres.
— Das ist auch Emigration. Der Boden braucht Dünger, sonst wächst nichts.
— Höre nicht auf diese Schwachköpfe — fuhr er nach einigen Augenblicken fort. — Es sind ganz gute Kerle, nur dass ihnen der Verstand flöten gegangen ist. Einer — oder der andere findet ihn vielleicht gelegentlich mal wieder.
Auf der Wand mir gegenüber standen folgende Worte mit Kohle geschrieben:
Vor Hunger krepieren ist keine Schande!
— Sehr verlockend — sagte ich zu Szekeres.
— Hab keine Angst, wir sterben nicht Hungers. Wir werden keine Zeit haben, vor Hunger zu krepieren. Auch ein Blinder sieht, dass wir unmittelbar vor dem Sieg stehen.

Das Bett, in dem wir lagen, war zu eng für uns zwei. Wenn sich der eine bewegte, musste der andere aufpassen, dass er nicht hinausflog. Am Nachmittag hatte ich mich tüchtig ausgeschlafen, jetzt hatte ich gar keine Lust zu Bett zu gehen. Unsere drei Schlafkameraden schnarchten schon lange um die Wette, aber wir zwei — Pojtek und ich — debattierten noch immer.
— Zuerst musst du deutsch lernen. Wenn du deutsch sprichst, kannst du alles lesen und vielleicht kannst du dich auch in die österreichische Bewegung eingliedern. Es ist nicht so schwer, die Sprache zu erlernen, wie du vielleicht glaubst. Ich war ungefähr so alt wie du jetzt, als ich zum ersten Mal in Wien war. Sechs Monate arbeitete ich in einer Fabrik, zwei Monate wanderte ich zu Fuß durch Tirol und Steiermark, so blieb von der Sprache überall etwas haften. Als ich dann zum Militär kam... das kennst du ja schon...
Hast du aus Büchern deutsch gelernt?
— Keine Spur. Ich ging in Versammlungen, ich war auch einige Male im Theater, dann — lernte ich auch — bei Frauen. Du wirst schon erfahren, wie man's macht. Hier in der Baracke wohnen eine Menge polnischer und jugoslawischer Genossen, in der Nachbarbaracke wohnen Österreicher. Dann versuche auch Zeitungen zu lesen.
— Wovon soll ich eigentlich leben?
— Siehst du, das weiß ich selbst nicht. Arbeit zu bekommen, ist fast ausgeschlossen. Ich bin seit vier Wochen hier. Ich arbeitete eine Woche beim Holzfällen im Wald, aber ich verdiente so wenig, dass ich nicht einmal satt werden konnte, und mit hungrigem Magen kann man schlecht Holz fällen. Ein paar Tage verkaufte ich Zeitungen — in den Zeitungen standen antibolschewistische Artikel, also, das ging auch nicht. Ich versuchte es auch als Gepäckträger... Von Schwarz bekommen wir etwas Unterstützung, das Weitere wird sich schon finden. Das größte Malheur ist, dass du keinen Mantel hast. Bald ist der Winter da.
— Glaubst du, dass wir den Winter noch hier verbringen werden?
— Ja, ich denke, vor dem Frühjahr können wir nicht mit einer neuen Revolution rechnen. Die Sache lässt sich nicht zwingen, wir müssen warten, bis sie reif wird. Die Weißen zeigen jetzt, was Terror heißt... Es ist schwierig, äußerst schwierig, unter den heutigen Verhältnissen die Partei in Ungarn neu zu organisieren.
— Ich kann mir nicht vorstellen, wie man die Arbeit neu beginnen soll, wie man sie beginnen kann. Wer soll die Arbeit...
— Hilfe! Hilfe!
Pojtek sprang aus dem Bett heraus und drehte das Licht an. Neben unserem Bett saß mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen Wilner und brüllte aus voller Kehle:
— Hilfe! Hilfe!
Bis ich aufstand, hatte Pojtek schon ein Glas Wasser gebracht, er musste Wilner fast zum Trinken zwingen. Szekeres und ich fassten Wilner bei den Beinen, damit er nicht ausschlagen konnte. Der Langhaarige hielt seinen Kopf. Das ganze dauerte einige Augenblicke: Wilner hörte genau so plötzlich zu schreien auf, wie er damit begonnen hatte, er schaute verwundert auf uns, wie wenn er uns zum ersten Mal sähe. Er sagte keinen Ton — legte sich zurück und zog die Decke über den Kopf. Pojtek drehte das Licht aus, und wir legten uns wieder hin. Alles wurde still, nur Wilner weinte unter der Decke leise wie ein verprügeltes Kind.
— Der Unglückliche war sechs Wochen lang im Polizeipräsidium in der Zwingligasse — flüsterte mir Pojtek zu — , sie wollten ihn nach Siofok in Horthys Hauptquartier bringen. Er sprang aus dem rasenden Zug heraus, so flüchtete er.
In der Früh ging ich mit Szekeres auf den Hof. In militärischer Reihe standen die Baracken nebeneinander. Ich vermochte sie nicht einmal zu zählen — wo ich hinblickte, überall Baracken — eine ganze Barackenstadt. Die mit kleinen Steinen bestreuten Wege begrenzten junge Kastanienbäume: ihre rostroten Blätter rollte der kalte Nachtwind zusammen. In der Mitte des Lagers, auf einem schlanken Hügel, eine Kirche mit einem schlanken Turm. Wir gingen den Hügel hinauf und setzten uns auf eine Bank, die vor einer mit einem Hängeschloss verschlossenen Tür stand.
— Ich fahre heute fort — sagte Szekeres leise. — Ich gehe in die Provinz. Wenn ich am Abend nicht zurückkommen sollte, macht nicht viel Redens davon. Kein Hund wird mich suchen. Ich habe mit Pojtek besprochen, dass du an meine Stelle kommst. Ich habe ein Paar überflüssige Schuhe und ein paar übrige Hosen, die lass ich hier für dich. Mantel habe ich leider nur einen, und den würdest du am dringendsten brauchen.
— Wo fährst du hin?
— Ich sagte doch, in die Provinz. Sage niemandem etwas davon, dass ich verreist bin. Ich wollte dir noch sagen, dass du mit diesen unglückseligen Schlafkollegen nicht viel zusammenkommen sollst. Pojtek wird dich schon mit solchen Genossen zusammenführen, die die erste Niederlage nicht zugrunde gerichtet hat. Es gibt hier in Wien viele gute Genossen. Übrigens trachte danach, zu lernen. In kurzer Zeit wird die Partei neue Arbeiter benötigen. Du weißt...
Wir trafen Wilner. Szekeres begann ohne jeden Übergang über das Wetter zu reden. Einige Minuten später rief uns Pojtek zum Teetrinken.
Wir gingen mit Pojtek zu Fuß in die Stadt. Wilner und der langhaarige Christusjünger fuhren mit der Straßenbahn, die anderen waren noch im Bett, als wir uns auf den Weg machten. Es war kalt, der Wind blies uns ins Gesicht, trotzdem die Sonne schien. Um nicht zu frieren, bewegten wir die Beine schneller. Unterwegs trafen wir einen sonderbaren Zug.
Es waren etwa tausend Menschen oder auch etwas mehr. Sie gingen in Achterreihen, fast in militärischer Ordnung, aber ihr Gang war gar nicht militärisch: sie bewegten sich so unwillig, sie schleppten die Beine müde hinter sich her und ließen die Köpfe hängen. Ihre Kleider waren abgerissen — die, die Zivilkleider trugen, waren genau so zerfetzt wie die in Militäruniform. Keine Aufschrift, keine Fahne, kein Ton — wie wenn Schatten vorüberzögen.
— Arbeitslosendemonstration — sagte Pojtek leise.
— So demonstrieren die? Ohne einen Ton von sich zu geben?
— Was sollten sie denn rufen? Sie schwiegen auch damals, als sie mit ihrem Ruf noch etwas erreichen konnten. Die haben den Kampf nicht einmal von ferne gerochen, und doch wurden sie geschlagen. Über hundertfünfzigtausend Arbeitslose gibt es in Wien und die, die im Betrieb stehen, na — der alte Herrgott segne diese Demokratie.
Im Hilfskomitee war's heute genau wie gestern. Friseurladen, lange Reihe Wartender, einige Neueingetroffene, ein paar Herumstehende. Der eine will zu Fuß nach Tschechien — dort sind die Verhältnisse tadellos — , erzählt er begeistert. Der andere fährt nach Südamerika auf Kosten eines Arbeitsvermittlers. Dort, in Südamerika, ist ein solcher Überfluss, dass sogar die Lokomotiven mit Weizen geheizt werden. Die Genossen lesen eine ungarische Zeitung. Die Blätter werden einzeln ausgeteilt. Weißer Terror, weißer Terror — flüstert man hier und dort. Jeder sagt flüsternd die zwei Worte.
— Zum Himmel noch mal, was flüstert ihr? Brüllt es doch hinaus! — sagt Antalfy wütend.
— Leiser, Genosse, ganz Wien ist voll von ungarischen Spitzeln.
— Und?
— Vorgestern wurden drei Genossen verschleppt. Per Auto wurden sie über die magyarische Grenze gebracht. Die Österreicher haben gestern früh vier Emigranten festgenommen. Sie werden beschuldigt, dass sie eine Räuberbande organisiert hätten. Sie werden wahrscheinlich nach Ungarn zurücktransportiert.
— Hört! Hört, Genossen!
Genosse Schwarz las vor der Brotausteilung die Einladung des Vereins der Vegetarier vor. Der Verein hält einen Vortrag für die ungarischen Emigranten. Der Vortragende ist ein junger Dozent. Das Thema des Vortrags: Die schädlichen Folgen des Fleischessens.
Als der erste Schnee fiel, hatte ich auch schon die Schule durchgemacht, die mich Pojtek gelehrt hatte: dass in Wien keine Arbeit für uns war. Erst fällte ich Holz in einem Wald in der Nähe von Wien. Da hab nicht ich die Arbeit niedergelegt, ich wurde entlassen. Den Zeitungsverkauf aber gab ich auf. Im ganzen verkaufte ich sechs Tage Zeitungen. Von morgens bis abends stand ich an der Ecke Graben und Kärntner Straße und brüllte aus voller Kehle: — Neue Freie Presse! Arbeiter-Zeitung! Becsi-Magyar Ujsag! — Ich fror, aber das Brüllen hat wenigstens soviel eingebracht, dass ich halbwegs anständig essen konnte, ich konnte sogar für Pojtek jeden Abend etwas zum Essen mitbringen. Ich hätte mir wahrscheinlich auch einen getragenen Mantel kaufen können, wenn nicht ein besonders freudiger Anlass — die russischen Genossen hatten die weißen Banden Judenitschs vor Petrograd zerschmettert — mich arbeitslos gemacht hätte. Die Sache kam so: auf die Nachricht vom Sieg der russischen Genossen brüllte die österreichische Presse in die Welt hinaus: Roter Terror, roter Terror! Die Gräueltaten der Bolschewiken! Zehntausende lebend begraben! Tausende von Kindern langsam zu Tode gemartert!
— Der Teufel soll diesen Mist verkaufen!
— Wie Sie wollen! Wir werden auch ohne Sie auskommen. Es gibt nicht soviel Straßenecken, wie es Arbeitslose gibt, die sich um den Verkauf von Zeitungen reißen. Ihr Stand ist geradezu eine Goldgrube.
Wochenlang tat ich nichts anderes, als zu hoffen, morgen wird's besser. Ich ging täglich zum Hilfskomitee, täglich wurde mein Name auf die Liste der Arbeitsuchenden gesetzt, und der Genosse Schwarz beruhigte mich immerzu.
— Morgen, spätestens übermorgen. Wir versäumen unsererseits nichts...
Zu Hause brachte ich das Zimmer in Ordnung, wusch das Geschirr ab, oder ich las, auf dem Bett liegend. Wenn wir Kohle hatten, heizte ich. Waren keine Kohlen vorhanden, setzte ich mich in ein anderes Zimmer, wo die Fenster ganz waren und der Wind nicht hereinblies.
— Wenn Sie frieren, kommen Sie doch in mein Zimmer, bei mir ist jetzt geheizt.
— Ich will Sie nicht stören, Genossin.
— Sie stören mich nicht. Ich lasse mich nicht stören. Ich werde lesen, bringen Sie sich auch ein Buch mit.
Aufs Geratewohl nahm ich ein Buch aus Pojteks Schrank heraus und setzte mich in Rajas Zimmer. Raja saß über ein dickes Buch gebeugt am Tisch, sie las und machte Notizen. Ich schob meinen Stuhl an den kleinen eisernen Ofen heran, nahm das Buch in die Hand und starrte vor mich hin. Raja blickte zeitweilig über mich weg, wie wenn sie mich nicht bemerkte, lange Zeit sprach sie kein Wort. Sie las sehr langsam. Wenn ich dachte — na, jetzt blättert sie bestimmt um — , war sie noch immer auf derselben Seite. Über das große Buch gebeugt sah sie noch magerer, noch kleiner aus als sonst. Der kleine Sonnenstrahl, der durch das Fenster sickerte, gab ihrem goldfarbenen Haar Glanz.
— Warum lesen Sie nicht, Genosse?
— Mein Kopf nimmt nichts auf. Ich bin ganz dumm geworden.
Raja schlug das Buch zu.
— Wir können uns ja ein wenig unterhalten.
— Das wird schwer gehen, Genossin. Wie Sie hören, stottere ich nur deutsch.
Raja lachte. Vielleicht, weil draußen die Wolken die Sonne verdeckten und dadurch das Zimmer halbdunkel wurde oder weil ich trotz des Nichtstuns sehr müde war, schienen mir Rajas lachende, graue Augen größer zu sein, als ihr ganzes schmales, blasses Gesicht. Ich hätte ihr das gern gesagt, aber meine deutschen Kenntnisse reichten nicht so weit.
— Wir werden uns schon irgendwie verständigen — sagte Raja.
Sie fragte mich, und ich erzählte ihr — auf ihre Fragen — die Geschichte unserer Revolution. Wo mir das nötige Wort nicht auf die Zunge kam, hörte ich auf und überließ es ihr, das Fehlende zu erraten. Sie lauschte meinem Stottern mit größter Aufmerksamkeit, wie wenn es sich um einen ernsten, wissenschaftlichen Vortrag handelte, stellenweise machte sie sich auch Notizen über das, was ich erzählte.
— Na, sehen Sie, hier habt ihr einen Fehler gemacht — unterbrach sie mich zeitweilig.
Eine Zeitlang nahm ich die Einwendungen auf, aber schließlich platzte ich heraus.
— Gewiß haben wir Fehler gemacht! Jeder macht Fehler, der etwas schaffen will. Was aber habt ihr hier getan?
Jetzt lachte Raja, aber ihre Augen schienen wieder größer als ihr ganzes Gesicht.
— Ja, ja, gewiss. Wir wussten noch viel weniger, als ihr, was vorging. Bis wir's verstanden, war's schon zu spät.
— Na, sehen Sie. Dann haben Sie gewiss kein Recht, uns zu kritisieren.
Raja lachte, stand auf, kam zu mir hin und reichte mir die Hand.
— Soll ich fortgehen? — fragte ich.
— Weshalb sollten Sie jetzt fort? Ich koche Tee. Sie machte den Spirituskocher zurecht, stellte Wasser
auf, dann holte sie eine Holzkiste hervor. Tabak und Zigarettenhülsen waren in der Schachtel. Raja stopfte die Zigaretten mit flinken Fingern. Der Kocher flackerte, draußen pfiff der Wind.
— Wie alt sind Sie, Peter? Ich sagte es.
— In dem Jahr, in dem Sie geboren sind, lernte ich schon schreiben — sagte sie leise. — Haben Sie Marx' „Kapital" gelesen? — fragte sie, als sie den Tee eingegossen hatte.

In dem Bureau, wo wir unser Brot abholten, versprach Genosse Schwarz täglich, dass ich am nächsten Tag Arbeit bekäme.
— Es geht nicht an, dass die Genossen wählerisch sind — sagte er immer — , Sie müssen nehmen, was kommt.
Der Rat war sehr weise, nur konnte man ihn nicht befolgen: es wurde keine, gar keine Arbeit angeboten.
Eines Morgens zog mich der Neupester Goldmann geheimnisvoll in eine Ecke.
— Illegales — sagte er und zum Zeichen, dass ich schweigen sollte, drückte er seinen Zeigefinger an die Lippen.
— Du bist ein ehrlicher Kommunist, was!? — fragte er und sah mir scharf ins Auge.
— Gewiß bin ich das — sagte ich etwas verletzt. — Wie kann man überhaupt so etwas fragen? Ist das nicht eine Selbstverständlichkeit?
— Schwarz ist ohnehin noch nicht da, wir haben Zeit. Komm, wir gehen auf die Straße. Ich muss dich in einer sehr, sehr ernsten Angelegenheit sprechen.
Auf der Straße gingen wir den Bekannten, die ins Bureau wollten, möglichst aus dem Wege. Wenn sich trotzdem einer uns anschloss, presste Goldmann, genau so geheimnisvoll wie drinnen im Bureau, seinen Zeigefinger an die Lippen:
— Illegal!
Wenn das nichts nutzte, wurde er energischer:
— Ich bitte dich, lass uns allein! Wir haben wichtige politische Dinge zu besprechen.
— Ich glaube — begann er wieder zu mir gewandt: — ich glaube — wiederholte er flüsternd — , ich nehme an, dass du dir gerade so bewusst bist wie ich, dass die Führer der Partei die Revolution verraten haben.
— Inwiefern haben sie sie verraten? — fragte ich verwundert.
Goldmann sah mich an und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Er dachte einige Augenblicke nach — wahrscheinlich darüber, ob es sich überhaupt lohnte, weiter mit mir zu sprechen.
— Also — er hatte beschlossen, weiter mit mir zu sprechen — , also, ich sage nicht, dass sie der Budapester Polizei die Liste der ehrlichen Kommunisten ausgeliefert haben, ich sage auch nicht, dass sie an die weißen Banden Gewehre liefern, aber sie begehen die Sünde, die in den Augen der Bolschewiken höchsten Verrat bedeutet: sie tun nichts im Interesse der Revolution. In einem Augenblick — setzte er fort — , wo das Arbeiten so leicht wäre wie noch nie. Die Situation ist reif. Die Unterdrückung ist schrecklich, die Verzweiflung grenzenlos, es genügt ein Funke, und alles ist in Flammen. Ich nehme an, du stimmst auch hierin mit mir überein. Ich hoffe, du bezweifelst nicht, dass es nur eines Ruckes bedarf, und die Revolution entflammt.
— Sprich deutlicher, Genosse.
— Ich will ganz offen reden. Ich habe beschlossen, oder besser gesagt, einige Genossen haben beschlossen, dass wir die Sache — die Führung der Revolution — in unsere Hände nehmen. Ja. Genug des Schwankens! Wir brauchen Taten! Bist du bereit, zu handeln, bist du bereit, für die Revolution Opfer zu bringen?
— Natürlich.
— Also, wenn du willst, so bist du von diesem Augenblick an Mitglied der Roten Armee. Ich mache kein Geheimnis mehr daraus, es handelt sich darum, dass wir hier in Österreich eine ungarische Rote Armee aus Flüchtlingen organisieren wollen. Tausend, vielleicht nur fünfhundert entschlossene, überzeugte Menschen würden genügen. Wir können mit dem Angriff beginnen. Die Dorfarmut wird sich uns überall anschließen — bis nach Raab gelangen wir ohne Kampf — , dort finden wir Arbeiter und Gewehre, und bis wir nach Budapest kommen, verfügen wir über ein Heer von hunderttausend Mann. Budapest fällt uns ohne einen Gewehrschuss in die Hände. Jetzt nur!... Wer wagt, der gewinnt. Der Plan ist ernst. Man kann doch nicht sagen, dass er zu optimistisch wäre... Also?
Einen Augenblick schwankte ich. Die Sache schien mir nicht ganz glaubhaft, aber etwas war doch wohl dran. Die Verzweiflung zu Hause ist jetzt sicher aufs höchste gestiegen, die Weißen treiben ihr grausames Spiel immer weiter, alles wartet auf die Erlösung... Während ich mit mir selbst verhandelte, schlug mir Goldmann fest auf die Schulter. Als ich ihm ins Gesicht sah, glühten seine Augen, seine Wangen waren rot, wie wenn wir schon durch die Andrassystraße marschierten. Gewiß dachte er an ähnliche Dinge. Er nahm seine Mütze ab, als ob er jemanden grüßte und merkte gar nicht, dass der kalte Wind sein langes, schwarzes, unordentlich nach hinten gekämmtes Haar fasste und hin-und herwarf.
— Lenin hätte in einer solchen Situation sicher nicht gezweifelt — sagte er und setzte seine abgetragene, graue Mütze wieder auf.
Als wir in das Bureau des Hilfskomitees zurückkamen, rief Goldmann den Friseur Kondor Geza beiseite !
— Peter Kovacs kannst du ruhig in die Liste eintragen. Ich übernehme jede Verantwortung für ihn.
Kondor drückte mir das Rasiermesser in die Hand: — Halten Sie's für einen Augenblick, Genosse! — Er selbst kramte ein zusammengelegtes Blatt Papier und ein Stückchen Bleistift aus der Tasche heraus.
— Peter Kovacs. Es ist schon in Ordnung, ich hab's notiert. Wo wohnen Sie, Genosse? Geben Sie uns Ihre Adresse, es ist möglich, dass die erste Besprechung nachts stattfindet, und dann verständigen wir jeden nach seiner Wohnung.
Ich sagte ihm meine Adresse.
— Haben Sie ein Gewehr?
— Nein, woher sollte ich eines haben?
— Na, macht nichts. Wir beschaffen schon welche. Die unbedingte Geheimhaltung ist das wichtigste Gebot. Wenn Sie jemanden als unbedingt zuverlässigen Genossen kennen und ihn in die Aktion einbeziehen wollen, dann sagen Sie's mir oder dem Genossen Goldmann. Individuelle Aktionen dulden wir auf keinen Fall.
— Was ist los, haben Sie mich vergessen? — Der auf der einen Gesichtshälfte glattrasierte, auf der anderen Hälfte mit dickem Seifenschaum beschmierte Genosse, den Kondor auf dem Rasierstuhl sitzenließ, als ihn Goldmann wegrief, verlor endlich die Geduld.
— Sofort! — antwortete Kondor gereizt. Soviel müssten die Genossen doch schon wissen, dass die Sache der Revolution allem vorangeht und erst weit dahinter kommen solche Kleinigkeiten, wie Rasieren. Na, ich komme schon!
Während er sprach, steckte er das Blatt Papier ein und nahm mir das Rasiermesser aus der Hand.
— Das Wichtigste ist strengste Geheimhaltung! — sagte er nochmals zum Abschied.
— Wie stellt ihr euch die Sache vor? — fragte ich Goldmann.
— Du wirst zur rechten Zeit alles erfahren.
Das Unterstützungsbrot hatte ich bald heruntergewürgt, und da mir der Genosse Schwarz wieder erst für den nächsten Tag Arbeit versprochen hatte, begab ich mich auf den Heimweg. Im Ausgangstor stieß ich auf Antalfy.
— Ich suche dich gerade — sagte er. — Komm, wir gehen zum Mittagessen in ein Restaurant.
— Mittagessen? Hast du Geld?
— Gewiß hab ich!
Erst jetzt merkte ich, dass Antalfy einen neuen Wintermantel anhatte, einen Mantel, den noch keiner vorher getragen hatte, und auch sein Hut und seine Schuhe waren neu.
— Was ist denn mit dir los?
— Sei beruhigt, ich stehe nicht in Arbeit. Mit Arbeit — das schwebt mir stets vor Augen — würde ich nur den Feind stärken, würde ich nur zum Wiederaufbau des Kapitalismus Beihilfe leisten. Nein, dafür bin ich nicht zu haben. Aber auf der anderen Seite spielte mir das gute Glück eine Waffe in die Hand, mit der ich — gemäß meiner bescheidenen Kraft — das Verfaulen beschleunige. Ja. Ich erzähle dir alles ausführlich. Vor allem aber gehen wir jetzt essen.
Wir setzten uns in ein Restaurant, ich aß, wonach ich Lust hatte und soviel, wie ich hinunterbringen konnte. Antalfy bezahlte alles.
— Bist du satt geworden? — fragte er zum Schluss.
— Ja, ich bin satt.
— Kriegst du nichts mehr herunter?
— Nein.
— Dann gehen wir. Ich will dir einen Wintermantel kaufen. Es ist eine dumme Sache, im Winter ohne Mantel herumzulaufen.
— Ist das dein Ernst? Hast du soviel Geld, dass es für einen Wintermantel reicht?
— Ja. Ich habe Geld genug, und die Hauptsache, es ist ehrliches Geld, ich kann's mit ruhigem Gewissen sagen, ich habe nichts dafür gegeben. Nein — sagte er ganz laut — , mich wird in diesem Leben kein Mensch mehr ausbeuten!
Wir kauften einen Wintermantel, einen Mantel, den noch keiner getragen hatte. Es war ein sehr guter, warmer, schöner, grauer Mantel.
— Na, jetzt gehen wir in ein Cafe. Da kommt auch mein Kompagnon hin.
— Dein Kompagnon? Ich verstehe dich nicht.
— Natürlich verstehst du das nicht. Ich erzähle dir die Geschichte der Reihe nach, dann wird dir alles klar: das Geld, der Mantel und der Kompagnon. Na, setz dich hin, und vor allem trinken wir einen Mokka. Herr Ober, zweimal Mokka und zwei Britannica-Zigarren.
Das Cafe war voll von gutgekleideten, wohlgenährten Leuten. Alle sprachen gleichzeitig, lachten und stopften sich voll; da wurde Billard gespielt, dort wurde mit dem Kaffeelöffel geklimpert: es war ein solcher Lärm, dass ich kaum hören konnte, was Antalfy sprach.
— Also, ich beginne. Der Anfang der Geschichte ist, dass ich vor zwei Wochen in dieses Cafe kam und mich an einen Tisch setzte. Geld hatte ich keines: ich konnte weder essen, noch trinken, noch rauchen: ich saß da — sieh mal, die Ecke dort — und guckte den Kartenspielern zu. Während des Spiels sprachen die Leute über alle möglichen Dinge: der Franken fällt, die Lire fällt, die deutsche Mark steht so, das englische Pfund. — Es waren alles Spekulanten, und jeder wollte gern vom anderen erfahren, wie man am schnellsten reich werden kann.
— Na, ich kann den Herren einen Rat geben — sagte ich plötzlich. — Kaufen Sie Dollars. Wer Dollars kauft, der wird schnell und ohne jedes Risiko reich.
— Hat Ihnen das vielleicht Wilson telegraphiert? — fragte lächelnd ein kugelrundes Männchen mit einem dicken, sommersprossigen Gesicht und roten Haaren — wobei die anderen noch vergnügter lachten.
— Noch höher — antwortete ich ruhig. — Nicht Wilson hat mir diesen Rat gegeben, sondern Karl Marx.
Die Spieler kümmerten sich weiter nicht um mich. Der eine sprach über ein neues Kasino. Es war ganz interessant, was er erzählte, aber ich konnte es leider nicht zu Ende hören, denn der Kellner fragte mich schon zum dritten Mal, was ich bestellen wollte, und da ich keine Möglichkeit hatte, mir etwas zu bestellen — wie ich schon sagte, hatte ich keinen Pfennig in der Tasche — , konnte ich nichts Besseres tun als aufstehen und gehen. Wie ich sage, hier fing's an. Na, steck die Zigarre an, Peter!
— Vor einer Woche kam ich wieder hierher, um mich zu wärmen und Zeitungen zu lesen. Ich setzte mich an einen Tisch und nahm eine Zeitung in die Hand. Später! — sagte ich zum Kellner, der mir mit aller Gewalt wieder etwas bringen wollte. Ich lese weiter, da stört mich schon wieder jemand. Ein rothaariger, sommersprossiger, kleiner, dicker Mann setzte eich zu mir an den Tisch.
— Gestatten Sie, mein Herr, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Weiß.
— Antalfy. Womit kann ich Ihnen dienen?
— Hier bitte!
— Herr Weiß drückte mir zwei Dollar in die Hand. Erst dachte ich, es sind irgendwelche Reklamezettel, es war aber echtes Geld, zwei echte Ein-Dollar-Scheine. Der Mann ist verrückt geworden! — dachte ich.
— Der eine Dollar ist für den Rat, den Sie mir gegeben haben, der zweite Dollar ist für die Auskunft, die Sie mir geben werden — sagte Herr Weiß, bevor ich noch vor Überraschung zu Wort kommen konnte.
— Der ist verrückt geworden — dachte ich. — Hoffentlich hat er keine Waffe bei sich. Auf alle Fälle werde ich sehr vorsichtig mit ihm sprechen und im schlimmsten Fall...
— Welche Auskunft kann ich Ihnen geben, Herr Weiß?
Herr Weiß nahm zwei Zigarren heraus. Die eine legte er vor mich hin, der anderen biss er die Spitze ab und spuckte sie unter den Tisch.
— Vor allem rauchen wir eine Zigarre. So. Also: Sie möchten wissen, worüber Sie mir Auskunft geben sollen? Wie ich merke, erinnern Sie sich nicht mehr an mich. Vor einigen Tagen haben Sie mir im Spielzimmer den Rat gegeben, dass ich Dollars kaufen soll. Ratschläge kann heutzutage jeder geben — dachten wir uns — und, um ehrlich zu sein, haben wir Ihrem Rat keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Aber am Abend — ich weiß selbst nicht, wie es kam — , als ich im Bett lag, fiel mir Ihr Rat ein, ich habe mir vergebens den Kopf darüber zerbrochen, wie der Mann heißt, auf den Sie sich beriefen. Es schwebte mir so vor, als ob ich den Namen schon irgendwo gehört hätte, aber ich hatte keine Ahnung... Kurz, ich ließ am nächsten Tag den Auftrag für englische Pfund rückgängig machen, und machte einen netten Abschluss in Dollars. Und was tut Gott? Pfunde fallen, Dollars steigen. Ich habe gesiegt! Und da ich ein ehrlicher Mensch bin, schrieb ich neben den Gewinn hin — sehen Sie, hier ist mein Buch, da hab ich notiert: Tipp von dem Mann mit der langen Nase. Für diesen Rat ist also der erste Dollar. Was den zweiten Dollar betrifft: Sie sagten damals, wer Ihnen den Rat bezüglich der Dollars gegeben hatte. Ja. Niemand soll Weiß einen Dienst umsonst erweisen. Den zweiten Dollar gebe ich Ihnen dafür, dass Sie mir den Namen und die Adresse des Herrn sagen, der Ihnen den Rat gegeben hat. Ich hoffe...
— Bitte, bitte. Ich habe schon damals gesagt, wer mein Ratgeber ist, ich habe auch jetzt keinen Grund, den Namen zu verheimlichen. Ich weiß es von Doktor Karl Marx, dass der Dollar unter den heutigen Verhältnissen steigen muss.
Weiß notierte in sein Büchlein: Doktor Karl Marx.
— Hm — sagte er kopfschüttelnd — , ich habe ganz bestimmt irgendwo diesen Namen gehört, aber wenn man mich aufhängte, ich könnte nicht sagen, wo. Vielleicht sind Sie so freundlich, mir die Adresse des Herrn Marx zu geben?
— Sehr gern. Karl Marx liegt auf dem High-Gate-Friedhof in London begraben. Er ist nämlich seit etwa fünfunddreißig Jahren tot.
Herr Weiß sah mich mit aufgerissenen Augen an. Jetzt dachte er, ich sei verrückt. Zum Zeichen tiefster Konzentration schloss er die Augen und kratzte sich am Kopf, dann schlug er sich plötzlich an die Stirn.
— Jetzt hab ich's! — sagte er mit strahlendem Blick. — Ich hab so was schon mal im Variete gesehen: Sie sind Geisterbeschwörer!
— Quatsch!
Ich riss ein Stück Zeitung ab und schrieb den Titel „Kapital" drauf. Den Zettel gab ich Herrn Weiß mit dem Rat, dass er sich das Buch kaufe und es lese.
— Behandelt das Buch die Valutaschwankungen? — fragte er misstrauisch.
— Nicht nur das, aber jedenfalls ist auch davon die Rede. Wenn Sie dieses Buch gründlich durchlesen, werden Sie so manches verstehen, was Ihnen jetzt als blaues Wunder erscheint.
Am nächsten Tag kam ich wieder ins Kaffeehaus.
— Ich muss Ihnen gestehen — empfing mich Herr Weiß mit vorwurfsvoller Miene — , ich glaube, Sie machen einen Affen aus mir. Das habe ich wirklich nicht verdient, aber Sie selbst machen auch ein schlechtes Geschäft, wenn Sie sich die Freundschaft von Weiß verscherzen. Ich habe mir das Buch gekauft — es ist mehr als ein Buch, es ist eine ganze Bibliothek — , ja, die halbe Nacht habe ich in den Büchern herumgeblättert, aber ich fand kein Wort von dem, was mich interessiert hätte... Sagen Sie, habe ich das verdient? Ist Weiß ein Mensch, mit dem man nur so spielt?
— Setzen Sie sich, Herr Weiß. Geben Sie eine Zigarre her. So. Ich danke. Und jetzt machen Sie Ihre Ohren weit auf. Ich werde Ihnen alles erklären.
Ich redete eine gute Stunde. Ich sagte ihm alles, was ich noch von dem im Kopf hatte, was ich in der Parteischule in Moskau gelernt hatte. Kapital — Geld — Kapitalismus — Krisen... Ich glaube, ich habe ein wenig oder sogar sehr die Begriffe verwechselt, aber das machte gar nichts. Herr Weiß verstand von dem Ganzen kein Wort. Er kratzte sich am Kopf, nagte an seinen Nägeln herum, trank ein Glas Wasser nach dem andern und als er schließlich sah, dass ich redete und redete, fiel er mir ins Wort.
— Genug — sagte er kopfschüttelnd. — Ich sehe schon, dass Sie sich auf die Dinge verstehen. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen. Und damit Sie sehen, mit wem Sie zu tun haben, stelle ich mich nicht als ein Weiser hin, ich sag's Ihnen ehrlich: ich hab kein Wort von dem verstanden, was Sie mir hier erzählt haben. Also, das tut nichts zur Sache. Das Wichtigste ist, dass Sie sich auf die Geschichte verstehen. Über die andern Dinge werden wir uns leicht einigen. Mit Weiß lässt sich schon ein Geschäft machen. Na, sprechen wir offen. Sie wollen Geld verdienen, und ich will auch Geld verdienen. Das ist ein Beweis dafür, dass wir beide kluge Menschen sind und zwei kluge Menschen verstehen sich leicht. Ja. Sprechen wir offen und ehrlich: wie steht die Situation? Ich besitze Geld, das ist das erste, was man zu einem Geschäft benötigt. Und Sie wissen, wie man Geld machen muss oder wenigstens behaupten Sie, es zu wissen. Einmal hatten Sie ja recht: der Dollar ist gestiegen, wie Sie und Ihr Freund Marx es vorausahnten. Gut. Wir versuchen die Sache noch einmal. Sie sagen, was ich kaufen soll und Sie sagen auch, wann es verkauft werden soll. Also, wir werden's noch einmal versuchen. Wenn dann ein Geschäft einschlägt, zahle ich Ihnen, zahle ich Ihnen...
— Zehn Prozent des Gewinns — fuhr ich dazwischen...
— Fünf Prozent — entgegnete Herr Weiß.
— Acht Prozent.
— Sechs!
— Sieben!
Wir einigten uns auf sechsundeinhalb Prozent. Seit damals wickelten wir einige größere Geschäfte ab und wie du siehst, ich lebe wie ein Herr. Ich unterwühle den Kapitalismus. Nieder mit dem Klassenfeind! Siehst du — fuhr Antalfy fort — , das ist unsere wahre Aufgabe: wir müssen uns in den Feind hineinbohren und ihn von innen heraus untergraben. So werden wir die besten Wegbereiter der Revolution!
Als ich nach Hause kam, stieß Pojtek einen Freudenschrei aus, als er den Mantel sah. Aber bald verging ihm die Freude, als ich ihm Antalfys Geschichte erzählte.
— Die Verlustliste wird immer größer — sagte er nachdenklich. Zu Hause werden Hunderte der besten Genossen gehängt, und hier draußen wird der eine Christusanbeter, der andere Polizeispitzel, der dritte macht's wie dein Freund Antalfy und der vierte... Na, es ist schon gleich! Wir werden nur stärker, wenn die Wurmstichigen abfallen!
— Für Antalfy gilt das nicht.
— Heut war ich draußen bei den internierten Genossen — fing Pojtek wieder an, ohne eine Antwort auf meine Entgegnung zu geben. — Mit Kun und Landler konnte ich nicht sprechen, aber mit Rakosi habe ich doch kurz gesprochen.
— Da fällt mir ein! Ich hätte fast vergessen, au erzählen. Ich darf eigentlich nicht darüber reden, aber dir...
Ich erzählte ihm von Anfang bis zu Ende von Goldmanns Plan mit der Roten Armee und von der Liste des Friseurs. Pojtek hörte mir mit offenem Mund zu. Anfangs lachte er bloß, dann aber erfasste ihn eine plötzliche Wut.
— Ich hoffe, das Ganze ist nur Unsinn — sagte er — , aber es ist auch möglich, dass eine große Schweinerei dahintersteckt. Ja. Es gibt soviel Provokateure hier, dass man aus den verfluchten Hunden eine Armee zusammenstellen könnte... Tja — dass Goldmann ein guter Genosse ist, das ist sicher. Zu Hause hätte er bestimmt den vor die Tür gesetzt, der ihm mit einem solchen Vorschlag gekommen wäre, und hier... Und auch du, Peter... Na, hoffen wir, dass diese Dummheit keine schlimmen Folgen haben wird.
Wir sprachen noch lange. Nur wir zwei waren zu Hause, die anderen gingen in die Nachbarbaracke hinüber, wo ein langhaariger Gnostiker einen Vortrag hielt. Pojtek war sehr schlechter Laune. Er hatte einen Brief von zu Hause, von seiner Frau bekommen. Die Frau war aus der Wohnung hinausgesetzt und zweimal vor die Polizei geführt worden.
— Sie schreibt: seitdem die Schaufenster mit den besten Sachen voll gestopft sind, hungern wir wirklich. Selbst während des Krieges war es besser als jetzt. Im Gefängnis kann's nicht schlimmer sein als ein solches Leben. Und wenn ich zu Fuß gehen müsste, wenn ich mit den zwei Kindern auf dem Arm nach Wien gehen müsste, würde ich es auch tun, schreibe mir nur, ob ich kommen kann, und ich mache mich sofort auf den Weg!
— Die zwei Kinder hungern. Lajcsi ist krank, weder ein Arzt noch Arzneien. Mit den Schuhen ist es auch schlimm — sagte Pojtek traurig.
— Lässt du sie hierher kommen?
— Wie sollen sie hierher kommen?
Er seufzte schwer, dann kam er — nach einer Weile — wieder auf Goldmann mit seiner Armeeorganisierung zurück.
— Ich begreife, dass die Jungens verzweifelt sind... Es ist schrecklich... Und dass sie auf die Partei schimpfen... Ja... Ich war schon zweimal im Internierungslager in Karlstein. Dort werden die Unseren so bewacht, dass gar nichts an sie herankommen kann. Man müsste etwas tun, das ist richtig, aber die Gefangenen selbst können keine Beihilfe dazu leisten, und hier draußen sind so viel Spitzel, dass, wenn wir etwas beginnen, die Polizei die Sache früher erfährt als unsere Leute. Und doch... Darin haben die Jungens vollkommen recht, irgend etwas muss geschehen...
Den nächsten Tag, den übernächsten Tag, eine Woche lange fragte ich Goldmann jeden Tag, ob es etwas Neues
— Vorläufig nichts. Sei ruhig und warte.
— Du Peter — sagte er zu mir — du, ich vermute, ich befürchte, Kondor hat den Mut verloren. Er tut gar nichts in der Sache, er zieht uns bloß hin. Ich denke, dass wir die ganze Sache selbst in die Hand nehmen müssen. Was meinst du?
Ich sagte ihm, was Pojtek darüber dachte. Ich verschwieg jetzt auch nicht, dass ich selbst von dem Plan nicht besonders viel hielt. Er hörte mich stumm an, streckte nur seine Unterlippe vor und schüttelte den Kopf.
— Schäm dich! — sagte er mit heiserer Stimme, als ich mit meiner Erzählung zu Ende war und ließ mich ohne weiteres auf der Straße stehen.

 

XII.

Wenn man Raja nach ihrer Kleidung beurteilen wollte, bekäme man ein ganz falsches Bild von ihr. Sie ist gekleidet wie eine Bourgeois-Studentin: ihre Kleider sind aus sehr feinen Stoffen gemacht und ihre Hände sind so fein gepflegt wie bei einer Schauspielerin.
— Du stammst doch aus einer Bourgeois-Familie, Raja?
— Ja. Weshalb fragst du das?
— Ich habe darüber nachgedacht, wieso du Kommunistin geworden bist?
Raja lachte und streichelte meinen Kopf. Anfangs nahm ich ihr das übel, aber später versöhnte ich mich mit derartigen Äußerungen Rajas. Sie hatte etwas Mütterliches an sich, aber diese Eigenschaft beeinträchtigte — wenn man sich daran gewöhnt hatte — die kameradschaftliche Freundschaft, die Freundschaft zu einer Genossin nicht.
— Wie bist du Kommunist geworden, Peter?
— Aus Überzeugung — antwortete ich gerade heraus.
— Ich kam genau so dahin. Ich habe selbstverständlich einen ganz anderen Weg durchgemacht als du, denn mein Ausgangspunkt lag ganz woanders als deiner. Ich bin heute ebenso kein ganzer Kommunist, wie du es nicht bist und es auch nicht sein kannst.
Auf dieses Wort hin sprang ich auf, aber Raja drückte ihre Hand fest auf meine Schulter. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so einen starken Griff hatte.
— Pass mal ruhig auf. Du arbeitest seit deiner Kindheit, dann kam der Krieg, die Revolution, es ist nicht deine Schuld, dass du keine Zeit, keine Gelegenheit zum lernen hattest. Und ich hatte — noch vor einigen Jahren — wie du es auch selbst wissen wirst, gar keine Beziehungen zur Arbeiterbewegung. Andererseits habe ich aber viel gelernt und lerne heute immer noch. Ich weiß sehr gut, woran es bei mir fehlt, aber du musst auch einsehen, dass du noch viel zu lernen hast. Noch viel Arbeit wartet auf uns. In dieser Zwangsruhezeit müssen wir uns für die spätere Arbeit vorbereiten. Wenn du meinst, dass es leichter geht, lese ich sehr gerne mit dir zusammen. Versuchen wir, Marx zusammen zu lesen. Bist du einverstanden? Durch das Lesen lernte ich nicht soviel wie aus Rajas Erklärungen, trotzdem wir in der Debatte oft aneinander gerieten. Ich glaube, in den meisten Fällen hatte ich recht, aber ich konnte mich nicht so gut ausdrücken wie Raja. Mit der deutschen Sprache hatte ich viel Schwierigkeiten, aber ich hätte auch auf ungarisch nicht so debattieren können wie sie.
— Ich lerne sehr viel, wenn ich mit dir spreche — sagte Raja — als sie das Buch zugeschlagen hatte.
Ich stand auf und strich über Rajas schönes, goldblondes Haar, ähnlich wie sie mein Haar zu streichen pflegte. Raja lachte und ich fühlte, dass mein Gesicht plötzlich feuerrot wurde. Raja wurde plötzlich ernst — ihre gute Laune war wie abgeschnitten — und dann streichelte sie mein brennendes Gesicht.
— Sag — fragte sie so einfach, wie wenn sie auch jetzt vom Lohn oder vom Mehrwert spräche — , sag, war dein Streicheln Kameradschaft oder war es mehr?
Ich sagte kein Wort, ich konnte nicht sprechen. Ich schämte mich, dass ich vor einer Genossin, vor Raja so dumm, so hilflos dastand.
— Willst du nicht antworten, Peter?
Ich konnte nichts sagen. Ich stand mit gesenktem Kopf vor Raja, dann umarmte ich sie plötzlich, ohne zu überlegen, was ich tat und drückte sie so fest an mich, dass sie leise aufschrie.
Drei Wochen lang verbrachten wir jeden Nachmittag und jeden Abend zusammen. Wir lasen und debattierten. Raja kontrollierte so streng, wie viel ich gelesen und was ich davon behalten hatte, wie wenn sie nichts anderes zu tun hätte, wie wenn es ihre heilige Pflicht sei, einen Gelehrten aus mir zu machen.
— Du brauchst so lange meine Kontrolle, bis du verstehen lernst, dass du kein guter Kommunist sein kannst, ehe du eine gründliche theoretische Ausbildung besitzt. Das Weitere machst du dann schon richtig. Bei dir wird das Lernen viel leichter gehen als bei mir, denn du hast die Arbeiterbewegung, die Revolution aus der Praxis heraus kennen gelernt.
Eines Abends, als ich in Rajas Zimmer kam, fand ich alles auf den Kopf gestellt. Nicht nur auf dem Tisch und auf dem Bett, auch auf dem Fußboden lagen durcheinander allerlei Hefte, Briefe, Manuskripte. Die Schubladen waren an die Wand gelehnt.
— Was ist los? Was geht hier vor?
— Ich mache Ordnung — antwortete Raja und warf ein Schriftenbündel in den offenen Mund des eisernen Ofens. — Setz dich, Peter.
Ich setzte mich, sie arbeitete weiter. Sie warf mit voller Hand zerrissene Schriften in den Ofen, andere wieder schnürte sie zu kleinen Bündeln und legte die Päckchen auf das Fensterbrett. Als ich hereinkam, hätte ich das sonst so ordentliche kleine Zimmer fast nicht erkannt. Eine kleine halbe Stunde später war alles wieder in Ordnung, nur der Ofen rauchte. Raja machte das Fenster auf, ich stocherte das Papier im Ofen an, dann stellten wir Wasser zum Tee auf.
— Bis das Wasser kocht, will ich dir einen Brief vorlesen, den ich heute von meiner Mutter erhielt.
— Ich verstehe doch kein kroatisch.
— Das weiß ich. Ich übersetze den Brief ins Deutsche und erzähle seinen Inhalt mit ganz einfachen Worten, so dass du alles verstehen wirst! Also, pass auf!
Raja nahm aus ihrer Tasche einen Brief heraus und las ihn so fließend, wie wenn er deutsch geschrieben wäre, obwohl sie ihn doch erst während des Lesens übersetzte.
— Liebe Tochter! Mehrere unserer in Wien lebenden Bekannten erschütterten uns mit der unerhörten Nachricht, dass du — ohne kirchlichen und elterlichen Segen, ohne standesamtliche Zustimmung — mit einem aus Ungarn vor der Hand des Gesetzes geflüchteten Schlossergesellen zusammenlebst. Die Nachricht klingt mir unglaublich, doch offen gesagt, du mein armes verirrtes Kind hast deinen unglücklichen Eltern schon soviel Kummer bereitet, dass ich — deine Mutter — dich auch einer solchen schrecklichen Tat für fähig halte. Ich und dein Vater leiden furchtbar unter diesen Dingen. Um nicht monatelang in Ungewissheit über dein Schicksal zu sein, haben wir beschlossen, dass deine Schwester Ilona übermorgen nach Wien fährt und dich sofort aufsuchen soll. Nimm sie mit großer Herzlichkeit auf. Begreife endlich, dass sie eine gute, eine sehr gute Schwester ist, die große Opfer für dich bringt, wenn sie nach dieser verfluchten Stadt fährt, in der Räuber und Mörder frei herumlaufen, um dich abzuholen. Wir haben die Hoffnung, dass deine Angelegenheit bei den hiesigen Behörden günstig erledigt wird, und dass du ohne Schwierigkeiten nach Hause kommen kannst! —
Das übrige lese ich nicht vor. Es ist nicht weiter interessant. Das Wichtigste ist, dass ich morgen höchstwahrscheinlich einen Gast bekomme: in der Person meiner älteren Schwester.
— Du sagtest mir bisher nicht einmal, dass du noch eine Schwester hast.
— Ich hielt es nicht für nötig, dir davon etwas zu erzählen. Ich glaube, sie ist auch auf mich nicht besonders stolz. Übrigens ist meine Schwester Ilona die Frau eines Gendarmeriemajors. Ich sah sie zuletzt, als ich auf der Polizei in Zagreb saß und sie mich da besuchte, um sich mit mir zu zanken. Es war damals, als ich wegen Verteilung von Flugblättern unter den Soldaten, die gegen die magyarischen roten Truppen mobilisiert waren, verhaftet wurde.
— So. Und wegen der gnädigen Frau Majorin hast du Ordnung in deinem Zimmer gemacht.
— Ja. Denn die Frau Majorin ist zu allem imstande. Ich will vermeiden, dass die Liebe meiner Schwester, die sie mir gegenüber hegt, außer mir auch noch anderen Unannehmlichkeiten bereite. Ich habe alles vernichtet, was — wenn es in fremde Hände gerät — den Genossen Schaden zufügen könnte. Und das, was ich hier zusammengelegt habe, bringe ich noch heute abend an einen sicheren Platz. Bisher war mein Zimmer solch ein sicherer Platz. Willst du mich nach Hietzing begleiten?
— Gewiß.
Am Nachmittag des nächsten Tages, als ich über den Hof ging, sah ich Rajas Schwester. Sie sah Raja sehr ähnlich, und trotzdem schien sie widerlich: ihr Gesicht war wie aus Porzellan, ihre Kleidung wie die einer Kokotte. Ich bemerkte sie schon von weitem, ging aber vorsichtig um sie herum, um ihr nicht in den Weg zu laufen. Abends suchte ich Raja zweimal: sie war nicht zu Hause.
In der Frühe suchte ich Antalfy auf. Ich aß mit ihm zu Mittag, wir verbrachten den ganzen Nachmittag zusammen, abends gingen wir sogar ins Kino. Es war gegen Mitternacht, als ich nach Hause kam: ich marschierte eine gute Stunde, denn ich schämte mich, jetzt, wo es Antalfy gut ging, von ihm Geld für die Straßenbahn zu verlangen, und er dachte nicht daran, mich zu fragen, ob ich Fahrgeld habe.
— Wo zum Teufel läufst du so spät herum — brummte Pojtek.
— Ich war mit Antalfy zusammen.
— Mit Antalfy? Gut. Morgen sprechen wir über die Sache.
Ich war todmüde, kaum hatte ich die Decke über den Kopf gezogen, als ich in tiefen Schlaf sank. Es lohnte sich nicht, sich zu beeilen: kaum war ich eingeschlafen, wurde ich auch schon wieder geweckt.
— Im Namen des Gesetzes!
— Haussuchung, hol der Teufel die Schweine — schimpfte Wilner.
Zwei Kriminalbeamte forderten uns — im Namen des Gesetzes — auf, unsere Papiere zu zeigen. Bei zwei der Zimmerkameraden fanden sie die Papiere in Ordnung. Als dritter kam ich an die Reihe. Ich gab dem Polizeimann ruhig meine Aufenthaltsbewilligung hin, die ich durch die Vermittlung des Hilfskomitees erhalten hatte — ich dachte bestimmt, dass ich mich gleich wieder hinlegen könnte. Aber — es kam anders.
— Peter Kovacs — las der große, hagere, glattrasierte Kriminalbeamte, der dicht neben mir stand.
— Peter Kovacs? — fragte der andere, der an der Türe stehen geblieben war.
— Sind Sie identisch mit dem Peter Kovacs, auf dessen Namen diese Legitimation lautet? — fragte der hagere Schinderknecht wieder.
— Ja.
— Ziehen Sie sich an! Sie kommen mit uns.
— Wohin? — fragte ich mehr aus Neugierde als aus Angst.
— Fragen Sie nicht soviel, ziehen Sie sich an. Sie kommen mit uns.
Pojtek sprang mir natürlich sofort zur Hilfe bei.
— Es kann sich hier nur um ein Missverständnis handeln — sagte er. — Der politische Flüchtling Kovacs besitzt einen vorschriftsmäßig ausgestellten...
— Das ist nicht Ihre Sache — fiel der Polizeibeamte Pojtek ins Wort. — Peter Kovacs kommt mit uns, legen Sie sich hin und stecken Sie Ihre Nase nicht in die Angelegenheiten anderer Leute.
Pojtek schwieg, aber er legte sich nicht wieder hin. Während ich mich anzog, stand er barfuss, in zerrissenem, schmutzigem Hemd neben mir. Sein unrasiertes Gesicht war blass, mit seinen klugen, braunen Augen beobachtete er abwechselnd den Kriminalbeamten und dann mich. Im Zimmer war es kalt. Pojtek zitterte, er ging aber erst ins Bett zurück, als der hagere Polizeibeamte ihn anbrüllte.
— Gehen Sie zum Teufel! Stehen Sie doch keine Paradewache hier!?
Während ich mich ankleidete, kontrollierten die Schufte die Legitimation des vierten Zimmerkollegen, die genau so aussah wie die meine. Sie fanden sie in Ordnung, es war also sicher, dass der Besuch der Kriminalen ausschließlich mir galt. Was zum Teufel wollten diese Hunde von mir?
Bevor wir gingen, griff der eine der Kriminalbeamten — nur ganz oberflächlich — unter das Bettlaken, ob ich da etwas versteckt hätte, der andere erkundigte sich nach meinen Sachen und schüttelte misstrauisch den Kopf, als er erfuhr, dass ich nichts besäße.
— Los, gehen wir!
In einer Einspännerdroschke brachten sie mich nach dem Polizeipräsidium. Dort wurde ich, ohne dass man mich vernommen hatte, in eine Einzelzelle gesteckt. Die Zelle war — verhältnismäßig — ziemlich anständig: das Bett, das sich da befand, war viel bequemer als das in der Baracke. Ich war hundemüde, das Bett war einladend, der Raum ruhig, aber ich konnte nicht schlafen. Warum zum Teufel hat man mich hierher gebracht, Goldmann — Rote Armee? Das kann doch bestimmt keiner ernst nehmen. Rajas Schwester? Was kann denn die gnädige Frau Major über mich erzählen? Oder ist mit Antalfy etwas los, dass ich von ihm Geld bekommen habe... ja.
Es dämmerte schon, als mich endlich die Müdigkeit niederwarf. Ich war noch sehr müde, als der Wärter — mit einem Teller Einbrennsuppe — mich weckte. Ich aß die Suppe, dann wusch ich mich, zog mich an, warf mich in den Kleidern wieder aufs Bett und schlief nochmals ein. Jetzt rüttelte mich wieder der Wärter aus dem Schlaf.
— Zum Verhör!
Ich wurde einem Polizeioffizier vorgeführt. Noch nie war ich so freundlich von einem Polizeioffizier empfangen worden.
— Nehmen Sie Platz! Rauchen Sie?
— Ich danke.
— Wie es Ihnen beliebt. Wenn Sie aber nur deshalb nicht rauchen wollen, weil Sie es mir übel nehmen, dass Sie verhaftet wurden, so sind Sie im Unrecht. Die Verhaftung geschah nicht auf meine Veranlassung — ich ordne sogar Ihre Freilassung an. Aber natürlich haben Sie das Recht — das will ich für keinen Augenblick in Frage stellen — , so wie jeder Gefangene, mir gegenüber ungerecht zu sein. Dazu berechtigt Sie auch Ihre vielgerühmte Demokratie.
Mit der rechten Hand hielt er die Zigarette am Mund, den Rauch blies er auf die Zigarette, in der linken Hand hatte er ein Stück Papier, wahrscheinlich mit Notizen über mich — dachte ich bei mir.
Ein paar Augenblicke betrachteten wir uns gegenseitig. Der Polizeioffizier hatte ein breites, rundes, liebenswürdiges Gesicht, das das kurz geschnittene, fast völlig weiße Haar noch friedlicher erscheinen ließ.
— Ihre vielgerühmte Demokratie — wiederholte er, als er sah, dass er von mir vergebens eine Antwort erwartete. — Verstehen Sie nicht deutsch? — fragte er nach einer Weile.
— Nicht gut.
— Na, ich werde versuchen mit einfachen Worten zu sprechen. Sie sind doch arbeitslos?
— Ja.
— Erhalten Sie Arbeitslosenunterstützung?
— Nein, ich bekomme keine.
— Ja. Dann leben Sie also in sehr schlechten materiellen Verhältnissen? Aber, ich bitte Sie, sagen Sie mir — Armut ist keine Schande — ehrlich und offen: Sie leben in sehr schlechten Verhältnissen?
— Wenn ich Sie mit der Frage nicht beleidige: wovon leben Sie denn eigentlich?
— Ich weiß selbst nicht, wie ich mich durchschlage.
— Also, ich will nicht aufdringlich sein, verzeihen Sie mir, wenn ich Sie etwas fragte, was Sie unangenehm berührt. Sie gaben doch zu, dass Sie sich in sehr schlechter materieller Lage befinden. Unter solchen Umständen ist es selbstverständlich, dass Sie gern irgendeine Arbeit annehmen würden.
— Gewiß.
Der Polizeioffizier dachte jetzt lange nach. Er saß mit dem Rücken zum Fenster, so dass das Licht auf mein Gesicht fiel, sein Gesicht nur wenig beleuchtet war. An der Glut der aufgerauchten Zigarette zündete er sich behutsam eine neue an, dann zog er seine Taschenuhr hervor und untersuchte sie lange. Wir schwiegen beide mit Ausdauer.
— Also, kurz, Sie suchen Arbeit? Ich hoffe, Sie sind nicht wählerisch.
— Nein, ich bin nicht wählerisch.
— Sehr richtig. In den heutigen schweren Zeiten darf man nicht sehr wählerisch sein. Übrigens, die Arbeit, die ich Ihnen empfehle, ist unter den heutigen Verhältnissen eine besonders günstige Arbeit. Und man kann auch nicht sagen, dass es eine besonders schwere Arbeit wäre. Es gehört ein wenig Menschenkenntnis und eine unbedingte Anständigkeit dazu, dann wird Ihre Leistung zu Ihrer Ehre und zum Wohl der Gesellschaft ausschlagen. Und dazu bekommen Sie eine anständige Bezahlung bei uns. — Hier kam wieder eine Pause, ich wartete aber nicht auf die Fortsetzung.
— Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie mich als Polizeispion engagieren?
— Polizeispion? So hässliche Worte nehme ich nicht in den Mund. Außerdem gehört der ehrverletzende Sinn des Wortes „Spion" der Vergangenheit an. Im Krieg verrichteten die Spione die heldenhafteste Arbeit. Das ist schon richtig: ich will in Ihrem Interesse ein gutes Wort einlegen, dass Sie in den Beamtenstand der Staatspolizei aufgenommen werden. Die Arbeit bei uns ist bequemer und einträglicher als in der Fabrik, davon abgesehen, dass es fast unmöglich ist, bei uns in Österreich Arbeit in einer Fabrik zu bekommen. Seitdem wir den Segen der Demokratie genießen, haben wir so viel Arbeitslose... mit einem Wort, damit können Sie nicht rechnen, dass Sie in den nächsten Jahren in einer Fabrik ankommen. Dann kann man auch nicht jahrelang von der Unterstützung der Freunde leben und besonders dann nicht, wenn diese Freunde selbst keine Millionäre sind. Daran denken Sie doch als kluger Mensch — hoffentlich — nicht, dass Sie bald wieder von dem Bolschewismus leben können? Der Bolschewismus gehört der Vergangenheit an. Die magyarischen Kommunisten haben die Revolution in Europa ein für allemal kompromittiert. Die russische Revolution geht auch ihrem Ende entgegen. Mit einem Wort — ich übertreibe nicht, wenn ich sage: die einzige ernste Möglichkeit, wieder in menschliche Verhältnisse zu kommen, ist, dass Sie in unsere Dienste treten. Was die Einzelheiten betrifft...
— Ich bin nicht neugierig auf Einzelheiten. Ich bin ein ehrlicher Mensch.
— Das weiß ich. Gerade deshalb will ich, dass Sie bei uns eintreten. Ja. Oder denken Sie vielleicht, unsere Arbeit sei ehrlos? Was? Ja. Also gut, mir ist's recht. Das ist Demokratie. Die Demokratie gibt Ihnen das Recht, dass Sie meinen Beruf als ehrlos betrachten, mir aber wird das Recht versagt, Genugtuung für diese Beleidigung zu verlangen. Im gegebenen Fall verzichte ich auf die Genugtuung. Ich weiß, dass ich recht habe, und das ist die schönste Genugtuung.
Jetzt lächelte der Polizeioffizier.
Ich fühlte, dass der Kerl mit mir nur sein Spiel trieb. Spricht freundlich mit mir und wickelt mich indessen ein, wie es ihm passt. Am liebsten hätte ich ihm etwas an den Kopf geschleudert.
— Sie sind noch sehr jung, lieber Freund, Sie nehmen noch viele Dinge zu ernst, die reifere Menschen nicht mehr ernst nehmen können und auch nicht wollen. Von den Kommunisten im reiferen Mannesalter haben uns schon eine ganze Menge ihre Dienste angeboten...
— Das ist nicht wahr! Das ist Verleumdung! Lüge!
— Gut, Lüge? Na, wie Sie glauben. Ich wollte Ihnen nur Gutes erweisen, aber wenn Sie es nicht wollen... Na, es macht nichts. Wissen Sie, ich habe Sie deshalb mit solcher Liebe behandelt, weil ich, als ich Sie sah, an meinen Sohn denken musste. Mein Sohn ist ungefähr im gleichen Alter wie Sie — er ist in russischer Kriegsgefangenschaft, irgendwo in Sibirien, der Ärmste. Als ich Sie erblickte, dachte ich sofort: vielleicht benötigt auch mein Kurt menschenfreundliche Hilfe — ich helfe Ihnen und dann hilft der Allmächtige, dass auch mein Sohn einen Beschützer findet. Aber Sie weisen die helfende Hand von sich ab und — mit Gewalt kann ich Ihnen meine Hilfe nicht aufzwingen.
Einen Augenblick lang glaubte ich, dass ich tatsächlich die guten Absichten dieses Mannes verkenne, der wirklich überzeugt ist, mir etwas Gutes vorzuschlagen. Aber, es war nur ein Augenblick, denn der Polizeioffizier fuhr fort.
— Ich war doch etwas ungerecht meinem Sohn gegenüber, wenn ich ihn mit Ihnen verglich. Mein Sohn würde niemals so tief sinken — würde niemals so herunterkommen, dass er sich aushalten ließe, dass er vom Gelde seiner Geliebten lebte wie Sie.
— Wie ich?
— Die Polizei weiß alles, seien Sie beruhigt, junger Mann, wir wissen alles. Wir wissen auch, dass Sie das Asylrecht missbrauchen und hier für eine Rote Armee werben, wir wissen aber auch, dass Sie mit dem Geld des Studentenfräuleins aus Jugoslawien ins Kaffeehaus gehen, es ist für uns auch kein Geheimnis, dass Ihnen dieses Fräulein einen Wintermantel gekauft hat. Na — setzen Sie sich nur, junger Mann, regen Sie sich nicht unnötig auf. Seien Sie beruhigt, ich spreche nicht mehr von diesen unangenehmen Dingen. Nein — ich will Sie nicht beschämen. Wenn Sie schon keine Hilfe von mir annehmen wollen, will ich Ihnen zum Abschied einen Rat geben: niemals, unter keinen Umständen, für keinen Augenblick dürfen Sie Ihre Menschenwürde preisgeben. Was geschehen ist, ist geschehen: in Zukunft aber achten Sie mehr auf Ihre menschliche Würde. Das empfehle ich Ihnen aus reinem Herzen, mit väterlichem Gewissen. Ja. Was das Weitere anbelangt, wenn Sie um jeden Preis in einer Fabrik arbeiten wollen — ein besonderer Geschmack — , wenn Sie sich unbedingt darauf versteifen, will ich versuchen, Ihnen auch da an die Hand zu gehen, trotzdem Sie sich mir gegenüber gar nicht so verhielten, dass Sie meine Beihilfe verdienten. Aber gut, Sie wollen Arbeit in einer Fabrik? Gut. Arbeit in einer Fabrik ist bei uns hier in Österreich nicht zu bekommen — es gibt keine Arbeitsmöglichkeiten. Wir können uns auf den Kopf stellen — es ist einfach keine Arbeit vorhanden. Ich kann Ihnen also Fabrikarbeit nur verschaffen, wenn ich Ihnen die Möglichkeit gebe, sich dorthin zu begeben, wo Fabrikarbeiter gesucht werden. Wohin wollen Sie gehen? Nach der Tschechoslowakei, oder nach Jugoslawien?
— Ich möchte hier in Österreich, in Wien bleiben.
— Bitte, machen Sie doch keine Geschichten. Vor einigen Minuten sagten Sie noch, Sie wollten in einer Fabrik arbeiten. Ich habe versucht, Sie davon abzubringen, Sie aber hielten daran fest. Da bei uns keine Arbeit in einer Fabrik zu haben ist, müssen Sie dahin gehen, wo Fabrikarbeiter gesucht werden. Also — Jugoslawien oder Tschechoslowakei? Oder vielleicht Ungarn?
— Ich möchte hier in Wien bleiben.
— In unserm Dienst? Wie? Im Dienste der Polizei? Das Blatt Papier, das er während der ganzen Zeit in
der Hand hielt, war ein Ausweisungsbefehl. Als die Verhandlung abgebrochen wurde, gab er mir den Ausweisungsbefehl in die Hand und sagte noch ausdrücklich, ich müsse Österreich sofort verlassen. Bis ich erfasste, wie sich eigentlich die Sache verhielt, stand schon ein Kriminalbeamter da, der den Befehl auszuführen hatte: mich an die Bahn zu bringen und dafür zu sorgen, dass ich sofort abreise.
— Schnell, schnell, wir versäumen den Zug!
— Ich appelliere! Ich protestiere dagegen! — schrie ich dem Beamten zu.
— Gut, gut, beeilen Sie sich nur, junger Freund! — sagte der Polizeioffizier.
Wir fuhren mit der Straßenbahn zum Bahnhof, an dem ich angekommen war — wie ich mich plötzlich erinnerte. Als wir in die Vorhalle traten, fasste mich der Kriminalbeamte am Arm und führte mich in eine Ecke.
— Ich bin Sozialdemokrat — sagte er flüsternd.
Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte und gab ihm keine Antwort.
— Überlegen Sie, Genosse — fuhr der Kriminalbeamte weiter fort — , es hat gar keinen Sinn, dass Sie da abfahren. Weshalb sollten Sie das tun, und wohin sollten Sie fahren? Die Tschechen lassen Sie ohne Pass nicht herein, und die Unsrigen lassen Sie auf keinen Fall wieder zurück, wenn Sie einmal über die Grenze sind. Eine solche Reise auf Schwarz endet meistens damit, dass man nach Ungarn verschleppt wird. Wie es da zugeht — na, wie es da aussieht, das wissen Sie gewiss besser als ich. Mit einem Wort — es ist ganz klar, dass es gar keinen Sinn hat, von hier abzufahren.
Ich blickte verwundert in die hervorstechenden Augen des Kriminalbeamten.
— Was raten Sie mir zu tun, Genosse?
— Was? Also in erster Linie zerreißen Sie den Ausweisungsbefehl und werfen Sie die Papierschnitzel hier in den Papierkorb hinein. Dann unterschreiben Sie diese Quittung.
Er drückte mir ein mit Maschinenschrift beschriebenes Papier in die Hand. Ich las mit Hilfe des Genossen Kriminalbeamten, dass ich von dem Beamten der Staatspolizei Wenzel Huber eine Fahrkarte dritter Klasse bis Znaim und ein halbes Brot erhalten habe.
— Unterschreiben Sie — drängte der Kriminalbeamte — , ich muss zurück. Sie bleiben noch eine Viertelstunde hier, dann können Sie gehen, wohin Sie wollen, nur nicht in Ihre alte Wohnung. Und natürlich dürfen Sie nicht Ihren bisherigen Namen benutzen. Im Cafe Habsburg können Sie verhältnismäßig billig — Personalausweis und Aufenthaltsbewilligung auf einen beliebigen Namen kaufen. Wenden Sie sich an den Kellner Jellinek. Merken Sie sich den Namen: Jellinek — der sagt Ihnen schon Bescheid. Na, machen wir's schnell, ich bin eilig.
Ich unterschrieb die Quittung und verabschiedete mich herzlich von dem sozialdemokratischen Polizeibeamten; von dem Geld, das er für meine Fahrkarte erhalten hatte, gab er mir soviel, dass ich mit der Straßenbahn in die Stadt fahren konnte. Ich spazierte noch eine gute Viertelstunde vor dem Bahnhof herum— ich weiß heute noch nicht, weshalb. Dann fuhr ich geradeswegs in das Cafe, wo Antalfy hauste. Ich erzählte Antalfy das ganze Abenteuer von Anfang bis zu Ende. Er kratzte sich den Kopf, aber alles war vergebens, er konnte nicht herausbringen, warum die Polizei es gerade auf mich abgesehen hatte.
— Na, vorläufig ist das ja auch nicht so wichtig. Die Hauptsache ist, dass Peter Kovacs abgereist ist, und dass du neue Ausweispapiere benötigst. Warte hier auf mich, bis ich meine Sachen erledigt habe — trinke einen Kaffee — , dann gehen wir zusammen ins Cafe Habsburg. Heute nacht schläfst du natürlich bei mir.
Im Cafe Habsburg setzten wir uns an einen Ecktisch. Um uns herum wimmelte es von Damen in eleganten Toiletten und von Herren in feinen Anzügen, sie machten Krach, als ob sie dafür bezahlt würden. An anderen Tischen — im scharfen Gegensatz dazu — steckten flüsternde Paare, manchmal auch zu dritt, die Köpfe zusammen, so dass niemand daran zweifeln konnte, dass sie nicht von Liebe, sondern über Geschäfte flüsterten. An dem Tisch neben uns trank ein fettbäuchiger Herr Sekt und aß dazu weiche Eier. Während ich die an der Wand hängenden Bilder betrachtete, bestellte Antalfy beim Kellner und fragte nur so ganz nebensächlich, ob er nicht mit Herrn Jellinek, mit seinem Landsmann, mit seinem alten guten Freund sprechen könnte.
— Ich bin Jellinek — sagte der grauhaarige Kellner mit dem vorgebeugten Rücken.
— So, Sie sind das? Gut.
Antalfy kniff sein linkes Auge zu und drückte Jellinek ein Geldstück in die Hand. Jellinek sah sich das Geldstück an, nickte mit dem Kopf, er blinzelte auch ein wenig, dann eilte er weg.
Ein paar Minuten später kam er mit einem kahlköpfigen, bebrillten, lächelnden Herrn zurück, der einen karrierten Anzug und eine weiße Weste trug.
— Herr Stein — stellte Jellinek den lächelnden Herrn vor.
— Ich stehe den Herren zu Diensten — sagte Herr Stein, mit seiner rechten Hand einen Halbkreis in der Luft beschreibend, mit der linken spielte er an der goldenen Kette auf seinem Bauch.
Als sich Jellinek entfernt hatte, erzählte Antalfy Herrn Stein kurz, was wir brauchten. Herr Stein zog die Stirn zusammen und klopfte mit der linken Hand auf seine weiße Weste.
— Hm, hm — sagte er. — Und wie kommen die Herren auf den Gedanken, dass ich mich mit solchen Dingen beschäftige? Die Herren sind doch politische Flüchtlinge?
— Ich befasse mich mit Valutageschäften. Vielleicht kennen Sie Herrn Jenö Weiß.
— Aha. Na gut, ich weiß schon. Die Herren sind trotzdem im Irrtum. Ich befasse mich nicht mit der Beschaffung von Papieren, ich beschäftige mich nicht mit Dingen, die das Gesetz verbietet. Ich muss sagen, ich befasse mich wirklich nicht mit solchen Dingen, und es ist ein bloßer Zufall, dass ich ein Zuständigkeitszeugnis bei mir habe, das auf ein westmagyarisches Dorf lautet, und eine Aufenthaltsbewilligung auf sechs Monate für Wien bei mir habe. Ein bloßer Zufall, denn...
— Na, und wie könnten Sie uns diese Papiere überlassen?
— Ich bin geneigt, diese Papiere den Herren aus reiner Freundschaft zu überlassen, aber diese Papiere würden ihnen wenig nützen, sie lauten nämlich auf eine zweiundfünfzigjährige Frau.
— Hm. Und haben Sie, Herr Stein, nicht zufällig auch andere Papiere bei sich.
— Nein, denn wie ich sagte, befasse ich mich nicht mit verbotenen Geschäften. Aber vielleicht kann Ihnen irgendeiner meiner Bekannten behilflich sein...
— Würden Sie die Freundlichkeit haben, uns diesem Ihrem Bekannten vorzustellen?
— Ja. Das kann ich. Aber mein Bekannter, an den ich dachte... Noch ein Glück, dass die Herren reichlich mit Geld versehen sind...
— Wo denken Sie hin! Zwei arme politische Flüchtlinge...
— Aber Sie arbeiten doch mit Jenö Weiß zusammen?! Und wie ich Weiß kenne... Mit zwanzig Dollar berechne ich den Herren die ganze Kollektion: Geburtsund Zuständigkeitszeugnisse, mit der dazu gehörigen Aufenthaltsbewilligung.
— Verflucht teuer — - antwortete Antalfy.
— Ich bedauere — billiger kann ich's nicht machen.
— Na, macht nichts. Ich will versuchen, vielleicht kann ich's wo anders billiger bekommen und vielleicht, ja... ich weiß doch noch nicht einmal, ob die von Ihnen angebotenen Papiere auch tatsächlich gut sind?
— So? Ich sehe, dass die Herren von der Sache gar nichts verstehen. Die ganze Welt — jeder vernünftige Mensch weiß, dass Stein die besten und billigsten Papiere liefert. Was den Preis anbelangt — schlage ich jede Konkurrenz. Und was die Güte betrifft: ich möchte gern die Polizei sehen, die echtere Papiere hat als ich. Bitte, meine Herren, sehen Sie sich diese Schriftstücke an...
Als wir eine Viertelstunde später wieder auf der Straße waren, hieß ich schon Geza Herzog, geboren im Burgenland, arbeitsloser Handelsangestellter. Antalfy bezahlte neun Dollar für die Legitimationspapiere.
Die Nacht verbrachte ich in einem Hotel, am nächsten Tag irrte ich auf der Straße und in den Kaffeehäusern umher wie ein herrenloser Hund. Am dritten Tag brachte ich Antalfy so weit, dass er zum Hilfskomitee ging, um dort vielleicht Pojtek zu treffen; da er ihn dort nicht fand, setzte ich Antalfy so lange zu, bis er ein Auto nahm und nach dem Barackenlager hinausfuhr.
— Dein Freund wohnt schon seit drei Tagen nicht mehr in den Baracken — erzählte er, als er zurückkam. — Niemand weiß, wohin er verschwunden ist. Wahrscheinlich wurde er auch verhaftet. Die jugoslawische Studentin wurde von Kriminalbeamten in derselben Nacht mitgenommen wie du. Von ihr weiß auch niemand mehr etwas zu sagen.
— Man müsste irgend etwas unternehmen. Du verstehst dich so gut auf die Dinge und hast auch ein gutes Herz...
— Ich habe schon über die Sache nachgedacht, während der ganzen Rückfahrt habe ich mir darüber den Kopf zerbrochen. Wir können nichts machen. Und wenn wir uns noch so lebhaft für die Sache interessieren — wir können ihnen nicht helfen. Wir gefährden uns nur selbst. Wir können nichts anderes tun als abwarten. Pojtek ist ja nicht von gestern, auf ihn kann man sich schon verlassen...
— Und Raja...?
Statt einer Antwort zuckte Antalfy mit den Achseln. Am nächsten Tag ging er noch einmal zum Hilfskomitee; vielleicht weiß Genosse Schwarz irgend etwas über Pojtek. Als er zurückkam, platzte er fast vor Wut.
— Ich lasse dich nicht mehr unter diese Schufte. Pfui, dieses heuchlerische, niederträchtige Pack!
Ob ich ihm noch so sehr auf den Hals rückte, er blieb unerbittlich, er war nicht gewillt zu sagen, was mit Pojtek beim Hilfskomitee geschehen war.
— Lass nur! — brüllte er wütend. — Von heute ab bist du kein Emigrant mehr, du bist mein Sekretär. Hast du verstanden? Mit diesen Schuften hast du nichts mehr gemein.
— Ehrlich gesagt, verstehe ich dich nicht. Dass Schwarz ein Schuft ist, das weiß ich. Dass eine Menge Leute zu Verrätern wurden, das weiß ich auch. Aber deshalb ist noch nicht jeder ein Schuft und wir, die wir keine sind, sind um so unentbehrlicher, je mehr abgefallen sind.
— Lass die Dummheiten. Von heute ab bist du mein Sekretär und kümmerst dich nicht mehr um die ganze Emigrationsgeschichte.
— Nein — sagte ich leise, aber entschlossen. — Ich werde kein Verräter.
Antalfy schlug mit der Faust auf den Tisch, dass ich dachte, die Platte springt entzwei.
— Verräter? Du sprichst von Verrätern? Bin ich ein Verräter? Was? Du irrst dich, mein Lieber! Ich bin kein Verräter, aber leider — bin ich vielleicht der einzige — na, lassen wir's! Wir sind alte Freunde, ich will mich nicht an Worte halten — fuhr er etwas ruhiger fort. — Die Sache steht so — ich habe dir das schon öfters erklärt — , Verräter ist ein jeder, der heute noch arbeitet, denn wer arbeitet, hilft den Kapitalismus aufbauen. Der wahre Feind der Bourgeoisie tut dasselbe, was ich tue — er zersetzt den Kapitalismus.
— Jeder, der sich von der Arbeiterklasse trennt...
— Ich weiß, ich weiß — fiel mir Antalfy ins Wort. Ich kenne diese Phrasen schon viel zu gut. Die Arbeiterklasse... ja. Ich schlug mich noch auf der rumänischen Front herum, als die Budapester Arbeiter schon nach den Lebensmittelzügen der Entente jammerten...
— Darin hast du teilweise recht. Nur dass diejenigen Arbeiter, die damals um die Hilfe der Entente flehten, die Dinge nicht so kannten wie du. Jetzt wissen sie, was sie von der Entente zu erwarten haben, man wird es ihnen jetzt viel leichter begreiflich machen können...
— Unsinn! Ich erkenne dich nicht wieder, Peter. Du hast dich sehr verändert.
— Du auch.
Antalfy warf wütend die Zigarette auf den Boden, zertrat sie, presste die Zähne zusammen, wie wenn er beißen wollte, dann ging er mit großen Schritten im Zimmer hin und her. Ich saß am Tisch und starrte mit aufgestützten Armen vor mich hin. Wir schwiegen lange. Schließlich fing Antalfy wieder an.
— Höre Peter, ich verstehe dich, aber du musst mich auch verstehen. Der Unterschied zwischen uns beiden ist nicht der — dass ich ein Verräter bin und du ein ehrlicher Revolutionär, sondern der, dass ich älter, erfahrener und geschulter bin als du. Die Sache der Revolution... hm. Wo ist denn die Revolution? Sie ist vorbei. Wenn wir uns nicht selbst etwas vormachen wollen, müssen wir sagen: die Revolution ist vorbei. Eine bittere, eine sehr bittere Tatsache — aber es ist so. Du kannst doch von mir nicht verlangen, dass ich als erfahrener, gebildeter Mensch neue Opfer bringe und Opfer von anderen verlange für eine verlorene Sache?
— Die neue Revolution können wir nur...
— Neue Revolution? Nein! Sieh — ich habe schon einmal gesagt — ich bin genügend geschult, ich kenne die Geschichte. Ich weiß, dass jede Emigration anfangs nur die Monate gezählt hat, alle waren sie sicher, nach ein paar Monaten siegreich nach Hause zu können. Dann wurden die Jahre gezählt und dann... Schließlich gingen sie zugrunde...
— Die russische Emigration...
— Das war eine ganz andere geschichtliche Situation, das lässt sich nicht mit der heutigen Emigration vergleichen. Nein. Was du auch sagen magst, es ist zweckloser Unsinn, sich hier in eine wichtige Pose zu werfen und von der Grenze her zu drohen. Nein, ich mache mich nicht lächerlich.
— Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Nach Hause zu gehen und dort zu arbeiten.
— Ich danke. Den verlorenen Beilstiel aus dem Rachen des Löwen holen? Nein. Krepieren, nur damit ich sagen kann, wenn ich unter den Galgen geführt werde: na Antalfy, du alter Dusel, du bist konsequent geblieben wie ein Ochse. Nein, dafür bin ich nicht zu haben. Was ich jetzt hier machen kann, das tue ich auch. Alles andere ist Unsinn. Die neue Revolution — neue Revolution. — Wer soll eigentlich die neue Revolution machen? Der Arbeiter, der seine Waffen fortgeworfen hat? Oder der Bauer, der die Stadt ausgehungert hat? Oder wer zum Kruzifix?
Ich wusste, dass Antalfy unrecht hatte und sah jetzt ganz klar, wie richtig Rajas Worte waren. Der Kampf wird nicht immer so einfach sein, wie mit dem Gewehr in der Hand dem Feind gegenüberzustehen, wo wir genau wissen, wer Freund und wer Feind ist. Raja — ob sie...
— Na? Da weißt du nichts zu antworten? Sag doch, wenn du's weißt: wer wird der Revolution neues Leben einflößen?
— Wer der Revolution neues Leben einflößen wird? — wiederholte ich — , die Kommunistische Partei.
— Die Kommunistische Partei? Wir hatten nicht einmal zur Zeit der siegreichen Revolution eine Kommunistische Partei, wie sollten wir jetzt eine haben? Ebenso gut könntest du vom Mond oder vom Sonnenaufgang Hilfe erwarten. Und wo steckt denn diese fabelhafte Kommunistische Partei, — wenn man fragen darf?
— Wo? In Ungarn, hier in Österreich, dann in der Tschechoslowakei, dort, wo die Rote Armee durchmarschiert ist...
— Na, du bist ja total verrückt geworden, Peter! Genug davon! Ich habe keine Sehnsucht nach der Irrenanstalt. Wenn du von den Tschechen, von den Rumänen, von den Arbeitern Hilfe erwartest, die mit der Waffe gegen die Ungarische Räterepublik gezogen sind... Na, du bist ja wahnsinnig!
— Ganz bestimmt hat der tschechische, der rumänische Arbeiter, haben die Arbeiter der ganzen Welt aus der Niederlage unserer Revolution gelernt...
— Gelernt? Na, Peter, ich hab auch gelernt, was ich lernen konnte. Sicher. Jetzt kann mir einer herreden, was er will, mich kann man nicht noch einmal verrückt machen. Der Arbeiter verdient nicht, dass wir uns für ihn aufopfern. Nein.
Am Abend sprachen wir nicht weiter miteinander. Am nächsten Morgen sagte ich zu Antalfy, dass ich von ihm fortziehen wolle.
— Wo willst du denn hingehen?
— Ich weiß noch nicht.
— Du bist unrettbar verloren — sagte Antalfy sehr traurig. — Gut, du kannst fortziehen. Tu, was du für gut findest. Aber, da ich nicht die Verantwortung übernehmen will, wenn du zugrunde gehst, tue mir den Gefallen und bleibe noch bis morgen hier, bis dahin suche ich dir irgendeine Arbeit, damit du wenigstens nicht vor Hunger krepierst.
Am nächsten Tag hatte ich tatsächlich Arbeit. Ich wurde Nachtwächter in einem Holzdepot.
Acht Tage lang stand ich als Nachtwächter im Dienst. Von abends neun bis morgens sechs spazierte ich auf und ab im Hof eines großen Holzdepots. Bei Tag schlief ich.
Ich bekam in dem Portierhäuschen des Holzdepots Unterkunft. Acht Tage lang geschah nichts Besonderes. Wenn ich nachts irgendein verdächtiges Geräusch hörte, dachte ich stets, dass gewiss nicht Bischöfe oder Bankiers Holz stehlen — und begab mich in die Portierloge, aber in der Früh bei der Ablösung war ich stets an meinem Platz und so verlief alles in schönster Ordnung. Am achten Tag, etwa um Mittag, wurde ich aus dem Schlaf gerüttelt — Goldmann kam mich besuchen.
— Woher wusstest du, dass ich hier wohne?
— Von Antalfy. Zieh dich schnell an, wir gehen ein bisschen spazieren. Oder wenn du bei Moneten bist, setzen wir uns in eine Kaffeestube.
— Ich hab noch etwas.
— Na, dann mach schnell.
— Gibt's etwas Neues?
— Ja.
— Was denn?
— Wir reden noch darüber.
Ich schlüpfe eiligst in meine Kleider und ein paar Minuten später saßen wir schon in einer kleinen Kaffeestube.
— Bestell nur ruhig etwas für dich — sagte ich zu Goldmann, der mir verlegen gegenüber saß, so dass ich dachte: er hat gewiss kein Geld und ist sehr hungrig. Iß doch irgend etwas — sagte ich zu ihm, — er sagte nichts, er winkte nur mit der Hand.
— Das ist nicht so wichtig.
— Du sagtest doch, du hast etwas Neues erfahren.
— Ja. Liest du keine Zeitung?
— Nein. Seit acht Tagen habe ich keine Zeitung in der Hand gehabt und mit niemanden gesprochen.
— Ja. Es handelt sich um Pojtek. Er ist nach Ungarn, um dort illegal zu arbeiten. Er wurde festgenommen.
Ich kann nicht in Worte fassen, wie mir zumute war, als ich das hörte. Das Lokal drehte sich vor meinen Augen — als wäre ich betrunken, oder hätte Gift geschluckt... Goldmann saß starr auf seinem Stuhl und sprach kein Wort. Ich sah ihn an, ich merkte, dass er noch nicht alles erzählt hatte, aber ich hatte keinen Mut, ihn zu fragen.
— Armer Pojtek! — sagte er schließlich.
— Ist er tot?
Goldmann nickte mit dem Kopf.
— Zwei Tage lang haben sie ihn gepeinigt, dann stürzten sie ihn vom zweiten Stock herunter.
Als wir eine Stunde später wieder auf die Straße kamen, sprachen wir nicht mehr über Pojtek, ich stöhnte von Zeit zu Zeit tief auf.
— Seit wann führst du einen anderen Namen.
— Seitdem ich ausgewiesen wurde. Weißt du, ich wurde schon zum Bahnhof geführt.
— Ich auch. Ich wurde wegen der Geschichte mit der Roten Armee verhaftet. Kondor, der Schuft, steht im Dienst der Polizei.
— Hm.
Es war schon dunkel, als wir uns trennten. Beim Abschied sagte mir Goldmann, dass mich Genosse Landler — der Alte — für morgen vormittag zu sich bestellt habe. Er gab mir die Adresse, wo wir uns treffen sollten, aber er gestattete nicht, dass ich sie aufschreibe. Ich musste sie zehnmal nacheinander sagen, um sie bestimmt nicht zu vergessen... aber die Adresse aufschreiben — das darfst du auf keinen Fall — sagte er.
Landler empfing mich sehr freundlich.
— Pojtek hat mir von Ihnen erzählt, mein Sohn — sagte er. Eine bessere Empfehlung können Sie nicht haben. Armer Pojtek, er war ein wirklicher Bolschewik.
— Das war er.
Landler nahm die Brille ab, wischte sorgsam mit einem farbigen Taschentuch die Gläser, dann setzte er die Brille wieder auf die Nase und blickte mir ganz aus der Nähe ins Gesicht. Jetzt sah ich erst, wie er während der Monate gealtert war. Jetzt war er nicht nur dem Namen nach „unser Alter", sondern er war auch tatsächlich alt geworden. Tausend Runzeln im Gesicht, blass und gelb. Auch seine Augen blickten, als ob sie müde wären, nur seine Bewegungen waren jugendlich geblieben.
— Die Frau, Pojteks Frau — fing er wieder an, während er im Zimmer auf und ab ging — Frau Pojtek mit den zwei Kindern ist schon unterwegs hierher, nach Wien. Wir schicken sie nach Russland hinüber. Dort wird Lajcsi ein Mensch werden. Na — ich glaube, — ich habe Ihre Gedanken erraten. Sie wollten über Pojteks Familie sprechen.
— Ja. Woher wissen Sie das, Genosse Landler?
— Das konnte man leicht merken. Aber wir wollen uns nicht weiter mit diesen Dingen aufhalten. Nicht deswegen habe ich Sie hierher kommen lassen, sondern...
Nun fragte er mich gründlich aus: wie ich lebe, was ich arbeite, was ich lese, mit wem ich verkehre. Erdachte eine Weile über das nach, was ich ihm zur Antwort gab, zeitweise nickte er zustimmend mit seinem müden Kopf. Ich erwähnte es nicht, er selbst sagte im Gespräch, dass wir uns vor Losoncz getroffen hatten.
— Ich ließ Sie deshalb rufen, mein Sohn, um Sie zu fragen, ob Sie eine Arbeit übernehmen wollen?
— Parteiarbeit?
— Selbstverständlich handelt es sich um Parteiarbeit und nicht um Veranstaltung von Frauenboxkämpfen.
— Ich bin sehr erfreut darüber, Genosse Landler.
— Wir schicken Sie auch auf Arbeit. Wir geben Ihnen eine sehr ernste Arbeit. Eine Arbeit an einem gefährlichen Ort.
— Zwar haben Sie schon die größte Gefahr hinter sich. In den letzten zwei Monaten habe ich gelernt, dass für einen jungen Revolutionär der gefährlichste Platz der ist, wo er zur Untätigkeit verdammt ist. Ich glaube, der weiße Terror hat nicht soviel gute Genossen getötet, wie die verfluchte Untätigkeit.
— Ich glaube, Genosse Landler, den größten Schaden hat die Niederlage angerichtet.
— Sie irren, mein Sohn. Die zu Hause, in Ungarn geblieben sind, die empfinden die Niederlage unmittelbarer, viel schwerer und doch... Gestern war hier bei mir ein Genosse, ein erprobter ernster Genosse, der noch vor zwei Tagen in Budapest war. Er brachte sehr, sehr traurige Nachrichten, aber er brachte auch andere. Das wissen Sie ja, dass Otto Korvin gehenkt worden ist? Er ist wundervoll mutig gestorben — na, aber ich will jetzt nicht davon sprechen.
Am frühen Morgen starb er und abends ging es bei den Arbeitern am Vaczer-Weg, in Neupest, in Csepel — überall von Mund zu Mund — Otto ist nicht gestorben, er hält sich in einer Neupester Fabrik versteckt und hat wieder zu organisieren begonnen. Man spricht davon, dass sich Szamuely in den Fabriken am Vaczer-Weg verborgen hält. Die Bauern — die Knechte des Großgrundbesitzes — wissen genau, sie schwören darauf, dass Bela Kun nach Moskau gefahren sei, um von Lenin Rat und Hilfe zu verlangen und es ist nur noch eine Frage von Wochen, von Tagen und — .
Wissen Sie, mein Sohn, ich liebe keine Legenden, keine abergläubischen Geschichten, aber diese Legenden muss man verstehen lernen. Sie sagen mehr als kilometerlange Statistiken, als ganze Bibliotheken von Analysen der Arbeiterbewegung. Wer Augen hat, muss sehen: der Bauer weiß, dass nur der Sieg der Kommunisten die Bodenaufteilung bringen wird, der Prolet weiß, dass es aus der heutigen schrecklichen Situation nur einen einzigen Ausweg gibt — die Befolgung des Weges der Kommunistischen Partei. Sie werden sich in uns nicht täuschen.
Bei diesen Worten richtete sich Landler auf, wie wenn er plötzlich wieder jung geworden wäre. Einen Augenblick lang war er jung, kraftvoll und sein Gesicht glühte. Seine Augen glänzten, seine Stimme klang klar.
Landler schickte mich zu Gyulai. Von Gyulai erfuhr ich, wohin ich zu fahren habe, wann ich losgehen soll, und wie ich mich zu verhalten habe. Wir sprachen zwei Stunden miteinander. Von Gyulai ging ich zu Hajos. Er hatte mich vor sieben Jahren in die Bewegung eingeführt — jetzt bekam ich von ihm die zur Reise nötigen Dokumente.
— Deine Lehrjahre hast du ehrlich zu Ende geführt, mein Sohn. Was jetzt folgt, nun giltst du schon als Geselle — sagte er zum Abschied. Halte auch weiterhin auf deinem Posten aus.
Die Straßenbahn, mit der ich zum Bahnhof fuhr, blieb unterwegs einige Augenblicke stehen: ein Trupp von Demonstranten zog durch die Straße und versperrte der Straßenbahn den Weg.
Vorne mit gesenktem Kopf, totenstill, ein paar Hundert österreichische Arbeiter.
Hinter ihnen, mit roten Fahnen, ein kleines Häuflein bulgarischer Studenten.
Nach den Bulgaren kamen unter lautem Gesang — italienische Arbeiter.
Ganz hinten: Magyaren. Die kleine lärmende Gruppe der ungarischen Flüchtlinge.
— Tod der Bourgeoisie!
— Tod der Bourgeoisie!
Mitten aus dem Lärm drang schrill die Stimme von Goldmann.