Karl Grünberg - Brennende Ruhr (1928)
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1. KAPITEL

Die Bremsen knirschten und quietschten, der Zug hielt abermals auf freier Strecke.
Überall wurden die verquollenen Fenster aufgerissen. Zornige Gesichter spähten nach der Ursache der Feldstation. Schimpfereien prasselten die Zugfront entlang. „Was ist denn da nun bloß wieder los?" „Schweinerei!"
„Die dritte Feldstation seit Essen, und so etwas nennt sich Eilzug!"
Die Schaffner, die missmutig durch den Schnee stampften, zuckten nur die Achseln. Der Zug mit der schweratmenden Maschine lag bald wieder wie tot in der nebligen Winterlandschaft. Neben dem taktmäßigen Röcheln des Dampfes hörte man nur das Schreien einer Krähe, die auf dem dickbereiften Telegraphenmast saß, und das aus den Abteilen dringende Trampeln frierender Füße. Denn die Heizung war schon seit Dortmund eingefroren.
Verspätungen auf Eisenbahnen bringen Menschen einander näher, die vorher sechs Stunden, ohne ein Wort zu wechseln, zusammen gereist sind. In einem Abteil dritter Klasse ging es besonders lebhaft zu.
„Jetzt ist es schon gleich vier Uhr, wo der Zug schon beinahe in Duisburg sein sollte, und dabei liegen wir noch immer vor Mülheim", machte ein gutgekleideter älterer Herr seinem gepressten Herzen Luft.
„Jedenfalls muss da wieder eine kranke Lokomotive auf der Strecke liegen", antwortete seine Nachbarin, die ihren Kopf so weit in ihre Nerzpelzjacke eingezogen hatte, dass zwischen dem hochgeschlagenen Kragen und dem Barett nur ein paar blonde Löckchen, eine kecke Stupsnase und zwei tiefblaue, glänzende Augen zum Vorschein kamen.
„Feuerbuchse oder Siederohr, Bremse oder Radbruch, Weiche oder was weiß ich sonst, sooft ich fahre - und ich fahre ziemlich oft - etwas ist immer los. Pünktliche Züge wie früher sind jetzt ganz aus der Mode gekommen. Das ist die berühmte Neuzeit!"
Seinen graumelierten Hindenburg-Schnurrbart streichend, sah sich der Schimpfende Beifall heischend um. Aber nur seine hübsche Nachbarin lächelte zustimmend. Der junge, blasse Mensch in dem feldgrauen Paletot, der neben der Dame saß, räusperte sich verlegen, und aus der anderen Ecke, wo ständig dicke Tabakwolken aufstiegen, kam ein tiefes Knurren.
„Da sieht man wieder einmal, was diese Revolution für Unheil angerichtet hat. Ich möchte bloß wissen, wie lange sich noch der deutsche Michel diese Misswirtschaft gefallen lässt. So geht es doch nicht weiter!" setzte der Schimpfende seine Herausforderung fort.
„So geht es wirklich nicht weiter", echote es aus dem Nerzpelz.
„Nein, wir halten ja noch immer auf freier Strecke", bemerkte ein gegenübersitzender Geschäftsreisender ironisch.
„Unsere Wirtschaft hält nicht nur, sie geht sogar ständig zurück", betonte der Hindenburg-Schnurrbart mit Nachdruck.
„Na, dann wollen wir nur schnell unseren lieben Wilhelm wiederholen. Wenn er Holz hackt, kann er vielleicht auch Lokomotiven reparieren", kam jetzt eine tiefe Stimme aus der Qualmwolke in der anderen Ecke.
In dem Tonfall lag eine drohende Herausforderung, auf die der andere offenbar nicht vorbereitet war. Während die übrigen Mitreisenden lachten, schnappte er vergeblich nach Worten, bis die junge Dame, den Pelzkragen zurückschlagend, in versöhnlichem Ton einzulenken versuchte.
„Monarchie oder Republik, davon ist ja hier keine Rede. Die Hauptsache ist, dass gearbeitet wird und Ruhe und Ordnung und Handel und Wandel herrscht, wie wir es früher hatten."
„Ja, ja, die gute alte Zeit, wo die Butter 1,10 kostete", unkte der Zwischenrufer und rückte kampflustig heran, so dass seine Widerpartner ihn jetzt deutlich erkennen konnten. Die breiten, hängenden Schultern, der geduckte Kopf, die vielen schwarzen Kohlenpünktchen in dem gelblichfahlen Gesicht, die sehnigen, geschwärzten Hände waren untrügliche Zeugen schwerer Grubenfron. Bergarbeiter altern früh, dieser hier konnte ebenso gut vierzig wie sechzig Jahre alt sein.
Ein Kumpel im Sonntagsanzug, dachte der vornehme Herr verächtlich.
„Sagen Sie nichts gegen die alten Zeiten, da hatten wir doch wenigstens zu essen", antwortete statt seiner der Geschäftsreisende, der ständig im Kursbuch blätterte.
Der Arbeiter stopfte aus einem grauen Leinenbeutel bedächtig seine Stummelpfeife.
„Alte Zeiten? Angenommen, sie waren so golden, wie sie vielen Leuten aus der heutigen Kohldampfperspektive erscheinen. Wodurch sind wir denn so auf den Hund gekommen? Brotkarten, Kohlenkarten, Fettkarten, Bezugscheine, Papiergeld, Ersatzmittel, Ersatz - Ersatz -und was weiß ich noch. Wer hat uns denn diesen Segen beschert? Die Republik, die Ihnen so mächtig vor dem Magen steht?"
„Dafür war ja auch Krieg", rief die junge Dame, die Rauchwolken mit ihrem Spitzentüchlein abwehrend.
„Ja, das vergessen viele nur zu leicht", sagte der Bergarbeiter, seinem „Gasangriff" eine andere Richtung gebend.
„Vier Jahre Krieg! Da denken die Leute, man kann am 9. November dort wieder anfangen, wo man am 4. August aufgehört hat. Dass wir vier Jahre lang keine nützliche Arbeit verrichteten, den ,Nationalwohlstand' durch die Kanonenschlünde jagten, davon will keiner was wissen. Sie wundern sich nur, dass wir arm, bettelarm geworden sind!"
„Da ist es immer am bequemsten, auf Revolution und Republik zu schimpfen", warf jetzt der junge Mann in dem umgearbeiteten Militärmantel ein.
„Die Eisenbahn!" fuhr der Bergmann unbeirrt fort. „Im Kriege nahm man die kupfernen Feuerbuchsen heraus, ersetzte sie durch stählerne, um Material für Granatringe zu bekommen. Fragen Sie nur die Eisenbahner, wie oft die Dinger durchbrennen und die Züge dadurch stehen bleiben!"
„Und dann hat auch wieder die Republik dran schuld", lachte der Republikaner.
„Aber wenigstens doch die Revolution! Wenn man unsere Front nicht erdolcht hätte, brauchten wir nicht diesen Diktatfrieden anzunehmen. Wissen Sie nicht, wieviel Lokomotiven wir abliefern mussten? Und die ganzen Reparationen! Allein an Kohlen monatlich eine Million sechshundertachtzigtausend Tonnen! Oh, die Herren Franzosen sind großmütig! Von den alten kaputtgefahrenen Lokomotiven wollen sie uns jetzt eintausendfünfhundert Stück verkaufen. Unsere eigenen Lokomotiven sollen wir zurückkaufen, meine Herrschaften! Das mutet man uns Deutschen zu! Und ich sehe schon, unsere Reichssattler werden auch diesen Riemen schlucken", giftete es zurück.
Der Bergarbeiter musterte seinen Widersacher vom Kopf bis zu den in einer Tigerdecke steckenden Füßen, ehe er antwortete:
„Ich habe das sogar schon vorher bedacht und riss darum auch 1914 meine Klappe nicht so weit auf, wie gewisse Leute es getan haben - Anwesende natürlich ausgenommen. Auch 1918, als beim Frieden von Brest-Litowsk die halbe Welt ,befreit' werden sollte: Finnland, Polen, Litauen, Baltikum, Ukraine, da sagte ich mir: ,Was du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem andern zu!' Den letzten beißen die Hunde -nun waren wir die letzten. - Ich weiß, ich weiß: weil sie uns von hinten piekten", wehrte er in seiner behaglichen Überlegenheit den Aufbrausenden ab. „Also, was das anbetrifft, da darf ich auch ein Wörtchen mitreden. Ich weiß, dass der Dolchstoß von hinten kam - nämlich aus der Etappe! Man hatte mich im letzten Jahr auch noch trotz meiner neunundvierzig Jahre als Schipper zur Front eingezogen. Weil wir wegen Hunger in den Streik getreten waren. In der Etappe, da verprassten die Herren Offiziere mit ihren ,Damen' das, was für die Front bestimmt war. Und in der Heimat wurde gewuchert und geschoben. Hier geht es ihnen genau so wie mit den Eisenbahnern: Sie wundern sich, dass die Karre stehen blieb - und machen andere dafür verantwortlich."
Die Mitreisenden rückten näher an den Redner heran, der jetzt richtig in Fahrt gekommen zu sein schien. Dem „besseren Herrn" dagegen begann die Diskussion peinlich zu werden. Unruhig rutschte er auf seinem Fensterplatz hin und her.
„Es sind wohl", sagte er schließlich mit vor innerer Wut bebender Stimme, „viele Missstände vorgekommen. Aber das darf man doch nicht so verallgemeinern. Um auf den Dolchstoß zurückzukommen: Sie sagten ja selbst, dass Sie während des Krieges streikten. Wissen Sie auch, was das war? - Vaterlandsverrat war das, mein lieber Mann, wobei Ihnen als mildernder Umstand nur zur Seite steht, dass Sie aufgehetzt waren! Sehen Sie", fuhr er triumphierend mit lauter Stimme fort, „diese Streiks brachen der Front das Rückgrat! Oder können Sie schießen, wenn Sie keine Munition haben?"
„Können Sie zwölf Stunden Kohlen picken, wenn Sie nur Marmelade zu fressen kriegen?" platzte der Bergarbeiter heraus. „Ja, sehen Sie, lieber Mann, diese Frage können Sie nicht beantworten, wobei Sie als mildernden Umstand nur zur Seite haben, dass Sie sich darin noch niemals versucht haben. Oder aber", fuhr er unerbittlich fort, „wenn Sie schon mal in der Grube gearbeitet haben, muss das schon sehr lange her sein. Auf jeden Fall sind Sie doch wohl ganz leidlich durch den Krieg gekommen!" Die rosigen Hängebacken und die wohlgepflegten Hände des Angegriffenen zeugten allerdings davon, dass ihr Besitzer schwere Körperarbeit nur vom Hörensagen kannte. Er schien auch jetzt einzusehen, dass er hier nichts mehr zu verlieren hatte, und wandte sich, die Anzapfungen überhörend, demonstrativ seiner Begleiterin zu. - Der Zug begann sich eben wieder langsam in Bewegung zu setzen.
,Endlich geht es weiter! Ich bin Ihnen zu Gefallen dritter Klasse mitgefahren, nun sehen Sie, was dabei herauskommt. Mit Ihren Ideen müssen Sie sich schon an die Angestellten und Beamten halten. Lassen Sie sich mit diesem Plebs ein, bekommen Sie nur unverschämte Antworten. Das sind doch alles Spartakisten, und da hilft nur..."
Er hatte seine Stimme zum Flüstern gedämpft, aber trotzdem wagte er den letzten Satz nicht zu Ende zu sprechen.
„Ich denke anders darüber, Herr Direktor! Wir müssen von unserer Warte herabsteigen, um die Seele des Arbeiters ringen. Ohnedem werden wir nie das Ziel erreichen", gab ihm das junge Mädchen zur Antwort, weitere Erörterungen durch energisches Herumrücken abschneidend.
Zwischen dem Feldgrauen und dem Bergarbeiter war eine heftige Diskussion entbrannt. Der junge Mann betonte energisch die Notwendigkeit des Wiederaufbauens. Dazu gehört vor allem Kohle, das Urbrot der Industrie. „Nur die Arbeit kann uns retten", rief er pathetisch aus. „Sehen Sie", fuhr er eifrig fort, als er das ironische Lächeln um den Mundwinkel des anderen bemerkte, „ich habe hier den ,Vorwärts' vom 19. Februar 1920. Da beklagt sich ein Rittergutsbesitzer in einem Brief über den Kohlenmangel. Wollen die Herrschaften mal bitte zuhören:
Als Abonnent des ,Vorwärts´ lese ich soeben den Artikel von Erwin Barth: ,Die Not im Erzgebirge´. Die geschilderten Zustände sind herzzerreißend. Im Namen der Deutschen Landwirte rufe ich Ihnen zu, und zwar in letzter Stunde: Wenden Sie Ihren Einfluss, und zwar an maßgebender Stelle, auf, dass der Landwirtschaft Kohlen und nochmals Kohlen geliefert werden. Wir können nicht dreschen, das Getreide verfault in den Schobern und wird von den Mäusen gefressen. Getreide ist genug vorhanden. Der Not könnte gesteuert werden' ... "
Auf der zerfurchten Stirn des Arbeiters erschien eine dicke Zornesfalte.
„Hm, so..."
„Der Einsender schreibt noch, dass Landwirtschaft, Verkehr und Bergbau vor Streiks bewahrt bleiben müssen, weil das die Brotbeschaffung erschüttert."
„Und der ,Vorwärts´ schreibt von sich aus kein Wort dazu?"
„Ja, was denn sonst noch? - Ich meine, das ist doch so klar wie nur irgendetwas."
Der Kumpel beschäftigte sich, ungeachtet der teils fragend, teils höhnisch auf ihm ruhenden Blicke einiger Mitreisender, umständlich mit seiner Pfeife.
„Mir fällt nur auf, dass heute die Junker schon den ,Vorwärts´ abonnieren. Das ist aber vielleicht auch nur ein Zeichen der Zeit, das unsereins, der seit fünfundzwanzig Jahren in der Bewegung steht, nicht mehr begreift."
„Da verstehe ich Sie nicht", verwunderte sich der junge Mann.
„Nun, ich denke, diese Junker haben während des Krieges gegen das arme Volk eine viel schlimmere Hungerblockade als die Engländer geführt."
„Das ist eine grobe Lüge; die jüdischen Schieber und Spekulanten haben alles verschoben, das ist doch bekannt", konnte sich der Hängebackige nicht mehr enthalten, bedauerte aber schon im nächsten Moment, als er in die kalt-ironischen Augen des Sprechers blickte, sich einer erneuten Abfuhr ausgesetzt zu haben.
Dann sagen Sie bitte auch gefälligst, wo diese Schieber eigentlich die Lebensmittel herkriegten? Wo doch die Landwirte alles abzuliefern hatten? Oder war die Nichtablieferung von Lebensmitteln, die doch für den Krieg mindestens ebenso wichtig wie Granaten waren, nicht auch ein bisschen Landesverrat?"
„Ich sagte Ihnen ja, es hat keinen Zweck", raunte der Direktor achselzuckend seiner Begleiterin zu und begann ostentativ mit dem Studium der Eisblumen am Fenster.
Die junge Dame aber beugte sich noch weiter herüber, um kein Wort der Unterhaltung zu verlieren.
Der Bergarbeiter redete auf den kohlebeflissenen jungen Mann ein, dessen blasses Hungerleidergesicht sich vor Eifer zu röten begann.
„Die ganze Geschichte kommt nur auf eins heraus: Kumpels, schiebt fleißig Überschichten und haltet das Maul! Ich komme soeben von einer Betriebsrätekonferenz der Niederrheinischen Zechen in Essen. Da haben wir uns heute den halben Tag mit dem Überschichtenangebot der Regierung beschäftigt. Jede Woche sollen wir zweimal eine halbe Überschicht verfahren." „Und ist es angenommen worden?"
Der Betriebsrat lachte bitter: „Der Zechenverband hat natürlich sofort angenommen. Für diese Herren bedeutet das ja nur neue Profite."
„Die Bergarbeiter verdienen dann aber doch auch und bekommen mehr Lebensmittel zugewiesen", warf die Dame ein.
„Hundert Prozent Überschichtenzuschlag, dazu 3125 Gramm Brot pro Woche und ein Pfund Speck. Mit Speck fängt man Mäuse!" Er lachte höhnisch, seine Pfeife unter der Bank ausklopfend.
„Nun, ich finde es ganz richtig, dass länger gearbeitet wird. Sieben Stunden bei dieser Kohlennot, das halte ich - entschuldigen Sie diesen Ausdruck - direkt für ein Verbrechen am Volke", rief der junge Mann voller Nachdruck.
Der Bergarbeiter straffte seinen zusammengeduckten Oberkörper.
„Junger Mann, arbeiten Sie erst mal ,vor Ort'! Halbnackt, schweißbedeckt, wasserumspritzt, auf dem Bauche liegend, halbblind vor Kohlenstaub, bei 35 Grad, im blinzelnden Grubenlicht! Nur einmal einen Tag, und dann sollen Sie sagen, ob sieben Stunden zuviel oder zuwenig sind."
„Jawohl, das werde ich auch tun", antwortete der andere mit gewissem Stolz. „Ich bin zwar kein Arbeiter von Beruf, bin Student, aber ich scheue mich vor keiner Arbeit. Und gerade die Bergarbeit will ich kennenlernen, da es an Bergleuten fehlt. Dass das kein Kinderspiel ist, weiß ich wohl. Im Hochsommer habe ich vier Wochen bei der Ernte geholfen. Das ist auch nicht leicht, von morgens um vier bis abends um acht auf den glühenden Feldern zu schaffen, das können Sie mir glauben!"
„Na, denn Glück auf, Herr Kollege!" sagte der andere spöttisch, die schmächtige Gestalt des Jungen musternd. „Wo soll es denn hingehen, wenn man fragen darf?" Der Student überhörte absichtlich die Ironie.
„Ich wollte bis Duisburg fahren, da herum sind ja wohl die meisten Gruben. Einen bestimmten Platz habe ich zwar noch nicht, aber wenn Sie Betriebsrat sind, - mein Name ist Sukrow, stud. ehem. - vielleicht können Sie mir mit Ihrer Erfahrung einen guten Rat..."
„Ruckers... ", erwiderte der Betriebsrat die Vorstellung, indem er im Sitzen so etwas wie eine Verbeugung machte. Dann sagte er nachdrücklich: „Mit gutem Rat ist das allemal so: Wer klug ist, braucht keinen, und wer dumm ist, befolgt ihn nicht. Ich könnte Ihnen nur eins raten, gehen Sie schnell wieder zu Ihren Büchern, meinethalben auch aufs Land, aber lassen Sie Bergarbeit Bergarbeit sein. Sie klemmen sich dabei nur die Finger."
„Dann werde ich auch so meinen Weg finden", kam es gekränkt zurück. „Ich sage: Probieren ist besser als studieren."
„Da haben Sie allerdings auch Recht", lenkte der Arbeiter ein, dem seine Schroffheit schon halb Leid tat. „Aber so einfach, wie Sie sich das vorstellen, ist es doch nicht. Glauben Sie bloß nicht, dass man auf Sie wartet. Aber wenn Sie durchaus wollen... , versuchen Sie es doch bei uns in Swertrup, da müssen Sie mit mir in Oberhausen aussteigen."
Ernst Sukrows hoffnungsvolle Perspektive bekam plötzlich ein großes Loch. Er hatte so fest darauf gerechnet, sofort als Lehrhauer eingestellt zu werden, dass er einen Misserfolg gar nicht für möglich hielt. Was nun, wenn der erfahrene Bergmann Recht hatte? Kleinlaut sagte er:
„Da stand doch groß und breit in der Presse von hunderttausend Bergleuten, die neu eingestellt werden sollen. Die Regierung hielt auch schon Besprechungen über ganze neue Arbeiterkolonien ab, die angelegt werden sollen. Das kann doch kein Schwindel sein."
Ruckers zuckte die Achseln. „Papier ist ja geduldig. Wir haben noch nichts von Neueinstellungen gemerkt!"
Dann begann ihn aber doch dieser junge Mensch zu interessieren. Die sonst immer die Phrase: „Nur die Arbeit kann uns retten" brauchten, hatten sich persönlich meist zuerst vor der Arbeit gerettet, wie jener wohlgenährte Bourgeois da in der Fensterecke. Aber dieser hier meinte es offenbar aufrichtig. Er begann ihn vorsichtig auszufragen, und bald fand er auch seine Vermutungen bestätigt. Der da ihm gegenüber saß, gehorchte bei seinem Vorhaben mehr der Not als dem eigenen Triebe. Kriegsfreiwilliger, Offiziersaspirant - dann unorganisierter Novembersozialist und Hungerstudent, ein Schicksal, das viele Tausende durchkosten mussten. Hinter seiner republikanischen Begeisterung verbarg sich schlecht die Not seiner verarmten Kleinbürgerfamilie, der die Mittel zum Weiterstudium des Ältesten ausgegangen waren. Immerhin schien er einige Bücher über Sozialismus gelesen zu haben. Der Umstand, dass er im letzten Kriegsjahr wegen eines tätlichen Angriffs gegen einen arroganten Vorgesetzten degradiert und zu acht Jahren Festung mit Bewährungsfrist verurteilt worden war, schien ein übriges zu einem „Gesinnungsumschwung" beigetragen zu haben.
„Freie Bahn dem Tüchtigen in der neuen Volksrepublik", das war die Parole, die ihn begeisterte und schließlich veranlasste, sich beim Freiwilligenaufgebot gegen Spartakus zur Verfügung zu stellen. „Wer in dieser Situation mit Quertreiberei und Eigenbrötelei begann, wie diese Liebknecht und Luxemburg, musste eben mit Waffengewalt zur Raison gebracht werden." — Angeekelt durch das wüste Treiben der Soldateska und den neu aufgezogenen Offiziersdünkel hatte er schließlich dem Freikorps den Rücken gekehrt. Hatte weiter studiert und gehungert, bis es nicht mehr ging.
Aber mit eiserner Energie packte er das Leben an: landwirtschaftlicher Helfer, Angestellter einer Kriegsgesellschaft - und jetzt „Bergarbeiterkandidat"!
Mit gewinnendem Freimut und einer Portion Galgenhumor, als handle es sich nur um ein persönliches Pech, hatte der junge Student seine Geschichte erzählt.
Die Dame, deren Begleiter in Mülheim ausgestiegen war, beschäftigte sich sehr interessiert mit dem Studenten: „Da haben Sie ja wirklich schon viel Schweres durchgemacht; solche Menschen imponieren mir. Sehen Sie: Ich habe in vielen Sachen eine ganz andere Einstellung als Sie. Schließlich können wir nicht alle eines Sinnes sein, aber das Wohl des Vaterlandes müsste der Mittelpunkt sein, wo wir immer wieder zusammenkommen."
„Fragt sich nur, was man unter Vaterland versteht", warf der Bergmann - der an Konversation mit gebildeten Damen nicht gewohnt sein mochte - dazwischen.
Sie überhörte das absichtlich.
„Sehen Sie, auch ich fahre zur Arbeit ins Industriegebiet. Gewisse Leute sagen vielleicht, dass ich das nicht nötig hätte, weil mein Vater in Hannover eine Fabrik hat. Sie haben sicher schon von Zenks Hautcreme und Gesichtswasser gehört. Aber auch Vermögen verpflichtet. Wir arbeiten alle! Ich studiere auch Chemie und will meine Kenntnisse hier praktisch erweitern. Sie sehen also, dass auch die Angehörigen der so genannten kapitalistischen Klasse, die ja nach gewissen Theorien nur Drohnen der menschlichen Gesellschaft sind, arbeiten! Mein Vater arbeitet täglich zwölf bis sechzehn Stunden, da möchte wohl kein Arbeiter mit tauschen!"
Der Bergmann kräuselte seine Lippen verächtlich, beherrschte sich aber und paffte wieder ärger als zuvor.
Es war draußen mittlerweile völlig finster geworden. Im Abteil verbreitete ein Gaslämpchen müdes Licht, das so recht zu der an den Fenstern vorübergleitenden Landschaft passte. Wohl wechselten die Namen der Stationen, aber das Bild blieb immer das gleiche. Hässliche, unsymmetrische Mietskasernenblocks wechselten mit ebenso trostlos und verräuchert erscheinenden Zechenkolonien. Hier und da rückten sie zu Straßenschluchten und Ortschaften zusammen, spärlich erhellt von glimmenden Gaslaternen. Im kalten Licht der Bogenlampen dampften Kokereien und Hüttenwerke, ragten Schachttürme und Abraumhalden, loderten die glutroten Fackeln der Hochöfen. Dazwischen in gewissen Abständen, gleich Fremdkörpern in dieser Umgebung, kreuzgekrönte Türme protziger Kirchen.
Ratternd schnitt der Zug abermals zahlreiche Weichen. Oberhausen war erreicht. Fräulein Zenk reichte dem jungen Studenten die Hand.
„Es hat mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen, Herr Sukrow. Also viel Glück auf Ihren neuen Wegen, vielleicht sehen wir uns hier mal wieder."
Mit einem eigenartigen Gefühl in der Herzgrube blickte der junge Mann der anmutigen Gestalt nach. Ihren kleinen Handkoffer wie einen Schild vor sich hertragend, bahnte sie sich entschlossen durch die drängende Menge ihren Weg. Auch Ruckers blickte ihr nach; sein Gesicht hatte jetzt den Ausdruck tiefer Nachdenklichkeit angenommen. Erst als die Dame im Zwielicht des schlecht erleuchteten Bahnsteigs verschwunden war, stieß er seinen Begleiter in die Seite.
„Na, nun aber man tau, unsere Straßenbahn wartet nicht!"

 

2. KAPITEL

Bei der fast zweistündigen, von mehrmaligem Umsteigen unterbrochenen Fahrt bekam Sukrow einen Vorgeschmack von dem gewaltigen Ausmaß dieser Industriestädte, die kein Ende nehmen wollten. Überall rauchende Schlote und Hochöfen, Fördertürme mit knarrenden Seilscheiben, funkensprühende Essen! Unter grellleuchtenden Glasdächern stampften und rollten die Walzen, dröhnten die Hämmer, schrillte und läutete der gepresste Stahl. In halboffenen Gusshallen hantierten schwarze Zyklopen an sternensprühenden Gießpfannen.
Schienenstränge mit endlosen Güterzügen kreuzten die Straßen, während hoch in der Luft, an schwankenden Seilen, Kohlenkarren pendelten, die irgendwoher aus dem Dunkel der Nacht kamen und irgendwohin verschwanden. Dann fuhr man über schwarze Wasserläufe, auf denen die Lichter eingefrorener Kohlenkähne blinkten.
Mit großem Interesse betrachtete er die ein- und aussteigenden Fahrgäste. Solche eigenartigen, ja verwegenen Arbeitertypen hatte er noch nirgends gesehen. Meist untersetzte, harte Gestalten mit oft geschwärzten Händen und ebensolchen Gesichtern, aus denen das Weiße der Augen unheimlich herausleuchtete. Durchweg in abgerissener Arbeitskleidung, den verbeulten Schlapphut tief im Gesicht oder die Schiebermütze verwegen auf einem Ohr. In der Hand den emaillierten „Henkelmann" oder den Proviantkorb mit der Tageszehrung über die Schulter geworfen. Fast jeder rauchte nach der schweren Tagesfron seine Stummelpfeife oder Zigarette, so dass die Luft im Wageninnern zum Schneiden war. Es roch nach schlechtem Knaster, Menschenausdünstungen, abgestandenem Essen und schlechtem Fusel, so dass dem jungen Studenten selbst auf der geschlossenen Plattform übel wurde.
Da die Wagen überfüllt waren, klammerten die Zurückgebliebenen sich an Griffe und Vorsprünge, machten die lebensgefährliche Fahrt auf Trittbrettern und Kuppelungen mit.
„Zugabe zum Siebenstundentag", bemerkte Ruckers trocken.
Lärmende Unterhaltung, meist auf Rheinplatt oder "Westfälisch geführt, machte die Fahrt nicht angenehmer. Daneben hörte man auch sächsische und schlesische Mundarten sowie das polnische „Psiakrew".
„Das ist noch gar nichts", erklärte Ruckers. „Vor dem Kriege hatten die Polen in manchen Städten bei den Wahlen mehr Stimmen als alle anderen Parteien zusammen. Dazu kamen noch die nicht wahlberechtigten Ausländer: Russen, Ruthenen, Slowaken, Tschechen, Italiener; ein richtiges Babel, wie es schlimmer kaum in Amerika ist. Diese Leute werden durch Unternehmeragenten unter Vorspiegelung hoher Löhne hierher gelockt. Nicht nur, dass sie billiger arbeiten, sie sind auch für die Organisation schwer zu kriegen. Bei allen Kämpfen sind sie für uns schwere Hemmschuhe."
Aber jetzt haben wir doch Tarife", warf Sukrow ein.
Ja, das ist es ja eben", antwortete Ruckers. „Die Ausländer und Neuzugereisten lassen sich durch die ,hohen Löhne' verblüffen. Sie werden auch noch merken, wie teuer das Leben hier ist. Da bleibt für unsereins letzten Endes wenig übrig. Aber solch polnischer Kamerad spart fast allemal Geld. Die Leute sind ebenso zähe wie anspruchslos. Überstunden können sie gar nicht genug schieben. Ein Stück trocken Brot und eine Flasche Kaffee tagsüber, als Abendbrot Kartoffeln mit Quark oder Leinöl, oder wenn es hoch kommt, einen Hering, dazu einen Schluck Fusel und eine Pfeife Rippenstrang -mehr brauchen sie kaum. Miete zahlen sie auch nicht viel. Fast jede polnische Familie hat ihre Kostgänger. Häufig kraucht der von der Nachtschicht in das von der Tagschicht angewärmte Bett."
In Sukrows Brust rangen zwei widersprechende Gefühle miteinander. Ein beglückendes, in dieser gewaltigen Schmiede deutscher Arbeit als tätiges Glied mitzuwirken - und ein beklemmendes, geboren aus einer gewissen Abscheu vor der offenen Unkultur dieser Leute, die morgen seine Kollegen sein sollten.
Diese Beklommenheit steigerte sich, als sie endlich am Ziel der zur Zeche „Hasdrubal I" gehörenden Bergarbeiterkolonie angelangt waren, wo Peter Ruckers seine Wohnung hatte. Zu beiden Seiten der aus festgewalzter Schlacke bestehenden Straßen niedrige, aus unverputzten Ziegeln erbaute Häuschen. Jedes links zwei Fenster, rechts zwei Fenster, in der Mitte eine schmale Tür, obendrauf ein Schornstein, hinter dem Hause ein Schuppen oder Stall! Eines glich in seiner Anspruchlosigkeit dem anderen, nur durch Nummern vor Verwechslung geschützt.
Frau Ruckers machte ein erstauntes Gesicht, als ihr Mann noch in so später Stunde mit einem Logiergast erschien. Sukrow wollte, das im voraus empfindend, sich in einem billigen Gasthaus einquartieren, aber sein Begleiter hatte diesen Einwand mit den Worten: „Das ist meine Alte schon gewöhnt", abgeschnitten. Ebenso wenig konnte er sein Anerbieten, das aufgehobene Essen mit ihm zu teilen, ausschlagen. „Wenn's nicht reicht, essen wir eben noch eine Schnitte", sagte der Gastgeber und teilte den Topfinhalt, weiße Bohnen in Brühe, in zwei gleiche Portionen.
„Ich bringe Ihnen noch gleich ein Paar warme Pantoffeln", sagte Frau Ruckers und ging, um in der Nebenkammer die Vorkehrungen für die Nacht zu treffen.
„Das sind unsre Jüngsten", sagte Ruckers, als draußen Schritte vernehmbar wurden und ein etwa siebzehnjähriger Bursche und ein nur wenige Jahre älteres, brünettes Mädchen das Zimmer betraten. „Hans und Mary heißen sie."
„Die Mary soll gleich mal helfen kommen", ertönte Frau Ruckers' Stimme aus dem Nebenraum, die Vorstellung unterbrechend. Das Mädchen verschwand geräuschlos, der Junge setzte sich ohne weitere Umstände an den Tisch. Sukrow empfand ein unangenehmes Würgen in der Kehle, die Augen, mit denen der junge Mensch den Essenden zuschaute, bekundeten kaum verhaltene Gier.
Der Vater ließ sich nicht stören. „Die Jugendversammlung schon aus?" fragte er, ohne das Löffeln zu unterbrechen.
„Der Referent hat uns wieder mal im Stich gelassen, da machten wir nach Erledigung des Organisatorischen für die Märzfeier Schluss", entgegnete der Junge.
Ist das nun Ihre ganze Familie?" fragte Sukrow.
„Der Hannes ist unser Jüngster", antwortete Ruckers, sich den Bart abwischend. „Er lernt Buchdrucker, denn ich will nicht, dass er auch solch Bergsklave wie sein Vater wird. Die Mary, meine Zweitälteste, haben Sie ja eben gesehen. Die ist Verkäuferin in einem Schuhgeschäft. Zwei sind als kleine Kinder gestorben. Der Älteste aber..."
Sukrow folgte einer Bewegung, die sein Quartierwirt mit dem Kopf nach dem Ofen hin machte und erschrak. Was er nämlich dort auf dem Lehnstuhl für ein Bündel Kleider gehalten, bewegte sich jetzt, und ein fauchendes Geräusch, wie bei einem Ventil, drang an sein Ohr.
„Erschrecken Sie nicht, das ist mein Ältester, der Ludwig, oder vielmehr das, was noch von ihm übrig ist", sagte Ruckers mit schwerer Stimme und lüftete den grünen Lampenschirm. Das Licht fiel auf ein menschliches Wrack, dem beide Füße fehlten und dessen Gesicht ebenfalls furchtbar verstümmelt war.
„Eine Handgranate", sagte Ruckers und setzte das Wrack zurecht. „Sehen kann er bloß noch auf einem Auge, an der linken Hand fehlen drei Finger, und außerdem hat ihm das Giftgas Lungen und Stimmbänder zerfressen."
„Dann lieber gleich tot", flüsterte der junge Mann schaudernd.
Er empfand es taktvoller, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, wozu ihm das Bücherbrett über dem Sofa den geeigneten Anlass bot. Neben Marx, Engels, Lassalle und Bebel, Heine, Freiligrath, Herwegh, Goethes Faust, Bellamis Rückblick aus dem Jahre Zweitausend, auch Gedichte von Klara Müller-Jahnke und Heinrich Kämpchen, Liebknechts Verteidigung vor dem Kriegsgericht, ein technisches Lexikon sowie Romane von Ernst, Nexö, Viebig und anderes mehr.
„Meine guten Freunde von früher her, aber heute kommt man ja vor lauter Arbeit kaum noch zum Zeitungslesen; da besorgen der Junge und das Mädel die Literatur", sagte Ruckers achselzuckend.
„Ich sehe da einiges, was mich interessiert. Wenn ich hier erst festen Fuß habe, möchte ich mir erlauben, einiges zu leihen. Meine Bücherkiste ist hierher unterwegs", sagte Sukrow.
„Haben Sie viele schöne Bücher?" fragte Hannes gespannt.
„Mehr als Sie in einem Vierteljahr auslesen können", antwortete der junge Student mit einem Anflug von Stolz. War er doch in Berlin niemals an einem Bücherkarren vorübergegangen, ohne seinen Inhalt zu durchstöbern, wobei manchmal seine letzten Groschen dran glauben mussten.
„Na Mâry, da haben wir ja wieder Land!" frohlockte der Junge.
„Lesen Sie auch viel?" wandte sich Sukrow an die Schwester, die einen Korb mit Strümpfen zur Hand genommen hatte.
Das junge Mädchen schlug einen Augenblick ihre dunklen, etwas scheuen Augen auf:
„Wenn ich abends um acht Uhr nach Hause komme, wartet gewöhnlich das hier auf mich, dafür sorgt schon unser Hannes", sagte sie, wehmütig auf den Stopfkorb deutend. „Höchstens, dass man mal Sonntag nachmittags zu etwas kommt."
„Kennen Sie Bebeis ,Frau und Sozialismus'?"
„Das habe ich mal angefangen, musste es aber ungelesen wieder abgeben, und seitdem ist es vergriffen."
Das werde ich Ihnen als erstes leihen", sagte Sukrow eifrig. - Frau Ruckers kehrte mit dem Kaffeegeschirr in die
Stube zurück, und bei dem heißen Getränk beriet die ganze Familie mit dem Gast über dessen ferneres Schicksal. Gern nahm der junge Mann das Anerbieten an bis zum Erhalt einer Stellung hier miteinzuwohnen. Im Stillen freute er sich, dass er so gefällige Leute fand, bot sich doch hier zugleich die geeignete Grundlage, von der aus er die beabsichtigten sozialen Studien betreiben konnte.
Ü ber dem Bücherbord hing ein vergilbter Hausspruch mit dem Bild Wilhelm Liebknechts:
„Wir wollen den Frieden, Freiheit und Recht, Dass niemand sei des andern Knecht, Dass Arbeit aller Menschen Pflicht Und niemals es an Brot gebricht."
„Schon zur Zeit des Sozialistengesetzes war ich in der Partei", sagte der Eigentümer stolz. Heute war er radikaler „Unabhängiger", las die Düsseldorfer „Freiheit" und schimpfte auf Mehrheitssozialisten, Republik und Regierung.
Sukrow hütete sich wohlweislich, ihm zu widersprechen, da er sich sagen musste, dass er mit seinen bescheidenen Erfahrungen diesen alten Kämpen, der den Industriellen so spielend auf den Sand gesetzt hatte, nicht zu widerlegen vermochte.
So brachte er das Gespräch wieder auf die schöne Literatur, woran sich aber nur die Jungen beteiligten. Die Frau hörte zu, während sie eine Hose ihres Mannes mit neuem Unterboden versah. Vater Ruckers hatte sich in seine Zeitung vertieft, wobei er die Stummelpfeife kalt im Munde hielt, da wegen des Krüppels im Zimmer nicht geraucht werden durfte. Dieser selbst aber kündete ab und zu durch sein Schnaufen an, dass er jedes gesprochene Wort verstand.
Draußen warf der Wind harten Graupelschnee gegen die Fenster. Als der Freischwinger die zehnte Stunde verkündete, ging man zu Bett, da hier, wie bei allen Bergarbeiterfamilien, der neue Tag bereits um fünf Uhr begann.
Auf Ruckers' Rat machte sich Ernst Sukrow bei Beginn der Dämmerung auf den Weg, um sich die Swertruper Werke bei Tageslicht erst mal von außen zu besehen. Der Alte hatte versprochen, sich für seine „Kohlenkandidatur" einzusetzen. Nachtsüber gefallener Schnee ließ die verräucherten Häuser und die rauchenden Fabrikanlagen in gemildertem Licht fast malerisch erscheinen. Eine ganze Weile sah der junge Mann vor dem Zechenportal von „Hasdrubal I" dem sich emsig drehenden Förderrad und den zur Kokerei schwebenden Kohlenkarren zu.
Schließlich konnte er doch nicht umhin, den am Markenbrett hantierenden Pförtner nach den Arbeitsaussichten zu fragen. Er wurde nach einer mit „Arbeiterannahme" bezeichneten Baracke verwiesen. Auf einer schwarzen Holztafel, die die Überschrift „Eingestellt werden" trug, hing ein weißes Pappschild:
Arbeiter werden nicht eingestellt!
Das gleiche Schild bemerkte er auch auf anderen Zechen und Werken, die er nacheinander in Augenschein nahm. Die Zinkraffinerie, das Blechwalzwerk, das Stahlwerk Flaschner, die chemische Fabrik Kaltenborn und Oppler, keines von diesen Unternehmen benötigte zurzeit Arbeitskräfte.
Vor den Riesenanlagen der „Berg- und Hüttengesellschaft Deutsche Erde" erfuhr er, dass an diesem Morgen zwanzig Transportarbeiter für das Stahlwerk eingestellt worden waren. Aber was sollte ihm das? Erstbeste Kuliarbeit hätte er auch wohl in Berlin erhalten. Er wollte unter die Erde, regelrechte Bergmannsarbeit leisten. In der Arbeiterannahme von „Beate" zuckte man die Achseln. Ja, wenn er Hauer oder wenigstens Zimmermann wäre.
„Lehrhauer? Nein, damit geben wir uns jetzt nicht
ab!"
Also hatte Ruckers doch recht gehabt. Zwischen dem, was in der Zeitung regierungsoffiziös propagiert wurde, und der Wirklichkeit bestand ein großer Unterschied. Seine einzige Hoffnung war noch der Alte. Vielleicht, dass es diesem durch seine Verbindungen gelang, etwas ausfindig zu machen.
Missmutig kehrte Sukrow gegen Mittag nach der eigentlichen Stadt zurück. Seine Illusionen waren weg wie das blendende Weiß des Schnees, der sich mit einer hässlichen Rußschicht überzogen hatte. Dazu verspürte er jetzt einen gewaltigen Hunger. Bis drei Uhr, wo bei Ruckers gegessen wurde, war es noch lange hin. Kurz entschlossen folgte er seiner Nase, die ihn, einem scharfen Sauerkrautgeruch nachgehend, in ein „Speisehaus" führte. An ungedeckten, schmierigen Tischen saßen bereits eine Anzahl Arbeiter, mit Essen beschäftigt. Niemand nahm von dem jungen Menschen in der abgeschabten Militärmontur Notiz, der sich bescheiden an einen freien Tisch setzte.
Endlich begab er sich selbst zur Theke, wo er dem fetten Mann, der in aufgekrempelten Hemdsärmeln mit Tellern und Bestecken hantierte, seinen Wunsch nach Essen vortrug.
„Ja, haben Sie Fleisch- und Kartoffelmarken?"
Sukrow hatte keine, weshalb er die Portion sauren „Kappes", in der sich ein Stück gepökelte Schwarte befand, statt mit drei mit vier Mark bezahlen musste. Da erst fiel ihm ein, dass er, um überhaupt Boden zu fassen, sich erst amtlich anmelden müsste. Fast gleichzeitig mit Ruckers kehrte er nach Hause zurück.
„Ich habe schon was in der Stadt gegessen", wehrte Sukrow die Aufforderung der Frau, mit zu essen, ab; aber er aß doch ohne Mühe seinen Teller voll gelber Rüben leer.
Frau Ruckers lachte: „Das, was die in den Kosthäusern zusammenkochen, hält ja nicht vor."
„Nun, wie gefällt Ihnen denn unser geliebtes Swertrup bei Tage?" fragte Ruckers lauernd.
„Mächtig verräuchert", antwortete Sukrow, der für die in ihm durcheinander quirlenden Gefühle keinen rechten Ausdruck fand.
„Sagen Sie ruhig: dreckig. Sie haben sicher gestaunt, wo der Schnee geblieben ist."
Frau Ruckers fiel ihm ins Wort: „Ich bin hier auch nicht zu Hause. Als ich hier herkam, dachte ich gleich: Was ist das für ein schwarzes Loch? Wenn man mal zu den Feiertagen reine Gardinen aufgesteckt hat, darf man die Fenster gar nicht aufmachen, sonst hat man gleich wieder dicke Rußflocken drauf."
„Was die Grubenarbeit anbetrifft", sagte Ruckers, „da sieht's für Sie augenblicklich mies aus. Ich habe heute den ganzen Vormittag verhandelt; als freigestellter Arbeiterrat habe ich ja Zeit dazu, aber unser Obersteiger will nicht. Dann habe ich alle umliegenden Zechen antelefoniert. Vielleicht denken Sie sogar, ich mache Ihnen was vor, um Sie abzuhalten, aber Sie können sich ja selbst erkundigen."
" Das habe ich bereits getan", gab Sukrow kleinlaut zu.
„Na, da wissen Sie ja Bescheid. Bei uns arbeiten auch noch russische Kriegsgefangene. Der Krieg mit Russland ist zwar schon drei Jahre beendet, aber man hält diese armen Teufel unter irgendwelchem Vorwand hier noch immer fest. Wenn die weg sind, dann gibt es ja etwas Luft, dann wird man wohl auch wieder Lehrhauer einstellen. Aber ob Sie so lange warten können..." Sukrow wurde rot; offenbar hatte Ruckers seine finanzielle Bedrängnis erraten. Dieser aber fuhr in demselben Ton fort: „Auf den Hüttenwerken wird ja bald mal was verlangt. Vielleicht auch in der Chemischen. Wenn Sie also bis zur passenden Gelegenheit eine Beschäftigung suchen, dann lassen Sie sich nur morgen gleich beim Arbeitsamt vormerken."
Sukrow erklärte, dass er sich schon selber mit dem Gedanken getragen habe. Den andern immer wieder aufsteigenden Gedanken, nämlich gleich zurückzufahren, gestand er nicht einmal vor sich selber ein, geschweige denn vor dem Bergarbeiter, der ihm das schon gestern geraten hatte. Außerdem musste er sich ja auch erst das Reisegeld verdienen.
„Ich verstehe nicht", sagte er, „wie man solche Kampagnen für Steigerung der Kohlenproduktion führen kann, während man hier am Ort wenig davon merkt."
" Ich will Ihnen mal was sagen", begann Ruckers, mit der Gabel auf dem Teller trommelnd: „Was die Regierung will, ist den Zechenbesitzern ganz schnurz. Diese Herren sind dank der in die Weite marschierenden Sozialisierung heute schon obenauf und sogar mächtiger als unter der Kaiserzeit. Denen kommt es gar nicht auf Vermehrung der Produktion, sondern auf Erhöhung der Preise an. Und Sie wissen doch, je knapper was ist, umso höher lässt sich der Preis schrauben. Außerdem will man aus den Kumpels mehr herauspumpen. Darum das Geschrei nach Längerarbeit. Hundert Prozent Aufschlag kriegen wir für Überschichten, aber tausend verdienen die Zechenbarone. Vom 1. März an wird der Preis für die Tonne Steinkohle schon wieder um achtzehn Mark erhöht... Wenn es wirklich nur auf Mehrförderung von Kohle ankäme? Wir haben dazu genug praktische Vorschläge gemacht. Im Krieg ist der ganze technische Apparat verludert. Immer hieß es: es ist Krieg, es muss eben gehen! Jetzt haben wir über zwei Jahre schon Frieden, aber gemacht wird da nichts. Neue Schächte könnten niedergebracht werden, umfangreiche Verzimmerungen sind nötig! Die Unfälle durch Steinschlag aus dem Hangenden nehmen überhand. Die Entlüftung ist miserabel, die Berieselung wird nicht weitergeleitet. Der Kohlenstaub liegt stellenweise fußhoch. Jeden Augenblick kann eine furchtbare Kohlenstaubexplosion einsetzen. Dann heißt es natürlich wieder: Der Kumpel hat schuld... Vorige Woche riss auf ,Beate' das Seil, drei Tote und elf Schwerverletzte! Die Bergbehörden sind noch beim Untersuchen. Das dauert allemal so lange, bis ein neuer Unfall eintritt. Die wahren Schuldigen sind nie zu ermitteln. In Wirklichkeit ist nur die schrankenlose Profitsucht die Ursache. Für Neuanschaffungen ist angeblich kein Geld da. Wo haben die Herren die fetten Profite der Kriegsjahre gelassen? Und was verdienen sie jetzt allein an der Reparationskohle? Wovon kauft Hugo Stinnes die Zechen und Betriebe auf? Von was weiter als von unserem Schweiß und Blut?"
Der sonst so bedächtige Mann hatte sich in immer größere Erregung geredet. Schwer sauste seine Faust auf den Tisch, dass die geleerten Teller hochsprangen.
„Ich begreife nur eines nicht", sagte Sukrow, „dass die Verbände nichts dagegen unternehmen."
Ruckers schlug ein bitter-höhnisches Lachen an. „Die Verbände? Wissen Sie noch, was Sie mir gestern aus dem ,Vorwärts´ vorlasen? Das war auch nichts weiter als solch eine niederträchtige Stimmungsmache gegen uns. Diese Leute kennen unsere Lage sehr gut. Die Gewerkschaftsbeamten sind doch durchweg eingefleischte SPD-Bonzen. Deren soziale Frage ist gelöst mit der schwarzrotgoldenen Republik! Da gibt es aussichtsreiche Posten für sie."
Sukrow musste erst ein paarmal schlucken; dann fragte er:
„Wenn Ihr schon die Kapitalisten bekämpft, warum aber auch die Republik?"
„Weil das ein und dasselbe ist! Diese Republik ist nichts weiter als der geschäftsführende Ausschuss der Kapitalistenklasse, genau so, wie die wilhelminische Regierung es früher gewesen."
„Oha!" rief der Student und setzte sich nun doch in Kampfpositur.
„Nun also bitte, sagen Sie, was sich in Deutschland zugunsten der Arbeiter gebessert hat, abgesehen von Regierungsform und Reichsflagge, wovon niemand satt wird."
„Nun, vor allem haben wir doch jetzt Demokratie mit Freiheit und gleichem Wahlrecht und..."
Ruckers lachte böse. „Demokratie und Freiheit mit dem Belagerungszustand in Permanenz! Freiheit? Wo Ernst Däumig, Paul Levi und Tausende andere schon seit Monaten ohne Urteil und ohne Anklage in Schutzhaft sitzen. Wo die Meuchelmörder an Liebknecht, Luxemburg und Dorrenbach frei herumspazieren? Gleiches Recht? Dazu gehört ja wohl auch das elementarste Recht des Arbeiters, das Streikrecht. Aber machen Sie nur davon Gebrauch! Vergangenes Jahr war Noske mit seinen Garden hier und gab den Kumpels Aufschluss darüber, wie er das auffasst. Fragen Sie hier herum, wen Sie wollen, nach dem Osterfest von 1919. Sie werden herrliche Tatsachen über angewandte Demokratie erfahren. Und für dieses Staatswesen sollen wir uns begeistern?" „Nu ja, es ist ja noch vieles faul im Staate Dänemark", gab Sukrow. zu. „Aber Rom wurde auch nicht an einem Tage erbaut. Es ist ja auch zu viel alter Schutt zu beseitigen. Mit der Monarchie wurde der Anfang gemacht. Und so wird man eben Schritt für Schritt..."
... Den alten kapitalistischen Hörigkeitsstaat wieder aufbauen", fiel Ruckers ihm grimmig ins Wort. „Mit dem skandalösen Betriebsrätegesetz ist ja ein Anfang gemacht worden! Das halbe Hundert Tote, das sie in Berlin vor dem Reichstag aufs Pflaster streckten, ist kein schlechtes Siegel darunter. Unsere Revolutionserrungenschaften baut man so peu à peu wieder ab. Jetzt maßregelt man sogar schon wieder unsere Vertrauensleute. Drüben in Mörs streikt seit gestern wegen eines solchen Falles die Belegschaft der Zeche ,Rheinpreußen'."
Sukrow gestand sich im Stillen, dass er noch viel weniger als der gestrige Redner, Ruckers Argumenten gewachsen war, weshalb er es für klüger hielt, die Diskussion abzubrechen.
„Nun, es soll denn doch mal erst ein anderer kommen, der es besser macht. Übrigens irren Sie sich, wenn Sie vielleicht annehmen, dass ich Mehrheitssozialdemokrat bin. Ich habe mich absichtlich noch an keine Partei gebunden, aber die politische Linie, die Scheidemann gezogen, halte ich doch für die richtige - bis man mich eines Besseren belehrt", setzte er hinzu.
Nun, dazu würde Ihnen gerade praktische Grubenarbeit sehr gut tun", lachte Ruckers, „aber Hüttenarbeit tut's zur Not auch." Sukrow war beleidigt.
„Bei Ihnen gilt scheinbar auch nur die rohe physische Kraft. Warum soll man nicht auch als Intellektueller die sozialistischen Probleme erfassen? Karl Marx war doch auch kein Hüttenarbeiter."
„Nichts für ungut, lieber Freund", beschwichtigte Ruckers. „Warum das nicht gehen soll? Die Ansichten darüber sind auch bei uns geteilt, und zahlreiche Intellektuelle auf unserer Seite scheinen meine Ansicht nicht zu billigen. Ich aber bin der Ansicht, dass man alles theoretisch erfassen kann, bis auf den Hunger. Sie müssen mal so in Arbeiterkleidung einer solchen feinen Dame, wie der von gestern, in der Straßenbahn begegnen. Wie die die Nase rümpft, von Ihnen abrückt und Ihren Schweißgeruch mit Kölnischwasser vertreibt. Oder mal mit anhören, wie sich solch bornierter Pöbel geringschätzig über die Arbeiter unterhält. Sehen Sie, das alles kann keiner aus Büchern lernen. Auch Sie nicht!"

 

3. KAPITEL

Ernst Sukrow hatte sich sein Debüt im Industriegebiet doch etwas anders vorgestellt. Aus der von Romantik und Vaterlandsliebe verklärten Bergmannsarbeit war ganz prosaische Hofarbeit hinter dem Martinofen des Stahlwerkes Flaschner geworden. Acht Stunden lang von Güterloren schmutzigen, ineinander verschlungenen Schrott abzuladen, ist kein Sport.
Es schneite und regnete abwechselnd, so dass er fortwährend nass bis auf die Haut war. Die aus Rost und Öl bestehende Kruste, mit der sich alsbald seine alte Arbeitsuniform bedeckt hatte, weichte auf und zog über Leibwäsche und Haut Schmutzbahnen, so dass er bald vor sich selbst einen Ekel bekam.
Sukrow kannte ähnlich unangenehme Lagen wohl vom Felde her, hatte aber immer geglaubt, dass es so etwas nur im Kriege gebe. Jetzt machte er die verblüffende Entdeckung, dass viele Tausende von Arbeitern mitten im Frieden, jahrein, jahraus solche Arbeit verrichteten, selber dabei aber ebenso wenig fanden, als die in Regenmänteln kontrollierenden Aufseher, und schon glücklich waren, wenn der „Schieber" den von Nässe und Kälte Zitternden zurief: "Hängt Euch mal fünf Minuten zum Trocknen auf!" Dann flitzten alle schnell unter den Generator, um sich die nassen Lumpen vom Leib abzudampfen, während ein aufgestellter Posten auf den Ingenieur spannte. Bei diesen plötzlichen Temperaturschwankungen hatte natürlich jeder in der Kolonne Husten, Schnupfen und Reißen, und auch die Grippe machte sich bemerkbar.
Den Kollegen gegenüber biss Sukrow die Zähne zusammen, um sich keine Schwäche anmerken zu lassen. Hatte er ihnen auch seinen eigentlichen Beruf verhehlt, so verriet doch seine Sprechweise und noch mehr seine Ungeschicklichkeit, dass er kein Mann vom Bau war. Sie hielten ihn daher für irgendeinen verhungerten „Heringsbändiger", womit sie ihn häufig hänselten.
Sukrow, zufrieden, sie auf falscher Fährte zu wissen, ließ sie bei ihrem Glauben.
Und noch vor einem anderen Menschen hütete er sich, seine Schwäche zu bekunden: vor Ruckers.
Ohne ihn wäre er schon nach drei Tagen auf und davon gegangen. Aber dieser „Radikale" sollte nicht Gelegenheit bekommen, über Intellektuelle und überzeugte Republikaner zu höhnen. Er hatte sich diese Suppe hier selber eingebrockt, und die wollte er nun auch bis zu Ende auslöffeln. Ruckers hatte fest versprochen, ihn bei der erstbesten sich bietenden Gelegenheit als Lehrhauer im Schacht unterzubringen. Darauf wartete er, wie auf den Tag der Erlösung, weshalb er nicht müde wurde, auch nachdem er von Ruckers fortgezogen war, Abend für Abend dort vorzusprechen.
Am Tage nach der ersten Lohnabschlagszahlung war er in das „Junggesellenheim" des Stahlwerkes übergesiedelt, da die Enge der Ruckersschen Wohnung ein längeres Bleiben taktlos erscheinen lassen musste. Auch das Schlafen in einer Kammer mit dem Schwerkriegsbeschädigten, dessen schweres Röcheln ihn oftmals am Einschlafen hinderte, war ihm unangenehm.
In seiner neuen Heimat stellten sich aber sogleich Missstände heraus, die die vorhergegangenen noch geringfügig erscheinen ließen. Das so genannte „Bullenkloster" war in einer Baracke untergebracht, die während des Krieges als Unterkunft für belgische Zivilzwangsarbeiter diente. Je acht Arbeiter wohnten hier in kleinen Verschlägen, die mit ihren kahlen, braunen Wänden, den schmalen nummerierten Wandschränken, den übereinander getürmten Bettstellagen und den dreibeinigen Holzschemeln an die Ungemütlichkeit der verhassten Kasernenstuben erinnerten. Sie hatten diesen gegenüber noch den Nachteil, dass sie nicht einmal heizbar waren. Um etwas Wärme in die Räume zu locken, musste man die Türen nach dem Mittelgang zu offen lassen, wo zwei eiserne Öfen Tag und Nacht in Rotglut standen. Dennoch fror man jämmerlich unter den dünnen Decken, so dass viele sich halbbekleidet zum Schlafen niederlegten.
Die Stubenkollegen selbst trugen noch dazu bei, den Aufenthalt so unangenehm wie möglich zu machen. Alle Barackeninsassen waren ortsfremd. Sukrow forschte unter ihnen vergeblich nach irgendwelchen geistigen Berührungspunkten. Ihre Gespräche, die häufig in Zänkereien ausarteten, drehten sich fast nur um Arbeit und Tanzvergnügen, Kriegserinnerungen und Weibergeschichten, Essen und Saufen, sofern sie nicht Karten droschen.
Dazu kam noch ein anderer Umstand, der ihm den Aufenthalt in diesem „Heim" bald zur Hölle machte. Die Stuben wimmelten von Flöhen. Wenn er morgens sechs Uhr mit seinem „Henkelmann" zum Werk kam, begab er sich regelmäßig erst zum Abtritt, um die lästigen Peiniger aus den Strümpfen zu schütteln. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln hatte er bereits die ganze Familie Ruckers mit diesen hüpfenden Gesellen versehen. Frau Ruckers, die die Sauberkeit selbst war, konnte sich diese Einquartierung gar nicht erklären, und wischte nun täglich mit Lysolwasser auf.
Sukrow war das besonders peinlich, da er in der Öde seines jetzigen Lebens den Umgang mit dieser Familie nicht aufgeben mochte. Als er eines Abends ausgeblieben war, begrüßte ihn Frau Ruckers mit einem gelinden Vorwurf.
„Unser Hannes sagte schon, der Ernst wird wohl eine bessere Gesellschaft gefunden haben!"
„Bessere Gesellschaft? Wo sollte man die in diesem Rußpott wohl finden?" antwortete Sukrow verdrießlich. Er dachte an die gemütlichen Abende, da er mit Hannes und Mâry gemeinsam Bücher gelesen oder diskutiert hatte; Vater Ruckers war meist in Versammlungen und Sitzungen. Hatte man sich müde diskutiert, so ergriff er wohl die Laute, die sich Hannes seit kurzem zugelegt hatte. Sukrow war ein vollendeter Spieler, hatte auch eine annehmbare Gesangsstimme, und es schmeichelte ihm ein wenig, wenn er immer wieder zum Singen aufgefordert wurde.
Besonders war das der Fall, wenn die Aufforderung von Mary ausging. Sie hatte dunkelgraue Augen und glänzendes, braunes Haar, war aber nichts weniger als schön. Dazu war ihre vom Vater ererbte Stirn zu eckig und die Nase zu groß. War es nun ihr schnell begreifender Geist, war es die melodisch klingende, rheinische Mundart oder dieser eigenartige Zug von Melancholie, der wie bei so vielen Grubenangehörigen auch in ihrem Gesicht die Tragödie dieses Berufes und dieser ewig trauernden Landschaft widerspiegelte?
Sukrow, der im Innern noch immer die Idealgestalt der schönen Fabrikantentochter bewahrte, versuchte vergeblich sich darüber Klarheit zu verschaffen, warum sie ihm gefiel!
Gestern war er nur studienhalber einer Einladung seiner Stubenkollegen gefolgt. Wüste Bilder in schmutzigen Branntweinschenken, wo man den „Chabau" aus Biergläsern trank, hatte er mit ansehen müssen, ehe er unter einem Vorwand entweichen konnte. Die erst spät heimkehrenden Kumpane hatten ihn dann in ihrer Trunkenheit mit den unflätigsten Schimpfworten bedacht, was seinen Wunsch nach einer baldigen Wohnungsveränderung nur noch größer machte.
Eigene Wohnungen waren in Swertrup selten und kostspielig. Seufzend gestand er sich an Hand seiner Lohntüte, dass er vorläufig daran überhaupt nicht denken konnte. Ein Stundenlohn von 3,50 Mark hörte sich wohl großartig an, zerrann aber unter der Hand in ein Nichts. Nach Abzug der Beiträge sowie der Miete und des Kostgeldes, die von der Zechenverwaltung vorsichtigerweise gleich für eine Woche im voraus einbehalten wurden, verblieb nur ein schäbiger Rest für Wäsche, ein paar Zigaretten und etwas Zubrot, das man hintenherum zu Wucherpreisen als Ergänzung zu dem fettarmen Heimessen kaufen musste.
Melancholisch betrachtete er seine zerschundenen Hände. Er brauchte dringend ein Paar lederne Handschützer, denn die grantigen Schrotteile schnitten ihm trotz der von Frau Ruckers genähten Fausthandschuhe immer wieder tief ins Fleisch. Seine wunden Finger waren schon nicht mehr imstande, die Saiten der Laute rein abzugreifen. Nicht minder nötig waren ein Paar feste Stiefel. Auch sein Arbeitszeug begann, ungeachtet aller Flickversuche, sich in seine Bestandteile aufzulösen.
Bis jetzt, hatte er seine Arbeit immer noch als eine Art Sport, als ein interessantes soziales Experiment angesehen - oder es sich selbst suggeriert. Man war doch Werkstudent, wenn auch „inkognito", man stand geistig und sozial immerhin über diesen Umständen, die alles in allem doch nur einen „Übergang" bildeten.
Als er aber eines schönen Tages in seinen Sonntagsstiefeln zwei große Löcher in den Sohlen entdeckte, ohne Geld für die Ausbesserung zu besitzen, da dämmerte auch in ihm das für den ersten Augenblick erschreckende Gefühl der völligen Zugehörigkeit zu seiner trostlosen Umgebung auf. Er hatte keinerlei Möglichkeit, sich das fehlende Geld anders als durch Vorschuss, genauso wie die „Kollegen", zu besorgen; ebenso wenig vermochte er sich aus dieser Lage durch eigene Kraft herauszuheben.
Das auf den ersten Eindruck so überaus interessante, ja romantisch erscheinende Industriegebiet war ihm bereits gründlich über, ja sogar verhasst. Er hasste diese Sirenen, die mit herrischem Geheul hier das ganze Leben regelten. Hatte er anfangs einen gewissen Reiz empfunden, so morgens in Reih und Glied mit der tausendköpfigen Arbeiterarmee an seinen Posten zu eilen, ein winziges Rädchen in dieser gewaltigen Arbeitsmaschine zu bilden, so kam er sich jetzt hierin doch schon abgelaufen vor.
Die große verräucherte Stadt mit ihren unschönen, lediglich auf Nutzeffekt erbauten Häusern, die himmelbeherrschenden Schornsteine mit den ewig aushängenden Rauchfahnen, die krasse Unkultur, die sich hier täglich bis ins Bizarre verzerrt darbot, flößte ihm bereits einen physischen Ekel ein.
Eines Abends, es war der dritte Sonnabend nach seinem Arbeitsbeginn bei Flaschner, sah er in einem Zimmer des Junggesellenheims ein Buch liegen: „Das Feuer", von Henri Barbusse. Da er hier noch nie etwas anderes als Schundromane erblickt hatte, interessierte ihn um so mehr der Besitzer des Buches, der, in seine Zeitung vertieft, es neben sich liegen hatte.
„Kollege, willst du mir nicht mal ,Das Feuer' borgen?" wandte er sich an den Arbeiter.
Der Angeredete warf seine ihm in die Stirn gefallenen Haare zurück.
„Wenn du es nicht dreckig machst, und es nicht weiter verborgst, warum nicht? Was liest du denn sonst, etwa ,Krieg und Liebe´?"
Sukrow lachte hellauf. „Dann dürfte mir wohl Barbusse wenig Freude machen!" Und er begann den Inhalt seiner Bücherkiste aufzuzählen, die noch immer bei Ruckers in der Kammer stand. Der andere riss die Augen auf.
„Mensch, was willst du denn mit Marx' ,Kapital´, das versteht in dieser Form unsereiner, der weiter keine Vorbildung hat, doch nicht. Da gibt's doch populärere Schriften."
Sukrow sah sich erst prüfend um, ehe er lächelnd -es sollte gleichgültig klingen - antwortete:
„Nun, so'n bisschen Vorbildung habe ich zufällig auch!"
Der junge Arbeiter pfiff durch die Zähne.
„Aha, wohl so ein Stück Werkstudio, was? Und jetzt gehst du Kohlenschippen! Davon haben wir schon eine ganze Menge hier gehabt, lauter solche arme Hungerleider, die sich ein paar Kröten verdienen wollten, weil sie vom Studieren allein nicht satt werden. Aber ausgehalten hat keiner lange. Wie lange bist du denn schon hier, und wie gefällt dir das Flaschner-Sanatorium?"
Die drastische Art des andern, die Dinge gleich beim rechten Namen zu nennen, stieß Sukrow ebenso ab, wie sie ihn anzog. Immerhin froh, auch hier einen Menschen von einem gewissen Niveau gefunden zu haben, gab er die nötigsten Auskünfte, wobei er es aber nicht unterließ, anzudeuten, dass er eigentlich das Geldverdienen gar nicht so nötig habe. Auf den Arbeiter schien diese Bemerkung nicht den geringsten Eindruck zu machen.
„Schrott abladen? Na, dann haben sie dir man auch die ekelhafteste Mistarbeit gegeben. Musst zusehen, dass du, wie ich, an die Walze kommst, da bist du im Trockenen und kannst die Stunde sechs Mark schreiben. Aber dafür suchen sie dir auch einen ab", setzte er hinzu. Als er hörte, dass jener auf Bergarbeit reflektierte, lachte er laut auf.
„Da lass die Finger davon. Ich war acht Wochen mal Schlepper im 300-Meter-Stollen. Hauer willst du gar werden? Was ihr Studenten euch alles austüftelt! Wie lange willst du denn das machen? So acht Tage, was, und nachher dicke Artikel über den Segen des Zwölfstundentages schreiben, he? Du, da sieh dich vor, dass dir die Kumpels nicht das Kreuz dabei einschlagen, die haben hier damit ihre Erfahrungen gemacht und sind höllisch geladen."
Als Sukrow nach zwei Tagen das berühmte Buch des französischen Schriftstellers zurückgab, war natürlich ein längeres Gespräch über das Kriegsproblem nicht zu umgehen. Er machte dabei dieselbe Erfahrung wie bei Ruckers, dass sein ganzes intellektuelles Wissen vor der praktischen Logik des einfachen Arbeiters nicht bestand. Max Grothe war, obwohl nur zwei Jahre älter als Sukrow, schon weit in der Welt herumgekommen. Aus Bremen gebürtig, entlief er mit sechzehn Jahren einem rohen Meister. Durchwanderte teils zu Fuß, teils mit erarbeitetem Geld kürzere Strecken fahrend, ganz Deutschland, Holland, Belgien und Frankreich bis zu den Pyrenäen. Hier und dort jede Arbeit mitnehmend, diente sie ihm doch nur immer als Mittel, um weiterzukommen. Inniger Kontakt mit der gewerkschaftlichen Organisation hinderte sein Hinabgleiten auf das gewöhnliche Kundenniveau". Was ihm noch an Weltkenntnissen fehlte, das holte zum guten Teil der Weltkrieg nach, der ihn bis nach Palästina und schließlich als Kriegsgefangenen nach Malta führte.
Grothe war, das merkte Sukrow sehr bald, Kommunist und hatte daher zu allen Problemen eine gerade entgegengesetzte Einstellung. Glaubte Sukrow an die Evolution, so begründete Grothe die Weitertreibung der Revolution, die in eine Weltrevolution ausmünden müsse. Pries er den Segen der Demokratie und Verfassung, so höhnte jener über Belagerungszustand, Schutzhaftschande, Presseknebelung und Säbelregiment und machte sich über die längst überständige Nationalversammlung, die noch immer nicht sterben und einem neuen Reichstag Platz machen wollte, lustig.
So geht's nicht weiter!" Wie oft war ihm das seit jenem ersten Male in der Eisenbahn nicht schon zu Gehör gekommen. Leute jeder sozialen und politischen Färbung führten es im Mund.
Beim Friseur schlossen die Schimpfkanonaden der kleinen Geschäftsleute über die Zwangswirtschaft regelmäßig mit diesem Ausruf. Und gestern sprang es ihm sogar aus einem Brief von seiner Mutter aus Berlin entgegen. Als Abschluss ihrer Klage, dass die Brikettpreise abermals um fünf Mark pro Zentner erhöht waren.
Solche Schlagworte sind mit einem Male da. Niemand hat sie geprägt, sie liegen förmlich in der Luft wie die Grippebazillen und verbreiten sich auch demgemäß. So war es im Kriege mit der Redensart vom „Totsiegen", die den Tatsachen bereits Jahre vorausgeeilt war.
„So geht's nicht weiter" - damit war doch das ganze politische und wirtschaftliche System gemeint. Was jener Industrielle in der Eisenbahn damit sagen wollte, war ja ganz klar. Dem passte die ganze Richtung nicht.
Den Radikalen, den Kommunisten, wie Grothe, und Unabhängigen, wie Ruckers, denen passte die Richtung auch nicht. Sie waren wenigstens ehrlich und sagten, dass sie einen neuen Umsturz mit Diktatur und Bolschewismus wollten.
Und die Mittelständler, die kleinen Krauter und dergleichen, die konnten eben nicht einsehen, dass man nach vier Jahren Kriegführen wieder neu anfangen muss. Schwer war das ja zu begreifen! Er dachte an seinen alten Vater, der nach einem Leben voller Arbeit und Entbehrungen sich völlig um den Ertrag seines Fleißes betrogen sah und wieder als kleiner Markthändler von vorne anfangen musste.
Und er selber? Ihm war es auch nicht auf der Bank im Lessing-Gymnasium gesungen worden, dass er trotz Abitur und Immatrikulation mit der „Schippe in der Hand", Schulter an Schulter mit Proleten arbeiten werde. Dazu gehörte schon allerlei Selbstverleugnung. Hier hatte er überhaupt noch niemand getroffen, der als entschiedener Republikaner anzusprechen war. Es gab, bei Licht besehen, eigentlich überhaupt keinen Stand oder Klasse, auf die sich die junge deutsche Republik so stützen konnte, wie sich zum Beispiel die Monarchie auf ihre Offiziere, Beamten, Junker und so weiter stützte. Umso notwendiger erschien es, für den republikanischen Gedanken zu werben.
Bei den Arbeitern siegte ja - langsam zwar, aber sicher - die „bessere Einsicht". Die Kumpels fuhren wöchentlich zwei halbe Überschichten. Glatt war es natürlich nicht überall abgegangen. In Essen streikten noch jetzt die Zechen „Amalie", „Helene" und „Prosper 1 und 2". In Swertrup hatte es wesentliche Schwierigkeiten nur auf Zeche „Beate" gegeben, wo die radikale Bergarbeiter-Union stark vertreten war. Als der Sekretär Reese vom Bergarbeiterverband die Notwendigkeit der Überstunden nachzuweisen versuchte, schrie man ihn nieder. Dann kam eigens der Vorsitzende Husemann, und es ergab sich schließlich eine geringe Mehrheit für Überschichten. Aber schon in den ersten Tagen trat ein Mangel an Transportmitteln ein, so dass man die geförderten Kohlen auf Halden schütten musste. Über diese Wendung der Dinge kam es zwischen Sukrow und Grothe zu lebhaften Auseinandersetzungen. Grothe versuchte die Planlosigkeit der Kohlenbeschaffungskampagne nachzuweisen. Zur Reparatur der Waggons und Lokomotiven fehlten angeblich die Gelder, während man sich anderseits erst von der Entente zur fünfzigprozentigen Herabsetzung der Vierhunderttausend-Mann-Armee zwingen lässt. Sukrow begegnete dem mit dem Hinweis auf die Rote Armee Russlands, aber da kam er schön an.
„Dort", rief Grothe, „sind es bewaffnete Arbeiter und Bauern, die ihre Freiheit gegen kaiserliche Offiziere, Großfürsten und Kapitalisten verteidigen. Koltschak haben sie vernichtet, Denikin in die Krim gejagt, und gestern erst kam die Nachricht, dass General Judenitsch, der erst noch kürzlich vor Petersburg stand, nach Estland getürmt ist. Dieselben Russen, die im Weltkriege bataillonsweise überliefen, jagen jetzt Tschechen, Japaner, Engländer und Amerikaner zum Teufel. Woher kommt das wohl? Nun, weil sie wissen, wofür sie kämpfen. Willst du damit unsere famosen Freikorps vergleichen? Die kämpfen nicht gegen unsere Koltschaks und Denikins, denn die sind ja da mittendrin, stehen sogar an der Spitze. Aber wenn's gegen Arbeiter geht, dann sind sie in ihrem Element. Eines Tages werden sie auch eurer SPD in den Arsch treten."
„Ganz so schwarz wie du sehe ich nicht, aber - viel Schuld haben natürlich die Arbeiter selber, weil sie Reichs- und Sicherheitswehr boykottieren. Darum hat ja Noske erst in diesen Tagen bei seiner Rede in Hamburg aufgefordert, dass sich fünfzehntausend Arbeiter freiwillig melden sollen."
Grothe lachte auf. „Und warum meldest du dich da nicht? Dass Noske in jener Rede auch drohte, allen Streikenden die Knochen kaputt zu schlagen, das hat der ,Vorwärts' natürlich unterschlagen. Nun, was sagst du dazu?"
„Dass wir beide doch nicht einig werden. Du hast deine Ansicht, ich habe die meinige. Wenn du Lust hast, kannst du mit zu Ruckers kommen und dir meine Bibliothek ansehen", antwortete Sukrow verdrießlich. Grothe, der ebenfalls die Fruchtlosigkeit der Debatte empfand, willigte ein.
Als sie auf der Ratinger Straße am hellerleuchteten Portal der „Tonhalle" vorbeikamen, erfuhren sie, dass heute abend eine von der SPD einberufene Volksversammlung zur Überschichtenfrage Stellung nehmen werde. Da treffen wir bestimmt auch Ruckers, lass uns mit hineingehen", schlug Grothe vor.
In dem riesigen Saal schob man bereits Tische und Stühle zusammen, und noch immer neue Massen strömten herein.
Nach der herrschenden Stimmung schien eine bewegte Versammlung bevorzustehen. Ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, mit rötlichem Spitzbart, goldenem Kneifer und ziemlicher Glatze eröffnete die Versammlung.
„Das ist Reese vom Bergarbeiterverband. Wenn der leitet, dann herrscht immer dicke Luft", raunte Grothe seinem Nachbar zu. Das Wort zum Referat erhielt der Nationalversammlungsdelegierte Vollmann, der die Notwendigkeit des Überschichtenabkommens mit Beispielen über Kohlenmangel und statistischem Material zu belegen versuchte. Aber schon nach dem fünften Satz setzten Zwischenrufe ein, die sich bis zu lärmenden Unterbrechungen steigerten.
„Ich weiß wohl", fuhr er fort, „dass sich auch in Swertrup und auch in dieser Versammlung Elemente befinden, denen jeder Schritt zum Wiederaufbau und zur Ordnung in Deutschland ein Gräuel ist, die bewusst darauf ausgehen, Unfrieden und Verdruss in unseren Reihen zu säen, um darin ihre schäbige Parteisuppe zu kochen." Seine weiteren Ausführungen gingen in tosendem Lärm unter. Vergeblich suchte der Vorsitzende durch Schwingen der Glocke dem Redner weiteres Gehör zu verschaffen. Sooft dieser wieder zum Reden ansetzte, machte ihn der erneut einsetzende Tumult unverständlich, so dass er sich schließlich erschöpft auf seinen Stuhl niedersetzen musste. Nachdem wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt war, nahm Reese selbst das Wort: „Kollegen und Genossen, mich kennt ihr ja!" Ob wir dich vießen Mopp nicht kennen?" antwortete schlagfertig eine Stimme von der Galerie. Stürmisches Gelächter folgte. Reese tat, als habe er nichts gehört.
" Also Kollegen, in einem, glaube ich, sind wir uns alle ohne Unterschied der Partei einig. So wie bis jetzt geht es nicht mehr weiter! Wir haben Hunger! Unsere Familien hungern, weil die Lebensmittelzufuhren stocken. Und woher kommt das? Der Verkehr liegt brach, weil es wiederum an Kohle mangelt. Das muss jeder einsehen, der in der Schule gelernt hat, dass die Eisenbahnen nicht mit Wind, auch nicht mit Phrasen, sondern mit Steinkohlen betrieben werden. Wir wissen ganz genau, Kollegen, dass mechanische Verlängerung der Arbeitszeit kein Allheilmittel zur Produktionsvermehrung ist. Die wirkliche Ursache der Kalamität ist in den veralteten Schachtanlagen zu suchen!" Stürmisches „Sehr richtig" und Rufe „Na also" brausten durch den Saal. „Wir verlangen, dass sofort Neuabteufungen vorgenommen werden, dass die alten Maschinen durch neue ersetzt, dass ordnungsmäßige Verzimmerungen vorgenommen und überhaupt, kurz gesagt, der ganze technische Apparat neu instand gesetzt wird. Dann werden wir auch wieder die Kohle fördern, die unsere Wirtschaft braucht, und zwar ohne Überschichten!"
Abermals unterbrach wachsender Beifall, den Reese benutzte, einen Schluck aus dem Glase zu tun und einen triumphierenden Blick zu Vollmann hinüberzuwerfen.
„Diesen Standpunkt", fuhr er fort, „haben wir bei den Verhandlungen auch der Regierung unterbreitet. Die Zechenvertreter hatten natürlich Einwendungen."
Zuruf: „Wie immer!"
„Natürlich, Kollegen, wie immer, aber es wird ihnen nichts helfen; denn die Regierungsvertreter, Reichsarbeitsminister Genosse Schlicke und Reichskommissar Genosse Severing, haben uns bei den Essener Verhandlungen volle Unterstützung zugesagt. Jetzt fragt sich nur, was hat im Augenblick zu geschehen? Einen neuen Schacht bis zur Kohlensohle niederzubringen dauert viele Monate. Auch die anderen Schäden lassen sich nicht so schnell ausmerzen. Sollen wir nun derweil ruhig mit ansehen, wie Industrie, Verkehr und Landwirtschaft nach Kohle hungern? Genossen, es sieht böse aus! Fragt nur dort nach, wo die Kohlen nicht, so wie bei uns, vorder Türe liegen. Wer leidet denn da am meisten? Unsere Klassengenossen! Denn die Reichen finden immer noch Möglichkeiten, dass sie nicht zu frieren brauchen. Die große Fabrik von Ludwig Löwe in Berlin hat in diesem Jahre bereits zum zweiten Mal ihren Betrieb wegen Kohlenmangel schließen müssen. Genossen, so reißt man die Arbeiterschaft auseinander, spielt einen Teil gegen den anderen aus, das sollten sich jene Kollegen merken, die gerade immer von sich aus die Einigkeit des Proletariats so sehr im Munde führen. Daraus folgert, dass uns, ob wir wollen oder nicht, vorläufig gar nichts anderes übrig bleibt, als in den sauren Apfel der Überschichten zu beißen."
Mäßiger Beifall erscholl. Sukrow stieß Grothe triumphierend in die Seite. Dieser reckte sich über seine Vordermänner hinweg. „Weißt du denn nicht, dass bereits wieder Kohlen auf Halden geschüttet werden?" rief er, die Hand als Schalltrichter benutzend.
„Aber natürlich weiß ich das", fuhr Reese unbeirrt fort. „Sogar jeder Kumpel weiß, dass man Kohlen nicht nur immer vom Sortierband in die Versandwaggons schüttet. Dass man Reserve haben muss. Bald setzt auch der Wassertransport wieder ein. Kollegen, für uns ist das doch die beste Quittung, dass wir unsere Pflicht voll erfüllen. Wir werden auch nicht versäumen, diese Rechnung bei den Tarifverhandlungen zu präsentieren. Jetzt ist es an den anderen, ihre Schuldigkeit zu tun. (Zuruf: ,Thyssen soll zahlen!') Jawohl, Kollegen, das auch. Aber Kohlen ohne Verkehrsmittel nützen uns auch nichts. Alles für den Wiederaufbau unserer Wirtschaft in unserem neu eroberten, republikanischen, deutschen Vaterlande!"
Es mochte vielleicht an den letzten ungeschickten Formulierungen liegen, dass sich in das Händeklatschen unverständliche Zurufe mischten und sich im Saal zahlreiche erregte Diskussionsgruppen bildeten.
„Du meintest doch vorhin selber, dass man die Transportmittel instand setzen müsste", sagte Sukrow zu Grothe.
„Aber nicht so; hast du denn nicht verstanden, wo der hinauswill; die Eisenbahner sollen auch Überstunden machen", schrie Grothe aufgebracht.
„Ruhe da hinten!" tönte die Stimme eines anderen Versammlungsleiters durch den Saal.
Ein lang und hager gewachsener Mann betrat die Tribüne und begann mit schmetternder Stimme: „Deutsche Volksgenossen und Genossinnen! Wohin geht denn der größte Teil der Kohle, die der Bergmann dem dunklen Schoß der deutschen Erde abringt? - Nach dem Versailler Schmachfrieden haben wir allmonatlich 1680000 Tonnen Reparationskohle an unsere Feinde zu liefern. Eure Minister begaunern euch vorn und hinten, füllen sich nur die Taschen, wie dieser Erzberger, der jetzt in Berlin von einem deutschen Gericht enthüllt wird. Das ist derselbe Erzberger, der mit dem berüchtigten Scheidemann 1918, als unsere heldenhafte Armee kurz vor ihrem Endsieg stand, uns den Dolch in den Rücken stieß. Nur so, meine Damen und Herren, war es möglich, uns dieses Friedensdiktat aufzuzwingen! Nur so sind unsere Feinde in der Lage, uns bis aufs Hemd auszuplündern, ihren Übermut so weit zu treiben, dass sie sogar die Auslieferung deutscher Männer, die nichts weiter als ihre vaterländische Pflicht getan haben, an ihre Rachegerichte fordern."
Jetzt kam die sich immer mehr bemerkbar machende Unruhe zu hellem Aufruhr.
„Man immer los, weg mit dem ganzen Kroppzeug!" „Aus der Luke pfeifst du?" „Runter mit dem Hakenkreuzler!" „Schluss! Schluss!"
Stolz erhobenen Teutonenhauptes kehrte der völkische Propagandaredner auf seinen Platz zurück. Sukrow, der ihm mit den Augen folgte, durchfuhr ein freudiger Schreck. An demselben Tisch, wo sich der Diskussionsredner niederließ, saß die interessante Reisebekanntschaft von damals, als er hier herfuhr. Obwohl sie ungefähr zehn Stuhlreihen entfernt saß und heute nur ein einfaches blaues Kostüm trug, erkannte er sie sofort wieder. So war also ihr beim flüchtigen Abschied auf dem Bahnhof ausgesprochener Wunsch, der ja auch der seinige war, doch in Erfüllung gegangen. Sie trafen sich wieder! Wenn das ein kleiner Fingerzeig des Schicksals war?
Zu weiteren Kombinationen aber kam er nicht mehr, da Peter Ruckers begonnen hatte, mit dem völkischen Provokateur abzurechnen.
„Mit dieser dummen Hetzmethode", sagte er in seiner bedächtigen, aber von unterdrückter Erregung zitternden Stimme, „mögen diese Herrschaften wohl in Oberbayern und Hinterpommern Glück haben. Aber die Ruhrkumpels spannt ihr nicht zum zweiten Male vor euern schwarzweißroten Dreckkarren!"
Lauter Beifall und Händeklatschen unterbrach hier seine Ausführungen.
„Ich will", sprach Ruckers weiter, „nicht zum soundsovielten Male die blöde Dolchstoßlegende widerlegen. Aber setzen wir doch mal den Fall, wir hätten so glänzend gesiegt, wie es nach Ansicht des Vorredners möglich gewesen wäre. Glaubt ihr, wir hätten dann in Deutschland eitel Milch- und Honiglecken? Die Jüngeren von uns hätten dann das Vergnügen, als Besatzungstruppen im besetzten feindlichen Gebiet zu stehen. Und wir anderen? Wir müssten uns zu Hause mit unseren Unternehmern herumschlagen, wie jetzt wieder die französischen Eisenbahner und die Dockarbeiter in England. In diesem Krieg gab es nur einen Sieger, das ist der Kapitalist, der hüben und drüben sein Schaf lein ins Trockene brachte! Glaubt jemand im Ernst, unsere Thyssen, Haniel, Klöckner, Krupp, Stinnes würden uns im Falle des Sieges um ein Haar humaner behandeln? Nein Kollegen, der Proletarier hat noch kein Vaterland, aber er wird es sich noch erobern. Jawohl, wie unsere russischen Brüder! Darum sollen auch die nationalen Söldlinge ihr schwarzweißrotes Stroh woanders dreschen. Der Proletarier hat nur einen Feind: das ist die internationale Kapitalistenklasse ... " Er wollte noch weitersprechen, aber der stürmische Beifallsjubel hinderte ihn daran. Und plötzlich schwang sich aus der dichten Menschenmenge der Gesang der Internationale empor.
„Die Versammlung ist geschlossen", brüllte Reese in den Saal, wohl einsehend, dass nichts mehr herauszuholen war. Unter brausendem Gesang leerte sich der Riesensaal nur langsam.
Als Sukrow sich nach dem völkischen Helden und dessen Begleiterin umsah, waren diese in dem Menschengewühl spurlos verschwunden.

 

4. KAPITEL

Ernst Sukrow saß in der Mittagspause in dem ausrangierten Eisenbahnwagen, der den Schrottarbeitern als Garderobe und Aufenthaltsraum diente, sich die verklammten Finger an seinem „Henkelmann" wärmend. Er verspürte heute kaum einen Essensdrang. Das machte die schlaflose Nacht, eine Folge der gestrigen stürmischen Versammlung.
Auf der Straße hatte es nach Versammlungsschluss noch lebhafte Diskussionen gegeben. Die da diskutierten, waren durchweg alte erfahrene Pioniere der Arbeiterbewegung.
Er, der erst vergangene Woche dem Verband beigetreten war, kam sich dagegen klein und unbedeutend vor. Hart prallten die Gegensätze aufeinander. Grothe hatte sich zäh an einen alten unbelehrbaren Anhänger des Überstundenabkommens festgebissen. Dieser, Oversath mit Namen, war zwar selbst kein Bergmann, aber als Eisenbahnbetriebsrat, Stadtverordneter und Vorsitzender der hiesigen SPD-Ortsgruppe immerhin eine beachtenswerte Persönlichkeit. Als ihn Grothe mit seiner Argumentation so in die Enge getrieben hatte, dass er nicht mehr weiter konnte, hatte er nur noch das eine übrig: „Schließlich haben wir oben in der Regierung unsere Genossen sitzen. So klug wie ihr sind die schon lange, und die werden schon dafür sorgen, dass unsere Interessen nicht zu kurz kommen." Da zitierte Grothe den Götz von Berlichingen und ließ ihn stehen.
Ü ber das zweifelhafte Argument des Sozialdemokraten hatte Sukrow die halbe Nacht gegrübelt, ohne zu einem Resultat zu gelangen. Waren diese an die Spitze gestellten Führer denn nun wirklich solche weit blickenden, unbestechlichen Männer? - „Jeder sorgt nur für seine Tasche!" Das hatte nicht nur gestern abend der Völkische gesagt. Das hörte er fast täglich, wenn die Kollegen mal irgendwie auf die Politik kamen.
Zwischendurch war ihm dann immer wieder das Bild der schönen Fabrikantentochter eingefallen. Kein Zweifel, dass sie politisch auf der äußersten Rechten stand. Und doch ging sie in gewöhnliche Arbeiterversammlungen? - Diese Gedanken gingen ihm auch jetzt durch den Kopf, als ihn die Stimme des Schreibers von der Gießerei weckte. „Sukrow, Sie sollen sich gleich mal vorne im Stahlwerkslaboratorium bei Direktor Dr. Grell melden."
Dr. Grell, der technische Leiter der Gießerei, war wegen seiner Strenge sehr gefürchtet. Sukrow war sich zwar keines Vergehens bewusst, betrat aber doch mit recht gemischten Gefühlen das am Eingang gelegene alte Gebäude, in dem das Laboratorium untergebracht war. Ein junger Bursche führte ihn in ein halb als Büro, halb als Laboratorium eingerichtetes Zimmer, in dem sich aber niemand befand. Ein bitteres Gefühl stieg in ihm auf. Dort lag ja jenes chemische Gebiet, wofür er sich vorbereitet hatte. Wofür schon seine Eltern gearbeitet und gedarbt, sich jede Freude versagt hatten, um ihren Sohn mal als berühmten Chemiker und Erfinder zu sehen. Ein hartes Geschick hatte es anders bestimmt. Verstohlen schaute er durch die Glastür in den Nebenraum, zog Vergleiche zwischen den in weißen Mänteln und Stehkragen arbeitenden Herren und seinem eigenen Konterfei, das ihm aus dem großen Spiegel über der Waschtoilette höhnisch entgegenbleckte.
Ein hohlwangiges, bartstoppeliges, frostgerötetes Gesicht unter speckiger Feldmütze, um den Hals ein roter Wollschal, zerrissene, von Rost und Öl starrende Uniformlumpen und ungefüge Schaftstiefel - das war Ernst Sukrow, stud. ehem.
„Arbeit schändet nicht!"
Wer hatte ihm doch das so eindringlich zu Gemüte geführt? - Ja, richtig, „sie", die schöne Fabrikantentochter. Ruckers' Worte vom Abscheu der Bourgeoisie gegen schmutzige Arbeiter fielen ihm ein. Vermutlich würde sie, die so schön reden konnte, jetzt auch einen großen Bogen um ihn machen. „Jeder muss beim Wiederaufbau an seiner Stelle mithelfen", hatte sie gesagt.
Jeder an seiner Stelle? War denn der Schrotthaufen seine Stelle? - Sie hatte gut reden, wie alle Warmsitzenden. Ihr mutete keiner solche Kuliarbeit zu.
Er erschrak plötzlich vor sich selber. Aus seinem Unterbewusstsein war ein Lehrsatz seines Universitätsprofessors an die Oberfläche geraten:
„Der Neid der Besitzlosen ist analog dem tierischen Neid um den Fressnapf, der in seiner hassvollendeten Form nur beim Proletariat der untersten Stufe anzutreffen ist."
War er denn bereits so tief gesunken? Hatte ihn sein Umgang mit den Arbeitern schon so tief hinabgezogen? Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen. Vor ihm stand die kraftstrotzende Gestalt des Gefürchteten.
„Was wollen Sie denn?"
Hart und messerscharf entflog der Satz dem Gehege eines auffallend starken Gebisses. Ein Gruß kam für den zerlumpten Stahlwerksproleten natürlich nicht in Frage. Sukrow hatte in seiner kurzen Arbeiterlaufbahn schon genug Missachtungen und Demütigungen erfahren. Seine Philosophie über den „Adel der Arbeit", über Heranreifen eines „neuen Zeitalters mit besserer Würdigung der Arbeiter" und endlich das Bewusstsein, doch noch gewissermaßen „etwas Besseres" darzustellen, an das diese Kränkungen nicht heranreichten, hatten ihn immer darüber hinweggeholfen. Jetzt aber kam seine Antwort alles andere als unterwürfig heraus.
„Ich will gar nichts, ich bin nur herbestellt worden." Dr. Grell blickte ihn verwundert an. „Hierher bestellt? Ach, sind Sie der Herr Sukrow aus dem Stahlwerk? Ja so, das müssen Sie doch sagen. Entschuldigen Sie, dass man Ihnen keinen Stuhl anbot, nehmen Sie Platz. Also, Sie haben Chemie studiert?"
Sukrow wurde rot und verlegen wie ein junges Mädchen.
„Hm, drei Semester ist ja nicht viel. Und jetzt karren Sie Schrott am Martinofen? Wie gefällt Ihnen denn das?" In Ton und Miene des Stahlwerkleiters lag etwas, das Sukrow nicht zu definieren vermochte, das ihn aber gleichviel reizte. Wollte dieser Typ eines Herrenmenschen nur seine Neugierde befriedigen, ihn noch gar verhöhnen? All seine Selbstbeherrschung zusammennehmend antwortete er daher:
„Ich kam eigentlich hierher, um Kohlenhauer zu werden. In Berlin hieß es, im Ruhrgebiet herrscht großer Mangel an Bergarbeitern. Ich wurde hier aber eines anderen belehrt, man nahm mich nicht mal als Übertagearbeiter an. Da war ich, weil mir das Rückreisegeld fehlte, gezwungen, als einfacher Handlanger Arbeit anzunehmen, denn ich sagte mir: Arbeit schändet nicht!" Wollen Sie nicht lieber hier im Stahlwerkslaboratorium arbeiten?" fragte Dr. Grell.
Der junge Mann musste ein wenig geistreiches Gesicht machen, das jener für eine Ablehnung halten konnte.
„Wenn Sie aber lieber bei der Karre bleiben, habe ich natürlich auch nichts dagegen. Ich dachte nur, dass es Ihnen als gebildetem Menschen doch angenehmer sein müsse. Sie hätten hier die beste Gelegenheit, sich analytisch weiterzubilden."
„Entschuldigen Sie, Herr Doktor, es kam mir nur etwas überraschend, natürlich..."
„Also einverstanden? Gut! Kommen Sie morgen früh einhalb acht hierher. Aber natürlich müssen Sie sich ein bisschen anziehen. Einen Kragen umbinden. - Sie haben doch noch einen anderen Anzug? Ich gebe Ihnen vorläufig siebenhundert Mark Monatsgehalt. Und dann auf Wiedersehen!"
Das war alles so plötzlich gekommen, dass er wie betäubt an seinen Platz zurückkehrte. Aber allmählich brach in seinem Innern lauter Jubel auf. „Glück muss man haben", frohlockte es in ihm, „und Ausdauer und Selbstvertrauen" setzte er noch hinzu. Mit einer Art Andacht beendete er seine Nachmittagsarbeit. Er musste in dieser Stimmung unbedingt jemand haben, mit dem er sich aussprechen konnte. Da Grothe noch nicht zu Hause war, lenkte er seine Schritte nach Hasdrubal hinaus. Ruckers wusch sich gerade in der Küche, wobei er seinen Brösel rauchte:
„Nanu, du machst ja ein Gesicht, als ob du das große Los gewonnen hast", begrüßte er den jungen Mann.
„So etwas Ähnliches ist es auch", antwortete dieser vergnügt und erzählte, sich auf einen Schemel niederlassend, das Vorgefallene. Zu seinem großen Befremden sagte Ruckers gar nichts, sondern paffte nur dicke Qualmwolken, wie er es immer tat, wenn er in seinem breiten Schädel Gedanken wälzte.
„Na, und du sagst gar nichts dazu?" drängte der Besucher ungeduldig.
„Was soll ich dazu sagen? Was wird denn nun aus deinem Kohlenpicken und der Wiederaufbauarbeit?"
Sukrow war beleidigt. „Man kann beim Wiederaufbau helfen auch ohne Kohlenpicken und Schrottkarren. Ich weiß nicht, was du dir für eine Vorstellung von einem Betriebslaboratorium machst? Nehmen wir nur die Brennstofffrage. Im Laboratorium werden Kohle, Heizgase und andere Brennstoffe auf ihren Heizwert untersucht und demgemäß eingesetzt. Durch rationelle Wärmetechnik werden ungeheure Mengen Kohle erspart."
Das war schon wieder ganz der junge Akademiker, der von der Warte seiner Bildung herab anderen Belehrung gab. Ruckers knurrte verstimmt:
„Na, dann untersuch man tau! Vielleicht bringt ihr es eines Tages noch so weit, dass die Kumpels ganz zu Hause bleiben können."
Als er aber des anderen bestürztes Gesicht sah, lenkte er wieder ein:
„Nichts für ungut, wenn ich dir solche dämliche Antwort gebe, aber ich habe heute auch alle Ursache zur Wut." Und dann erzählte er die Vorfälle, die sich auf Zeche „Beate" bei der Ausfahrt der Vormittagsschicht ereignet hatten.
Entgegen der Anordnung der Zechenleitung, eine halbe Überschicht abzuleisten, erzwangen die Bergleute nach der siebenten Stunde die Ausfahrt. Auf Anordnung des Direktors, der den Maschinisten fortschickte, blieb aber der Förderkorb auf halber Höhe im Schacht stehen. Den bereits ausgefahrenen Arbeitern war es nicht möglich, ihren eingeschlossenen Kollegen Hilfe zu bringen, da ein unfachgemäßes Berühren der Fördermaschinerie unabsehbares Unglück bringen konnte. Anderthalb Stunden hingen die Arbeiter in ihren dünnen Arbeitskleidern im zugigen Schacht, ehe man sie ans Tageslicht ließ. Als sie nach oben kamen, hatte sich der vorsorgliche Direktor bereits mit Sicherheitswehr umgeben. Zum Protest dagegen war die gesamte Belegschaft in den Streik getreten.
„Das sind die vielgerühmten Freiheiten in dieser famosen Republik, dass man die Arbeiter bereits mit Gewalt in der Grube festhält", beendete Ruckers seinen Bericht.
„Das ist in der Tat unerhört, das ist ja Freiheitsberaubung und müsste angezeigt werden", sagte Sukrow entrüstet.
Der Bergmann lachte höhnisch auf. „Bildest du dir ein, dass ein deutscher Richter Herrn Direktor Buchterkirchner wegen Freiheitsberaubung verurteilen wird? Das Auftreten der Polizei zeigt ja doch von vornherein, auf wessen Seite die Staatsgewalt steht. Eine Versammlung der Streikenden wurde von der Polizei sofort ohne weiteres auseinandergejagt. Das verstößt auch gegen gesetzliche Bestimmungen über das Koalitionsrecht; aber was macht das schon?"
„Ja, aber der Verband, was sagt denn der dazu?" fragte Sukrow ganz außer Fassung.
„Ich gehe eben zu einer Sitzung der Schachtvertrauensleute. Aber viel mehr als eine schöne Resolution wird dabei nicht herauskommen. Reese hat bereits telephonisch mitgeteilt, dass ein Solidaritätsstreik unter keinen Umständen sanktioniert wird, da das Überstundenabkommen von den Gewerkschaften gebilligt, die Kumpels also im Unrecht seien. Das stimmt aber gar nicht mal, denn auf ,Beate´ ist die Mehrzahl in der ,Union', die am Abkommen nicht beteiligt ist."
„Das wäre auch egal, bis zur Freiheitsberaubung dürften sie es aber unter keinen Umständen kommen lassen."
„Na siehste, das begreifst du sogar", polterte Ruckers und zog sich die Jacke wieder an.
Da niemand weiter im Hause war, ging Sukrow mit, um sich die besetzte Zeche einmal von der Nähe anzusehen. Es war bereits dunkel, als er über die Ratinger Straße kam. Überall standen in kleinen Gruppen Kumpels, teils finster schweigend, teils leidenschaftlich diskutierend. Ein Teil der Ladengeschäfte hatte bereits vorsorglich die Jalousien herabgelassen. Hinter den Gittern äugten die ängstlichen Gesichter der Geschäftsinhaber. Eine Sipo-Patrouille, vier Mann mit Karabiner und schussfertiger Maschinenpistole, bahnte sich, die Mitte des Fahrdammes haltend, ihren Weg durch die Menge. Langsam nur wichen die Kumpels zur Seite. Hassfunkelnde Augen und halblaute höhnische Zurufe folgten ihnen. Das Portal der Tonhalle war im großen Bogen durch eine doppelte Kette „Grüner" abgesperrt.
„Was ist da drin denn los?" fragte Sukrow einen der herumstehenden Bergarbeiter.
„Machen Sie, dass Sie weiterkommen! Hetzen Sie hier die Leute nicht auf!" krähte plötzlich hinter ihm eine Stimme. Zugleich erhielt er einen Stoß, dass er gegen einen Laternenpfahl flog.
In der Lichstraße, wo das Zechengebäude der "Beate" lag, flutete ihm schon eine, die ganze Straßenbreite einnehmende, aufgeregte Menge entgegen. Man hörte Schreien und Johlen, irgendwo klirrte eine Scheibe. Er drückte sich in eine Hausflurnische, um nicht vom Strom der Flüchtenden mitgerissen zu werden. Die Ursache der Panik waren sechs berittene Sipo. Hinter ihnen eine doppelte Kette von Fußmannschaften, mit Kolben oder aufgepflanztem Bajonett. Plötzlich ein harter Ruf: „Straße frei!"
„Bluthunde!" „Bluthunde!" echote es von den Wänden der engen Straße.
Die Berittenen spornten ihre Gäule hochauf in die Massen. Im Zwielicht der Laternen sah man Klingen auf und nieder blitzen. Gellende Aufschreie zeugten von Getroffenen. Dunkle Knäuel wälzten sich unter den Pferdehufen.
Während die Vorderen vergeblich Schutz vor den Säbeln und Hufen suchten, drängten die Hinteren mit wütendem Trotz nach vorne.
„Standhalten! Nicht ausrücken, Kumpels!"
Plötzlich ein johlendes Freudengeheul. Ein Pferd war auf dem schlüpfrigen Pflaster zu Fall gekommen, im Sturz seinen Reiter unter sich begrabend. Ein schwerer Bergarbeiterstiefel stampfte dem Hilflosen mehrmals auf die noch den Säbelgriff umklammernde Hand. „Bluthund - Mörder - Kapitalsknecht!"
Jetzt stürmten die Fußmannschaften. Vor dem blanken Stahl der Bajonette stob die eingekeilte Menge auseinander. Gleichzeitig knallten Schüsse.
Sukrow zitterte am ganzen Körper. Wohl hatte er in den Januartagen neunzehn in Berlin Zusammenstöße in den Straßen miterlebt. Auch dort wurde geschossen, aber von beiden Seiten. Hier aber handelte es sich um wehrlose Arbeiter, die nichts weiter wollten, als von ihrem gesetzlichen Koalitionsrecht Gebrauch zu machen.
„Pah, Gesetz und Verfassung! Die hat ja Ebert mit dem § 48 außer Kraft gesetzt. Eine Kleinkaliberkugel hat mehr Durchschlagslogik als alles Papier", hatte Grothe gesagt. Das sah man hier, wo die Sicherheitssoldaten sich nicht allein damit begnügten, die Massen zu zersprengen, sondern auch noch die am Boden Liegenden misshandelten und die Flüchtenden bis in die Häuser hinein verfolgten.
Bei der Räumung des Hausflurs, in den sich Sukrow geflüchtet hatte, ging es besonders brutal zu. Mit Fausthieben und Kolbenstößen wurden die Leute auf die Straße getrieben. Ein Sipo drehte einem Mann, der sich vergeblich auf sein künstliches Bein berief, den Arm auf den Rücken, dann stieß er ihm ein paar Mal mit dem Knie ins Kreuz, dass der Krüppel wie ein Bündel zur Erde klatschte.
„Pfui, du Schweinehund, einen Krüppel zu misshandeln!"
Ein weit ausholender weiblicher Arm beschrieb zweimal einen großen Bogen. Zwei kräftige Ohrfeigen klatschten in das Gesicht des verdutzten Ordnungshüters. Sukrow erkannte zu seiner Überraschung in der schlagfertigen Person Mâry Ruckers.
„Mâry, Sie hier? Um Gottes Willen, kommen Sie, man schießt scharf." Instinktiv hatte er ihren Arm ergriffen, und sie in eine Seitengasse mit fortgezogen.
„Wie kommen Sie denn hierher in diesen Tumult", fragte er, als sie den Auflauf im Rücken hatten.
„Jedenfalls genauso wie Sie, das heißt, ich kam aus dem Geschäft", antwortete sie, noch ganz außer Atem.
Sukrow, der noch immer ihren Arm in dem seinen hatte, fühlte, wie sie zitterte.
Sie fliegen ja förmlich", sagte er, besorgt ihre Hand ergreifend. In der anderen hielt sie ihr verbeultes Hütchen. Beim Laternenlicht fand er sie mit dem zerzausten Haar, den geröteten Wangen und den blitzenden Augen plötzlich hübsch.
„Da soll man sich nicht aufregen, wenn man solche Gemeinheiten gegen Wehrlose sieht? Ob diese Kerle wohl im Kriege auch so tapfer waren? Aber wenigstens hat er ein paar ordentliche Schellen gekriegt."
„Unter Brüdern war wohl jede zwei Pfund schwer", pflichtete Sukrow bei.
Jetzt lachten beide.
„Und wenn der Sipo nun Sie niedergeschossen hätte?" Mary lachte verächtlich. „Ich wäre nicht das erste Weib, dem das in dieser wunderbaren Republik passierte."
Mittlerweile waren sie bis zur Ratinger Straße gekommen.
„Darf ich Sie nach Hause begleiten?" fragte er. „Wenn es Ihnen bis zu uns hinaus nicht zu dreckig ist? Aber dann nicht so", sagte sie, und mit energischem Ruck zog sie ihren Arm aus dem seinen.
Er lief brav wie ein Hündchen neben ihr her und erzählte von dem, was er bereits von ihrem Vater erfahren hatte. Sie zeigte sich politisch gut unterrichtet. Im Kreise ihrer Familie war sie scheu und befangen. Hier aber auf der Straße plauderte sie in ihrem melodischen rheinischen Dialekt drauflos, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Als der junge Mann von der Veränderung seines Arbeitsverhältnisses erzählte, gratulierte sie, was er doppelt wohltuend empfand.
„Ich wunderte mich schon immer, dass Sie diese Arbeit so aushalten. Das muss Ihnen doch schwer ankommen, da Sie es nicht gewöhnt sind", sagte sie teilnehmend.
„Mir blieb ja letzten Endes nichts weiter übrig - und da wollte ich eben, weil ich musste! Aber Ihnen, Mary, kann ich es ja im Vertrauen sagen, manchmal stand es mir schon bis hier heran", antwortete er ehrlich. „Vor allem bin ich glücklich, nun wieder als Chemiker arbeiten zu können. Wenn ich mal mein Studium wiederaufnehmen kann, wird mir diese Praxis sehr zustatten kommen."
„Da werden wir Sie wohl bei uns in Hasdrubal bald am längsten gesehen haben", bemerkte sie.
„Wieso denn das?"
„Nun, das ist doch unausbleiblich. Sie kommen wieder in andere Verhältnisse, verkehren mit Ihresgleichen und..."
„Und schäme mich dann Ihresgleichen, was? - Aber Mâry, halten Sie mich für so borniert? Ich werde glücklich sein, wenn ich weiter zu Ihnen hinauskommen darf. Nicht nur aus Dankbarkeit Ihrem Vater und Ihrer Frau Mutter gegenüber, die mich wildfremden Menschen hier ja wie ihren Sohn aufgenommen haben. Die schönen Abende bei Ihnen sind mir ein Lichtblick gewesen. Wollen Sie mir das glauben?" - Er war stehen geblieben, hatte ihre Hand ergriffen und sah sie an.
„Wenn Sie es so sagen, muss ich's glauben", lächelte sie.
„Ü berhaupt ist mir Ihre Gesellschaft so lieb geworden. Ich käme gern öfter zu Ihnen", fuhr er fort.
„Dann kommen Sie doch, Sie bleiben ja jetzt so oft aus!"
Sukrow schluckte. „Ich möchte nicht unbescheiden sein. "Mache dich selten im Hause deiner Freunde, dass sie dir nicht gram werden', sagt Salomo. Aber wenn ich Sie mal abends vom Geschäft —"
" Da muss ich gleich nach Hause", fiel sie ihm ins Wort.
„Aber sonntags?"
Eine Weile ging sie schweigend, den Blick gesenkt, neben ihm her. War er zu weit gegangen, war sie beleidigt? -
Sonntags muss ich auch spätestens um neun Uhr zu Hause sein", sagte sie dann leise.
„Nanu, Sie sind doch über zwanzig, ist denn Ihr Vater so streng?"
„Ja, das ist er auch", kam es mit einem bitteren Unterton zurück.
„Dann können wir doch mal nachmittags ein bisschen weggehen. Nächsten Sonntag?"
„Wenn Sie damit zufrieden sind", antwortete sie und blickte ihn verstohlen von der Seite an.

 

5. KAPITEL

Jedermann im Industriegebiet fühlte: es lag wieder mal etwas in der Luft.
Die Nahrungsmittelschwierigkeiten nahmen zu. Die Lebensmittelkarten konnten oftmals nicht beliefert werden. Wieder, wie in den Zeiten der letzten Kriegsjahre, gab es für Fleisch Salzheringe, für Fett Kunsthonig oder Marmelade. Die Polonäsen wuchsen. Das schuf eine gereizte Stimmung.
Die Geschäftsleute schimpften auf Zwangswirtschaft und Kartensystem. „Im freien Handel gibt es wieder alles in Hülle und Fülle", schwatzten ihnen viele Arbeiter, vor allem natürlich die vielgeplagten Frauen, nach. Andere aber schoben die Schuld auf die Geschäftsleute, die mit „freiem Handel" freien Wucher meinten. Im „freien Handel" bekam man schon heute alles. Nicht einmal hintenherum, sondern öffentlich, unter den Augen der Regierung, als „Auslandsware" deklariert und zu Apothekerpreisen. Die Behörden taten nichts, um dem Wucher zu steuern. Wurde wirklich mal eine große Schiebung entdeckt, wie jene Kahnladung Rohkaffee, die ins besetzte Gebiet verschoben werden sollte, wurde die Ware nicht einfach enteignet, sondern man zahlte den Spekulanten für die Beschlagnahme noch die üblichen Preise. Von einer wirksamen Bestrafung hörte
man nie.
Nachrichten aus dem Ausland steigerten die Erbitterung. In Argentinien feuerte man die Dampfmaschinen mit dem unverkäuflichen Getreide, und in Brasilien wurde der Kaffee ins Meer geschüttet. Leute, die aus dem benachbarten Holland kamen, berichteten, dass dort Fische und Gemüse massenhaft verfaulten, weil bei einem Guldenkurs von achtzig Mark die Deutschen nicht einmal die Frachtkosten hätten zahlen können. Dabei erstickte Holland förmlich in deutschem Papiergeld.
Zeigte die Regierung gegenüber Schiebern und Wucherern jede Nachsicht, so ging sie gegen Arbeiter mit umso größerer Strenge vor. Im Bergbau hatte das Überstundenabkommen Streikbewegungen ausgelöst. Mit der wachsenden Teuerung flammten überall Lohnkämpfe auf. In Bottrop streikten die Straßenbahner, in Gladbach die Textilarbeiter, in Düsseldorf die Buchdrucker! Auch im übrigen Reich gärte es; sogar im besetzten Saargebiet traten die Hüttenarbeiter in eine Bewegung: Überall bot die Regierung den gesamten Machtapparat: Polizei, Militär und Justiz auf, die Bewegungen niederzuringen. Besonders erbittert waren die Arbeiter auf die Technische Nothilfe, die nicht allein in so genannten lebenswichtigen Betrieben, sondern auch dort eingesetzt wurde, wo keine vitalen Allgemeininteressen auf dem Spiele standen. Die Provokation der Unternehmer trat klar zutage.
Die Gewerkschaften erklärten fünfundneunzig Prozent aller Streiks von vornherein als „wild", und selbst die wenigen, die von ihnen anerkannt wurden, endigten günstigstenfalls mit einem faulen Schlichtungskompromiss. Scharenweise verließen die Arbeiter deshalb die Verbände, wurden gleichgültig oder traten der „Union" bei. Damit erhielten die Gewerkschaftsführer ein neues Argument, allen Kämpfen auszuweichen, weil die Zahl der Unorganisierten zu groß sei. Daneben lastete noch immer der Belagerungszustand mit Versammlungs- und Presseverboten und Schutzhaft schwer auf dem Proletariat.
„Noske!"
Dieser Name wurde zum Symbol für alle Gewalt und für alles Unrecht, das man der Arbeiterschaft antat.
„Noskegeist", „Noskeregime", „Noskesöldner", „Noskemethoden". Die Bergarbeiter nannten ihre Grubenhunde nach ihm.
Für das ruhe- und ordnungsliebende Bürgertum aber war Noske „noch der einzig Vernünftige" in der schlappen Reichsregierung. Unter dem Schutz seiner harten Faust konnte man wieder in Ruhe seine Geschäfte tätigen. Die Profite schossen hoch in den Halm. Die Aachener Lederfabrik verteilte nach Aufhebung der Lederzwangswirtschaft vierzig Prozent Dividende. Mit den Abschreibungen wurden es aber hundert Prozent. Und auch die kleinen Kläffer und Aasgeier verdienten! In Düsseldorf und Essen, in Duisburg und Dortmund saßen die Parasiten des Schleichhandels, mit ihren Fängen das ganze Industriegebiet aussaugend. Niemand konnte sich der Tributleistung an sie entziehen. Und weil dem nun so war, schob jeder, der irgendwie Zeug oder Mittel dazu hatte, fleißig mit. Genau wie im Kriege.
Leicht, wie man das Geld verdiente, gab man es wieder aus. In den lauschig verhängten Bars und Animierkneipen flogen allabendlich bei Wein, Weib und Gesang die Banknoten bündelweise auf den Tisch. War man dann auf der Höhe der Gefühle, so intonierte die Kapelle „Deutschland, Deutschland über alles!", wobei alles begeistert „von der Etsch bis an den Belt" mitsang.
Kam aber in vorgerückter Stunde „Fridericus Rex" an die Reihe, gab es kein Halten mehr.
„Hie Frontgeist allweg!"
„Runter mit den Gläsern vom Tisch!"
„Hier ist ein Tausender!"
„Ober, Sekt her!"
Alles lärmte und tobte, trampelte mit den Füßen. Wehe dem, der nicht schleunigst mit aufstand!
„Kinder, die gute alte Zeit soll leben!"
„Nieder mit dem Erzberger! Nieder mit der Judenregierung !"
„Musike!"
„Haut den Hund, den Wirth, auf den Schädel, dass er klirrt. Schießt ab den Walter Rathenau, die gottverfluchte Judensau!"
„Was wollen die Schangels? - Unseren Kaiser ausgeliefert haben? - Unsere Generäle? - Sollen doch kommen, sie holen! - Wir werden ihnen schon zeigen, was 'ne Harke ist! - Jawohl, sizilianische Vesper, die schwarze Schmach hat ohnehin schon lange genug gedauert. -Ich gehe auch noch mal mit!"
Und donnernd brauste „ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall..."
„Was wollen die Kumpels? - Sollen das Maul halten und Überstunden machen. - Überhaupt der ganze Achtstundentag ist nur schuld an der Teuerung! - Nur Arbeit kann uns retten! - Wenn sie länger arbeiten, können sie auch die Preise bezahlen. - Alle Streikenden müssten ausgepeitscht werden, die Hetzer aber an die Wand! - Wenn man der Noske so könnte, wie er will! -Na, lange geht's so ja sowieso nicht mehr. - Passt nur auf, eines schönen Tages gibt's einen Bums... na, mehr will ich nicht sagen!" -
Für Ernst Sukrow war seit seinem Eintritt in das Laboratorium des Stahlwerkes Flaschner die Politik sehr in den Hintergrund geraten. Seine neue Tätigkeit, der er sich voll hingab, nahm sein ganzes Interesse in Anspruch. Durch die schwere körperliche Arbeit waren seine Finger plump und ungeschickt geworden, und auch theoretisch bedurften seine chemischen Kenntnisse sehr der Auffrischung. Bis in die späte Nacht hinein saß er über den Büchern, so dass seine Besuche bei Ruckers ganz unterbleiben mussten.
Dennoch hatte er bei seiner Arbeit anfangs mit vielen Misserfolgen zu kämpfen. Die Mitarbeiter waren ausnahmslos Nichtakademiker, und er quälte sich lieber stundenlang allein, wo vielleicht eine Frage genügt hätte, die Schwierigkeit zu überwinden. Daran hinderte ihn aber nicht allein sein Akademikerstolz, sondern in viel größerem Maße die Art und Weise, wie sich diese Leute aufspielten. Vielleicht war es auch nur sein krankhaftes Ehrgefühl, jedenfalls hatte er den Eindruck, dass sich die lediglich durch Fachschulen oder gar nur durch Selbstunterricht gebildeten Laboranten über den „Schippenakademiker" insgeheim lustig machten. Niemals hatte er diesen Ausdruck gehört, und doch glaubte er ihn von jedem Gesicht ablesen zu können. Insbesondere die Art und Weise, wie sie - obwohl meist selbst aus dem Arbeiterstande hervorgegangen - sich über die Arbeiter erhaben fühlten, verletzte sein Empfinden zutiefst.
Eine Ausnahme davon machte nur Herr Kraft, ein stiller, kriegsbeschädigter Mensch, dem er sich daher etwas näher anschloss. Von ihm erfuhr er auch, was er schon längst vermutete, dass ein Teil der Mitarbeiter in nationalen Verbänden, in der Technischen Nothilfe und in Vereinen waren, die studentische Unsitten nachäfften. Dass diese Leute durchweg reaktionär und zur Arbeiterschaft in einer ganz anderen geistigen Beziehung standen, hatte er schon am ersten Tage erfahren, als man über die Ereignisse auf Zeche „Beate" und die Zusammenstöße auf der Lichstraße diskutierte. Und noch etwas anderes erfuhr er von Kraft: Das Gehalt, das ihm Dr. Grell zahlte, betrug rund zweihundert Mark weniger als das der anderen, die dieselbe Arbeit verrichteten.
„Das sieht unserem Doktor ähnlich", sagte Kraft, „der benutzt jede Möglichkeit, Neueintretende übers Ohr zu hauen. Wer es versteht, sich bei ihm beliebt zu machen, wozu vor allem nationale Gesinnung und Eintritt in die Technische Nothilfe gehört, der kriegt auch Zulage. Passen Sie auf, mit der „Teno" wird man Ihnen bald kommen."
„Sind Sie Mitglied?" fragte Sukrow beunruhigt. „Ich werde ihnen was, ich berufe mich immer auf meine Beschädigung", lachte Kraft. „Aber ich bin auch die einzige Ausnahme. Zahlen Sie doch Ihren Beitrag und denken Sie im übrigen wie Götz von Berlichingen. Wenn man Sie irgendwohin aufbieten will, melden Sie sich einfach krank".
„Ü brigens", fuhr er fort, „sind die Ansichten über die Technische Nothilfe hier selbst bei den Arbeitern nicht einheitlich. Eine ganze Menge Sozialdemokraten, darunter der Vorsitzende Oversath, sind Mitglied."
Sukrow beschloss daher, die Dinge an sich herankommen zu lassen.
Der Streik auf Zeche „Beate" war schon nach zwei Tagen infolge Verhandlungen, die durch die freien Gewerkschaften unter Mithilfe des Swertruper Bürgermeisters und des Regierungspräsidenten mit der Zechenverwaltung gepflogen wurden, beigelegt. Die Polizei wurde zurückgezogen, und die Zechenverwaltung erklärte, keinerlei Druck auf die Leistung von Überstunden ausüben und keine Maßregelung vornehmen zu wollen. Andererseits sollten die Arbeiter auch der Leistung von freiwilligen Überschichten nichts in den Weg legen. Die Belegschaft hatte viel weitergehende Forderungen gestellt: grundsätzliche Ablehnung der Überschichten, Entfernung und Bestrafung des Direktors und Bezahlung der Freiheitsberaubung als Überstunden. Nach erregter Debatte wurde der Kompromiss mit Vierfünftelmehrheit angenommen.
Aber als die Belegschaft am anderen Morgen einfuhr, fanden alle, die dagegen gesprochen hatten, ihre Stempelkarten nicht mehr am Brett. Am folgenden Tage wurden sieben weitere Arbeiter, die zur Wiederaufnahme des Streiks zugunsten der Gemaßregelten aufforderten, ebenfalls entlassen.
Und noch ein anderer Vorfall brachte nicht nur die Arbeiter, sondern auch das Bürgertum und die Behörden, und zwar weit über den Stadtkreis Swertrup hinaus, in Bewegung.
Am meisten aufgeregt war aber unbestritten Direktor Dr. Grell vom Stahlwerk Flaschner, wo durch eine plötzlich erscheinende Kontrollkommission der Entente zehn Geschützrohre, vierzehn Maschinengewehre, vierhundert Gewehre nebst zahlreicher Munition und verschiedene Maschinen zur Geschoßfabrikation gefunden wurden. Unzweifelhaft musste Verrat vorliegen, da die Kommission ohne jegliche Führung sofort den zugemauerten Keller fand.
Dr. Grell schäumte vor stiller Wut, und mit ihm alle jene, die mit Revanchekrieg, Regierungssturz und Kommunistenbekämpfung rechneten. Der „Swertruper Anzeiger" entrüstete sich vierzehn Tage lang über Vaterlandsverräter, die auch noch nach dem Friedensdiktat ihre Dolchstoßpolitik fortsetzten, und deutete dunkel Vergeltungsmaßnahmen an.
Der sozialdemokratische „Volkswille" klagte, dass die Waffen anstatt an die deutschen Behörden, an die Entente ausgeliefert wurden. Weiter nach links hin aber erkannte man deutlich, dass diese Waffen zum Kampf gegen die Arbeiter bestimmt waren. Die erregten Debatten, die infolge dieses Ereignisses auch im Laboratorium des Stahlwerks entstanden, gaben Sukrow weitere Gelegenheit, Einblick in die reaktionäre Gesinnung seiner Kollegen zu tun. Mit Ausnahme des pazifistisch eingestellten Kraft ergingen sich alle in mehr oder minder heftigen Ausdrücken gegen den Feindbund und dessen Verbündete, als welche ganz allgemein die Arbeiterschaft angesehen wurde.
Die überhitzte Atmosphäre ließ es Sukrow zwecklos erscheinen, hiergegen Front zu machen. Als er doch einige schüchterne Versuche unternahm, fuhr man ihm derartig über den Mund, dass er es für klüger hielt, schleunigst einzulenken, um nicht gar in den Verdacht eines Verteidigers zu kommen. Besonders hervor tat sich hierbei ein kaum zwanzigjähriger junger Mensch.
Walter Peikchen, der Sohn eines Zollinspektors, hatte die nationale Gesinnung sozusagen schon mit der Muttermilch eingesogen. Sein größter Schmerz war, dass der Krieg zu Ende gegangen, ehe er selbst ins Feld gehen und sich das EK sowie wenigstens das Feldwebelportepee, wie sein „alter Herr", verdienen konnte. Seine einzige Hoffnung war die Wiederkehr der „guten, alten Zeit", mit strenger Zucht, Sitte und Revanche. Bis dahin betätigte er sich als Mitglied nationaler Verbände, der Einwohnerwehr und der technischen Nothilfe, und trug neben seiner nationalen Gesinnung stolz sein Hakenkreuz zur Schau.
Sukrow interessierte dieser blutrünstige junge Mensch schon rein psychologisch. In der Nähe betrachtet, fand er einen ziemlich harmlosen Jüngling, bei dem sich beschränkter Horizont und persönliche Feigheit ziemlich die Waage hielten. Letzteres trat besonders in Erscheinung, wenn der alte Hövelmann eine saftige Anekdote aus seinem schier unerschöpflichen Vorrat zum Besten gab.
Hövelmann, ein fünfundsechzigjähriger Zecheninvalide, bereitete im Laboratorium die Proben vor und war darüber hinaus ein unentbehrliches Faktotum. Schloss eine Fensterklappe nicht, Hövelmann musste helfen, ging eine Flasche nicht auf, Hövelmann schaffte es, ohne sie zu zerschlagen. Verlor jemand seinen Gummiabsatz, Vater. Hövelmann besserte den Schaden aus, brauchte einer eine Brotkarte, der Alte wusste Bescheid. Hövelmann hinten und Hövelmann vorne. Der weißbärtige Alte humpelte mit seinem steifen Fuß unermüdlich hin und her, wobei er jede Hantierung mit Späßen und witzigen Erzählungen begleitete, so dass sich seine Anwesenheit stets durch lautes Gelächter ankündigte.
Peikchen konnte nie genug von Hövelmanns Anekdoten hören. Die Kollegen wussten das, ermunterten den Alten stets zu neuen Erzählungen und freuten sich köstlich, wenn nach kurzer Zeit Peikchen wieder einmal der Speichel aus dem Munde floss. Durch geschickte Fragen stellten sie fest, dass er aus Angst vor dem anderen Geschlecht noch „ungeküsst" war, was Anlass gab, ihn nach Herzenslust aufzuziehen.
Sukrow amüsierte sich ebenfalls über den originellen Alten, bis er eines Tages durch Kraft erfuhr, dass sich hinter dessen lustigem Äußeren eine todwunde Seele verbarg. Von seinen fünf Söhnen hatte er vier auf dem „Altar des Vaterlandes" geopfert. Den letzten hatte im vergangenen Jahre beim Bergarbeiterstreik in Bottrop die Sipo erschossen. Jetzt lebte der einsame Alte bei einer Schwiegertochter, deren Kinder er in seiner freien Zeit betreute.
Dem stets hilfsbereiten Hövelmann verdankte Sukrow auch schließlich seine lang ersehnte eigene Wohnung. Möblierte Zimmer waren in Swertrup ein ebenso teurer wie seltener Artikel. Wer von den ledigen jungen Leuten der Abhängigkeit von den Massenquartieren der Werke entfliehen wollte, geriet dabei meist in die noch schlimmere der so genannten „Kosthäuser". Familien, die ein Zimmer übrig hatten, stellten eine Anzahl Bettstellen auf und nahmen die Mieter auch gleich in volle Pension. Die Mühe lohnte immer. Es gab aber auch zahlreiche Leute, die daraus ein regelrechtes Gewerbe machten, ganze Stockwerke und Häuser auf diese Weise ausnutzten und dabei dick in die Wolle kamen.
Das Ehepaar Schapulla betrieb sein Kosthaus schon fünfzehn Jahre. Im Erdgeschoß befanden sich Küche und
Speisewirtschaft, die Zimmer in den beiden oberen Stockwerken waren ständig vermietet. Schapullas selbst wohnten ganz oben in den beiden Dachstuben. Selten, dass eines der Betten, von denen immer je drei in einem Zimmer standen, mal einen Tag ohne Mieter war. Herr Schapulla hatte gute Beziehungen, sowohl zu den Pförtnern der Werke als auch zum katholischen Gesellenverein, die ihm die Mieter zuwiesen.
Als der Krieg und die Kriegsindustrie den Wohnungsbedarf in Swertrup steigerten, sagten Schapullas: Wir müssen auch etwas für das Vaterland tun", und brachten ein viertes Bett in die Zimmer. Auch stellte Herr Schapulla, über entsprechende Beziehungen verfügend, seine Kraft dem Vaterland als Munitionsaufseher in einem Granatenlaborierwerk zur Verfügung, da ihn Rheumatismus an seiner Reservepflicht hinderte. Man kaufte eine vier Meter lange schwarzweißrote Fahne, die bei jeder Siegesmeldung von 10000 Gefangenen an zum Dachfenster hinausgehangen wurde. — Als nach dem Krieg die Wohnungsnot besonders groß wurde, schaffte Schapulla die Schränke, in denen die Leute ihre Sachen aufbewahrten, auf den Flur und stellte ein fünftes Bett hinein. Mutter Schapulla verstand es, mit ihrem stets freundlichen Wesen, den Gästen die soziale Notwendigkeit des Zusammenrückens klarzumachen, und kochte bei solchen Anlässen eine Extramehlspeise, während Vater Schapulla einige Missvergnügte durch ein paar Flaschen Bier versöhnte.
Ü berhaupt verstand es Frau Schapulla ausgezeichnet, aus minderwertigen Materialien unter Verwendung von Gewürzkörnern, Lorbeerblättern und frischem Wasser schmackhafte Speisen, die sehr viel „hermachten", zu bereiten. Dabei verfehlte sie niemals, die Mahlweiten durch Klagen über Knappheit, Lebensmittelkarten, hohe Preise usw. zu würzen, so dass man annehmen musste, sie betriebe das Geschäft nur aus reiner Menschenfreundlichkeit und setze dabei zu.
Ja, wenn Vater Schapulla nicht so gut einzukaufen verstände", sagte sie oftmals.
Er hatte gute Verbindungen mit Kaufleuten, die ihm minderwertige und verdorbene Lebensmittel für eine Kleinigkeit abließen. Mehl, das von Motten, Nudeln, die von Maden, Backobst, das von Milben, Reis, der von Mäusedreck wimmelte, fanden ihren Weg ebenso in die Schapullasche Küche, wie stinkige Fische und Fleisch von kranken, schwarzgeschlachteten Tieren. Daher konnten Schapullas einen schwunghaften Handel mit den Lebensmittelkarten ihrer Kostgänger treiben. Hierfür hatte Herr Schapulla seine regelmäßigen Abnehmer in der St. Rochusbrüderschaft, in der er Schriftführer
war.
Ü berhaupt waren Schapullas sehr fromm. „Bete und arbeite." Dieser Spruch hing in Brandmalerei zweimal einen halben Meter groß im Speisesaal. In den Zimmern befand sich über jedem Bett irgendein Öldruck mit der schmerzensreichen Maria, durch deren Herz ein Dolch ging, ein sterbender Jesus oder sonst ein Heiliger. Das Beten besorgte in der Hauptsache Vater Schapulla, der nicht nur sonntags zur Predigt mit Hochamt, sondern auch wochentags zweimal zur Frühmesse ging. Auch die beiden Sprößlinge wurden fleißig dazu angehalten, während Mutter Schapulla wegen ihrer wirtschaftlichen Obliegenheiten vom Kirchenbesuch Dispens hatte.
Auch auf Arbeit wurde im Schapullaschen Hause fleißig gehalten. Mutter Schapulla sorgte, dass ihre beiden Tagesfrauen nicht einen Augenblick zu Atem kamen. Vater Schapulla besorgte das bei seinen Gästen, wenn einer mal krank feierte oder in den Sack gehauen" hatte. Entweder hatte man bald wieder Arbeit, wobei eine Empfehlung des Wirtes oft Wunderwirkung tat, - oder man machte anderen Gästen Platz.
So ruhte denn auch der Segen des Himmels wunderbar auf dem Schapullaschen Hause in der Flingerstraße, das die Eheleute im rechten Augenblick als eigen erworben hatten. Dabei brachten sie noch ein anständiges Scherflein auf die Seite und nahmen täglich zu an Wohlwollen, Leibesumfang und Gnade vor Gott und den Menschen.
Eines Sonntags kam Schapulla ganz zerknirscht aus der Kirche nach Hause. Kurator Spectatius hatte so eindringlich über die schwere Zeit der Not und den Spruch: „Was ihr einem der ärmsten dieser Brüder getan habt, das habt ihr mir getan", gepredigt, dass der Kostwirt gleich nach Tisch mit seiner Ehehälfte auf dem Sofa hinter dem Schanktisch eine vertrauliche Beratung pflog. Das Ergebnis dieser Beratung war, dass zunächst der elfjährige Tönnies eine tüchtige Tracht Prügel erhielt, weil er den väterlichen Zollstock zur Anfertigung eines Flitzbogens verbraucht hatte. Mit einem ausgeliehenen Zollstock gingen sie dann durch die Logierzimmer, maßen die Länge, Breite und Höhe, rechneten und veranschlagten, ohne aber zum Ziel zu kommen. Endlich stiegen sie auch in die eigene Behausung hinauf, wobei sie übereinkamen, dass der elfjährige Tönnies und das dreizehnjährige Trautchen auch ganz gut im elterlichen Zimmer mit schlafen könnten und das vordere Mansardenzimmer sich noch vermieten ließe. In solchen Zeiten muss sich eben jeder einschränken", sagte Schapulla, der gleich sechs Feldbettstellen hineinstellen wollte; aber seine Gattin widersprach. Die guten Möbel konnte man doch nicht auf den Speicher stellen. So kam man denn überein, das Zimmer möbliert an einen „besseren Herrn" zu vermieten, was Herr Schapulla noch am selben Abend seinem Skatbruder im „Goldenen Hahn", dem Oberpförtner vom Flaschnerwerk, mit auf den Weg gab.
Als Sukrow am folgenden Abend in Grothes Begleitung das Kost- und Logierhaus betrat, schallten ihnen ein heiseres Grammophon und trunkene Stimmen entgegen. „Na, hier hast du dich ja auch gut verheiratet", sagte Grothe in Bezug auf die zahlreichen Bier- und Schabauflaschen. Aber schon hatte Herr Schapulla, der hinter der Theke in Hemdärmeln und weißer Schürze hantierte, die Besucher erblickt, und ihren wahren Zweck ahnend, sie auf den Flur hinauskomplimentiert. „Heute geht's hier ein bisschen lustig zu, einer unserer Leute feiert nämlich Namenstag und hat einen ausgegeben", sagte er verlegen lächelnd.
„Das ist man bloß auch heut, sonst aber sind wir ein anständiges Haus", sagte Frau Schapulla, die, sich die Hände an der Schürze abwischend, so schnell wie es ihre Beleibtheit erlaubte, aus der Küche gewalzt kam. „Wollen die beiden Herren zusammen wohnen?"
Sukrow antwortete, dass er für sich ein ruhiges Zimmer suche, wo er abends in Ruhe studieren könne. „Herr Sukrow ist nämlich Chemiker auf Stahlwerk Flaschner und bereitet sich auf sein Doktorexamen vor", schaltete Grothe ein. Sukrow knuffte ihn in die Seite.
„Da werden wir sehr gut zueinander passen, Herr Doktor", rief Frau Schapulla eifrig. Das Zimmer liegt ganz oben, mit denen da unten haben Sie gar nichts zu tun. Wir lassen Ihnen Ihr Essen raufbringen. Es ist unser bestes Zimmer, mit unseren besten Möbeln, und da will man doch auch nicht all und jeden drin haben. Eigentlich wollten wir es gar nicht vermieten, aber wir kommen ja tagsüber doch nicht herein, - solch Logierhaus macht Arbeit - und warum soll das Zimmer leer stehen, wo doch Wohnungen so knapp sind."
Das Zimmer machte mit seinen grünen Polstermöbeln, den sauberen Tapeten und dem weißen Bett in der Tat keinen schlechten Eindruck.
Sukrow, der für Mansardenwohnungen schwärmte, war sogleich entschlossen, das Zimmer zu mieten. Als er aber den Preis: 550 Mark für Zimmer und Kost, hörte, fiel er beinahe auf den Rücken. Die beiden Schapullas machten süßsäuerliche Gesichter: „Ja, unter dem werden Sie wohl in Swertrup nichts kriegen. Es ist ja man auch alles rein zu teuer. Aber dafür haben Sie doch auch alles frei, Essen bekommen Sie reichlich und kräftig, wie es jetzt wohl selten jemand bieten kann, Stiefelputzen ist auch dabei."
„So viel kann ich nicht ausgeben", sagte Sukrow niedergeschlagen und griff nach seinem Hut.
„Was hatten Sie denn gedacht?"
„Na, höchstens 400", antwortete Grothe entschieden vorweg.
„Ach du lieber Gott, dabei würde ich nicht mal auf meine Unkosten kommen", seufzte Frau Schapulla und polierte mit der Schürze den Glassturz, unter dem ihr Silberkranz auf blauem Atlas ruhte.
Sukrow sah sich unschlüssig in dem Zimmer um, dachte an die kartenspielenden Radaubrüder im Junggesellenheim, an die flohwimmelnden Etagenbetten, an die ganze kasernenhafte Ungemütlichkeit und wurde schwankend.
„Legen Sie noch etwas zu", drängte Frau Schapulla. „Die Stiefel habe ich mir immer selber geputzt", sagte er schüchtern.
„Also sagen wir glatt 500 Mark." Schapulla warf seiner Frau einen mißbilligenden Blick zu. „500 Mark, und alles so, wie wir es besprachen", wiederholte die Frau. Nachdem die beiden jungen Leute gemietet hatten und gegangen waren, erklärte sie ihrem Mann ihre Nachgiebigkeit. Den Doktor würde sie schon zu Nachhilfestunden für ihren Tönnies heranziehen, der abermals in der Mittelschule sitzenzubleiben drohte. Außerdem mache es nach außen etwas her, einen richtigen angehenden Doktor im Hause zu haben. Da war auch ihr Gatte zufrieden.
Sukrow zog noch am Abend zu. Am folgenden Tage ging er in Grothes Begleitung hinaus nach Hasdrubal, um von Ruckers die Bücher fortzuschaffen. Die Kiste hätte er auch ebenso gut allein bewältigen können, aber er scheute sich seit seinem verunglückten Ausgang mit Mâry, ihr wieder allein unter die Augen zu treten.
An jenem verabredeten Sonntag waren sie zum Konzert nach dem Rathauskaffee gegangen. Für ihn war trotz seiner vierundzwanzig Jahre das Weib noch ein ungelöstes Problem. In seinem freudlosen Leben hatte, abgesehen von einigen Gymnasialschwärmereien, die Liebe noch keinen Platz gefunden. Wie so manchem jungen Blut vermittelte ihm auch erst das Kriegsleben mit den vom AOK sanitär überwachten Bordellen die ersten näheren Beziehungen zum anderen Geschlecht. In der Einsamkeit seiner Nachkriegsstudien hatte er sich ein paar Mal auf öffentliche Tanzböden gewagt. Aber das ideale Weibliche schien ihm in diesem wüsten Treiben abermals durch den Schmutz gezogen. So war er einsam und einspännig geblieben. Hier erst in der Fremde waren ihm die beiden ersten Mädchen begegnet, die ihm höheres Interesse abnötigten. Eine noch neben der schönen Fabrikantentochter, die er ungeachtet aller Bemühungen noch nicht wieder gesehen hatte, Mâry Ruckers.
Aneinandergeschmiegt hatten sie an jenem Nachmittag im Kaffee sitzend der Musik zugehört. Zwischendurch sprach er von seinem harten Leben, von seinen Ideen und von seinen Zukunftsplänen. Mâry hatte mit eigenartig müdem Lächeln zugehört. Schließlich fiel es ihm auf, dass, wenn er zu sprechen aufhörte, auch das Gespräch aus war. Sie schien Arger gehabt zu haben. So war man denn schließlich verstimmt aufgebrochen, lange bevor es neun Uhr war. Auf der Ratinger Straße lief ihm Max Grothe in die Arme, was Mary Veranlassung gab, sich kurz zu verabschieden.
Grothe schleppte ihn noch in ein Bierlokal, wo eine Damenkapelle konzertierte. Unterwegs missbilligte er das Rendezvous, und Sukrow war so ehrlich, ihm recht zu geben.
„In Bekanntenkreisen fängt man so etwas, wenn man nicht gerade ernste Heiratsabsichten hat, gar nicht an", hatte er gesagt.
Grothe ging öfters in solche Lokale. Sukrow verstand es einfach nicht, wie man für Proletariat und Weltrevolution kämpfen kann, während man gleichzeitig Tanzböden und karnevalistische Sitzungen nicht verschmähte. Grothe schalt ihn einen Philister und zitierte einen Spruch, den Goethe mal im lustigen alten Köln an einen Brunnen angeschrieben hatte:
„Lustig ist ein tolles Streben, Wenn es kurz ist und voll Sinn."
„Und was ist hierbei der Sinn?" fragte Sukrow. „Dass ich, wenn ich mich mal einen Sonntag richtig ausgetobt habe, wieder vier Wochen lang arbeiten, studieren und kämpfen kann", war die Antwort.
Sukrow segnete seinen Entschluss, Grothe mitgenommen zu haben, als sie Mâry, abgesehen von dem Kriegskrüppel, allein mit einer Handarbeit beschäftigt antrafen. Während er nebenan in der Kammer die Bücher zusammenpackte, beobachtete Grothe das flinke Spiel ihrer Finger.
„Man sollte gar nicht meinen, dass diese flinken Finger auch Ohrfeigen austeilen können", sagte er schließlich. „Wollen Sie vielleicht eine Kostprobe haben?" entgegnete sie, und ein schelmisches Lächeln flog über ihr Gesicht.
„Danke, die sparen Sie für den nächsten Sipo", gab Grothe zurück und blätterte in der auf dem Tisch liegenden „Freiheit".
„Na, das Ding ist ja gelungen, das muss ich doch gleich mal Ernst zeigen", sagte er plötzlich, auf eine fettgedruckte Meldung schlagend. „Komm mal her, mein Junge, und lies dir das durch", rief er, begann aber sogleich schon selbst mit dem Vorlesen: „So muss es erst mal kommen!
In einer deutschnationalen Versammlung in Eberswalde sprach General von Ludendorff. Der Redner wandte sich gegen die Verlängerung der Nationalversammlung und erging sich in heftigen Ausfällen gegen den Reichspräsidenten Ebert. Ludendorff forderte sofortige Auflösung der Nationalversammlung, Wahl des Reichstages sowie des Reichspräsidenten durch das Volk, wofür Ludendorff den Feldmarschall von Hindenburg vorschlug."
„Ein verfrühter Aprilscherz", lachte Sukrow, „du glaubst doch nicht etwa im Ernst, dass Hindenburg jemals Reichspräsident werden könne."
„Und warum denn nicht? Ist er denn nicht wählbarer deutscher Staatsbürger? Leben wir nicht in einer ,demokratischen' Republik? Was sollte ihn da wohl hindern?"
„Nun, wenigstens ein Mangel an Stimmen!"
„Das ist ein schwacher Trost", fiel Mâry ein.
„Es ist sogar ein falscher", schalt Grothe. „Denke doch nur an die "Wahlen zur Nationalversammlung, die eine bürgerliche Mehrheit brachten. Ich halte es durchaus für möglich, dass sich die bürgerlichen Parteien auf den ,Ostpreußenretter' Hindenburg einigen. Dass die breiten Massen ihm zujubeln, dafür hat doch die Sozialdemokratie während des Krieges genügend gesorgt. ,Ich gehe zu meinem Hindenburg', gab Heilmann die Parole heraus."
„Das tun sie sogar noch heute", rief Mâry. „Vater griff mal in einer Versammlung Hindenburg als Mitschuldigen an den Annexionsplänen an. Da verteidigte ihn Reese und sagte, schuld habe allein nur Ludendorff. Aber vor Hindenburg müsse auch jeder deutsche Arbeiter achtungsvoll den Hut abnehmen."
„Warum auf ungelegten Eiern brüten", wehrte Sukrow ab.
„Gib nur acht, wenn aus den ungelegten Eiern eines Tages der Hohenzollernkuckuck ausschlüpft", rief Grothe.
„Sieh doch keine Gespenster, solange wir noch einen Ebert haben, kommt kein Hindenburg dagegen auf", behauptete Sukrow.
„Wohl, weil kein kaiserlicher General so brutal gegen die Arbeiter vorging, als euer Ebert und Noske? Bei der
Beate' hat es zwei Tote und zahlreiche Verwundete gegeben. Also bitte", rief Grothe, als Sukrow eine ärgerliche Geste machte, „bekenne endlich mal Farbe. Billigst du dieses Blutregime gegen die Proletarier oder nicht?" Auch Mâry war erregt aufgesprungen. Mit ihren auflodernden Augen erinnerte sie an jenen schrecklichen Abend bei dem Zusammenstoß in der Lichstraße, als sie den rohen Sicherheitssoldaten ohrfeigte.
Billigen konnte Sukrow das Vorgehen der Behörden natürlich nicht. „Fehler werden aber auch auf der Gegenseite gemacht. Schuld trägt einerseits die Gewaltpsychose des Krieges, andererseits aber die traurige Tatsache, dass die Ausführungsorgane noch in Händen reaktionärer Elemente liegen."
„Siehst du, das ist ein Wort. Und warum sind keine Arbeiter in führender Stellung bei der Sipo, bei der Reichswehr, in der Justiz und so weiter? Weil der Arbeiter heute noch, genauso wie früher, nur als Objekt betrachtet wird. Daran hat auch eure ganze famose demokratische Republik nichts geändert!"
Sukrow sah, dass er hier in eine Sackgasse geraten war. Immer wieder diskutierte man um den einen Punkt herum, nur um ihn mürbe zu machen. Wenigstens glaubte er die Absicht zu merken und wurde verstimmt.
„Kritisieren kann ein jeder, wie soll's denn besser gemacht werden?" fragte er gereizten Tones.
„Indem die Arbeiter selbst die Macht..."
Sukrow lachte höhnisch auf: „Ich kenne schon den Vers: Diktatur des Proletariats - alle Macht den Räten -Bündnis mit Sowjetrussland und so weiter. Nee, mein Lieber, die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube! Diktatur des Proletariats? - Ich habe die Arbeiter kennen gelernt. Sieh dich doch nur hier in Swertrup um. In der Junggesellenbaracke bei Flaschner. Die große Mehrzahl ist politisch indifferent oder sind doch nur Mitläufer und Krakeeler. Und mit dieser ungebildeten Masse willst du den Staat beherrschen, die Zechen und Werke in Gang halten? So weit werden wir vielleicht in fünfzig oder hundert Jahren sein. Erst müssen wir dem Arbeiter Bildung beibringen, ihn lehren, eine Bilanz zu lesen, die Betriebe technisch zu leiten und so weiter."
„Ihr dreht euch doch immer wie der Furz um eure eigene Achse. Wenn wir darauf warten wollen, müssen wurden Sozialismus auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, denn der Kapitalismus und der von ihm beherrschte Staat wird die Arbeiter auch geistig auf einem solchen Niveau halten, dass sie nie dahin gelangen, deinen Anforderungen zu entsprechen."
„Du widersprichst dir ja selbst. Kennst du nicht schon Arbeiter, die sich geistig so weit gehoben haben, bist nicht du, ist nicht Peter Ruckers ein gewisses Beispiel dafür", rief Sukrow triumphierend.
„Du machst eben den Fehler, diese Beispiele als Normalleisten zu nehmen, über den jeder Schuh passen soll. Es gibt Leute, die zwei Meter hoch springen, und doch wird es die Masse nicht nachmachen", sagte Grothe.
„Doch, doch, wenn man sie fleißig trainierte, würde es ein ganzer Teil lernen", nahm Sukrow das Gleichnis auf.
„Ja, wenn!" rief Mâry. „Lässt man denn dem Arbeiter, der elend wohnt, hungert und überlange arbeitet, überhaupt Zeit und Gelegenheit zum geistigen Trainieren?"
„Tut man nicht vielmehr alles, um sie durch Schule, Kirche und Presse geistig zu knebeln und durch den Alkohol noch mehr zu verdummen?" fuhr Grothe fort.
„Denken Sie doch bloß an sich selber. Lässt man Sie denn dahin, wohin Sie wollen und wohin Sie gehören, an
die Universität?" fragte das junge Mädchen vorwurfsvoll.
" Ja, aber wie denn nun?" rief Sukrow, der sich wie im Kreis bewegt vorkam, verzweifelt.
Grothe holte tief Atem. „Indem die - sagen wir also, um bei dem Beispiel zu bleiben - geistigen Zweimeterund Eindreiviertelmeterspringer sich an die Spitze stellen, sich politisch organisieren und die unterdrückten und leidenden Klassengenossen zum Befreiungskampf mit fortreißen!"
Wie es in Sowjetrussland geschehen ist", rief Mâry. "Das werdet ihr bei uns nie erleben", antwortete Sukrow mit Bestimmtheit.

 

6. KAPITEL

Die Swertruper Ortsgruppe der SPD unterhielt in einem Mietshause der Rheinstraße ein Parteibüro. Als sich Ernst Sukrow die finstere Treppe zum zweiten Stockwerk emporarbeitete, hörte er schon von unten zwei sich streitende Stimmen. Eine Tür mit der Aufschrift :
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
Sprechstunden täglich von 5 bis 8 Uhr
Ortsgruppe Swertrup
stand halb offen. In dem durch eine Schranke geteilten Raum befanden sich zwei Männer, die er schon vom Ansehen kannte: Gewerkschaftssekretär Reese und Parteivorsitzender Overath. Beide waren in ihren Streit so vertieft, dass sie ihn auch jetzt nicht abbrachen.
„Ich tue gewiss schon alles, was ich kann, aber ihr müsst mir auch nicht alles aufhalsen, schließlich bin ich doch nicht Partei-, sondern Gewerkschaftsangestellter", sagte Reese aufgebracht.
„Aber ich allein kann's auch nicht schaffen, ich habe auch noch einen Nebenberuf", sagte Oversath nicht weniger laut.
Dann musst du eben die Genossen mehr zur Mitarbeit heranziehen, früher ging das doch auch."
So siehst du aus, Emil! Ich sage dir, kein Aas kommt mehr, wenn es was zu arbeiten gibt. Sogar das Zettelverteilen musste ich neulich bezahlen."
„Na, jedenfalls morgens bekommst du die Stenotypistin nicht. Nachmittags kannst du dich meinetwegen mit ihr verheiraten", entschied Reese unwillig.
Sein Blick blieb jetzt auf dem jungen Menschen haften, der bescheiden mit dem Hut in der Hand wartete.
„Was wollen Sie denn?"
Sukrow zuckte zusammen. Das klang ja beinahe wie neulich bei dem herrischen Betriebsleiter des Flaschnerwerkes.
„Ich wollte nur mal fragen, ob man hier seine Aufnahme in die Partei beantragen kann", antwortete Sukrow höflich. Die Zornesfalten, die auf der Stirn des Gewerkschaftssekretärs bis hoch in seine Glatze liefen, glätteten sich, und auch Oversath, der unwillig zwischen Papieren herumwühlte, trat hinzu.
„Aber gewiß doch, bitte nehmen Sie nur Platz." Es dauerte geraume Zeit, bis man einen zerknitterten Aufnahmeschein fand. Reese knurrte dabei über die im Sekretariat herrschende Unordnung, was aber der Vorsitzende wieder mit der mangelnden Unterstützung durch die Genossen - wobei er Reese ansah - verteidigte. Der Gewerkschaftssekretär aber wusste, was sich schickte.
„Nun höre doch endlich damit auf, was soll denn der Genosse schließlich von uns denken? Sie müssen schon entschuldigen, Genosse, aber es geht hier augenblicklich etwas bunt her. Die vielen Aufnahmen und laufenden Arbeiten - eine besoldete Kraft haben wir noch nicht, es wird alles ehrenamtlich gemacht - die Genossen sind alle überlastet. Na, hoffentlich gewinnen wir in Ihnen ein recht tätiges Mitglied. Hat Sie jemand hier hergeschickt, oder - ich meine nur, hat Sie jemand bearbeitet?"
„Bearbeitet? Nun ja, wie man's nimmt. In der vorigen Woche hat man mich auf der Lichstraße mit dem Kolben bearbeitet. Ich kam zufällig dort entlang und wurde Zeuge empörender Polizeibrutalitäten. Man sagt, dass in der Polizei wie in allen Regierungsstellen noch reichlich reaktionäre Elemente vorhanden sind, die die besten Absichten unserer Genossen in der Regierung zuschanden machen. Auch mehren sich die Anzeichen, als ob was vor sich gehen soll, ein neuer Putsch - aber diesmal von rechts."
Reese blickte Overath, und dieser wiederum seinen Genossen an.
„Ja, und was wollen Sie denn? - Wollen Sie sich bei der Sicherheitswehr melden", fragte Reese unsicher.
„Gott bewahre, ich war schon einmal 1919 in Berlin beim ,Reichstagsregiment Liebe'. Habe jetzt Stellung hier als Chemiker auf dem Stahlwerk Flaschner. Aber ich halte es für meine Pflicht, mich auch politisch in die republikanische Front einzureihen."
„So, so", atmete Overath erleichtert auf, „na, dann füllen Sie man den Schein aus."
Reese nahm seinen Hut. „Also dann auf Wiedersehen, Genosse Sukrow. Und was den Rechtsputsch anbetrifft, da dürfen Sie unbesorgt sein. Dazu sind diese Leute viel zu vernünftig, verlassen Sie sich darauf! Ich selber kenne eine ganze Menge hier, alles ganz patente Leute, die sich nur noch nicht in das Neue hineinfinden können. Das kann man ja verstehen, aber sonst wollen die auch nur das Beste. Ihr Geschrei ist nur Krakeelerei, nichts weiter. Auf jeden Fall haben wir, außer unserem Gustav mit seiner Reichswehr und Genossen Heine mit der Sipo, die ganze Arbeiterschaft hinter uns. Da würden wir bei einem Rechtsputsch noch viel schneller als mit den Spartakisten fertig werden."
" Glauben Sie denn, dass die Reichswehr in solchem Falle auch wirklich gegen Rechtsputschisten schießen würde?" fragte Sukrow ungläubig.
„Glauben?" Reese lächelte überlegen. „Die Soldaten sind doch auf unsere Verfassung vereidigt. Also, Bangemachen gilt nicht."
Damit war er zur Tür hinaus.
„Ich will Ihnen noch einen guten Rat geben, Genosse, treten Sie der Einwohnerwehr bei. Unser Genosse Heine hat sie ja ausdrücklich zum Schutze gegen Putsche von links und rechts gebildet. Ich bin auch Mitglied, kann mich aber wegen meiner vielen Funktionen nicht viel drum kümmern", sagte der Parteivorsitzende.
Sukrow versprach, sich dies zu überlegen und verließ gedankenvoll das Sekretariat.
Ü ber Nacht war wieder Schnee gefallen, aber nicht liegen geblieben. Die Straßen schwammen im Schlamm, und die Schlackenwege des Stahlwerkes glichen morastigen Kanälen.
Ernst Sukrow filtrierte auf dem Fensterbrett des Laboratoriums seine Phosphorbestimmungen, wobei er in das noch immer währende Schneegestöber hinausblickte. Vor vier Wochen noch, da stand der bei solchem Wetter nass wie eine gebadete Katze hinter dem Martinofen und schaufelte garstigen Schrott für den nimmersatten Bauch des Eisenfressers. Jetzt saß er hier hübsch sauber und warm. Wurde besser bezahlt, mit „Herr" angeredet, hatte eine interessante Arbeit, also allen Grund, zufrieden zu sein. Dennoch konnte er nicht mit sich ins reine kommen.
Gewaltsam kämpfte er die dummen Gedanken, die das hässliche Wetter ihm eingab, nieder. Er konnte den armen Kerlen, die da drüben noch weiterhin schaufelten, froren und nass wurden, ja doch nicht helfen. Wenn er dem Ruf auf einen anderen Platz - seinen Fähigkeiten entsprechend - Folge leistete, war er doch noch lange kein Verräter an der republikanischen Sache. Ja, wenn er nun alles hätte aufgegeben? So aber war gerade das Gegenteil der Fall. Er hatte sich sogar politisch organisiert in jener Partei, die sich die Arbeiterbefreiung zum Ziel gesetzt hat. Darauf bildete er sich sogar im Stillen etwas ein. Und dass er, statt, wie ursprünglich beabsichtigt, Kohle zu graben, Stahlanalysen machte, das schlug doch seinen Grundsätzen über Mitarbeit beim Wiederaufbau nicht im geringsten ins Gesicht. „Jeder an seiner Stelle!"
Wie oft wiederholte er sich den Satz. Wenn ihm wieder mal eine schwierige Arbeit gelungen war, wenn er einen neuen Einblick in die Technik des Betriebes gewonnen hatte, jedes Mal fielen ihm die Worte seiner schönen Reisebegleiterin aufs Neue ein. Nach anfänglicher schwerer Prüfung hatte sich für ihn doch noch alles zum Besten gewendet. Gleich einem guten Engel hatte sie ihm Glück gebracht.
In seinen Betrachtungen störte ihn Küpper, der kleine naseweise Laboratoriumsstift:
„Wissen Sie auch schon, Herr Sukrow, wir kriegen eine neue Volontärin." „Eine Volontärin...?"
" Ja, eben wurde von der Direktion angeklingelt. Sie ist schon drüben im Verwaltungsgebäude. Ein feines Fräulein, Sie!"
„Hast du sie denn schon gesehen?"
„Drüben in den Büros war sie vor ein paar Wochen schon mal. Da werden Sie staunen", sagte der Knirps, mit den Augen blinzelnd.
In Sukrow stieg eine Ahnung auf. „Wie sieht sie denn aus?"
„Da kommt sie ja schon", rief der Bursche.
Ü ber den Hof kam ein Ingenieur, und in seiner Begleitung eine Dame, in der er, obwohl sie den Lederhut tief auf den Kragen des Gummimantels herabgezogen hatte, sofort „sie", die Langgesuchte, erkannte. Er hätte sie unter Tausenden herausgefunden, so sehr hatte sich ihm ihre Gestalt eingeprägt. Wenige Minuten später stand sie, von Dr. Grell begleitet, im Arbeitsraum. In dem blütenweißen Laboratoriumsmantel, mit dem von blonden Schnecken umrahmten frostgeröteten Gesicht, aus dem ein Paar tiefblaue Augen strahlten, kam sie ihm jetzt wirklich wie ein überirdisches Wesen vor.
„Küpper, bitte mal schnell die Herren von nebenan her", rief Dr. Grell.
Die Herren von nebenan hatten natürlich schon neugierig auf der Lauer gelegen.
„Hier stelle ich Ihnen Fräulein Zenk vor. Fräulein Zenk wird sich acht Tage im Laboratorium aufhalten, um alle einschlägigen Bestimmungen in Stahl, Eisen und Kohle kennen zu lernen."
Die Herren verbeugten sich bei Nennung ihrer Namen, und Gisela Zenk reichte jedem die Rechte, Als sie Sukrow die Hand reichte, zeigte kein Zug ihres gleichmäßig lächelnden Gesichtes, dass sie ihn wieder erkannte.
Seitdem Gisela Zenk im Laboratorium volontierte, war ein ganz anderer Zug dort eingekehrt, was sich vor allem in der Verbesserung des Umgangstones äußerte. Selbst der alte Hövelmann schränkte seinen Anekdotenvorrat ein, zumal sein willigster Abnehmer Peikchen wie verwandelt schien. Die Kollegen foppten diesen heimlich, in die schöne Volontärin verschossen zu sein.
Da für Sukrow der Heimweg etwas weit war, aß er mittags Brotschnitten und verbrachte die übrige Zeit mit Lesen im Waagenzimmer des Laboratoriums. Als er eines Mittags den gewohnten Platz einnehmen wollte, saß zu seiner Überraschung Gisela Zenk noch vor der analytischen Waage.
„Sie auch noch hier, gehen Sie denn nicht zu Tisch?" fragte sie, ohne den Blick von der Skala der in ihrem Glasgehäuse leise vibrierenden Waage abzulenken.
„Ich halte meine Tischzeit immer hier ab, weil es mir mittags zu weit nach Hause ist", entgegnete er etwas verlegen.
„Nun, dann lassen Sie sich nur nicht stören, ich wollte nur eine Kohlenstoffbestimmung nochmals kontrollieren."
Sukrow setzte sich bescheiden in seine Ecke. Das warme Licht der abgeblendeten Lampe umflutete den goldigen Scheitel der anmutigen Gestalt, spiegelte sich in den seidenfeinen Härchen, die sich an dem schönen Nacken kräuselten. Besonders edel deuchten ihm die schmalen weißen Hände beim Dirigieren der automatischen Pinzette.
Gisela Zenk schloss mit lautem Knall das Waagenfenster, warf sich auf ihrem Sessel herum und schlug lässig ein Bein über das andere. Aus der Manteltasche zog sie ein silbernes Etui.
Haben Sie Feuer?" - Ganz verwirrt reichte Sukrow ihr das angetriebene Zündholz und nahm die ihm dargebotene Zigarette.
Mein einziges Laster", lachte sie.
„Wenn gnädiges Fräulein weiter kein Laster haben", stammelte er unsinnig. Er hatte sich vorgenommen, sie nicht wie die anderen mit „Gnädige" anzureden. Nun war es doch geschehen.
„Wer weiß auch", lächelte sie, und nach einer kurzen Weile:
„Wie gefällt Ihnen nun Ihre Tätigkeit hier?! Besser als das hässliche Schrottabladen? Oder wollen Sie doch lieber in den Schacht?"
Sukrow wurde dunkelrot.
„Wie, Sie wissen?..."
Gisela lachte hellauf. „Natürlich weiß ich. Habe Sie doch oft genug auf der Lore stehen sehen. Bloß Sie haben mich nicht gesehen, oder waren zu stolz, da oben auf Ihrem ehernen Thron."
„Aber ich weiß wirklich nicht..."
„Sie wissen anscheinend manches noch nicht. Auch nicht, wie Sie plötzlich hierher ins Laboratorium kamen?"
Jetzt wurde ihm blitzschnell alles klar. „Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, dass ich nicht eher meinen Dank..."
„Ich freue mich, wenn ich anständigen Menschen ein bisschen unter die Arme greifen kann", lächelte sie abwinkend.
Sukrow hätte am liebsten ihre Hand geküsst.
„Ich bin ja so zufrieden, dass ich hier in meinem Berufe wirken und schaffen kann, wenn ich auch die Fortsetzung meiner Studien weiter hinausschieben muss."
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„Nun, dazu wird vielleicht auch noch mal Rat. Übrigens scheinen Sie Ihre Studien hier nicht allein auf hüttenchemisches Gebiet zu beschränken. - Ich sah Sie mal in einer Arbeiterversammlung."
„Da ging ich aus demselben Grunde hin wie Sie", entgegnete er schnell gefasst.
„Wie, sind Sie denn auch?...", sie biss sich schnell auf die Zunge. - „Sie sind doch radikal, halten es mit den Arbeitern!"
„Das stimmt gewissermaßen, und darum gehe ich auch in Arbeiterversammlungen, um meine sozialen Einsichten zu vertiefen."
Ü ber Giselas schönes Gesicht flog ein Schatten des Unmutes.
„Für die Arbeiter sind wir - bin ich auch! Das habe ich Ihnen ja schon damals in der Bahn gesagt. Aber Sie haben ja in jener Versammlung gesehen: Die Arbeiter selbst sind sich nicht einig und werden sich auch nie einig werden! Einer reißt den anderen herunter! Und jeder, der etwas wird, tritt seine Kameraden mit Füßen. Ein Arbeiter, der was wird, ist der schlimmste Ausbeuter, den man sich denken kann."
„Die Befreiung der Arbeiterklasse kann aber nur das Werk ihrer eigenen Hände sein", antwortete Sukrow.
„So sagt der Jude Marx, um einen gegen den anderen aufzuhetzen", rief sie blitzenden Auges.
„Das stimmt aber nicht, Marx hetzt doch keine Arbeiter gegen Arbeiter", sagte er, den Kampf aufnehmend.
„Nein, aber einen Deutschen gegen den anderen! Oder sind die Arbeitgeber, die Offiziere, die Intellektuellen, zu denen Sie doch auch gehören, nicht auch Volksgenossen, ohne die kein Fortschritt und kein Arbeiten möglich ist? Und wie wird dagegen gehetzt?"
„Das liegt doch wohl hauptsächlich an der Gegenseite. Wie wird denn auch der Arbeiter ausgebeutet und behandelt? Ich habe es selbst zur Genüge erfahren", setzte er hinzu.
„Und sind nicht doch gewisse Vertreter dieser verruchten Menschenklasse' gekommen und haben Ihnen geholfen?" trumpfte sie auf.
Sukrow fühlte sich entwaffnet und beschämt zugleich. Später ärgerte er sich, dass er ihr nicht gesagt hatte: „Ja, mir einzelnem, der ich ja eigentlich gar kein Arbeiter war - aber was haben die andern davon?"
Gisela Zenk nützte seine Niederlage geschickt aus. „Ich achte und ehre jede Ansicht, auch wenn sie falsch ist. Sie selber, Herr Sukrow, sind nur ein unbewusstes Opfer der marxistischen Irrlehre. Die meisten Menschen rennen in ihrer Parteidogmatik wie in einem Käfig auf und ab. Weil sie dem Gegner stets nur die gemeinsten Absichten unterschieben. Eines Menschen Rede aber ist keine Rede..."
„Man soll sie hören alle beide."
„So, das wissen Sie. Aber Sie sind so untolerant, einen andern gar nicht mal aussprechen zu lassen, nur weil das Ihrer vorgefassten Meinung zuwiderläuft!"
Sukrow war sich dieser Schuld zwar nicht bewusst, senkte aber vor ihren eifersprühenden Augen das Haupt. Und dann begann sie ein Bild des Wiederaufbaues, so wie sie ihn sich vorstellte, zu entwerfen - Arbeitgeber und Arbeitnehmer wohnen unter einem Dach in dem großen Hause, das da heißt „Deutschland"! Also haben beide ein gemeinsames Interesse an seinem Aufbau! Er fühlte zwar, dass da irgendetwas nicht stimmte, nicht stimmen konnte, war aber zu aufgeregt, um etwas zu erwidern.
Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, ärgerte er sich über sich selber. Immer, wenn er mit jemandem politisierte, zog er den Kürzeren. Dass ihm das sogar hier passiert war, schmerzte ihn besonders. Er musste sich heimlich eingestehen, dass er ihr nicht sonderlich Achtung eingeflößt haben konnte.
Der Gedanke, sich das Wohlwollen der schönen Fabrikantentochter verscherzt zu haben, verließ ihn den ganzen Nachmittag nicht. Dass er ihr nicht ganz gleichgültig war, bewies allein schon, dass sie sich für ihn verwendet hatte. War das nun bloß rein menschliche Anteilnahme, oder mehr? - Verstohlen betrachtete er sich im Spiegel. Er hatte ein schmales durchgeistigtes Gesicht, schwarze Haare und dunkelgraue Augen. „Gegensätze ziehen sich an, vielleicht dass sie, die blonde..."
Ah, was sind das für Gedanken?! Zwischen ihm, dem mittellosen Werkstudenten, und ihr, der reichen Unternehmerstochter, der alle Welt zu Füßen lag, klaffte ein Abgrund, der durch alle romantischen Kombinationen nicht zu überbrücken war. -
Am Samstag daraufrückte er - nachdem er zu Abend gegessen hatte — die grüne Stehlampe an das Sofa und schlug das aus der Parteibibliothek entliehene Buch auf: "Ferdinand Lasalle, Über Verfassungsfragen".
Was ihm die beiden Parteifunktionäre wegen der Einwohnerwehr geraten, schien hier gewissermaßen seine Rechtfertigung zu finden. Die Verfassung konnte nur durch die dahinterstehenden realen Machtmittel: Kanonen und Bajonette realisiert werden. Danach war es nicht nur richtig, dass Noske an der Spitze der Reichswehr, Heine an der Spitze der Sicherheits- und Einwohnerwehr standen, sondern dass man selber auch Mitglied der Einwohnerwehr wurde, um dort im sozialdemokratischen Geist zu wirken. - Wenn er an Peikchen und Konsorten dachte, erschien ihm zwar die Möglichkeit einer solchen Betätigung sehr fragwürdig.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedankengänge. Schapulla, der wie gewöhnlich in Hemdsärmeln war, bat um das Geschirr.
Nanu, Herr Schapulla bemüht sich persönlich? Haben Sie sich deshalb extra so fein gemacht, oder wollen Sie zur Hochzeit?" Der dicke Wirt, der gute schwarze Hosen und einen Kragen mit weißem Schlips trug, lächelte etwas verlegen.
„Das gerade nicht, aber wir haben von der Einwohnerwehr heute im Marxloher Hof...", er legte eine gedruckte Einladung auf den Tisch.
„Geselliger Abend mit Gästen und Tanzvergnügen."
„Sind Sie denn da auch Mitglied?" fragte Sukrow interessiert.
Und ob er Mitglied war! - Herr Schapulla war zwar alles andere als ein Politiker. Ob Wilhelm oder Ebert regierten, das war ihm ganz Gottlieb Schulze. Als Mann für Ruhe und Ordnung und Mitglied des Vereins ehemaliger „Hacketäuer" hatte er es aber für selbstverständlich gehalten, auch der EW beizutreten.
Der Zusammenhalt in der Swertruper Einwohnerwehr ließ noch viel zu wünschen übrig. Die Wehrleitung kam daher auf den Einfall, solche geselligen Abende zu veranstalten. Jedes Mitglied war verpflichtet, mindestens einen Gast mitzubringen. Schapulla hatte lange überlegt, wen er da wohl mitschleifen könnte, denn mit dem Grünwarenhändler Kabuschat, der nur für nass saufen wollte, mochte er sich nicht blamieren. Schließlich war ihm sein „möblierter Herr" eingefallen, nur wusste er noch nicht, wie er das anbringen sollte.
„Na, dann amüsieren Sie sich man recht schön, und werden Sie Ihrer Frau nicht untreu", sagte der junge Mann gutgelaunt.
„O ja, das letzte mal war es sehr nett. Bier wird immer massenhaft gepöttet, alles meist Lagen, und Damen waren da, ich sage Ihnen...", er schnalzte bedeutsam mit der Zunge. „Leider fehlte es an tüchtigen Tänzern."
„Na, da haben Sie ja Chancen!"
„Aber, gehen Sie, unsereiner kommt ja bei solchen ,Hiawatha' nicht zurechte. Ja, als ich so alt war wie Sie, da war ich auch ein toller Hahn. Beim Karneval kam ich mal fünf Tage nicht in mein Bett. Und bei der Kirmes? Immer rangegangen und nix wie rangegangen! Aber Sie machen sich wohl gar nichts aus Tanzen und so?"
Sukrow lachte. „Das kommt auf die Gelegenheit an."
„Nun, wenn es Ihnen kommod ist?... Heute wird wieder allerlei gefällig sein. Gewöhnlich geht es da die ganze Nacht durch", blinzelte Schapulla vielsagend. Sukrow sprang auf. „M.w.! Machen wir! Mir fällt ohnehin die Decke auf den Kopf. Wenn Sie mich also mitnehmen wollen, in fünf Bierminuten bin ich unten!" Als Schapulla mit seinem Gast in der neunten Stunde den Saal betrat, waren bereits gegen vierhundert Personen anwesend. Die älteren Herren in Gruppen gesprächsweise zusammenstehend. Rings um die blankgebohnerte Tanzfläche auf langen Stuhlreihen, wie Stare auf dem Telegraphendraht, die heiratslustig aufgeputzten Töchter. Etwas im Hintergrunde die würdigen Mamas mit Lorgnetten.
„Allerhand Kalbfleisch hier, was? Na, da sehen Sie mal zu, was sich machen lässt. Und falls Sie sich eine abschleppen... "- Schapulla bunkerte mit den wässrigblauen Schweinsäuglein, - „nach ein Uhr ist die Bude sturmfrei. Meine Ollsche will das ja nicht, sie sagt, das Haus soll rein bleiben. Die Weiber sind ja darin so komisch. Ziehen Sie sich man die Stiefel unten aus. Die Hauptsache, dass keine Lockennadeln im Bett liegenbleiben."
Die vortreffliche Musik begann soeben einen Walzer aus der „Czardasfürstin", und Sukrow wollte, vom Jagdeifer gepackt, sich in das Vergnügen stürzen, als ihn sein Begleiter am Arm festhielt: „Nicht so stürmisch, erst muss ich Sie noch vorstellen." Und dann führte er ihn zu einigen jovialen Herren mit Bändern und Medaillen im Knopfloch. Er hörte unverständliche Namen und „hoch erfreut", verbeugte sich nach rechts und links, tauschte Händedrücke und fand doch das Ganze widerlich abgeschmackt.
Plötzlich stieß er auf zwei bekannte Gesichter: Reese und Oversath! Es war ihm zwar peinlich, die Parteigenossen hier, wo er sich nach Grothes Rezept mal tüchtig austoben wollte, anzutreffen, konnte aber natürlich einer Begrüßung nicht aus dem Wege gehen. Die beiden Arbeiterführer schienen aufrichtig erfreut zu sein, den jungen Mann hier zu treffen, und stellten ihm einen älteren Herrn, dessen Kopf wie ein Kürbis mit Schmiss und Hornbrille aussah, als Bürgermeister Dr. Livenkuhl vor. Jeder hatte für ihn ein paar verbindliche Worte, klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter, und seine Taschen füllten sich mit Anmeldezetteln und Werbeprospekten: „Schützt euer Heim und eure Familie, tretet der Einwohnerwehr bei" oder „Was will die Technische Nothilfe?" und so weiter.
Damit aber noch nicht genug, schleppten ihn die beiden Genossen zu einem Tisch, wo sie schon von ihren besseren Hälften nebst Töchtern sehnsüchtig erwartet wurden. Wieder gab es Höflichkeitszeremonien! Die beiden Frauen, die den jungen Mann sofort mit Kennermiene zum Schwiegersohnaspiranten erkoren, platzierten ihn mit mütterlicher Sorgfalt — die keinen Widerspruch duldete — zwischen sich, so dass ein Entrinnen unmöglich schien. Dann begann ein ebenso liebenswürdiges wie hochnotpeinliches Verhör über seine hiesigen als auch familiären Verhältnisse. Sie mussten darüber schon zum Teil orientiert sein, denn trotz seines schüchternen Einwandes redeten sie ihn fortgesetzt mit „Herr Doktor" an.
Frau Oversath, eine kleine rundliche Frau mit munterem kölnischem Mundwerk, bemühte sich dabei, recht hochdeutsch zu reden, was der schwarzseiden, steif und würdevoll dasitzenden Frau Gewerkschaftssekretär Veranlassung gab, ihrem gegenübersitzenden Töchterlein Ilse auf den Fuß zu treten. Dabei erwischte sie aber den Fuß von Lucie Oversath, die, in dem Wahne, der wuchtige Anstoß käme von dem interessanten Studenten, kräftig zurücktrat.
Währenddessen sondierte Ernst das Gefechtsfeld. Dummes Gänschen, im Dutzend billiger, dachte er in Bezug auf das Töchterchen des Gewerkschaftssekretärs, das duftig aufgeputzt wie eine Ehrenjungfrau, mit geistlosem Puppengesicht dasaß. Die Oversaths hatten dunkelblondes Haar, niedliche Stumpfnasen und sanfte, graublaue Augen, die, wenn sie die langen Wimpern aufschlugen, einem unerfahrenen Vierundzwanzigjährigen gefährlich werden konnten.
Sukrow, der abwechselnd mit allen dreien tanzte, wusste nicht, ob er sich für Gertrud oder Lucie entscheiden sollte. Diese peinliche Frage löste ein schmissgezierter baumlanger Mensch, der Lucie bei jedem Tanz sofort für den nächsten engagierte, so dass er sich nunmehr gänzlich an Gertrud hielt. Sehr zur Entrüstung der Frau Gewerkschaftssekretär, die sichtbar verstimmt mit ihrem sitzen gebliebenen Töchterlein gegen elf Uhr das Feld räumte. Auch Frau Oversath verabschiedete sich
bald darauf.
„Verzeihung, meine Herrschaften", näselte der Schmissige, „wenn Sie nichts dagegen haben, nehme ich hier ein bisschen Platz. Gestatten Sie: Kuhlenkamp, -
Bergassessor 1"
„Was trinken die Herrschaften?" fragte der hinzutretende Kellner, die Gläser mit den schalen Bierresten
abräumend.
„Bringen Sie mal die Weinkarte, - Sie gestatten, dass ich einlade", verbeugte sich abermals der Lange.
„Nebenan ist's gemütlich, da gibt's hübsche Ecken, wo man nicht so wie hier auf dem Paradeteller sitzt", sagte Lucie mit viel versprechendem Augenaufschlag.
„Ach so! - Sie wissen hier schon Bescheid? Nun, ich bin von Oberhausen und heute das erste Mal hier. Aber selbstverständlich ziehen wir da um."
Um zwölf Uhr verlöschte wegen der eingetretenen Polizeistunde das elektrische Licht. Stattdessen wurden an den Kronleuchtern die Spiritusglühlampen von der Gassparzeit her aufgehängt, aber die ganzen Seitenflächen des Saales verblieben in prickelndem Halbdunkel, sehr zur Freude der liebebedürftigen Jugend, die sich von der lästigen elterlichen Aufsicht befreit sah. In die Musik mischte sich Singen, Lachen, Kreischen und Stöhnen. Die Atmosphäre war gesättigt von menschlichen Ausdünstungen und Rauch, Staub und Biergeruch, Parfüm und Sinnlichkeit.
Die älteren Herrschaften hatten sich in die vorderen Wirtschaftsräume zurückgezogen, wo sie an behaglichen Rundtischen beim Kerzenlicht weitertranken.
Polizeistunde? -
Es hatte sich was, wenn der Polizeigewaltige, Bürgermeister Livenkuhl, den Anführer machte. Da prangte er im Kreise der Herren vom Wehrvorstand hinter einer Batterie geleerter Rotweinflaschen und fühlte sich offensichtlich sehr wohl. Neben ihm saß Gewerkschaftssekretär Reese, der mit weinrotem Gesicht Mikoschwitze zum Besten gab. - Ein paar Tische weiter hockten Schlächtermeister Gutknecht, Kaufhausbesitzer Gerstenberg, Drogist Dobberstein und Oberpostsekretär Liepel und machten sich das Vergnügen, Herrn Schapulla, der Lustiges aus seiner „Dienstzeit" erzählte, mit „Dortmunder" voll zu pumpen. Oversath, der nicht viel vertragen konnte, hatte bereits den Gang zur Toilette vollgespien und lag jetzt leblos wie eine Leiche auf einer Eckbank. Der dicke Kosthauswirt aber soff wie ein Loch, so dass seine Kumpane sich kaum noch über Tisch halten konnten.
Sukrow sah das alles, als er mal von draußen zurückkehrte. Sowohl als Soldat als auch als Student hatte er Saufereien kennen und verabscheuen gelernt, so dass dieses Bild ihn keineswegs entzückte. Und noch auf etwas anderes wurde er durch die Mädchen aufmerksam gemacht. In einer notdürftig erhellten Nische saß eine völlig betrunkene Frauensperson auf dem Schoß eines ebenfalls nicht mehr nüchternen Herrn.
Kuhlenkamp verzog seinen Mund bis zu den Ohren, Lucie Oversath aber entrüstete sich:
„Das ist nun eine verheiratete Frau, ihr Mann ist Reiseingenieur, - dass die sich gar nicht schämt."
„Nicht wahr, sie sollten es lieber so wie wir machen", sagte der Assessor und blies mit gewaltigem Niesen das Licht aus.
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Lucie spielte noch immer die Naive. „Gott, man kann ja alles mitmachen. Unsere Mama sagt immer: Ich werde euch nicht anbinden, ihr müsst selber wissen, wie weit ihr zu gehen habt."
„Die da drüben treiben's auch entschieden zu weit", griente der Frivole.
Als bei der zweiten „Muskateller" Gertrud ihre Beine auf den Tisch legte, so dass ihr Rock weit in den Schoß zurückfiel, rief die Schwester vorwurfsvoll: „Aber Trautchen!"...
„Lass mir deine Spitzenhöschen seh'n!" - trällerte Kuhlenkamp und zielte mit der Flasche.
„Das kannst du bei Lucie machen", sagte sie schnippisch und deckte ihre Reize wieder zu.
„Also jetzt trinken wir alle Brüderschaft, und jeder bekommt dabei einen anständigen Kuss", rief Kuhlenkamp, sein Glas hebend.
Als die Mädchen einmal hinausgingen, sagte der Lange: „Die haben schon genug! Ich bin mit der Meinigen schon einig. Wir gehen ins Hotel 'Ohnsorge'" „Davon habe ich ja gar nichts gehört", sagte Sukrow
erstaunt.
„Na, Mensch, das sagt man doch auch nicht, davon überzeugt man sich handgreiflich. Und wie steht's bei dir, Kommilitone?"
Sukrow machte Ausflüchte. - „Wenn Sie mir die Schwester nicht abnehmen, vermasseln Sie mir die ganze Tour. Kommen Sie doch mit, die Kleine ist ja auch nicht spröde", jammerte der Bergbeamte und stellte sich dann - des anderen Verlegenheit erratend - zur Verfügung. Sukrow nahm hundert Mark.
Als er später nach einem Tanz mit Lucie zum Tisch zurückkehrte, erblickte er vor dem hellerleuchteten Garderobespiegel im Gang eine schlanke, in lichtgrüne Seide gekleidete Gestalt, die sich ihr Haar ordnete. Ein befrackter Herr mit der Garderobe stand hinter ihr. Im selben Moment drehte sie sich um - und Sukrow blickte in Gisela Zenks Augen. Er machte eine linkische Verbeugung, aber sie schaute kalt über ihn hinweg, als kenne sie ihn nicht. Da ging er beschämt in seine Ecke zurück. Als man gegen zwei Uhr die Straße betrat, lag diese fast in völliger Finsternis. Überall in der Dunkelheit grölte und torkelte es. Auch Sukrow merkte, dass er reichlich voll des süßen „Muskatellers" war. Die Mädchen hingen selig im Arm ihrer Begleiter. An einem Straßenmast lehnte ein Kumpel und erbrach sich zum Gaudium der Umstehenden in seinen Filzhut.
„Die Arbeiter sind doch ein Schweinepack, verdienen immer noch zuviel", lallte der Bergassessor.
Bei einer Eckdestille mit eingeschlagenen Scheiben war eine Ansammlung. Sukrow trat in etwas Klebriges und entdeckte zu seinem Schrecken, dass es Blut war. Der Destillenwirt hatte mit einigen „polnischen Kamerads", die noch nach zwölf Uhr Einlass begehrten, Streit gehabt und die Polizei alarmiert. Die hatte einige der Ruhestörer mit dem Säbel verletzt und dann mit zur Wache genommen.
„Richtig so - kurzen Prozess machen - Pack gleich an die Wand stellen", rief Kuhlenkamp mit schwerer Stimme, und dann begann er mit seinem Bambusstock fuchtelnd, zu grölen:
„Nieder mit den Juden, nieder mit den Juden, Nieder mit den Juden von der Republik!"

 

7. KAPITEL

Als Ernst Sukrow am anderen Morgen vom Gebimmel der Glocken erwachte, hatte er Mühe, sich die Geschehnisse der letzten Nacht zusammenzureimen. Es war zehn Uhr. Er beschloss aufzustehen und seinen Katzenjammer auf dem Sonntagsbummel in der Ratinger Straße auszukühlen. „Schön war's doch", schmunzelte er vor sich hin, als er an Gertrud Oversath dachte.
Am Heumarkt rief ihn Max Grothe an. „Na, auch auf dem Kälbermarkt? Du siehst aber verteufelt schlecht aus, das macht wohl die Laboratoriumsluft?" Sukrow zuckte grinsend die Schultern. „Wenn der wüsste!" -
„Und bei Ruckers lässt du dich auch nicht mehr sehen, Mary meinte schon, du seist eingeschnappt, weil wir dich letztens so niederdiskutierten."
„Mich niederdiskutiert? - Aber das ist ja Unsinn. Ich habe jetzt so viel zu studieren, muss alles wieder rekapitulieren, wollte schon längst mal wieder hingehen", antwortete Sukrow ausweichend.
„Dann komm doch heute nachmittag. Mutter Ruckers hat Geburtstag, das wird da sehr gemütlich. Hannes und ich spielen Mandoline, du nimmst die Laute. Ein paar Mädels sind auch da, die Stube wird ausgeräumt zum Tanzen, den Ludwig, den armen Krüppel, haben sie bei Nachbarn untergebracht, also es wird fein", sagte Grothe.
„Ich bin ja nicht eingeladen", wandte Sukrow ein,
der an das verabredete Rendezvous mit Gertrud dachte.
„Papperlapapp! Wie sollte man dich denn einladen,
wenn du dich nicht sehen lässt. Umso größer ist die
Freude, wenn du unverhofft kommst", rief Grothe.
„Wer weiß auch, und dann... ich habe mir für heute nachmittag eine Arbeit zurechtgelegt, es geht wirklich nicht."
„Ruckers sehen dich immer gern, aber du bist und bleibst ein unverbesserlicher Philister", schalt Grothe. „Philister?" - Nun, der würde Augen machen, wenn der wüsste... . Sukrow lachte still vor sich hin.
Nach dem Mittagessen bat er Frau Schapulla, ihn spätestens um vier Uhr zu wecken, und legte sich aufs Ohr, einen Teil der verbummelten Nacht einzuholen. Im Traum verfolgten ihn die Geschehnisse der Nacht, nur mit dem Unterschied, dass an Stelle Gertruds ihn Gisela Zenk umschlang. Dann saßen sie in einer Brautkutsche, und die Glocken läuteten. Zu ihren Füßen lagen schwere Säcke, durch die das gemünzte Gold schimmerte. Das war die Mitgift des Schwiegervaters. Als er mit seinen Füßen die Säcke anstieß, blieben große rote Flecke darauf zurück. „Das ist ja Menschenblut, ich habe ja gestern nacht auf der Ratinger Straße die Arbeiter erschossen", schrie er angstvoll auf. - Aber Gisela tröstete ihn. „Wer mich lieben will, muss auch Arbeiter erschießen können." Da packte ihn ein kaltes Grauen, er wollte aus dem Wagen springen, aber der sauste jetzt pfeilschnell an schwindelnden Abgründen dahin. Wovor ihm aber am meisten grauste: die Pferde waren bleiche Gerippe, die aus ihren Nüstern feurigen Drachenatem bliesen. Auf dem Kutscherbock saß aber Reese, der Gewerkschaftssekretär, und knallte mit der Peitsche. Er wollte schreien vor Angst, aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt.
Dann befanden sie sich in einer dämmrigen Halle. Irgendwoher kam eine himmlische Sphärenmusik, bei deren Klängen ihm so wehmütig wurde, dass er weinte. An dem steinernen Altar kniete in wallendem weißem Gewand die Priesterin. Ihm wurde so feierlich zumute, dass er ebenfalls niederkniete. Als die Priesterin sich erhob, erkannte er in ihr Gisela Zenk. „So heiratet ein deutsches Mädel", sagte sie, ihm einen funkelnden Dolch aufs Herz setzend. Dann sah er sich auf dem Steinaltar liegen und sein Blut in einen gläsernen Kolben schäumen, den Peikchen unterhielt. Als er gefüllt war, setzte sie ihn an die Lippen... da erwachte er, von Grauen gepeinigt und in Schweiß gebadet.
„Gott sei Dank, es war nur ein Traum", sagte er, nachdem er wieder zum Bewusstsein gekommen war. Eine ganze Weile war er noch unfähig, sich zu rühren oder überhaupt einen Entschluss zu fassen. Draußen hörte er Stimmen und dazwischen unterdrücktes Wimmern. Tönnies Schapulla bekam anscheinend wieder mal christliche Zucht mit dem väterlichen Leibriemen. Schließlich raffte er sich auf, zog die Vorhänge zurück, und jetzt erst beim Anblick der schwefelgelben Rauchfahnen der Zinkraffinerie kam er wieder völlig zu sich. -Richtig, um fünf Uhr wollte er sich ja mit Gertrud Oversath treffen. Nach dem Waschen wurde ihm etwas klarer im Kopf. Draußen erschollen schwere Schritte, Schapulla klopfte, und als er hörte, dass sein Mieter schon auf war, trat er ein.
Na, ausgeschlafen, oder haben Sie noch Haarspitzenkatarrh?" erkundigte er sich, verständnisinnig grinsend. Und dann begann er von gestern abend lang und breit zu schwatzen. Sukrow erkundigte sich, warum Tönnies schon wieder Prügel gekriegt habe. Der Kostwirt wurde etwas verlegen.
„Der... ach Gott... na, Ihnen kann ich es ja sagen. Gestern hat er seiner Schwester die Sparbüchse aufgemacht und das ganze Geld vernascht. Wie das Trautche heute mittag die Kollekte für die Kinderandacht herausnehmen will, ist die ganze Büchse leer. Wohl so an dreißig Mark. Jetzt muss er den ganzen Nachmittag hier oben im dunklen Kaschott auf Erbsen knien, der fiese Ap der!"
Sukrow wartete im Hinterzimmer der Konditorei vergeblich auf sein Schätzchen, was seine Stimmung keineswegs verbesserte. Ob vielleicht die Eltern gemerkt hatten, dass ihre Tochter erst bei Tagesgrauen nach Hause gekommen war, vielleicht sogar erfahren hatten, wo sie gewesen? Swertrup war trotz allen amerikanischen Einschlages doch ein kleinstädtisches Klatschnest, wo man sich immer wieder traf! Er hatte es sich so schön gedacht, mit Gertrud zusammen Kaffee zu trinken und sich mit ihr auszusprechen.
Er fühlte sich schuldig, obwohl Gertrud ja eigentlich den meisten Anlass gegeben hatte. So wie sie küsste und... Sie hatte zwar gesagt, er sei der erste - aber das sagten in solchen Fällen wohl alle Mädchen. Und wenn schon? - Jetzt erst empfand er, wie grenzenlos einsam er in dieser trostlosen Stadt bisher gelebt und wie sehr ihm solche kleine Gertrud gefehlt hatte.
Als die Uhr halb sieben schlug, sagte er sich, es wird ihr wohl was dazwischengekommen sein, und schlenderte zur Stadt zurück. Noch nie hatte er die grauen Straßen so trostlos und abscheulich hässlich gefunden, wie in der nebelkalten Dämmerung dieses zwecklosen Sonntagabends.
Aus einer Kneipe kamen Ziehharmonikaklänge und das Grölen Betrunkener. Eine Frau, die in ihrem Umschlagetuch ein Kind trug, mühte sich, durch die verhängten Türscheiben Einblick zu gewinnen. Aus einem Hausflur kam Gekreische. Halbwüchsige Burschen und Mädels trieben dort ihr Wesen miteinander. - An einem Hause gewahrte er ein verschmutztes Glastransparent, in welchem eine offene Gasflamme trübselig flackerte. „Christliche Gemeinde St. Michael!", und darunter baumelte ein Pappschild:
„Heute sechs Uhr evangelische Abendandacht! Jedermann herzlich willkommen!"
Proletarierleben zwischen dunklem Kohlenschacht, hässlichen Wohnlöchern, dunstigen Kneipen und muffigen Betstuben, dachte Sukrow. Er schauderte zusammen, wenn er an die furchtbare Zeit dachte, die er auf dem Abladeplatz des Stahlwerkes und in dem „Junggesellenheim" verlebt hatte. Wie er das überhaupt hatte aushalten können, war ihm heute unbegreiflich! Und diese schuftenden, hungernden, in Schmutz dahinvegetierenden Proleten sollten mit den Besitzern der qualmenden Schlote gemeinsame Interessen haben?
Laut auflachen mochte er, wenn er an die Worte Gisela Zenks dachte. Er hätte sie einladen mögen, mit ihm einen Gang durch die Armutsquartiere zu machen. Das junge Weib, das ihn unter der Laterne da so verlockend anlächelte, hatte es sich vor Jahresfrist vielleicht noch nicht träumen lassen, dass sie abends unter der Laterne fremde Männer anlächeln würde.
Was „sie" wohl dazu sagen würde? Jetzt lachte er wirklich laut auf. Diskutieren würde er mit ihr niemals mehr, seitdem sie über ihn so hochnäsig hinweggesehen hatte. Im Laboratorium unter vier Augen, da versuchte sie wohl, ihn einzuwickeln. Aber in Gesellschaft? - Sie konnte doch den verhungerten Studenten, der nicht einmal einen Cutaway, sondern einen gewendeten Anzug trug, unmöglich dem feinen Herrn an ihrer Seite vorstellen. Er stampfte grimmig mit dem Fuß. Gut war es doch, dass ihm dies begegnete. So war er kurz und schmerzhaft von einer Illusion geheilt, die ihm jetzt nicht nur knabenhaft romantisch, sondern sogar kindisch erschien.
Als er in der Ratinger Straße am „Union-Kino" vorüberkam, war gerade die Nachmittagsvorstellung vorbei. Er überlegte, ob er sich den Film „Todesurteil" ansehen sollte, als er plötzlich zusammenzuckte. Unter den Herausströmenden erblickte er - Gertrud Oversath in Begleitung eines gutgekleideten jungen Menschen. Sie schlug, als sich ihre Blicke begegneten, die Augen nieder und ging, ihren Kavalier mit sich fortziehend, schnell zur anderen Straßenseite hinüber.
Eine Weile stand er wie betäubt. „Also so eine war es!" - In ihm kochte der Zorn. Dann aber drehte er sich kurz entschlossen auf dem Absatz herum und spuckte, dass es klatschte.
Was aber nun noch beginnen? Vor Kino und Cafe ekelte ihn. Nach Hause? - Am liebsten würde er noch hinaus nach Hasdrubal fahren, schon, um nicht den ganzen Abend mit seinen Unlustgefühlen allein zu sein. Das Bahnhofsbüfett fiel ihm ein, dort würde er wohl ein paar Apfelsinen erhalten, um zum Geburtstag nicht ganz mit leeren Händen zu kommen.
Als er seinen Einkauf beisammen hatte, warf er noch einen Blick auf den Bahnsteig. Inmitten einer Gruppe halbmilitärisch gekleideter junger Leute glaubte er seinen Kollegen Peikchen zu erkennen. Aus dem Wartesaal zweiter Klasse kam eben eine Dame im Nerzpelz heraus;... es war Gisela Zenk. Die jungen Leute rissen sich militärisch zusammen, klappten mit den Absätzen und verbeugten sich affektiert. Das Ganze sah wie nach Abschied aus.
Umso besser, dachte Sukrow, im Hintergrund bleibend, dann brauche ich mich nicht mehr über sie zu ärgern. Das empfand er recht deutlich in diesem Augenblick, da er das alberne Pflänzchen, das sich da in seinem Herzen eingenistet hatte, entschlossen herausriss.
Wehmütig blickte er dem Zuge nach, aber nicht ihretwegen. Das war ja endgültig aus und erledigt! Aber er wäre am liebsten auch davongefahren, irgendwo anders hin, nur fort aus dem verräucherten Kohlenpott, wo der Himmel stets rauchverhangen grau in grau lag, wo Erde und Häuser, Menschen und menschliche Gefühle ständig verrußt schienen.
Auf seine frischfröhlichen Hoffnungen hatte sich auch solche Rußschicht gelegt, die „Romantik des Bergarbeiterlebens" war endgültig vorbei. Er hasste jetzt diese hässliche schwarze Stadt so grenzenlos, wie sie selber grenzenlos erschien. Alles Rohe, Hässliche, Widerwärtige, was irgendwie das Menschenleben verdammungswürdig gestalten konnte, schien hier in seiner widerlichsten Form zusammengeballt zu sein. Als laste ein unbegreiflicher Fluch über dieser trostlosen Gegend und ihren Menschen. Vom Fluch der Arbeit hatte er mal irgendwo gelesen. Wer kannte den Zauberspruch, ihn zu lösen? -
Bei Ruckers begrüßte man den späten Gast mit lautem Hallo. „Je später der Abend, desto schöner die Gäste!" rief der Alte, ihm die Hand entgegenstreckend, während Mutter Ruckers schnell hinaus nach der Küche lief, um Kaffee nachzubrühen.
„Das ist recht, dass du noch gekommen bist", sagte Max Grothe, der sich hier ganz wie zu Hause zu fühlen schien und sich das Jackett ausgezogen hatte. Hannes machte ihn mit den Anwesenden bekannt. Eine ältere ledige Schwester Ruckers', eine Nachbarsfrau mit ihrem Manne, der sich aber den ganzen Abend nicht um sie kümmerte, und ein junger Genosse aus dem Arbeitersamariterbund, in dem Hannes und Mâry Mitglied waren. Dann war da noch eine Geschäftskollegin Marys, ein kleines, mickriges Ding, das kaum den Mund aufzumachen wagte, wenn man sie ansprach. Und schließlich noch eine etwas dreist aussehende, beleibte Person von etwa fünfundzwanzig Jahren mit aufblondierten Haaren, die ein ziemlich großes Wort führte.
„Eine entfernte Verwandte von Ruckers", flüsterte Grothe ihm zu. „Hat 1917 Kriegstrauung gemacht. Kaum, dass ihr Mann weg war, ging sie mit anderen los. Jetzt sind sie auseinander. Er ist irgendwo bei den Baltikumern. Bei der kannst du - wenn du willst - leicht was werden."
„Danke für Backobst", sagte Sukrow und wandte sich Mâry zu, die eben mit einer Kanne Bier zurückkam.
„Darf ich vorstellen: Herr Sukrow", scherzte Grothe. Mary blickte ihn ernst an. „Das ist auch bald nötig, Sie sind uns ja fast schon fremd geworden", sagte sie in vorwurfsvollem Ton. - Sukrow wurde rot.
„Mâry, zum Donnerwetter, Mädel, wo bleibt das Bier? Willst du uns verdursten lassen? Nachher könnt ihr euch stundenlang erzählen", enthob ihn der Vater einer Antwort.
Später wurde es noch sehr gemütlich. Hannes und Sukrow spielten abwechselnd Laute, und man sang dazu gemeinsam Volks-, Wander- und Kampflieder. Zwischendurch rezitierte Grothe aus dem lustigen Salzerbuch. Schließlich sagte Frau Ruckers: „Singen Sie uns doch mal eins alleine vor, Herr Sukrow." Er war zwar nicht in Stimmung, konnte aber den Wunsch des Geburtstagskindes nicht ausschlagen. „Also, was wird denn gewünscht?" fragte er, die Lautenwirbel anziehend. „Löns", bat Mâry. „De Bur und de Pap" wollte Grothe hören. Vater Ruckers wünschte sich das Lied vom To-bak-bak, während Alfred, der Samariter, „Schnadahüpferl" bestellte. „Das Geburtstagskind hat den Vortritt", rief Sukrow, aber Frau Ruckers sagte: „Spielen Sie nur, was Ihnen gerade am besten gefällt, ich höre alles gerne."
Eine Weile strich er sinnend über die Saiten und begann plötzlich unvermittelt in Moll:

„Nun geht der Sommer übers Land,
Die Birken werden grün.
Ich nehm den Stecken in die Hand,
Von dannen will ich ziehn. Fahr hin, fahr hin
Mit deinem stolzen Sinn.

Ich habe dir mein Herz gebracht,
Mein Herz so treu wie Gold.
Du hast mich dafür ausgelacht,
Du hast es nicht gewollt.
Lass sein, lass sein
Und bleib für dich allein.

Feinsmädchen an dem Gartenzaun,
So schön wie Milch und Blut.
Dir will ich jetzt mein Herz vertraun,
Nimms hin in deine Hut.
Nimms hin, nimms hin
In deinen treuen Sinn.

Und wenn wir uns der Liebe freun
Zur schönen Sommerszeit.
Dann bleibt die Stolze ganz allein,
Bis dass es friert und schneit.
Schab ab, schab ab
Einen andern Schatz ich hab."

Noch ehe die schwermütigen Nachakkorde verklungen waren, begann die lustige Kriegerswitwe „Bravo" zu rufen und begeistert in die Hände zu klatschen.
„Warum heute so miesepetrig; sing doch lieber was Heiteres zum Geburtstag", sagte Grothe, aber die Frauen widersprachen. Nachdem er noch eine Lönssche Ballade gesungen, bat die Kriegerwitwe, ihr Lieblingslied singen zu dürfen; Sukrow wollte sie begleiten.
Ruckers brummte zwar unwillig: „Später, Anne, später", und Hannes knuffte ihr kräftig in die Rippen. Sie aber begann sofort mit viel Schmalz und viel zu hoch zu singen:
„Holdeh Blumeh Mähnertreuh, Wo biehst duh zu findähn, Blühäst du nur auf Bährgäshöhn Odehr in das Tahles Grühndän?"
„Du hast es auch nötig!" knurrte Ruckers in seiner Sofaecke. Alles feixte, was sie aber nicht abhielt, auch die folgenden Verse herunterzuleiern.
„Das ist ja entsetzlich", flüsterte Sukrow, der versucht hatte, ein bißchen mitzuklimpern.
Grothe begann plötzlich wie ein Schlosshund zu heulen. „Wenn ich das schöne Lied von der Anne höre, wird mir immer ganz weh zumute", seufzte er, sich die Augen wischend. „Dann denke ich nämlich immer daran, wie wir 1914 zum ersten Male als Schlachtvieh nach Belgien gefahren wurden."
„Habt ihr da dieses Lied auch gesungen?" fragte sie arglos.
„Nein, bewahre! Aber die Wagenschmierer hatten das Schmiergeld versoffen, da quietschten die Wagen auch so entsetzlich, dass man am liebsten desertiert wäre."
Alles wieherte vor Lachen. „Du bist ja geck", sagte sie und tat fünf Minuten lang beleidigt.
Zum Abendbrot wickelte jeder seine Schnitten aus. Nur Sukrow hatte nichts mitgebracht.
Die Witwe aber schob ihm ein paar dick mit Käse belegte Brote zu. „Essen Sie nur, Herr Sukrow, ich gebe es Ihnen gerne", sagte sie mit zärtlichem Augenaufschlag.
Max Grothe war schier unermüdlich im Aushecken immer neuer Scherze und Schehnenstreiche. Bald fasste jemand mit verbundenen Augen in ein Senfglas, bald wurde ein anderer mit Salzwasser gelabt, schließlich die ganze Gesellschaft mit Lampenruß angeschwärzt. Zuletzt putzte er sich grotesk als Kumpel aus und tanzte einen polnischen Krakowiak, wobei die anderen in die Hände klatschten mussten, während er sang:

„Das Katz, das hat vier Beine,
An jeder Ecke eine,
Und hat sich Katz nicht Schwanz,
Ist Katze auch nicht ganz.
Violine Draht kaputt,
Macht sich immer wupp, wupp, wupp

Ist sich Kohle hart wie Stein,
Nimmt sich Kamerad Krankenschein!
Ist sich Kohle weich wie Mist,
Macht sich Kamerad Überschicht!"

„Kinder, reißt bloß nicht noch die ganze Bude in Klump", rief Ruckers, sich den Bauch vor Lachen haltend.
Alfred, der Samariter, spielte das „Bergmannsklavier", und man begann zu tanzen. Das Fläschchen selbstgebrauter Geburtstagsschnaps, das Ruckers jetzt hervorholte, tat ein Übriges, um die Stimmung auf den Höhepunkt zu bringen.
Sukrow tanzte viel mit Mâry. Er zog Vergleiche zwischen den aufgeputzten, durchtriebenen Geschöpfen, denen er gestern auf dem Bürgerball begegnet war, und diesem Proletariermädel, dessen natürliche Ausgelassenheit nur unter dem Einfluss des Vaters etwas zurückgedämmt erschien, was ihr in seinen Augen einen neuen Zauber gab. Wo hatte er bisher nur seine Augen gehabt? So hübsch wie heute abend in dem einfachen schwarzen Rock und der roten Bluse mit der weißen Garnierung, die so gut zu ihrem bräunlichen Teint und dunklem Haar stand, war sie ihm noch nie erschienen. In seiner Erinnerung tauchte ein anderes Bild auf: lichtgrüne Seide, ein feines, stolzes Gesicht, umrahmt von goldblonden Schnecken...
Wieder überkam ihn seine Einsamkeit. Er hatte ja eigentlich niemanden auf der Welt, der ihn verstand oder gar liebte. Sein Schiff war gestrandet, ehe es noch den Hafen verlassen hatte. Lohnte es sich denn überhaupt, noch einmal den Kampf mit den widerwärtigen Lebenswogen aufzunehmen? Oder sollte er sich hier im Schutze der Düne ein bescheidenes Häuschen zimmern, im mageren Gärtchen die Blume der Zufriedenheit
pflegen?
„Zufriedenheit ist Stillstand, Rückstand; Unzufriedenheit allein bringt die Welt voran", predigte Grothe. - Wie leidenschaftlich Mary Partei nehmen konnte? Natürlich immer für Grothe gegen ihn, und doch war dieser Gegensatz ein ganz anderer als der zwischen ihm und der Bourgeoistochter. In vielem hatten die Kommunisten doch gar nicht so Unrecht. Wenn sie nur nicht immer so krass und radikal auftreten würden, wie zum Beispiel Grothe es immer tat. Eigentlich hatte er von ihm doch schon eine ganze Menge gelernt. Der war kein Schiffbrüchiger, mit dem die Wellen Fangball spielten, sondern der wusste, was er wollte, und der dem Leben keck und heiter ins Angesicht blickte. Im Stillen beneidete er ihn um seine Abgeklärtheit und übermütige Lustigkeit. - Mary schien sich zu Grothe auch besonders hingezogen zu fühlen. Was Wunder, da er hier doch ein und aus ging, ihre politischen Ansichten teilte und überdies die ganze Gesellschaft unterhielt.
Da die Stube, obwohl man schon die Betten ausgeräumt hatte, zu eng erschien, hatte man noch die Tür nach der Kammer geöffnet und tanzte umschichtig dort hinein. „Abklatschwalzer", brüllte Hannes. Jetzt wollte er aber Mâry auch einmal wieder haben, denn Grothe tanzte jetzt schon dauernd mit ihr. Als er bei der Kammertür um die Ecke lugte, sah er im Halbdunkel zwei sich im Walzertakt auf der Stelle wiegende Gestalten. Sie hatte den braunen Scheitel weit in den Nacken geworfen, und darüber tauchte Grothes zerzauste Mähne auf. Er küsste sie - und sie ließ es willig geschehen.
Da schlich er sich unbemerkt in die kühle Nachtluft hinaus. Ein kalter Sprühregen rieselte nieder. Die kleinen Bergarbeiterhäuschen standen finster und geduckt in dem Zwielicht der nahen Zeche. Drüben sandten die Schlote ihre Rauchschwaden gegen den Himmel. Von fern her klang das Knirschen und Surren der Seilbahn. Ein Hund heulte seine Einsamkeit lang gezogen in die Weite hinaus. Hinter ihm aber klang die Harmonika und der Chor der Lustigen:
„Wir sind vom vlam'schen Blut, Die Deutschen küssen gut, Für ein Kommissbrot und einige Frank Küssen sie stundenlang!"

 

8. KAPITEL

W alter Peikchen legte mit einem Male eine auffällige Zuneigung zu Sukrow an den Tag. Unaufgefordert ging er ihm mit kleinen Gefälligkeiten zur Hand. Seitdem Gisela Zenk so plötzlich (angeblich infolge eines dringenden Telegramms) abgereist war, erschien er merklich verändert.
Eines Tages fragte er unvermittelt: „Haben Sie sich denn nun auch schon bei der Einwohnerwehr als Mitglied angemeldet?"
Als Sukrow sich dumm stellte, wurde er deutlicher: „Na, Sie waren doch neulich auch zum Vergnügen im ,Marxloher Hof!"
„Woher wissen Sie denn das?'*
Peikchen machte ein pfiffiges Gesicht: „Ja, man hat schon seine Beziehungen... was ich Sie noch fragen wollte, haben Sie schon mal vom ,Rugard-Bund' gehört?"
Sukrow verneinte, worauf er ihm einen künstlerischen schwarzrotgedruckten Prospekt auf den Platz legte: „Deutschlands Erneuerung! Ein Problem für die deutsche Jugend!", unterzeichnet vom „Rugard-Bund".
Sukrow las sich die Tiraden von „sittlicher Erneuerung"? „Wiederaufbau" usw. durch, sagte „Hm, hm", weil ihm nach Diskussion mit diesem dummen Jungen nicht zumute war, und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Tags darauf erhielt er per Post eine Einladung zu einer Werbeversammlung der neugegründeten Ortsgruppe des Bundes.
„Werden Sie morgen abend hinkommen?" fragte Peikchen. „Übrigens", setzte er geheimnisvoll blinzelnd hinzu, „wissen Sie, wen Sie da treffen werden?"
„Na?" sagte Sukrow und empfand einen eigenartigen Stich in der Herzgrube.
„Unsere Ehrenmeisterin, Fräulein Zenk", flüsterte der andere verzückt.
Er nahm sich vor, nicht hinzugehen;... aber als die Uhr sieben schlug, stand er doch vor dem Hotel „Preußen". Eigentlich hieß es „König von Preußen". Der Wirt hatte bei der Revolution die ersten beiden Worte seines Firmenschildes mit Leimfarbe übertüncht, aber der Regen wusch im Laufe der Zeit so viel herunter, dass der „König" selbst im Dunkel des Abends schon wieder deutlich zu erkennen war. Peikchen begrüßte ihn an der Tür und führte ihn in ein großes Vereinszimmer, wo schon etwa vierzig bis fünfzig junge Leute versammelt waren. Durchweg gehörten sie den so genannten „besseren Ständen" an. „Sie", umderenthalben er ja eigentlich hier hergekommen, war nicht zu sehen; doch wagte er nicht, Peikchen nach ihr zu fragen. Endlich nahm ein Herr in mittleren Jahren, der den aktiven Offizier unter schlechtsitzendem Zivilanzug nur mangelhaft verbarg, das Wort zu einem Vortrag: „Was will der Rugard?" Sukrow hörte die schon sooft gehörten nationalen Plattheiten nur mit einem Ohr. Von der anderen Seite winkte ihm der lange Bergassessor Kuhlenkamp grinsend zu. Er glaubte den Wink zu verstehen und gab ihm in einer Pause die geliehenen hundert Mark zurück. Ehe er noch ein weiteres Wort wechseln konnte, hatte ihn Peikchen am Arm.
„Gestatten Sie einen Augenblick! Fräulein Zenk möchte Sie sprechen." Sukrow fühlte, wie alles Blut zu seinem Herzen strömte, wie die feinen Faserwürzelchen, die da von dieser hoffnunglosen Neigung zurückgeblieben waren, neue Schößlinge bildeten. Er ging mit Peikchen über einen teppichbelegten Gang. Hinter einer Rollwand, die sich in einer Ecke um einen Tisch schlängelte, ertönten Stimmen.
Als die beiden jungen Leute in das Kabinett traten, verabschiedete Gisela gerade einen weißbärtigen Herrn mit „Also, es bleibt dann dabei, Herr Rat". Auch Peikchen verschwand auf ihren Wink, mit den Hacken klappend...
Sukrow stand ihr allein gegenüber. Und wie er ihre schlanke, von einem blauen Samtkleid umflossene Gestalt mit den Blicken umfasste, wieder in ihre betörenden Augen blickte, da wusste er, dass es eitel Selbsttäuschung gewesen, als er geglaubt hatte, sich ihrem Zauber jemals entziehen zu können. Ganz hingerissen, wie er war, bemerkte er gar nicht den Strahl des Triumphes, der in ihren Augen aufblitzte.
„Gnädiges Fräulein wünschen mich zu sprechen?"
Sie streckte ihm über den breiten Rundtisch hinweg die Hand entgegen.
„Es freut mich ungemein, Herr Sukrow, dass Sie, nachdem ich Sie schon neulich im Kreise nationaler Männer getroffen habe, den Weg bis zur Schwelle des Rugard gefunden haben. Hoffentlich dürfen wir Sie bald als Freund, Kamerad und Mithelfer für unsere Sache begrüßen."
Sie sagte das in warmem, herzlichem Ton, indem sie ihn zum Sitzen nötigte. „Nicht so konventionell, wenn ich bitten darf. Rücken Sie hier zu mir auf das Sofa und sprechen Sie als Freund zur Freundin", sagte sie, als er sich auf einem Stuhl niederlassen wollte.
Später entsann er sich sehr genau, dass ihn in diesem Augenblick ein zitterndes Angstgefühl überkam, wie in seinem Traum, als er an ihrer Seite in der mit Totenpferden bespannten Brautkutsche dahinsauste. Hier wie da wollte er fliehen. Hier hinderten ihn allerdings keine Abgründe, sondern zwei bezaubernd schöne Augen. „Sie sprechen ja gar nichts", sagte sie, als er wortlos geradeaus starrte, „ist Ihnen nicht wohl?"
„Sie sagen, dass Sie sich neulich darüber freuten, als Sie mich bei der Einwohnerwehr sahen. Ich hatte aber einen anderen Eindruck von unserer Begegnung", würgte er mühsam heraus. Sie wurde ein wenig rot, aber sie schien auf diesen Einwurf gewappnet zu sein.
„In der Tat hatte ich mich zuerst geärgert, aber nachher erschien mir alles in einem milderen Licht", antwortete sie mit weichem Schmelz in der Stimme.
„Geärgert? - Über mich? - Da muss ich doch um nähere Aufklärung bitten."
Gisela machte eine abwehrende Bewegung. „Lassen wir das, Sie waren vielleicht an dem Abend in Stimmung... Sie sind ja auch noch jung! Aber", setzte sie mit verhaltener Stimme hinzu, „glauben Sie mir, solche Mädchen sind Ihrer nicht wert."
„Sie haben mich also doch gesehen?" Er fühlte sich wie ein ertappter Schuljunge. „Freilich haben Sie Recht, und ich habe mich sehr schnell selbst davon überzeugt, es auch schon zehnmal bereut", setzte er leise, fast flüsternd, hinzu.
Traurigkeit überkam ihn. So hatte er sie wirklich gekränkt. Alle Kombinationen über ihren Hochmut brachen jäh zusammen. Er musste blind gewesen sein an jenem Abend, hatte eine günstige Gelegenheit, die sich vielleicht nie wieder bot, verpasst. Sie hatte ihn mit jenem gewöhnlichen Mädchen Arm in Arm gesehen. Wie tief musste er in ihrer Achtung gesunken sein? Verstohlen fuhr er mit dem Daumen in die Augenwinkel. „Können Sie verzeihen, Gnädigste?" „Verzeihen? ... Ich hatte doch keinerlei Ansprüche an Sie." Sie sagte das in einem Tone, in dem etwas wie Bedauern mitschwang. Er hörte das, und mit einem Male belebte ihn eine neue Hoffnung.
„Sie sind mir also nicht böse?" fragte er, ihre Hand
ergreifend.
Sie lächelte, und er zog ihre Rechte an seine Lippen. Dann behielt er sie fest in seiner Hand.
„Gisela! - Ich habe viel um Sie gelitten... Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf... Ich wagte nicht, meine Augen zu Ihnen zu erheben... Ich suchte Sie überall zu vergessen und fand Sie doch überall wieder. Sagen Sie mit einem Wort nur: war das nicht dumm und hoffnungslos?"
„Würde ich mich sonst so für Sie interessiert haben, Sie dummer - lieber - großer Junge, Sie?!"
„Gisela!"
Sie entzog ihm mit einer Gewalt, die keinen Widerstand duldete, den Arm, den er bis zur Schulter hinauf mit Küssen bedeckte.
„Nun wollen wir es gut sein lassen und mal vernünftig miteinander reden... Da hübsch hingesetzt und die Hände auf den Tisch zusammengelegt, wir sind nicht im ,Maxloher Hof."
Er war schon wieder der gehorsame Sklave. Sie schenkte aus der Flasche, die in einem Eiskübel neben dem Tisch stand, zwei Gläser ein. So, damit stoßen wir nun an, es ist deutscher Wein, den wir da zum Zeugen unserer Freundschaft machen, ich, ein deutsches Mädchen, und Sie ein - wie ich jetzt hoffe -deutscher Mann."
Sie trank das Glas in einem Zug aus und forderte ihn auf, das gleiche zu tun. „Mehr gibt es vorläufig nicht", sagte sie neckisch, die Flasche wegrückend. „Wir müssen klar bei Sinnen bleiben. Sind Sie nun zufrieden?"
Der schwere Wein stieg ihm sofort zu Kopfe. „Zufrieden, Gisela, werde ich erst mal sein, wenn ich weiß, dass mich meine Träume nicht betrogen, dass ich Sie lieben und umarmen darf!"
Sie wurde ernst. „Sprechen Sie nicht so, mein Freund... Jetzt wenigstens nicht."
„Warum gerade jetzt nicht", begehrte er leidenschaftlich auf. —
„Sie vergessen eines. Ich bin ein deutsches Mädchen! Wissen Sie nicht mehr aus der Geschichtsstunde, was Tacitus über die germanischen Frauen sagte? Dass sie ihren Männern in die Schlacht folgten, durch Zurufe zur größten Tapferkeit ermunterten und bei einer verlorenen Schlacht sich und ihren Kindern den Tod gaben!"
„Jetzt ist doch gar kein Krieg, warum denn da diese Geschichten", fragte er verdrießlich.
„Aber unser Vaterland blutet noch an den tausend Wunden eines verlorenen und verratenen Krieges. Sie selbst sprachen doch mal mit mir darüber, damals, als wir uns zum ersten Male sahen. Sehen Sie, das ist es ja, was ich an Ihnen so schätze. Ihre Hingabe an den Auferstehungsgedanken unseres Deutschtums, der ja bei Ihnen nur in eine etwas andere Form gekleidet ist. Sie empfinden in Wirklichkeit in Ihrem Innern genauso kerndeutsch wie ich und andere. Schlagworte und Phrasen haben nur die Schale zernagt. Aber der Kern ist noch echt. Und weil ich das mit fünfundneunzigprozentiger Sicherheit weiß, darum würde ich es begrüßen, wenn Sie... Seien Sie ein Mann, werden Sie ganz der Unserige! Solche Leute, die, wie Sie, Einfluss auf Arbeiterkreise haben, braucht das Vaterland. Unterstellen Sie sich meinem Kommando, treten Sie dem ,Rugard'
bei!"
Sie hielt stille und sah ihn erwartungsvoll an. „Und wenn ich es tue, Gisela, - ganz bin ich ja davon noch nicht überzeugt. Wenn ich es tue, um Ihretwillen,
und dann?"
„Sie verlangen viel, dass muss ich sagen", gab sie in merklich abgekühltem Ton zurück. „Sie sind anscheinend doch mehr Materialist als Idealist! Es ist hässlich von Ihnen, etwas so Hohes und Heiliges wie das Vaterland mit persönlichen Vorteilen zu verknüpfen. Ich habe mich am Ende doch geirrt?"
Die Enttäuschung im Klang ihrer Stimme verfehlte nicht ihre Wirkung. „Gisela, habe ich Sie wieder verletzt?" rief er erschrocken.
„Ja, mein Herr, das verstehen Sie meisterhaft. Aber ich verbiete Ihnen, mich fürderhin so vertraulich anzureden. Ein Mann, der so eigensüchtig denkt und handelt wie Sie, den kann ein deutsches Mädchen nicht achten, geschweige denn..."
In gekünsteltem Zorn war sie aufgestanden und griff nach ihrem silbernen Handtäschchen.
„Gisela, nicht so", bat er flehend. „Befehlen Sie, ich soll mich töten, aber verachten Sie mich nicht. Ich liebe
Sie ja so. Bisher war ich grenzenlos einsam. Jetzt erst wird mir das Leben lebenswert. Sie haben ein Menschenleben in Ihrer Hand!"
Sie sah ihn spöttisch an, lachte ein teuflisches Lachen, das nicht von ihr zu kommen schien. Ihr Leben wollen Sie opfern? - Für mich? - Ich bin doch keine Menschenfresserin! Fühlen Sie denn nicht, Sie merkwürdiger Mensch, welcher Abgrund doch noch zwischen uns beiden auszufüllen ist, ehe ich Ihnen das auszusprechen erlauben darf, was ich Ihnen heute noch verbieten muss? Egoisten und Materialisten haben das Vaterland zugrunde gerichtet. Deutsch denkende Männer und Frauen arbeiten daran, es in neuem Glanz auferstehen zu lassen. Und wenn es auch zur Zeit trübe aussehen mag, wer weiß, wie bald große Geschehnisse heranreifen, die Männer der Tat brauchen? Nur solche Männer kann ich achten und lieben! Mehr habe ich Ihnen für heute nicht mehr zu sagen, Herr Sukrow.*' Sie stand entschieden auf.
„Verfügen Sie über mich...", stammelte er.
„Nein, Sie möchten sich doch nachher Vorwürfe machen, Sie hätten sich durch ein Weib überreden lassen. Wenn Sie ganz zu uns kommen, müssen Sie ein Treuversprechen, einen heiligen Eid ablegen, und der muss aus eigener Überzeugung kommen. Überlegen Sie es sich acht Tage, sprechen Sie aber mit niemandem darüber und lassen Sie mir durch Herrn Peikchen Bescheid zukommen."
Sukrow schleppte sich nach schlecht verbrachter Nacht müde und abgespannt an seinen Arbeitsplatz. Peikchen ging ihm aus dem Weg. Er hätte ihm heute auch nicht Antwort gestanden. Mühsam brachte er so viel Nervenkraft zusammen, um seine Arbeit zu verrichten.
„Sie sehen ja aus, als wenn Sie die Grippe kriegen, legen Sie sich lieber ins Bett und trinken Sie einen ordentlichen Grog", riet ihm Kraft. Er lehnte ab. Aber als der alte Hövelmann mit einem Becher glas heißem Rum. erschien, trank er es doch bis zur Neige aus. Das starke Getränk belebte ihn wieder etwas. Aber noch immer kreisten seine Gedanken um den einen Punkt.
Wohl zum tausendsten Mal seit gestern abend versuchte er sich klarzumachen, dass das, was ihm Gisela Zenk erzählte, nichts weiter als ein abgefeimtes Spiel war. Und doch konnte er, wenn er sich ihre Augen, ihre Stimme in Erinnerung rief, nicht daran glauben. Immer mehr bekam er das Gefühl, als wandere er auf einem schmalen Berggrat, wo ihm nur übrig blieb, links oder rechts in den Abgrund zu stürzen. Wirklichkeit mischte sich mit dem schrecklichen Traum von neulich zu einem futuristischen Mosaik. Jetzt trank sie tatsächlich sein rotes Herzblut, war er ihr auf Leben und Tod verfallen. Hinter ihm, weit weg, lagen die bitteren Erfahrungen der letzten zehn Wochen. Was er mühsam, schrittweise erkämpft und errungen, es schien welk und verdorrt. Die Freunde, die er auf diesem Wege gefunden, Grothe, Ruckers, Mâry... „verdorben, gestorben!" klang es in Moll nach. Ja, Mâry, sie hätte ihn retten, halten können, vor diesem dunklen Weg, der im Verderben enden musste. Was sie wohl sagte, wenn er ein Hakenkreuzler wurde? Furchtbar der Gedanke, von Menschen, die einem lieb und wert, als Schurke verachtet zu werden. Sein Blick fiel auf das Regal mit den buntfarbigen Chemikalien; auf verschiedenen klebte ein schwarzes Etikett mit grinsendem Totenschädel. - Quecksilberchlorid löst sicher und schmerzlos jeden Seelenkonflikt! Oder ob er sich lieber Zyankali aus dem verschlossenen Giftschrank holte?
Mit Gewalt warf er diese Gedanken von sich, die ihn gleich widerlichen Spinnen ankrochen. Himmelherrgottsakrament : Wohin geriet er da? Wo war der tapfere Ernst Sukrow geblieben, der ausgezogen, die Welt zu erobern? Seine Nerven waren durch die letzten Ausschreitungen aus dem Gleis geraten. Das war alles! Acht Tage hatte er ja Zeit - und kommt Zeit, kommt Rat! Sterben kann man noch immer. Er ging nach Hause und schlief tief und traumlos bis zum andern Morgen durch.
Als er aufstand, schien die Sonne - wenn auch matt -durch die ewige Qualmatmosphäre und gab ihm neuen Lebensmut. Ein Zurück gab es nicht mehr, das stand jetzt fest. Gisela sollte sehen, dass er auch fähig war, Opfer zu bringen.
Ein Brief vom Sozialdemokratischen Wahlverein war angekommen. Er enthielt das Mitgliedsbuch für den „Genossen Ernst Sukrow" und eine Einladung für die Mitgliederversammlung, Freitag, den 12. März. Freitag, das war ja heute! War das ein Wink des Schicksals? Er steckte den Zettel sorgfältig ein und beschloss hinzugehen. Als er die Treppe zum oberen Saal des Volkshauses emporstieg, hörte er hinter einer Tür Gesang, und eine energische Stimme rief:
„Also immer den Mund recht weit aufmachen, Genossen, mit der Kehle wird gesungen - und nun das Ganze nochmals von vorne." Er blieb stehen und lauschte:

„Es stand meine Wiege im niedrigen Haus,
Die Sorgen, die gingen drin ein und drin aus,
Und weil meinem Herzen der Hochmut blieb fern,
Drum bin ich auch immer beim Volke so gern.
Und guckt die Sorge manchmal durch die Scheiben,
Ein Sohn des Volkes will ich sein und bleiben.

Tief drunten im Tale ging immer mein Lauf,
Zur Höhe, zur steilen, nie kam ich hinauf.
Ich blieb stets im Herzen nur einfach und schlicht,
Und Orden und Sterne begehrte ich nicht.
Wo auch die Barke des Lebens hin mag treiben,
Ein Sohn des Volkes will ich sein und bleiben.

Und schließt sich mein Auge zur ewigen Nacht,
Und habt ihr zur Ruh mich, zur letzten, gebracht,
Dann schmückt mein Grab mit grün' Kränzelein
Und legt mir darauf einen schmucklosen Stein.
Auf diesen Stein lasst mir die Worte schreiben:
,Ein Sohn des Volkes wollt er sein und bleiben.’ "

„Unsere Sangesbrüder singen fein, was?" fragte hinter ihm eine bekannte Stimme. Es war Oversath; nun musste er doch mit nach oben.
„Gestern früh sind auf ,Hasdrubal II´ drei Mann durch Kohlenstaubexplosion kapott gegangen. Darum üben sie das Lied zur Beerdigung", erklärte der Parteivorsitzende.
Sukrow, der eine große Arbeiterversammlung erwartete, sah sich arg enttäuscht. Die fünf Dutzend Männer und Frauen hätten auch ebenso gut einem Bürgerverein angehören können. Die ihm so wohl bekannten Typen der Kumpel und Hüttenarbeiter fehlten fast
gänzlich.
Der Referent, irgendein Akademiker, sprach langweilig über Vereinfachung der Wirtschaftsverwaltung, Erfassung der Exportgewinne und die mangelhafte Ablieferung von Brotgetreide durch die Landwirte, weshalb die Regierung 500000 Tonnen einführen müsse. Sukrow versuchte vergeblich, aus dem breiigen Redefluss einen fruchtbaren Gedanken herauszukristallisieren. Als der Redner erwähnte, dass es der Regierung gelungen sei, pro Woche 25 Gramm Fett mehr zu verteilen, ertönte das erste „Sehr gut!"...
So langweilig und seicht hatte er sich die mehrheitssozialistische Mitgliederversammlung doch nicht vorgestellt. Nein, diese schwätzenden, biertrinkenden und zeitungslesenden Philister hier bauten ganz gewiss keine neue Welt auf. Er hatte auf eine falsche Karte gesetzt. Um so leichter gab er sie zurück. Jetzt spielte er Trumpf As!
Unauffällig nahm er seinen Hut und verkrümelte sich zur Tür hinaus. Merkwürdig, draußen im Vorraum ging es um so lebhafter zu. Er blieb einen Augenblick stehen, denn man diskutierte über den schlechten Versammlungsbesuch, der nur knappe fünf Prozent der Mitglieder betrug.
„Ich sage euch, das sind nur die Folgen der verfluchten Koalitionspolitik! Und wenn dann solche Geschichten wie auf ,Beate´ gedeichselt werden, die unsere Partei mit Stillschweigen deckt, da soll erst mal der geboren werden, der das den Kumpels klarmacht", rief aufgeregt ein älterer Arbeiter, dem ein zu früh losgegangener Sprengschuss die ganze linke Gesichtshälfte entstellt hatte.
„Die werden schon alle wiederkommen, Genosse zur Linden, wir müssen als Regierungspartei auch den Mut zur Unpopularität haben. Wenn die Massen sehen, dass es im Ganzen vorwärts geht, wird sich auch das Parteileben wieder beleben", tröstete ein Herr, dem man unschwer den Beamten ansah.
Etwa die 25 Gramm Fettzulage?" spottete ein
anderer.
Zur Linden wurde noch aufgebrachter. An dieser Sorte Mut, lieber Genosse Trimborn, hat es bei uns leider noch niemals gefehlt. Sie sollen sich mal in den Betrieben hinstellen und das vor den Arbeitern verteidigen. Wir wissen gar nicht mehr, was wir den Unabhängigen, Kommunisten und Unionisten sagen sollen. Das merken Sie in Ihrem Büro und unsere Genossen oben natürlich nicht. Aber dafür werden wir bei den Herrn Dickköppen umso angesehener, das stimmt! Unser alter August Bebel sagte mal: ,Wenn mich die Gegner loben, habe ich sicher eine Dummheit gemacht!' Und ich kann mir nicht helfen, bin ja nun auch keiner von den Jüngsten mehr, seit 93 organisiert. Aber ich meine, wir machen noch Dummheiten genug!"
Eine stattliche Frau mit stark ergrautem Scheitel, von den anderen mit Genossin Kabitzki angeredet, widersprach voll schlecht verhaltenen Zornes. „Wenn man Genossen zur Linden hört, meint man, einen Unabhängigen vor sich zu haben. Unsere Genossen sollten sich in die Betriebe nur etwas mehr Mut mitnehmen und sich da an den Spartakisten ein Beispiel nehmen."
„Versuche es man bei deiner Suppenküchenbelegschaft", spielte der Bergarbeiter gereizt auf die Tätigkeit der Kriegerwitwe in der Wohlfahrtspflege an.
„Nicht nur die Radikalen machen uns Schwierigkeiten, sogar die Gelben kommen wieder hervor und sagen: ,Sieh mal, was haben euch nun die Sozialdemokraten gebracht? War es früher nicht viel besser? Ich kann euch sagen, dass die Schwarzweißroten seit einiger Zeit hier eine mächtige Propaganda entfalten. Wenn jetzt die Wahlen zu den Betriebsräten kommen, werden wir Überraschungen erleben. Von den Reichstagswahlen gar nicht zu reden", nahm ein Mann in Straßenbahneruniform das Wort.
In diesem Augenblick rief eine Stimme vom Saaleingang: „Genossen, alle reinkommen. Es ist eben eine sehr wichtige Nachricht eingetroffen. In Berlin soll die Regierung gestürzt sein!"
Es bedurfte keines besonderen Hinweises zur Eile. Alles strömte, aufgeregt durcheinander sprechend, in den Saal. Vorn beim Rednerpult zog sich Reese eben in sichtbarer Nervosität den Paletot aus, Oversath läutete anhaltend mit der Schelle.
„Bitte um Ruhe und Platz zu nehmen! - Parteigenossen!" rief er dann mit feierlicher Stimme, „Genosse Reese wurde soeben von unserem verehrten Parteigenossen, Nationalversammlungsabgeordneten Genossen Grollmann, Mitglied der Nationalversammlung, antelefoniert."
„Mach's doch kurz! Was gibt's denn!" riefen einige Ungeduldige. Oversath machte eine abwehrende Handbewegung, holte tief Luft und fuhr in demselben Tonfall fort:
„Parteigenossen und Parteigenossinnen! In dieser Zeit des mühsamen Wiederaufbaues, in der sich die deutsche Arbeiterschaft, ihrer Pflicht bewusst, unter Führung ihrer berufenen Vertreter, der Sozialdemokratischen Partei und der Freien Gewerkschaften, das Zerstörte wieder aufbaut - denn Schulden kann man nicht sozialisieren - Parteigenossen und -genossinnen -, da wagen es in dieser Zeit des Wiederaufbaues unseres Vaterlandes - die Kommunisten wieder einmal, einen ihrer von Moskau befohlenen Putsche in Szene zu
setzen."
Stürmische Rufe: „Pfui! Hört, hört! An die Wand mit den Putschbrüdern!" Sukrow, der an der Tür stehen geblieben war, erkannte die vorhin noch so schläfrige Versammlung kaum wieder. Alles war aufgesprungen, Frau Kabitzki kreischte wie eine Irrsinnige.
Befriedigt beobachtete Oversath den Erfolg seiner Worte, wurde aber von Reese mit den halblauten Worten: Du bist ein Esel" unsanft beiseitegestoßen. „Bitte um Ruhe, Genossen! Alles setzen!" Nur langsam ebbte der Sturm ab. „Parteigenossen!" begann Reese mit ernster Stimme, „dem Genossen Oversath ist soeben ein kleiner Irrtum unterlaufen. Der Putsch kommt diesmal nämlich nicht von links, sondern -", hier versuchte er zu lächeln — „Abwechslung muss auch mal sein - von rechts! - Eine Gruppe von politischen Abenteurern und militärischen Desperados, hinter denen aber, soviel steht bereits fest, keine politische Partei steht, hatte schon alle Vorbereitungen getroffen, um die Regierung zu stürzen und eine militärische Gewaltherrschaft aufzurichten. An der Spitze dieser Bewegung stehen der Generallandschaftsdirektor Kapp, General Lüttwitz und der Hauptmann Papst. Die Regierung ist fest entschlossen, Gewalt mit Gewalt zu begegnen, und hat gegen die bekannten Führer bereits Schutzhaftbefehle erlassen. Die Regierung ist vollkommen Herr der Lage, umso mehr, da Reichswehrminister Genosse Noske für die Verfassungstreue und Zuverlässigkeit der Reichswehr bürgt. Alle übrigen Reichswehrgeneräle haben bereits offiziell das Vorgehen des Generals Lüttwitz missbilligt, so dass hinter den Putschisten nur einige Baltikumformationen stehen, die sich aufzulösen weigerten. Zur Beunruhigung liegt daher keinerlei Anlass vor. Überdies hat Genosse Heine als preußischer Innenminister die Mobilisierung der Einwohnerwehr angeordnet, damit bei etwaigen Unruhen der Schutz des Eigentums gewahrt bleibe. Genossen! Wir erklären getreu unserer Parole, die Republik gegen links und rechts zu verteidigen, dass wir in dieser Situation genauso wie Januar und März neunzehn, wo es viel schlimmer aussah, unseren Mann stehen werden. Für uns Sozialisten heißt es da - und da gibt's ja eigentlich keinen Unterschied der Partei - bereit sein ist alles!"
Es ist schwer, den Eindruck dieser Richtigstellung zu schildern. Nur allmählich wich die eingetretene Erstarrung, man hörte halblaute Bemerkungen: „So ist's richtig!" und „So musste es erst mal kommen!"
Zur Linden fauchte Oversath an: „Hab' ich's nicht immer gesagt, dass wir einen Rechtsputsch kriegen. Nun bist du baff!"
„Das bin ich nicht, Genossen! Also ich bin dafür, dass wir eine Resolution annehmen, in der wir der Regierung Ebert - Bauer - Noske unsere Ergebenheit bekunden, und die Resolution telegrafisch nach Berlin übermitteln", rief der Vorsitzende schnell gefasst.
„Wird das nicht zu teuer?" spottete eine Stimme hinter Sukrow. - Es war der Straßenbahner Schmidt, der vorhin die Nationalistengefahr geschildert hatte. Trimborn meldete sich zum Wort:
„Parteigenossen und -genossinnen! Ich bin für Einberufung einer Generalversammlung für nächsten Montag..."
„Generalversammlungen müssen laut Statut acht Tage vorher einberufen werden", unterbrach Oversath.
Also dann für nächsten Freitag oder Samstag..."
Da bin ich dagegen, nächsten Samstag hat die Metallarbeiter-Hilfskrankenkasse Stiftungsfest", rief eine andere Stimme.
Trimborn fuchtelte mit seinem Kneifer herum. Bitte, lasst mich doch erst mal aussprechen! Ich habe die anderen Redner ja auch nicht unterbrochen. Ich meine, über den Tag werden wir uns im Vorstand schon einig werden. Zu der Generalversammlung unterbreite ich folgenden Antrag:
Jeder Parteigenosse ist verpflichtet, sich der Einwohnerwehr zur Verfügung zu stellen.´"
„Sehr gut", riefen einzelne. - „Die Frauen etwa auch?"
fragte Frau Kabitzki.
Zur Linden brach in ein höhnisches Gelächter aus.
„Vielleicht machst du einen besseren Vorschlag", sagte Trimborn beleidigt. Zur Linden wartete erst gar nicht ab, bis er das Wort erhielt.
„Ich bewundere nur eure Pomadigkeit. In acht Tagen kann wer weiß was passiert sein. Ich habe das bestimmte Gefühl, dass man uns noch nicht alles gesagt hat, und dass wir in allernächster Zeit noch allerlei Überraschungen erleben. Da muss die Arbeiterschaft als Ganzes auftreten. Meinetwegen soll Genosse Trimborn zur Einwohnerwehr gehen, wenn er sich von den Käsehökern und Kattunfritzen was verspricht. Ich mache einen anderen Vorschlag, und der betrifft vor allem die Genossen, die noch im Betrieb stehen. Genossen, denkt an das
Wort:
,Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will!' Mögen die anderen gemacht haben, was sie wollen. Wir haben - darüber sind wir uns wohl einig - auch genug Fehler gemacht. Sonst wäre wohl die Reaktion nicht schon wieder so frech. Ich bin daher dafür, dass man sofort an die Unabhängigen und Kommunisten herantritt, um ein Verteidigungskomitee für den Fall der Fälle zu bilden."
„An die Gewerkschaften aber auch", rief Schmidt.
„Natürlich, überhaupt an alle Organisationen, die mit uns irgendetwas gemeinsam haben", ergänzte der Kumpel.
Reese nahm das Wort: „Genossen, was die Kommunisten mit uns gemeinsam haben, das muss der Vorredner erst noch beweisen."
„Ich mache das jedenfalls nicht mit", schrie Frau Kabitzki hysterisch, und Trimborn sowie mehrere Geschäftsleute kündigten ihren Austritt aus der Partei an, wenn man sich mit den Linksradikalen einlassen würde.
„So macht man weiter mit eurer Hetze, dann werdet ihr schon sehen, wo ihr hinkommt", brüllte der Straßenbahner empört.
„Komm doch, Karl, und lass die Hornochsen mit ihrem Hänneschen-Theater allein", knirschte der Bergarbeiter außer sich vor Wut. Die Versammlung löste sich ohne Abstimmung im allgemeinen Durcheinander auf. Niemand respektierte mehr die Vorstandsklingel, worauf Oversath erklärte, dass der Vorstand die Anträge als Material übernehmen werde.
Als Sukrow am anderen Morgen den Flur des Laboratoriums betrat, hörte er schon erregt diskutierende Stimmen. Kraft hielt ihm sogleich den „Generalanzeiger" entgegen. „Was sagen Sie denn dazu, Herr Sukrow?"
Ja, was sollte er wohl dazu sagen! Er wunderte sich eigentlich selbst, dass diese Geschichte, die ihn noch vor acht Tagen in hohe Aufregung versetzt hätte, jetzt so unberührt ließ. Mochten sie die Regierung stürzen; wenn sie ebenso war wie die gestrige SPD-Mitgliederversammlung, verdiente sie in der Tat kein anderes Los. Dieser gestrige Abend hatte ihn von mancher Illusion geheilt, besser, als es Giselas Vorstellungen jemals vermocht
hätten.
Was mochte sie wohl zu den Vorfällen sagen? - Er bekam einen unbehaglichen Verdacht. Stand etwa ihre politische Propagandatätigkeit hiermit im Zusammenhang? Wusste sie vorgestern abend vielleicht schon mehr als sie mitteilen wollte? - Verschiedene ihrer Ausführungen erschienen ihm jetzt in einem bedeutsamen Licht. Ohne Zweifel verbarg sich hinter der Firma des Rugard-Bundes irgendeine der nationalistischen Organisationen, die teils offen, teils unterirdisch die Republik unterwühlen. Wenn sie aber doch recht hätten? -
Der schwerindustrielle „Generalanzeiger" stellte die Berliner Vorgänge in absichtlich abgeschwächten Farben dar. Verteidigte die Baltikumer als um das Vaterland verdiente Männer und stellte letzten Endes das Ganze so hin, als solle durch das Geschrei über einen gar nicht vorliegenden Rechtsputsch ein kommunistischer Umsturz vorbereitet werden. Kraft wunderte sich an diesem Morgen sehr, dass Sukrow, von dessen Belesenheit er große Stücke hielt, ihn gegen die reaktionären Kollegen im Stich ließ und ruhig an seine Arbeit ging, führte das aber auf seine noch nicht überwundene Grippe zurück.
Gearbeitet wurde an diesem Morgen nicht viel, zumal Dr. Grell telefonisch mitteilte, dass er frühestens am Nachmittag erscheinen werde. Aus dem Betrieb brachte der alte Hövelmann noch die Nachricht, dass unter der Belegschaft lebhafte Unruhe herrsche, die Walzen leer liefen und passive Resistenz geübt werde.
„Sehen Sie wohl, die Arbeiter wollen bloß mal wieder streiken", eiferte Peikchen.
„Na, Sie streiken ja auch. Wenn Sie so weitermachen werden wohl Ihre Siliziumbestimmungen heute nicht mehr fertig", lachte der in der Nähe stehende Kraft.
„Wenn man Dr. Grell hier wäre, der brächte in den Betrieb schon Ordnung; das versteht er", giftete Peikchen, die Anzapfung nicht beachtend. Dann machte er sich näher an Sukrow heran.
„Ich soll Sie grüßen", sagte er vertraulich - „von Fräulein Zenk!"
„Dann sagen Sie nur, ich ließe wieder grüßen!"
„Danke schön! - Und sonst nichts?! Ich meine, haben Sie nichts zu bestellen?"
Sukrow sah ihn groß an: „Wie meinen Sie das? Haben Sie einen Auftrag?"
Peikchen blickte sich nach allen Seiten um, zog ihn dann in eine Fensterecke und machte ein geheimnisvolles Gesicht:
„Es ist wegen des ,Rugard'! Sie zählen bei uns als Kandidat, und man wartet auf Ihren Bescheid!"
„Die acht Tage sind doch noch lange nicht um!"
„Ja, ich weiß, aber immerhin... Es liegen jetzt bestimmte Dinge vor, die es für jeden notwendig machen, sich kurz zu entscheiden."
Sukrow merkte, wie ihm das Herz ruckweise höher zum Halse empor klopfte, befleißigte sich aber der größtmöglichen Ruhe, als er mit gleichgültiger Stimme antwortete:
„Ach, Sie meinen wegen der Berliner Geschichte. Haben Sie denn schon genauere Nachrichten?"
Peikchen kniff ein Auge zu: „Unser Befehl kann jeden Augenblick eintreffen. Aber mehr darf ich Ihnen nicht sagen. Sie gehören ja noch nicht zu uns!" Damit ging er aus dem Zimmer.
Sukrow glaubte genug zu wissen. Hier bereitete sich in aller Stille eine groß angelegte Aktion gegen die Sicherheit der Republik vor, wozu man auch ihn benutzen, oder richtiger gesagt, missbrauchen wollte. Er lachte grimmig vor sich hin. Seine Liebe zu der schönen Sirene sollte die Schlinge sein, in der man ihn fangen und nach der anderen Seite hinüberlotsen wollte. Sie wusste und billigte das, spielte die Hauptperson in dieser Komödie, ja - sein Herz setzte fast aus — war anscheinend sogar gleichzeitig Dichterin und Regisseurin?
„Wer mich lieben will, muss auch Arbeiter erschießen können! Hatte sie denn das nicht gesagt? Hatte er ihr nicht bereits einen Eid geschworen?! - Aber nein, das war ja der dumme Traum, in dem sie ihm einen goldenen Dolch ins Herz stieß und nachher sein Blut trank. Aber jetzt hatte er ein ähnliches Gefühl. Sie, das hohe, hehre deutsche Mädchen, trieb mit ihm ein ziemlich unsauberes Spiel! Die Idealistin, die ihm Egoismus und Materialismus vorwarf, benutzte seine heiligsten Gefühle, um ihn politisch einzufangen. Fast vermochte er an so viel Durchtriebenheit nicht zu glauben.
Sein plötzlicher Hass gegen Gisela Zenk wurde durch ein beißendes Gefühl der Scham und Zerknirschung abgeschwächt. Er war kein Mann, sich von einem Weib so betören zu lassen, aber sie? - Sie wusste, was sie wollte! Sie arbeitete zäh und zielbewusst an einer Idee, wobei sie kein Mittel scheute und er - er hatte nur an sich selbst gedacht, der Erreichung seines persönlichen Vorteils hätte er beinahe seine politische Idee geopfert. Seine
politische Idee? - Hatte er denn noch eine? Hatte er überhaupt jemals ein klares politisches Ziel besessen? Was er dafür gehalten, war hier in zehn Wochen harter Arbeit zerrieben und zermahlen worden, zeigte sich heute als ein geistloser Schemen.
Der kleine Küpper machte sich in seiner Nähe mit dem Staubtuch zu schaffen. „Eben sind Herr Nabert, Herr Peikchen und Herr Fuchsius gegangen. Sie sind antelefoniert worden, ich weiß auch, wo sie hin sind", sagte er wichtigtuerisch, „die Einwohnerwehr ist alarmiert worden!"
Also das war es! Dann mussten wohl doch ernstere Dinge sich ereignet haben. Was würden die nächsten Stunden bringen?
Gegen zehn Uhr begann plötzlich die Feuersirene zu heulen.
„Zweimal kurz, einmal lang, genau so wie bei Fliegergefahr im Kriege, das bedeutet eine Arbeiterversammlung hier auf dem Hofe", bemerkte Kraft.
Ein Meister aus dem Presswerk stürzte aufgeregt herein.
„Was das Signal bedeutet? Generalstreik! Vor fünf Minuten traf die Nachricht ein, dass die Regierung gestürzt und der Generalstreik erklärt ist!"
Draußen auf dem Platz kamen schon die ersten Arbeiter heran. Die Heizer rissen die Feuer unter den Kesseln hervor, minutenlang kreischend hauchte der Dampf aus den geöffneten Ventilen seine letzte Kraft aus. Die Männer an den Glühöfen sperrten die Gaszufuhr ab, der Elektriker in der Zentrale schaltete den Strom aus. Das ewige Donnern und Poltern in den Walzhallen erstarb in einem lang nachhallenden Seufzer: das Stahlwerk stand still!
Und immer neue Scharen schweiß- und rußbedeckter Männer strömten aus den Hallen herbei, füllten den großen Platz am Eingang der Fabrik. Im Verwaltungsgebäude legten die Angestellten die Federn hin, um von den Fenstern aus den Aufmarsch der Belegschaft zu beobachten. Von diesen ruhig und gemessen aufmarschierenden Kolonnen ging ein Strom von Kraft und Machtbewusstsein aus, vor der das anfänglich höhnischüberlegene Grinsen auf einzelnen Gesichtern der Angestellten schnell erstarb.
Der. Platz zwischen Verwaltungsgebäude, Laboratorium und Fabriktor glich jetzt einem wogenden Meer von Köpfen. Auf einer Mauerecke fasste ein Redner Posten. Hell beschien die Sonne sein langes, blondes Haupthaar; es war Max Grothe, der den Inhalt eines Telefongesprächs mitteilte. Da er abgewendet sprach, konnte man an den Fenstern des Laboratoriums nur Bruchstücke seiner Ausführungen verstehen, bis durch die Menschenmassen hindurch ein Ruf aufgellte und von den Mauern widerhallte:
„Nieder mit der Kappregierung! Hoch der Generalstreik! - Runterkommen! - Schluss machen! - Generalstreik!"
Die Arbeiter winkten jetzt zu den Fenstern der Angestellten empor. Einige, die durchaus nicht weichen wollten, wurden von den Abteilungsvorstehern hinauskomplimentiert. Die Arbeiter verstanden keinen Spaß! Militärisch in Viererreihen geordnet setzte sich die gewaltige Kolonne zum Tor hinaus in Bewegung, Von links her sah man den zweitausend Köpfe starken Zug der Zeche „Hasdrubal II" heranmarschieren; als man bei der „Berg- und Hüttengesellschaft Deutsche Erde" um die Ecke kam, begrüßten die dort angetretenen Kumpels und Hüttenarbeiter sie mit brausendem Gesang: ,
Wacht auf, Verdammte dieser Erde, Die stets man noch zum Hungern zwingt."
Das Gewerkschaftssekretariat im Swertruper Volkshaus wurde schon seit frühem Morgen von Arbeiterräten und Abgesandten der Zechen und Werke um Auskunft bestürmt. Unaufhörlich schrillte das Telefon.
Reese saß seit acht Uhr an einem anderen Apparat und versuchte unausgesetzt Verbindung mit Berlin zu erhalten. Immer wieder kam der lakonische Bescheid: „Die Verbindung kann nicht hergestellt werden!"
„Da muss etwas los sein!" sagte er, sich den Schweiß abwischend, zu den hinter ihm stehenden Vertrauensleuten.
„Ohne genauen Bescheid darf ich zu meinen Leuten nicht zurückkommen", sagte der Arbeiterrat Karplus vom Flaschnerwerk.
Die Tür wurde heftig aufgerissen. „Auf dem Rathaus wissen sie auch noch nichts", polterte Oversath herein.
„Na, das ist ja merkwürdig, dabei hat die Einwohnerwehr soeben auf dem Rathausbalkon Maschinengewehre eingebaut", sagte Ruckers, der ihm auf dem Fuße folgte.
Davon hat mir der Bürgermeister nichts gesagt, ich ging allerdings hinten heraus", bemerkte Oversath bestürzt.
„Die Einwohnerwehr ist seit heute früh alarmiert, aber uns Sozialdemokraten hat man nicht gerufen. Als ich mit meinem Ausweis Eintritt verlangte, wurde ich barsch zurückgewiesen", schimpfte ein anderer Arbeiter.
„Der Livenkuhl ist ein Jesuit! Der weiß mehr als wir!" rief Karplus.
„Da geht sicher was vor", bemerkte Reese mit Nachdruck.
Wieder schrillte das Telefon. Vom Walzblechwerk kam die Nachricht, dass die Belegschaft nach der Frühstückspause in der Kantine der weiteren Dinge harre.
„Haltet eure Leute beieinander, wir geben Nachricht, sowie wir welche haben", rief Reese in den Apparat und hängte den Hörer wieder an.
Immer mehr Leute drängten herein. Als man schließlich die Tür sperrte, sammelten sich auf Flur und Treppen diskutierende Gruppen an. Mühsam nur gelang es dem Kommunisten Kösfeld, sich durch die Menge bis oben durchzuarbeiten, da jeder was von ihm wissen wollte. „Genossen, man betrügt uns", keuchte der kleine Mann. „In Berlin haben Kapp und Ehrhardt die Regierung gestürzt! Die Regierung ist geflüchtet und hat zum Generalstreik aufgerufen. Der Livenkuhl, dieser verdammte Halunke, weiß schon seit heute früh amtlich Bescheid, verheimlichte es aber und weigert sich auch, den Streikaufruf drucken zu lassen. Und ihr sitzt hier so seelenruhig beisammen und lasst euch das gefallen?"
In diesem Augenblick läutete abermals der Apparat. Kösfeld meldete sich.
„Hier Gewerkschaftssekretariat Swertrup! - Aha,
na endlich!"
Alles hing gespannt an Reeses Mienenspiel. Sein Gesicht wurde noch um einen Schein blasser, während er die Stichworte wiederholte:
„Marinebrigaden Löwenfeld und Ehrhardt - Regierungsgebäude ohne Widerstand besetzt - Reichswehr übergetreten - Sicherheitswehr teils für Kapp, teils neutral - Regierung zum Generalstreik aufgerufen - Widerstand mit allen Mitteln organisieren!"
Bedächtig legte er den Hörer wieder auf. „Das Gespräch kam eben von Düsseldorf. Also es ist richtig, wir müssen den sofortigen Generalstreik organisieren." Hilfesuchend sah er sich im Kreise um.
„Am besten wird es sein, wir bilden hier gleich eine Art Aktionsausschuss oder so was Ähnliches", setzte er unsicher hinzu.
Ruckers konnte sich einer bitteren Bemerkung nicht enthalten:
„Sehr richtig, sehr richtig! Jetzt, wo eure oberschlauen Genossen den Karren in den Dreck gefahren haben, können wir Proleten ihn wieder herausziehen. Wo hat denn nun euer Noske seine Brigaden, mit denen er uns voriges Jahr so schön entwaffnen konnte, he?"
Die meisten Anwesenden stimmten unter höhnischen Bemerkungen lebhaft zu. Die anderen schwiegen beklommen, und nur Reese stammelte etwas von ungeeignetem Moment, jetzt nach den Schuldigen zu fahnden. Jetzt müsse endlich der Bruderzwist aufhören und die gesamte Arbeiterschaft zusammenstehen.
„Vor Tisch hörte man es anders", rief Karplus. „Da hieß es nur immer: Der Feind steht links! Gegen uns habt ihr immer Kanonen gehabt. Uns habt ihr entwaffnet und die Konterrevolution großgepäppelt. Jetzt soll eure famose Regierung auch sehen, wie sie allein fertig wird, ich rühre keinen Finger!"
„Nicht doch, nicht doch", lenkte Ruckers ein. „Hier geht es ja um mehr als um die Republik, Genossen. Hier geht es um uns selbst. Denn wenn diese Gesellschaft wieder obenauf kommt, dann wird es uns so ergehen wie den ungarischen Arbeitern. Wir müssen jetzt den Widerstand mit allen Mitteln organisieren und die Abrechnung auf später vertagen."
„Das meine ich auch", sagte Reese, „und was die Abrechnung anbetrifft, Genossen - mit den Schuldigen in unseren Reihen -, das werden wir schon von uns aus besorgen. Darauf könnt ihr euch fest und heilig verlassen. Jetzt müssen vor allem die Betriebe und der Verkehr
stillgelegt werden."
„Welche Betriebe fehlen denn noch?" fragte Oversath. Es waren alle da bis auf die Zinkraffinerie.
„Dann schlage ich folgendes vor", sagte Reese, „um zwölf Uhr eine Volksversammlung auf dem Hindenburgmarkt. Genosse Karplus geht sofort zur Zinkraffinerie und informiert die Kollegen, die vielleicht noch nicht ausgeschlafen haben. Die anderen Betriebe und Zechen informieren wir telefonisch: alles sofort ausfahren und stilllegen! Und dann geschlossen zur Versammlung marschieren. Wir aber konstituieren uns hier inzwischen als provisorische Streikleitung. Bis zwölf Uhr haben wir noch annähernd zweieinhalb Stunden Zeit."
„Bei der Versammlung muss aber von uns auch einer sprechen", knurrte Kösfeld. „Selbstverständlich, von jeder Partei einer", pflichtete
Reese bei.
„Und alles Trennende beiseitelassen", setzte Oversath hinzu.
„Aber vorher müssen wir hier erst mal in Swertrup nach dem Rechten sehen", rief Ruckers.
„Das Rathaus übernehme ich. Du, Genosse Ruckers,
kannst..."
„Ich gehe mit dir, Genosse Reese", sagte Ruckers entschieden.
„Ich dachte, du könntest die Post..." „Die Post mache ich", rief der Betriebsrat von „Deutsche Erde".
„Ich gehe zur Eisenbahn, die ist besonders wichtig" sagte Oversath.
„Und ich zum Straßenbahndepot", schaltete sich Kösfeld ein.
Die Generalstreiklawine rollte! Soeben begann das Geheul der Alarmsirenen und Dampfpfeifen.

 

9. KAPITEL

Die Situation war völlig klar! Die militärischen Machthaber glaubten, mit Hilfe der Maschinengewehre nicht nur die ihnen verhasste Regierung zu stürzen. Sie wollten auch die übrigen Revolutionserrungenschaften der Arbeiter beseitigen und die alte Zwingherrschaft von Militär und womöglich Monarchie wieder einführen. Da gab es nur eine Antwort:
„Alle Räder stehen still!"
Wenn außer Gewerkschaften und Parteien sogar die Regierungen zum Generalstreik aufrufen, machen auch die Lauen und Halblauen mit. Der Generalstreik war vollkommen!
Die Demonstration auf dem Hindenburgmarkt wurde der machtvollste proletarische Aufmarsch, den die Stadt je erlebte. In endlosen Scharen zogen sie heran, die Männer, die tief unter der Erde das Brot jeder Produktion, die Kohle, gruben; die Hochofen- und Hüttenarbeiter, die das Erz schmolzen und den widerspenstigen Stahl formten und gestalteten.
Die Eisenbahner, Straßenbahner und Postler, die neben den städtischen Angestellten als erste zur Stelle
waren, hatten zuerst auf dem weiträumigen Platz etwas verloren herumgestanden. Ihre Haltung ließ erkennen, dass sie mit der ihnen meist noch unbekannten Rolle als „Streikende" noch nichts Rechtes anzufangen wussten. Aber ihre Uniformen mit den farbigen Aufschlägen und den blanken Knöpfen und Tressen brachten etwas Färbung in die Versammlung, die von den in losen Gruppen herbeiströmenden Frauen und Kindern noch unterstrichen wurde. Dieses Bild zerfloss und wurde im Nu weggeschwemmt, als die gewaltigen grauen Züge der Berg - und Hüttenarbeiter den Platz erreichten, ihn in ein einziges, mächtig brausendes Menschenmeer verwandelten. Es war ein Meer, erfüllt von jener heiligen Unruhe, die kurz vor Ausbruch des Sturmes bereits die aus den Tiefen kommenden Urkräfte ahnen lässt. Grauschwarz die Grundwogen, ihre Spitzen weißgichtig gekräuselt von Zehntausenden von Gesichtern, über denen nur hier und da noch verloren irgendein bunter Tupfen auf- und niedertauchte, etwa eine grüne oder blaue Tellermütze oder ein rotes Kopftuch.
Eben schlug man die rotumrandeten Streikaufrufe der Regierung an. Angstlich-verstohlen äugten die Spießbürger hinter den Fenstergardinen hervor. Das treudeutsche Herz, das noch vor wenigen Stunden wie Schwertgeklirr und Wogenprall gepocht, sank beim Anblick der Proletariermassen ruckweise nach unten. Solche einmütige und entschlossene Antwort hatte keiner vermutet. Aber dann kam wieder das hämische, aus Hass und Feigheit zusammengesetzte Grinsen in die Gesichter.
Was konnten denn die Proleten schon machen?
Streiken?
Nun, sollten sie nur immerhin. Gott sei Dank hatten sie ja keine Waffen! Die hatte das Militär ihnen vergangenes Jahr abgenommen! Die neue Regierung würde schon bald für Ordnung sorgen, das schlappe Regiment hatte jetzt ein Ende! Der erste Erlass der neuen Regierung, den das Gesindel leider gleich wieder heruntergerissen hatte, stellte Streiken unter Todesstrafe. Augenblicklich konnte sie ja noch eine große Lippe riskieren. Die Sicherheitswehr war mit dem ersten Frühzug nach Essen abgefahren. Aber in wenigen Tagen würde Militär einrücken und geordnete Zustände wieder einführen. Bis dahin würde die Einwohnerwehr die wichtigsten Posten, wie Rathaus, Bahnhof, Post und Schlachthof, schon halten.
An drei verschiedenen Stellen des Platzes sprachen die Vertreter der sozialistischen Parteien: Reese, Ruckers und Kösfeld, zu den Massen. „Generalstreik bis zum endgültigen Sturz der Kappregierung! - Widerstand mit allen Mitteln! - Strenge Selbstdisziplin halten! - Nur den Weisungen des Aktionsausschusses folgen", das war der Inhalt ihrer Reden, wobei allerdings Ruckers und Kösfeld es nicht unterließen, darauf hinzuweisen, dass es logischerweise so kommen musste. Aber auch Reese fand sehr radikale Worte.
„Jetzt ist das Maß der Geduld zum Überlaufen voll, Genossen! Jetzt muss endlich und endgültig Schluss mit der Politik der Nachgiebigkeit und des Entgegenkommens gemacht werden! Die Ereignisse sollen uns allen eine heilsame Lehre sein. Wir werden gegenüber dem monarchistischen Gesindel eine andere Taktik einschlagen: die Knie auf die Brust und den Daumen aufs Auge!" - Er hatte von allen Rednern den meisten Beifall. Großer Jubel erscholl, als der Vorsitzende der Unabhängigen, Lehrer und Stadtrat Jeitner, mitteilte, dass auch die Vorstände der Bergarbeiter-Union sowie die christlichen, polnischen und Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften an den provisorischen Aktionsausschuß zwecks Beteiligung herangetreten seien. Ihre zentralen Vorstände hatten den Kampfruf mit unterschrieben. Die Einigkeit des Proletariats im Kampf war da!
Gleich nach Schluss der Versammlung traten die Vertrauensleute der Betriebe, Gewerkschaften und Parteien im Volkshause zusammen. Über dem noch mit Karnevalsgirlanden grellbunt ausgeputztem Saal lag eine eigenartige Spannung. Jedermann fühlte, dass man am Vorabend bedeutsamer Ereignisse stand. Auf den harten, eckigen Arbeitergesichtern, von denen viele infolge der Eile noch nicht mal gewaschen waren, lag trotzige Entschlossenheit, wie sie nur überzeugtes Kraftbewusstsein hervorruft.
„Den Vorsitz in dieser Kundgebung lassen wir uns als größte Partei am Orte nicht nehmen4', sagte Ruckers zu seinen Parteifreunden. Jeitner leitete die Versammlung ohne große Umschweife mit dem Hauptpunkt: „Wahl des Aktionsausschusses" ein. Man wählte durch Zuruf einundzwanzig Vertreter. Von den Sozialdemokraten Reese, Oversath, Frau Kabitzki, den Straßenbahner Schmidt und den Bergarbeiter zur Linden; von den Unabhängigen Jeitner, Ruckers, Lindemann, Hollkötter, Felgentreu, Pfeiler und Simoweid, von den Kommunisten Kösfeld, Grothe und Kassabeck. Die Union war durch Pontow und Rauchfuß, die Christlichen durch den Bergarbeiter Küpper, die Hirsch-Dunckerschen durch den Schlosser Stefan und die Polen durch den Maschinisten Borinski vertreten.
Jeitner schwenkte die Glocke:
„Genossen, der Aktionsausschuss wird sofort im kleinen Saal zusammentreten, die Vorsitzenden und die notwendigen Kommissionen wählen. Wir werden dann sehen, dass wir eine Art Bulletin herausbringen, um euch auch während der Zeit des Nichterscheinens der Presse über alles auf dem laufenden zu halten. Ich ersuche alle, euch nunmehr um eure Kollegen zu kümmern, dass sie beisammen bleiben und dass keinerlei Zusammenstöße mit der Einwohnerwehr erfolgen. Bürgermeister Livenkuhl hat zugesagt, dass die Einwohnerwehr nur die öffentlichen Gebäude beschützt und sich jeder Parteinahme enthalten wird. "
„Das ist ja Schwindel", unterbrach ein Arbeiter den Stadtrat, „wenn sie weiter nichts will, warum hat man unsere Genossen nicht zugezogen!"
„An der Post haben sie heute früh eine schwarzweiß-rote Fahne aufgezogen", rief eine andere Stimme.
„Wir brauchen die Kadetten überhaupt nicht, für Ruhe und Ordnung sorgen wir selbst", schrie ein Dritter. „Gebt uns nur Waffen, dann werden wir schon Ordnung schaffen!"
Jeitner schüttelte lachend seine Ärmel aus. „Genossen, das ganze Gerede hat hier keinen Zweck. Überlasst alles das dem Aktionsausschuss, der zu allen Fragen Stellung nehmen wird. Wir werden sehen, was sich ermöglichen lässt, um all eure berechtigten Forderungen - möglichst ohne Blutvergießen - zu erfüllen, denn Blut, das sagen wir uns, ist ein besonderer Saft." „Waffen!" rief es von mehreren Seiten. „Wenn es möglich ist, auch Waffen, natürlich, Genossen, aber jetzt geht bitte und lasst uns arbeiten.'*
Die Vorschläge für die Wahl des ersten Vorsitzenden konzentrierten sich auf Reese und Jeitner. Bei einer Abstimmung wäre unzweifelhaft Reese gewählt worden, wenn dieser nicht unerwarteterweise dem Unabhängigen den Vortritt gelassen hätte. Er selbst begnügte sich mit dem zweiten Vorsitzenden.
Dann bestimmte man die Vorsitzenden wichtiger Spezialkommissionen. Oversath bekam die Sicherstellung der Ernährung, Rauchfuß von den Syndikalisten die Überwachung der Notstandsarbeiten, Unterhaltung der Feuer an den Hochöfen, Bedienung der Schachtpumpen usw. Der Kommunist Kösfeld erhielt das Nachrichtenwesen.
Allein die Besetzung des Sicherheitsdienstes und die Vorbereitung etwaiger militärischer Abwehrmaßnahmen stieß auf Schwierigkeiten, da einer dem anderen misstraute. Reeses Vorschlag, diese Frage noch offen zu lassen, da sie vorläufig noch nicht brennend sei, stieß auf entschiedenen Widerstand, sogar bei seinen eigenen Parteigenossen. So wurde denn dieses wichtige Ressort den Unabhängigen zugesprochen, von denen man wusste, dass sie bereits einen illegalen Ordnerdienst besaßen. Ruckers übernahm hier den Vorsitz. Die übrigen Mitglieder des Aktionsausschusses wurden dann auf die einzelnen Kommissionen aufgeteilt.
Ruckers zog sich mit zur Linden und Grothe in ein abgesondertes Zimmer zurück; beide Mitarbeiter brannten darauf, Näheres über den sagenhaften „Ordnerdienst" der „Unabhängigen" zu erfahren.
Ruckers machte eine geringschätzige Handbewegung. „Alles noch im Aufbau! Vor sechs Wochen haben wir angefangen, weil ja schließlich jeder sieht, dass - wenn es so weitergeht - wir was zur Verteidigung in der Hand haben müssen. Also das sieht so aus: Bei jedem Zahlabend gibt es einen illegalen Vertrauensmann, der eine Gruppe entschlossener Kerle um sich sammelt. Die Gruppenführer kennen nur ihren Zugführer, die Zugführer nur ihren Kompanieführer, und so geht das konspirativ weiter bis nach ganz oben."
,Feine Sache", schmunzelte Grothe, „so kann niemals der ganze Laden hochgehen."
,Wir haben" - fuhr Ruckers fort - „bisher nur die gedienten Leute genommen, nach ihrer Waffenausbildung registriert und eingeteilt. Schützenkompanien, Maschinengewehrzüge, einige Geschützbedienungen, versteht ihr?"
„Wieviel Kanonen habt ihr denn?" frozzelte zur Linden.
„Bist selber eine! Waffen? - Das ist noch nicht mal das Wichtigste. Die Hauptsache ist eine gute Organisation entschlossener Kerle. Aber die steht eben leider noch zum guten Teil auf dem Papier. Was die Arbeiter nicht freiwillig abgeliefert haben, das schmissen sie ins Wasser oder vergruben und versteckten es so, dass es unbrauchbar wurde. Wir haben vor vierzehn Tagen eine Aufnahme vorgenommen und dabei neun Gewehre, zweiunddreißig Revolver und Pistolen, sechs Handgranaten und nur wenige Munition festgestellt. - Habt ihr denn nichts?"
„Ich bin nicht genau im Bilde, aber mehr als das eurige ist es bestimmt nicht, von zwei durch Rost unbrauchbar gewordenen Maschinengewehren abgesehen", erklärte der junge Kommunist.
„Ja, dieser Einwohnerwehrbande müsste man die Waffen wegnehmen, aber wie? Wir holen uns da bei einem Angriff nur blutige Köpfe", meinte Ruckers.
Zur Linden zog eine mit Maschinenschrift gefertigte Liste aus der Tasche und begann zu zählen: „Dreiundzwanzig Gewehre von unseren Einwohnerwehrgenossen - die stehen natürlich zur Verfügung."
Grothe sprang plötzlich auf.
„Die Liste da, Genosse Linden - das sind doch nicht nur eure Parteigenossen? - Was, die gesamte Liste? Und das sagst du Heupferd erst jetzt? Mensch, wo hast du die bloß her?"
„Ja, mein Lieber, Beziehungen! Meine Inge ist doch Stenotypistin bei dem Prokuristen der Schlackensteinfabrik, der Schriftführer bei der Einwohnerwehr ist!"
„Mensch, das ist ja unbezahlbar! Da werden wir heute abend in Swertrup Hausrevision abhalten", rief Grothe, sich vergnügt auf die Schenkel klopfend.
Während noch die Führer über die Beschaffung von Waffen berieten, hatten die ungeduldigen Massen das Problem schon von sich aus in Angriff genommen. Als ein von der Demonstration nach Könkern heimwärtsziehender, etwa dreihundert Mann starker Zug am Bahnhof vorbeikam, stießen sie auf die dort postierten Einwohnerwehrleute mit weißer Armbinde, Stahlhelm und geschultertem Gewehr.
Da war er schon wieder, dieser verdammte Stahlhelm, das Symbol des Noske-Regiments, und da war auch wieder jenes eingefrorene Hohnlächeln auf den Gesichtern der bewaffneten Bürger. Laute Schimpf- und Schmährufe erschollen. Man drängte näher an den Bahnhof heran.
Ängstlich zogen sich die behäbigen Spießbürger und halbwüchsigen Gymnasiasten zurück.
Als sie die große Eingangstür schließen wollten, steckte ein Kriegsbeschädigter seinen Stock zwischen die Angelspalte.
„Nehmen Sie den Stock da weg!"
Lautes Lachen antwortete.
„Sie sollen den Stock da wegnehmen, sonst..." Wütend rüttelte der Einwohnerwehrmann an der festgeklemmten Tür.
„Hahah! - Was denn sonst, du Möpp? - Willst du uns drohen?"
In diesem Augenblick klirrte irgendwo ein Fenster. Wie man später erfuhr, hatte ein Wehrmann aus Versehen mit der ungewohnten Waffe eine Scheibe eingestoßen.
Dieses Geräusch hatte ähnliche Wirkung wie sonst der berühmte erste Schuss, bloß mit dem Unterschied, dass den Wehrleuten das tapfere Herz nun gänzlich in die schon feuchten Hosen zu rutschen schien. Dem Klirren des Glases folgte das Klirren der hingeworfenen Gewehre, während gleichzeitig die Arbeiter durch Türen und Fenster eindrangen. Innerhalb weniger Minuten war der ganze Bahnhof in den Händen der Arbeiter, ohne dass ein Schuss gefallen war. Fünfundzwanzig Gewehre, ebenso viele Stahlhelme, fünftausend Schuss Infanteriemunition, zwei Kisten Handgranaten sowie einige Kisten Zwieback und Fleischkonserven waren die Beute. Die Einwohnerwehr flüchtete in panischem Schrecken zur Stadt hinaus. Jetzt dachte keiner der Arbeiter mehr ans Nachhausegehen. Sofort wählte man sich Führer, verbarrikadierte die Eingänge und stellte Posten aus, alles für den Fall, dass von der Stadt her ein Rückeroberungsversuch erfolgen sollte.
Aber in Swertrup blieb alles ruhig. Als die Dämmerung einbrach, erlebten die Bewohner zum ersten Male seit Menschengedenken eine fast völlige Dunkelheit. Keine Straßenlaterne brannte, kein hellerleuchtetes Geschäfts- oder Vergnügungslokal warf seine überflüssigen Lichtfluten auf die Straße. Wo noch Kramläden oder Gastwirtschaften geöffnet waren, brannte ein armseliges Stearinlicht.
Auch die sonst fast taghell erleuchteten Zechenplätze und Glashallen hüllten sich in unheimlich finsteres Schweigen. Kein Knarren der Fördertürme, kein Hämmern, Dröhnen und Kreischen aus den Werkstätten erscholl. Die Kamine hatten die ewigen Rauchfahnen eingezogen, wuchsen kalt und starr in den von schweren Wolken verhangenen Märzhimmel.
Das Industriegebiet hielt seinen Atem an.
Mit Einbruch der Dunkelheit setzte ein böiger Nordwestwind ein, der das jeden beschleichende unheimliche Gefühl noch verstärkte.
Ernst Sukrow war in der achten Abendstunde müde vom Umherlaufen nach Hause gekommen. Der machtvoll einsetzende Generalstreik, der grandiose Aufmarsch der Proletariermassen hatte auf ihn einen ebenso gewaltigen Eindruck gemacht wie das Begräbnis der verunglückten Kumpels am Nachmittag. Lange schon waren die mitwirkenden Geistlichen fortgegangen, aber immer wieder neue Arbeiter traten an das offene Grab, sprachen harte Worte der Anklage gegen das Bergkapital, gelobten, dass diese Opfer nicht umsonst gefallen sein sollten. Und als man sich dann unter Vorantritt der schwarz uniformierten Bergarbeiterkapelle zum Rückmarsch in die Stadt anstellte, erscholl statt des sonst üblichen „Ich hatt' einen Kameraden" der russische Rotgardisten-Marsch.
Gern hätte Sukrow von Grothe oder Ruckers Näheres über die Lage erfahren. Sie standen ja mittendrin in der Bewegung, mussten besser Bescheid wissen als er, der nur so nebenbei hintrabte. Ob er mal nach Hasdrubal hinausging? - Aber schnell verwarf er den Gedanken wieder. Er scheute sich, diesen Menschen gegenüberzutreten, die er noch vor wenigen Stunden preiszugeben gewillt war.
Absichtlich nahm er seinen Weg durch die Speisewirtschaft, vielleicht, dass er dort etwas Neues erfahren würde. In dem großen Raum verbreiteten zwei Kriegslichter einen trübseligen Schein, und ebenso war die Stimmung des Schapullaschen Ehepaares.
Die Kostgäste waren nach dem Abendbrot noch in irgendwelche Streikversammlungen gegangen, so dass die würdigen Wirtsleute Zeit und Muße hatten, die Folgen des Generalstreiks für ihr Geschäft zu überschlagen. Wenn am nächsten Zahltag noch gestreikt wurde, dann gab es keinen Lohn. Dann blieben die Leute auch das Kostgeld schuldig, das war so sicher wie das Amen in St. Rochus. Aus diesem Anlass wünschten Schapullas die Kappisten zu allen Teufeln.
Vor einer halben Stunde hatte ein Junge einen Brief „an Herrn Schapulla persönlich" abgegeben, eine Aufforderung von der Einwohnerwehr, am Abend aufs Rathaus zur Wacheeinteilung zu kommen.
Schapulla lachte hämisch. Die kamen ihm jetzt gerade recht! Sich die Nacht um die Ohren schlagen, womöglich noch die Knochen Kaputtschiessen lassen, sich mit seinen Mietern verfeinden? - Die Herren vom Wehrvorstand konnten ihn gern haben. Mochten sie, die den Mund so voll nationaler Phrasen nahmen, selber ausfressen, was sie einbrocken halfen. Er, Martin Schapulla, hielt sich neutral.
Das Erscheinen seines möblierten Herrn gab ihm Gelegenheit, sein Herz auszuschütten. Seine Frau setzte sich hinzu, hielt sie doch die Stunde für günstig, jetzt mit ihren Plänen betreffs ihres Stammhalters herauszurücken. Kaum aber hatte sie mit ihren Klagen über die geschlossenen Schulen begonnen, als die Tür etwas unsanft aufgerissen wurde und eine Taschenlampe die im Halbdunkel Sitzenden blendete.
„Lasst doch die dumme Lampe weg", rief Frau Schapulla unwillig, in der Meinung, ihre Gäste seien nach Hause gekommen.
„Jesus, Maria und Joseph!"...
Im Zimmer standen vier fremde Männer, von denen der eine in seiner Rechten einen blanken Revolver hielt.
„Bleiben Sie ruhig, wir kommen nur wegen der Waffen", sagte eine raue Stimme. „Im Namen des Sicherheitsausschusses: Geben Sie sofort das Gewehr ,Danzig 42II' und die fünfzig Patronen heraus, sonst müssen wir Haussuchung halten. Und machen Sie keine Fisimatenten, die Ausgänge sind alle besetzt!"
Schapulla starrte die Fremden blass und mit offenem Munde an. Der Führer mochte das als Weigerung auffassen, denn er gab seinen Leuten einen Wink.
„Los denn also, Zimmer für Zimmer nachgesehen, und wo euch kein Einlass gegeben wird, die Türen aufgebrochen!"
Jetzt bekam Frau Schapulla die Sprache wieder. Was, sie sollte die fremden Kerle in ihrem Hause 'rumsuchen lassen, bloß wegen des dämlichen Schießeisens, das ihnen gar nicht mal gehörte? Wer ersetzte ihnen den Schaden, wenn dabei auch noch andere Sachen Beine bekamen?
„Warten Sie nur einen Augenblick, meine Herren, ich hole Ihnen gleich das Ding. Und den Browning von meinem Mann können Sie auch gleich mitnehmen. Wir brauchen keine Waffen. Wir sind auch nur arme Leute, uns nimmt keiner nichts weg! - Martin, sitz doch nicht so dösig da, hole den Herren ein paar Flaschen ,Dortmunder'. Wir haben zwar auch nichts übrig, aber ein paar Flaschen Bier für die Herren vom Ausschuss sind immer noch da! Für das Soziale sind wir schon immer gewesen - bei uns wohnen alles nur soziale Arbeiter!"
Während Frau Schapulla in Begleitung zweier Arbeiter die Waffen holen ging, tranken die anderen ihre Bierflaschen aus. Dabei ließ der Sprecher seinen Revolver nicht aus der Hand, während der andere, in dem Sukrow einen Schmelzer des Stahlwerks erkannte, die rechte Faust drohend in der Jackentasche hielt.
„Kannst ruhig die Hand vom Revolver lassen, hier tut euch keiner was", sagte er, ihm auf die Schulter klopfend.
Der Arbeiter zeigte seine blanke Faust: „Das hier sind unsere Waffen, und damit haben wir bis jetzt siebenunddreißig Gewehre, achtzehn Pistolen, drei Revolver, sieben Jagdflinten und eine ganze Menge Seitengewehre und Degen eingekauft. Ja, Ackermann, da staunste! Hier ist unsere letzte Station, darum kann ich's ja sagen."
„Alle Wetter! Aber euer Führer hat doch einen Revolver", sagte der junge Mann. - Der andere grinste. „Den schenk' ich dir, der hat keinen Hahn!"
Frau Schapulla schloss hinter den unheimlichen Gästen schnell alle Türen ab. „Gott sei Dank, dass die Schießeisen aus dem Hause sind. Solange ich lebe, kommt mir so was nicht wieder über die Schwelle", sagte sie aufatmend zu ihrem kleinlauten Heldengatten.
Sukrow konnte an diesem Abend keinen Schlaf finden. Zu viele Ereignisse wirbelten in seinem Kopf durcheinander. Auch auf der sonst um diese Zeit stillen Straße herrschte noch eine ungewöhnliche Bewegung: Schritte, Stimmengemurmel und unverständliche Zurufe. Beunruhigt kleidete er sich schließlich wieder an. Auf dem Hausflur stieß er mit Frau Schapulla zusammen, die bereits in Unterrock und Nachtjacke war. „Jesses, sind das Zeiten! Von meinen ganzen Leuten ist noch keiner nach Hause gekommen. Jetzt wollen sie die ,Lindenburg' stürmen und die Verbrecher freilassen", jammerte die Wirtin.
Sukrow wurde, kaum dass er die Haustür hinter sich zugeklinkt hatte, von den in losen Gruppen vorbeiströmenden Leuten mit fortgerissen. „Jetzt holen wir unseren Köbes heraus, und wenn er hinter zehn Türen sitzt", hörte er sagen.
Vor dem Gefängnisportal am Ende der Flingerstraße stauten sich die Massen. In der Dunkelheit sah man drohende Fäuste und Gewehrläufe. Gebieterische Rufe erschallten, dazu dumpfes Dröhnen an die geschlossenen Torflügel. Plötzlich lautes Jubelgeschrei! Irgendwo im Dunkel eine Ansprache, deren Sinn der Wind verwehte. Dann brausendes Hoch! Hoch! Hoch! - Mehrere Männer wurden im Triumph davongetragen. Jacob Meiring, der beliebte Führer der Bergarbeiter-Union, hatte die Freiheit zurück.

 

10. KAPITEL

Ein vollendeter Generalstreik - wenn nicht nur alle Betriebs- und Verkehrsmittel ruhen, sondern auch keine Zeitung erscheint, die Post ausbleibt, Theater und große Geschäfte geschlossen bleiben, Licht- und Wasserzufuhr abgestellt werden - verändert schon rein äußerlich das Gesicht einer Stadt. Wie viel mehr aber erst im Industriegebiet, wo sonst die Erde Tag und Nacht vom Pulsschlag der Werke vibriert, wo es in den Wänden ständig knistert und knackt von der Arbeit der vielen Tausend unterirdischer Maulwürfe, die ihre Gänge kreuz und quer unter der Erde wühlen.
Die Swertruper Schlote hatten ihr Rauchspeien eingestellt, und Sturm und Regen der Nacht hatten ein übriges zur Luftreinigung getan,' so dass ein strahlendheller Frühlingsmorgen dem ersten Tag nach dem Kapp-Putsch folgte.
Es war ein Sonntag, und wie gewöhnlich läuteten seit früh sechs Uhr die Glocken. Die Stellvertreter Gottes waren die einzigen, die den Generalstreik nicht beachteten. Die Mehrzahl der sonstigen Kirchenbesucher zog es heute in die Streiklokale, zum Volkshaus und auf die Straßen der inneren Stadt, wo neue Nachrichten vom Stand der Bewegung zu erwarten waren. Während die Hausfrauen, die sonst einen ewigen Kleinkrieg mit den Rußflocken kämpften, schnell frische Gardinen an die Fenster steckten, trafen sich die Männer mit Kollegen und Bekannten.
Nach der strengen Überstundenschufterei war die Ruhe des Generalstreiks etwas unerwartet über die Kumpels gekommen. Das Stummelpfeifchen im Munde, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, sah man die geschwärzten muskulösen Gestalten überall umherbummeln. Fröhlich blinzelten die der Tageshelle ungewöhnten Augen einander an.
„Tag, Jupp - na?" - „Tag, Florian - na?"
Die in den engen Stollen zusammengeduckten Körper reckten sich kraftvoll, und die kohlenstauberfüllten Lungen sogen tief die würzige Frühlingsluft ein.
Wenn sonst der Bergmann frühmorgens noch schlaftrunken zur Grube torkelte, rötete sich eben erst der Horizont. Und wenn er am Spätnachmittag wieder zu Tage fuhr, war die Sonne bereits wieder fort, als sei sie nie dagewesen. Hatte er aber Nachtschicht, so schlief er am Tage, so dass er die Sonne eigentlich nur am Sonntag zu sehen bekam, - vorausgesetzt natürlich, dass sie überhaupt schien.
Jetzt aber lagen alle Dinge herum wie in flüssiges Gold getaucht. Und der Kumpel war frei! Keine Zechensirene regelte mehr seine harte Fron.
„Wir haben Zeit, seht, so viel Zeit!" bekundeten jetzt seine absichtlich lässigen Bewegungen.
So viele hatte man sonst, wo immer ein Teil an der Arbeit, der andere am Schlafen war, nie beieinander gesehen. Jetzt waren alle zu Tage gefahren und bewunderten, wie weiland die Sklaven Roms, ihre große Zahl.
Da hatte man wohl mal ein Wörtchen mitzureden, wenn die Herrschaften sich über das Regieren nicht einig wurden. Niederschlagung der Kappisten - Bestrafung aller Schuldigen - Reinigung der Reichswehr, Polizei und Behörden von allen reaktionären Elementen - gut! Aber hoho, der Kumpel war auch noch da! Diese Misswirtschaft hier im „Pütt" durfte so nicht weitergehen. Statt Überschichten-her mit der viermal Sechsstundenschicht, dann gab es auch Kohlen genug! Her mit Erhöhung der Löhne und Verbesserung der Anlagen! Die Gewinne der Kohlenbarone mussten anständig beschnitten werden. Wo blieb die angekündigte Sozialisierung? Wir verlangen das uneingeschränkte Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte!"
Beim reaktionären Bürgertum herrschte Entsetzen. Die Arbeiter streikten nicht nur, sie hatten sogar wieder Waffen in den Händen. Wo sollte das hinaus?
„So geht das unter keinen Umständen weiter, meine Herren", sagte Bürgermeister Livenkuhl zu einigen Mitgliedern des Aktionsausschusses. „Beim Bahnhof haben Sie ja gestern noch mal Glück gehabt, und auch in der Nacht beim Gefängnis, und als Sie die Waffen bei den Mitgliedern der Einwohnerwehr und den Krieger- und Schützenvereinen wegholten. Aber jetzt ist Vorsorge getroffen, dass sich das nicht wiederholt! Die Einwohnerwehr ist - das habe ich Ihnen schon mal gesagt - neutral, und um ein übriges zu tun, lasse ich unsere städtische Polizei Dienst in Zivil tun. Demonstrieren Sie, soviel Sie wollen! Greifen Sie aber das Rathaus, die Post oder den Schlachthof an, so lasse ich unweigerlich schießen -darauf können Sie sich verlassen."
„Aber nicht doch, nicht doch, Herr Bürgermeister, wir tun ja auch keinem was", sagte Jeitner gemütlich.
„Was da passiert ist, geschah ohne unsere Veranlassung durch die Arbeiter selbst, von wegen die Parität."
Livenkuhls Schmiss lief feuerrot an. „Parität? - Was soll denn das heißen, Herr Stadtrat?"
„Ich will es Ihnen sagen", brauste der Straßenbahner Schmidt auf. „Ihrem Neutralitätsversprechen glaubt kein Mensch. Warum haben Sie denn die paar Arbeiter, die wirklich in der Einwohnerwehr sind, nicht mit einbezogen? Und warum haben Ihre Leute gestern an der Post den schwarzweißroten Lappen gehisst? Warum erklären Sie sich nicht eindeutig für die Regierung Ebert-Bauer?"
„Meine Herren, ich muss doch bitten, sich nicht unnütz aufzuregen. Meine Stellung ist eine sozusagen unpolitische. Ich sorge, wie es meine Pflicht ist, für das Wohl der Stadt, weshalb ich ja auch mit Ihnen zusammenarbeiten will. Alles andere kümmert mich nicht", antwortete das Stadtoberhaupt würdevoll.
„Das wird man sich merken, Herr Bürgermeister, für den Fall, wenn die alte Regierung wieder das Heft fest in Händen hat, wie Sie als Beamter - der den Treueid geleistet - laviert haben", schrie Oversath.
Am Vormittag erschien an den Straßenecken Swertrups folgender Anschlag:

Arbeiter! Kampfgenossen!
Die Abwehrfront gegen die frechen Staatsstreichgelüste der Kapp-Lüttwitz steht im ganzen Reiche unerschütterlich. Der aus den Reihen der organisierten Arbeiterschaft gebildete Vollzugsrat hat für Swertrup und Umgebung die Leitung der Aktion und gleichzeitig die öffentliche Gewalt bis zur endgültigen Liquidierung des Putsches übernommen. Allen Anordnungen der mit gestempelten Ausweisen resp. Armbinden versehenen Mitglieder bzw. Beauftragten ist unbedingt Folge zu leisten.
Verboten ist der Alkoholverkauf jeglicher Art, das Offenhalten der Läden nach Einbruch der Dunkelheit, das Hamstern, Zurückhalten oder Aufschlagen von Lebensmitteln, der Verkehr mit Kraftwagen sowie eigenmächtiger Waffenbesitz. Waffen und Munition jeder Art sind bis spätestens Montag vormittag 9 Uhr im Volkshaus abzugeben.
Swertrup, den 14. März 1920.
Für den Aktionsausschuss: Jeitner Reese Kösfeld

Es war bewunderungswürdig, wie die Arbeiterschaft überall instinktiv gleichmäßig, ohne erst vorher miteinander in Fühlung zu treten, auf den Staatsstreich reagierte. Der Generalstreik war allgemein! Überall hatten sich Aktionsausschüsse oder Vollzugsräte gebildet und die örtliche Macht in die Hand genommen. Die verhasste Polizei und die noch weniger beliebte Einwohnerwehr hatte man in vielen Orten bereits mühelos entwaffnet. Alles schrie nach Waffen, denn jeder fühlte mit richtigem Instinkt, dass auch blutige Auseinandersetzungen mit den Machtmitteln der Kappisten unvermeidlich seien.
Die gesamte grüne Polizei des Bezirks war in Essen zusammengezogen. In Dortmund stand das Freikorps Lichtschlag, in Mülheim das Freikorps Schulz; in Duisburg, Düsseldorf, Remscheid, Wesel, überall lagen große Reichswehr- und Sipoverbände, von denen keiner eine unzweideutige Erklärung gegen Kapp abgegeben hatte.
Fortwährend verstärkten sich diese Formationen durch Einwohnerwehr und Zeitfreiwillige, offenbar nur mit dem Ziel, die gegen die Kappisten vorgehende Arbeiterschaft im Zaum zu halten.
Bei gespenstischem Kerzenlicht nahm der Swertruper Aktionsausschuss zu der ernsten Lage Stellung. Als Jeitner den Inhalt der Vormittagsunterredung mit dem Stadtoberhaupt mitteilte, herrschte allgemein große Empörung.
Die Einwohnerwehr muss noch heute nacht entwaffnet werden" - darüber gab es nur eine Meinung.
„Wir müssen ein Ultimatum stellen; wenn sie es ablehnen, wenden wir Gewalt an. Wie steht es denn mit den Waffen, Genosse Ruckers?" rief Schmidt.
Ruckers kratzte sich mit bedenklicher Miene am Kopf. „Wir haben alles in allem siebenundneunzig Gewehre und Karabiner und ein leichtes Maschinengewehr mit insgesamt zirka achttausend Schuss. Dazu kommen siebzehn alte einundsiebziger Gewehre mit zweihundert Patronen, die wir den Kriegervereinen abnahmen. Ferner einige fünfzig Pistolen, dreihundert Handgranaten und dann noch einige Jagd- und Scheibenflinten, die aber wenig taugen."
Allgemeines Erstaunen.
„Was, so viel?" -
„Also los doch denn, auf was warten wir noch?"
„Nicht so hitzig, Kinder, ihr werdet euch noch früh genug die Schädel einrennen. Warum Blutvergießen, wenn es auch ohnedem geht? Wartet noch diese Nacht ab. Ich habe etwas unternommen - was, kann ich natürlich noch nicht sagen, sonst weiß es gleich der ganze ,Pütt', und es wird unwirksam. Ich hoffe, bis morgen früh alles in unserer Hand zu haben."
Warum bloß so viele Fisimatenten? Unsere Kumpels brennen darauf, diesen Kerlen in die Schmerbäuche zu treten", rief der Hauer Felgentreu tatenlustig.
In diesem Augenblick stürmte ein junger Bursche in
den Saal.
„Genosse Ruckers soll sofort zum Rathaus kommen, bei der Einwohnerwehr geht was vor", rief er schon von der Tür aus.
„Aha! Seht ihr, Genossen, der Ball rollt schon, also geduldet euch noch etwas. - Grothe, zur Linden, kommt", rief der Alte, seinen Hut aufstülpend.
Das Swertruper Rathaus, das der Einwohnerwehr als Hauptquartier diente, war ein neueres Gebäude und lag etwas abseits, nach allen Seiten frei stehend, inmitten eines mit Anlagen versehenen Platzes. Die beiden Seitenflügel und das Hauptgebäude umschlossen einen rechteckigen Hof, dessen vierte Front durch einen schmiedeeisernen Zaun nach der Straße hin abgegrenzt wurde.
Dieser Hof glich in der Nacht vom 14. zum 15. März einem aufgestöberten Ameisenhaufen. Beim dürftigen Schein einiger Karbidlampen sah man dunkle Gestalten mit drohenden Gewehrläufen und verwegenen Stahlhelmen erregt durcheinander laufen. Fiel einmal ein Lichtstrahl unmittelbar in die Gesichter, so erblickte man unter den Stahlhelmen die nichts weniger als kriegerischen Züge angsterfüllter Spießbürger.
Wohin war der noch am Sonnabend so hochgeschwollene Bürgermut entschwunden? - Da hatte man noch das Gefühl der Überlegenheit; man war ja bewaffnet bis an die Zähne, und die Proleten hatten - Gott und Noske sei Dank - nichts als ihre dreckigen Flossen. Reichlich gespendetes Bier, Kognak, Zigarren, Schokolade und Fleischkonserven bestärkten den Willen, auszuhalten, bis Truppen kommen und Ordnung schaffen würden. Aber die unerwartete Überrumpelung der Bahnhofswache und die Entwaffnung der Bürgerhäuser hatte einen jähen Gesinnungsumschwung herbeigeführt. Am Sonntag früh trat nur noch die Hälfte der zur Ablösung befohlenen Leute an. Alle Augenblicke erbat einer unter allen möglichen Ausreden ein paar Minuten Urlaub, ohne wiederzukommen. Diejenigen aber, die wirklich wiederkamen, vermehrten nur durch die aus der Stadt mitgebrachten Gerüchte die Panikstimmung.
Dass die Arbeiter jetzt schon eine ganze Menge Waffen hatten, das konnte man ja an den eigenen Verlusten feststellen. Aber die ausgesandten Kundschafter wussten die unglaublichsten Dinge über geheime Waffenlager der Roten zu berichten. Überall sprachen die Kumpels mit geheimnisvollem Augenzwinkern von „schweren Brocken", die instand gesetzt werden und womit man das Rathaus zusammenballern würde. „Unsinn", hatte der Major a. D. Ingenieur Neuhaus, der das Kommando führte, zuerst gesagt, aber die immer wieder eintreffenden Nachrichten hatten auch ihn schließlich nervös gemacht.
Als in der siebenten Abendstunde ein Gymnasiast die bestimmte Nachricht brachte, dass auf dem Hofe eines Hauses in der Rheinstraße ein Dutzend Maschinengewehre ständen, beauftragte Neuhaus seinen Schwiegersohn, Obersteiger Döhring, sich an Ort und Stelle davon zu überzeugen. Als Kumpel verkleidet, den Schlapphut tief im Gesicht, gelang es diesem auch, bei Einbruch der Dämmerung unauffällig auf besagten Hof zu gelangen, wo die Arbeiter ganz ungeniert an einem leichten Maschinengewehr herumbastelten, während unter einer Plane die Läufe von zwei weiteren hervorlugten. Das sagte genug! Die Arbeiter hatten massenhaft Waffen und bereiteten sich - wie er ebenfalls hörte - auf einen Sturm vor.
Unglücklicherweise befand sich, als er seine Meldung machte, gerade der stellvertretende Wehrführer Gutknecht im Zimmer.
„Um Gottes willen, nichts unseren Leuten sagen, - die sind schon ganz kopfscheu", sagte Neuhaus, aber es war schon zu spät.
„Meinen Sie denn, die wissen nicht bereits, was gespielt wird", rief der Engrosschlächtermeister aufgebracht. „Die ganze Stadt weiß es, dass die Arbeiter massenhaft Gewehre, Maschinengewehre, Geschütze und schwere Minenwerfer haben. Bloß Sie wissen das nicht oder stellen sich so und stürzen damit Familienväter ins Unglück. Wir sitzen doch hier wie in einer Falle, das müsst ihr doch sehen! Was können wir paar Mann denn machen, wenn die von draußen mit Minen hereinschiessen? Haben Sie schon mal eine Abbildung gesehen, wie eine Mine in ein Haus einschlägt? Vom Boden bis zum Keller geht sie durch. Nein, nein!" brüllte er, als Döhring ihn am Arm halten wollte, „das geht zu weit, das muss ich den Herren unten sagen", und raus war er. Auf dem Hof war inzwischen der Tumult immer größer geworden. Am aufgeregtesten war der Drogist Dobberstein, der mit der einen Hand seine schluchzende Frau, mit der anderen das Gewehr hielt.
„Ich bin gewiss ein patriotischer Mann", rief er mit halberstickter Stimme, „aber das kann man von mir nicht verlangen, dass ich hier herumsitze, während man meine Wohnung und mein Geschäft zerstört, ja, vielleicht meine Familie ermordet. Warum sind wir in der Einwohnerwehr? Um unser Eigentum, um uns selbst zu schützen. Mein Eigentum ist aber nicht auf dem Rathaus, sondern in der Kronprinzenstraße. Wenn ich dahin gehe, kann mir das wohl niemand als Feigheit auslegen." Da hat Kamrad Dobberstein vollkommen recht", pflichtete Kaufhausbesitzer Gerstenberg bei. Die Arbeiterwissen ganz genau, wer bei der Einwohnerwehr ist. Da halten sie sich eben an das, was uns das Höchste und Heiligste ist. Hören Sie nur, was sie Herrn Dobberstein für einen Brief geschrieben haben:
,Herrn Traugott Dobberstein!
Wenn Sie nicht sofort die gegen uns erhobenen Waffen niederlegen, werden Sie in der Kronprinzenstraße mal etwas erleben, was Sie ewig gereuen wird.'"
„Herr des Himmels", rief Oberpostsekretär Liepel erbleichend, - „aber vielleicht ist es nur eine leere Drohung?"
„Sie haben gut reden, Sie haben kein Geschäft wie ich, das man plündern kann", fauchte Dobberstein.
„Aber unsere Wohnungen und Familien sind ebenso schutzlos", riefen einige andere.
„Wir sind verraten und verloren", rief Gutknecht mit vor Angst aus dem Kopf getretenen Augen dazwischen. „Meine Herren, es hat keinen Zweck mehr, hierzubleiben! - Die Arbeiter greifen uns diese Nacht noch an. -Bestimmt, sag' ich Ihnen! - Herr Döhring kam eben von Kundschaft zurück. Ich hab' es selbst gehört, was er sagte. Waffen über Waffen haben die Arbeiter. Ein Hof in der Rheinstraße - da stand alles voll schwerer Maschinengewehre. - Aber der Neuhaus - ich soll's Ihnen nicht sagen, ich sag's aber doch."
„Jesus, Maria und Joseph! 0 meine armen Kinder", heulte der dicke Restaurateur Koch laut auf.
Bitte um Ruhe, Kameraden", rief der Wehrführer, der dem Schlächtermeister auf dem Fuße gefolgt war, von der Treppe herab.
Ruhe, zum Donnerwetter, Ruhe! Sag' ich nochmals. -Meine Herren, wenn Sie meinen Befehlen nicht nachkommen, muss ich jede Verantwortung ablehnen!"
„Das sieht Ihnen ähnlich! Verantwortung ablehnen", brüllte Dobberstein, erregt auf ihn eindringend. „Wir brauchen Ihre Befehle nicht mehr, Herr Neuhaus. Kommandieren Sie meinetwegen Rekruten, aber keine mündigen Bürger, Sie - Sie - Sie Kommißstiebel, Sie! Wir lassen uns nicht länger missbrauchen. Für Sicherheit des Eigentums sind wir da, nicht für Ihre Kapp und Itzen-plitze. Wo bleiben die denn, heh? Wir sitzen schon den zweiten Tag hier, wie in der Falle, und derweilen wird unser Eigentum geplündert, unsere Familie ermordet. Und dann kommen wir an die Reihe! Oder wollen Sie mit Ihren sechs Maschinengewehren gegen Hunderte und gegen Minenwerfer kämpfen? Soviel verstehe ich auch vom Krieg, wenn ich auch kein Major a. D., sondern nur Unteroffizier der Landwehr bin. Ich bin dafür, dass der nutzlose Widerstand aufgegeben und dass man sofort in Verhandlungen mit dem Aktionsausschuss der Arbeiter eintritt, ehe geschossen wird."
„Bravo!" - „Jawohl, Herr Dobberstein hat recht!" -„Aber schnell muss das sein", riefen die Bürger durcheinander.
„Schuld an allem hat nur Herr Livenkuhl, der die Arbeiter provozierte", rief eine Stimme.
„Jawohl, der Bürgermeister, und jetzt ist er verschwunden", antwortete es von mehreren Seiten.
„Warum stellen wir uns überhaupt gegen die Arbeiter? Leben wir nicht von ihnen? Unser Schaden ist schon groß genug. Wer garantiert mir, dass meine Kunden nun nicht zu den Juden gehen, weil der Gerstenberg auch im Rathaus mit dabei war", sagte der Kaufhausbesitzer. „Wählen wir also eine Kommission!"
„Eine Kommission!" - Neuhaus sah sich beiseite geschoben, aber die Wahl der Kommission machte Schwierigkeiten. Keiner wollte dabeisein. Jeder fürchtete sich, schutzlos in das unheimliche nächtliche Dunkel hinauszutreten.
„Ja, meine Herren, wollen Sie warten, bis man uns hier zusammenschießt? Dann gehe ich allein, das heißt: Einer wenigstens muss noch mitkommen", sagte der Drogist.
„Nein, du nicht, Traugott, warum denn gerade du, es sind ja genug andere da, denk doch an uns", jammerte seine Frau, ihn umschlingend.
„Verhandeln können wir ja auch gleich hier! Legen Sie sofort alle Waffen nieder, gehen Sie nach Hause und machen Sie nicht wieder solche Dummheiten, ein andermal lassen wir uns auf nichts ein", rief eine tiefe Stimme von hinten dazwischen. In den Lichtkreis der Laterne traten einige Arbeiter, die auf unerklärliche Weise hereingekommen waren.
„Ach, Herr Ruckers! Sie sind doch mit im Aktionsausschuss, Herr Ruckers, nicht wahr? - Aber wie sind Sie denn hereingekommen", fragte Gerstenberg, den Bergmann erkennend.
„Nun, durch die Türe", sagte Ruckers, gemütsruhig seine geliebte Stummelpfeife stopfend. In der Tat stand die rechte Tür sperrangelweit offen, die ausgestellten Posten befanden sich inmitten der diskutierenden Gruppe. Wo über ihr Schicksal entschieden wurde, mussten sie doch auch dabeisein. Wenige Minuten später lag unter der Freitreppe ein phantastischer Haufen von Gewehren, Stahlhelmen und Armbinden, und an Stelle der spurlos verschwundenen Bürger erfüllten Arbeiter den Rathaushof.
„So, das hätten wir ja krumm", schmunzelte Ruckers, nun aber an die Arbeit! - Genosse Einzel!"
Ein blonder Hüne mit einem hübschen Knabengesicht sprang vor und knallte militärisch die Absätze zusammen.
„Herr Oberst befehlen?"
„Ach, lass die Dummheiten sein! Also du machst sofort alle Türen zu, stellst doppelte Posten und siehst dir die Maschinengewehre an, dann meldest du dich wieder bei mir! Zur Linden geht sofort zum Aktionsausschuss Meldung machen, damit die auch 'ne Freude haben. Wo ist der Büchsenmacher? Also, Hofrichter, du registrierst alle Waffen und Munition und schaffst sie zur Neuverteilung in die Vorhalle. Mende sortiert den Proviant. Dass keiner sich selbständig ein Stück aneignet! Und wir beide wollen uns inzwischen mal das Stabszimmer ansehen."
„Na, schlecht haben die ja nicht gelebt", sagte Grothe, als sie den im ersten Stock befindlichen Raum betraten. Auf dem Tisch brannte eine Petroleumlampe, daneben lagen Stadtpläne mit Einzeichnungen und Listen sowie angebrochene Büchsen mit Schweinefleisch und Eingemachtem und Schokolade; ein Kästchen mit feinen Importzigarren und eine halb geleerte Kognakflasche standen daneben. Anscheinend war der Kommandeur gerade beim Abendessen gestört worden. „Die Stellung wird behauptet", lachte Ruckers, sich in einen Klubsessel werfend und die Beine von sich streckend; aber ein Ausruf von Grothe, der eine Nebentür aufgestoßen, ließ ihn sofort wieder aufspringen. Kisten mit Fleisch- und Obstkonserven, Zwieback, Spirituosen, Tabak und so weiter waren bis zur halben Zimmerhöhe aufgestapelt. Auf einer Plane in der Ecke lagen wohl dreihundert Kommissbrote. Ganze Säcke mit Grieß, Reis, Graupen und Hülsenfrüchten standen umher.
„Die Herrschaften haben sich anscheinend auf eine längere Belagerung eingerichtet; na, dafür werden unsere Kumpels Dank wissen", schmunzelte Ruckers. „Ich bin dafür, dass wir gleich noch etwas Brot und Fleisch verteilen. Die armen Kerle sind seit heute früh auf den Beinen und haben..."
„Was ist denn das?"
Deutlich ertönte aus dem Nebenzimmer eine Klingel. „Das hört sich ja wie Telefon an. Oder sollte das eine geheime Alarmklingel sein?" fragte Grothe, unwillkürlich in die Gesäßtasche fahrend. Das Läuten kam tatsächlich vom Telefon.
„Die Post ist doch besetzt, und die Beamten streiken!" sagte Ruckers, sich ratlos umschauend.
Wieder läutete der Apparat lang anhaltend. „Wir müssen sehen", rief Grothe entschlossen. - „Hallo?!... Ja, hier Rathaus!... Wer ist da?... Schlachthof? - Ja, hier ist nur sehr schlecht zu verstehen... Wer am Apparat ist?"...
Grothe legte die Hand auf den Sprechtrichter. „Mensch, was sage ich denn bloß?"
„Sage, hier ist Ingenieur Neuhaus. Warte mal, ich kann seine Stimme besser nachmachen", sagte Ruckers und ergriff den Hörer.
„Hier Neuhaus, wer dort?"
Wie aus dem Jenseits piepte eine matte Stimme: „Hier sind die revolutionären Swertruper Kumpels! Wir haben soeben den Schlachthof besetzt und empfehlen Ihnen dringend, das Rathaus sofort zu räumen, sonst kommen wir hin, und dann könnt ihr was erleben!"
„Mensch, das ist doch Kösfeld", rief Ruckers freudig überrascht. „Hallo, Kösfeld! - Hier Ruckers; wir haben eben das Rathaus überrumpelt. Was ist denn da
draußen los?"
„Los ist weiter gar nichts", antwortete die jenseitige Stimme. „Wir beobachteten nur und stiegen, da uns alles so ruhig vorkam, neugierig über die Mauer. Da waren die Brüder alle getürmt. Wir haben zwanzig Gewehre und eine Menge Lebensmittel gefunden. Zufällig fand ich eine Telefoninstruktion, und die hat ja auch geklappt. Das muss eine geheime Leitung sein!"
„Halte den Posten bis auf weiteres besetzt; ich komme selber per Rad raus", sagte Ruckers, den Hörer anhängend.
„Das geht ja wie geölt; nun nur noch die Post", rief Grothe hocherfreut. -„Die sitzen fest, dort kommandiert Direktor Grell, der lässt so leicht nicht locker; da werden wir wohl doch etwas einheizen müssen", knurrte Ruckers
verdrießlich.
„Wenn er erfährt, dass wir das andere alles haben, gibt der auch klein bei. Stellen wir ihm ein Ultimatum", sagte Grothe, Papier und Federhalter ergreifend. Und dann schrieb er groß und flüchtig:
An die Einwohnerwehrbesatzung
des Postamtes Swertrup.
Rathaus und Schlachthof sind heute nacht, ebenso wie der Bahnhof Swertrup, mit allen Waffen und so weiter in die Hände des revolutionären Sicherheitsausschusses übergegangen, der damit die Verantwortung für Ordnung und Sicherheit übernimmt. Wir fordern Sie hierdurch einmalig auf, die Post sowie die in Ihren Händen befindlichen Waffen, Munition und Proviant an unterzeichneten Ausschuss zu übergeben. Wir stellen Ihnen anheim, sich durch zwei Ihrer Leute, denen freies Geleit zugesichert wird, von der Wahrheit unserer Angaben zu überzeugen. Ist unserer Forderung nicht bis drei Uhr nachts entsprochen, treten unsererseits durchschlagende Argumente, deren uns genügend zur Verfügung stehen, in Aktion. Andererseits wird vollkommen freier Abzug gewährleistet.
Revolutionärer Sicherheitsausschuss.
„Du schreibst wie ein General - bloß ein Name müsste noch drunter", meinte Ruckers schmunzelnd.
„Da setz' ich den meinigen drunter; dann freut Grell sich besonders; er hat mich vom Betrieb her in gutem Andenken", lachte Grothe grimmig. Plötzlich fiel ihm noch was ein. „Das Wichtigste beinahe vergessen; bei diesem Hund muss man an alles denken." Und dann schrieb er folgenden Nachsatz:
Für jedes beschädigtes Gewehr wird ein Mitglied der Besatzung zurückbehalten, und ich bin dann nicht in der Lage, für dessen persönliches Wohlbefinden Garantie zu übernehmen. D. 0.
„Du denkst doch an alles, Junge; wenn wir dich nicht hätten und die großen Kartoffeln", sagte Ruckers und klopfte dem Kampfgenossen auf den Rücken, dass es nur so knallte.
Als sich die Swertruper den Schlaf aus den Augen gerieben hatten, erfuhren sie zu ihrer Überraschung, dass Rathaus, Schlachthof und Post in der Nacht kampflos von den Arbeitern besetzt worden waren. Rote Plakate, die auch die Übernahme der Exekutivgewalt durch den Aktionsausschuss verkündeten und gleichzeitig für nachmittags drei Uhr eine öffentliche Versammlung auf dem Hindenburgplatz ankündigten, waren bereits angeschlagen. Arbeiterpatrouillen mit umgehängtem Gewehr und roter Armbinde durchzogen die Straßen, zum nicht geringen Schrecken der Spießer, die schleunigst ihre Silber- und Schmuckkästen im Keller vergruben. Zu ihrer größten Überraschung aber ereignete sich nicht das geringste.
Die Arbeiter beseelte ein immer mehr anschwellendes stolzes Kraftgefühl. Man hatte Waffen, sich zu verteidigen, die Möglichkeit, sich damit neue zu beschaffen. Jetzt war man auch hierin der Bürgercanaille über. Ihrer Freude über den unblutigen Sieg gaben sie Ausdruck, indem sie an den Fahnenstangen der Fördertürme rote Fahnen hissten. Im Aktionsausschuss kam es darüber zu einem großen Krach mit Reese, der schärfsten Protest erhob. Der christlich organisierte Bergarbeiter Küpper brachte ihn schließlich mit wenigen Worten zur Vernunft.
„Mir gefällt das auch nicht, ich habe durchaus nichts gegen ein Verbot. Aber dann soll Kollege Reese das auch persönlich auf allen Zechen bekannt machen und sehen, was ihm dabei passiert."
Da setzte sich Reese schweigend auf seinen Platz. Auch zahlreiche Häuser, sowohl in den Arbeiterkolonien als auch in der Stadt, hatten rot geflaggt. Frau Schapulla, der noch immer der Schreck der Haussuchung in den Gliedern lag, hatte zu diesem Zweck die schöne, vier Meter lange schwarzweißrote Fahne, die seit Lüttich her bei jeder Siegesmeldung zum Giebel heraushing, zerschnitten und rot gehisst. „Wir sind immer für die Arbeiter", sagte sie zu Sukrow, dessen Zimmerfenster infolge des eingeklemmten Fahnenschaftes halb geöffnet bleiben musste. „Mit den Wölfen muss man heulen", sagte aber Herr Schapulla zu dem klerikalen Schachtmeister Psikorek aus Zimmer vier und nahm zur Frühmesse am anderen Morgen eine dicke Wachskerze für den Altar des heiligen Rochus mit.

 

11. KAPITEL

Ernst Sukrow hatte weder mit solch anhaltendem noch mit solch ruhigem Verlauf des Generalstreiks gerechnet. Schaudernd erinnerte er sich an den vorjährigen März-Generalstreik in Berlin, der sich sofort durch Geschützdonner angekündigt hatte. Hier hielten die Arbeiter ja eine geradewegs bewundernswerte Disziplin. Keine Alkoholexzesse, keine Raufereien, keine Eigentumsvergehen ! Und wie geschickt und schmerzlos sie die Waffen der Einwohnerwehr an sich gebracht hatten! Aber ob diese Ruhe anhalten würde? Wenn nun Militär einrückte? Die Arbeiter gaben doch - das hörte man allenthalben- die Gewehre gutwillig nicht wieder heraus. Sukrow, dessen Glaube und Zuversicht zur Sache der Arbeiterschaft in den letzten Wochen viele Schwankungen bis hart an die Grenze des Verzweifelns durchgemacht hatte, fühlte ein eigenartig beglückendes Gefühl der Beschämung. Wie treuherzig gut war doch dieses äußerlich so raue, harte Bergarbeitervolk! Obwohl bis an die Zähne bewaffnet, hatte es sich zu keinem einzigen Akt der Vergeltung hinreißen lassen. Und es wohnten sowohl in den Direktorvillen als auch in den Beamtenhäusern eine ganze Anzahl Herren, die alle Ursache zu derartigen Befürchtungen hatten und die dieserhalb vielfach die unglaublichsten Verstecke und Verkleidungen wählten. Aber niemand kümmerte sich um sie. Ja, der Sicherheitsausschuss stellte sogar vor den Eingang der Villa des verhassten Direktors Buchterkirchner einen Doppelposten, weil dieser Herr im Angedenken an sein provokatorisches Verhalten gegenüber der Belegschaft von „Beate" den Sicherheitsausschuss flehentlich darum bat.
Gern hätte sich auch Sukrow zur Verfügung gestellt. Angesichts des Massenandranges und Eifers der Arbeiter sah er aber seine Überflüssigkeit ein und beschloss, die gewonnene freie Zeit zum Studium zu benutzen.
Frau Schapulla hatte beim Aushängen der Fahne endlich Gelegenheit gefunden, ihre Wünsche betreffs ihres Tönnies anzubringen. Sukrow war nicht gerade erbaut, dem verwahrlosten Schlingel Nachhilfestunden zu erteilen, am allerwenigsten dieser aber selbst. Als er davon hörte, verschwand er spurlos und ließ sich den ganzen Dienstagmorgen nicht sehen.
Das warme, sonnige Frühlingswetter veranlasste schließlich auch Sukrow zu einem Spaziergang. Noch niemals hatte er das Fehlen der Natur in und um Swertrup so schmerzlich empfunden wie an diesem Frühlingsvormittag. Er wanderte über eine Stunde nach Könkern zu hinaus, aber nirgends traf er Wald oder frischgepflügte Felder. Überall nur Häuser und Fabriken, unterbrochen von Schienensträngen, Brachen und Schuttabladeplätzen, an deren Saum sich stellenweise kümmerliche Schrebergärten befanden.
„Wächst denn hier etwas? Der Boden sieht ja mächtig mager aus", fragte er einen Arbeiter, der in Hemdsärmeln die Schollen umwarf.
Der Mann stützte sich aufatmend auf seinen Spaten. Wachsen?... Ach, du lieber Gott, das verlohnt nicht die Arbeit. Der Boden ginge ja noch, da kann man düngen, und Gießwasser haben wir auch gleich da drüben." Er zeigte auf einen länglichen Teich mit seltsam steil abgezackten Ufern.
,Das ist eine Bruchstelle; hier unten durch gehen die alten Stollen von ,Beate'; die sacken noch manchmal nach, weil früher die Hohlräume nicht wieder mit Abraum angefüllt wurden, und dann sammelt sich das Grundwasser", erklärte er, gleich erkennend, keinen Hiesigen vor sich zu haben. „Aber was soll denn hier wachsen, wo die Zechendünste alles vergiften? Die Bohnen werden, ehe man sie abnehmen kann, ganz fleckig, und im Kohl hat man mehr Kohlenstaub als Blätter. Wenn es regnet, schlägt sich aus der Luft alles
nieder."
„Ja, aber warum rackern Sie sich denn hier ab?" wunderte sich Sukrow.
Der Arbeiter lächelte melancholisch. „Das macht man so nur zum Zeitvertreib, und weil der Arzt mir Bewegung in frischer Luft verordnet hat. Ich hab's nämlich hier zu sitzen." Er deutete auf seine eingefallene Brust. „Steinstaublunge! Zweimal war ich schon verschickt, unten im Sauerland. Ja, da ist die Luft gut, alles Berge und Wälder, und dann die Ruhe! Da habe ich mich auch immer schön erholt, aber kaum bin ich wieder zu Hause, geht es wieder mit dem entsetzlichen Husten los. Die Grubenarbeit bringt einen Menschen um, sag' ich Ihnen."
„Da wird Ihnen die Luft hier, die nicht mal den Pflanzen bekommt, auch nicht wohl tun", bemerkte Sukrow, dem der Schwindsüchtige Leid tat.
„Ja, was soll man machen? Weg von hier wäre wohl das Beste. Ich bin ja auch nicht von hier. Wir sind aus dem Waldenburgischen. Da ist die Luft ja besser als im ,Pütt', und man kann schöne Touren machen. Aber von der guten Luft kann man auch nicht leben. Die Hauer verdienen dort ja rein nichts; da versuchten wir es hier."
„Und sind Sie denn wenigstens hier weiter gekommen?"
Der Kumpel hustete, spuckte umständlich aus und sagte, langsam weiter grabend: „Es ist, genau besehen, gehuppt wie gesprungen. Ein armer Deibel kommt nirgends auf einen grünen Zweig; dafür ist schon gesorgt." Sukrow empfand ein eigenartiges Würgen in der Kehle, wünschte einen guten Tag und schritt gedankenvoll weiter. Als er im großen Bogen zur Stadt zurückkehrte, kam ihm quietschend ein vierrädriger Karren entgegen. Obendrauf saß ein kleines Mädchen mit einer Peitsche, mit der es den alten Mann, der sich vorgespannt hatte, lustig antrieb. „Hüh, Pferdchen, hüh", schrie es immer wieder und wollte sich schier totlachen, wenn das zweibeinige Pferd einige lahme Sprünge machte.
Als Sukrow herankam, richtete sich der Karren-zieher auf; es war der alte Hövelmann. „So muss man sich schinden, wenn man Großvater wird", sagte er, lachend dem jungen Mann die Rechte hinreichend.
„Was haben Sie denn geladen, Vater Hövelmann?"
„Karnickelmist, fett und delikat, den bringe ich nach meinem Rittergut; das hier ist mein Enkelchen. Komm, Hannchen, schenk dem Onkel die Hand." Das Kind sah mit seinen dunklen Augen, die unnatürlich tief lagen, auf und streckte zögernd das schmutzige Händchen aus. „Nun, nicht doch so schüchtern, mein Häschen, der Onkel tut dir ja nichts", ermunterte es der Alte und fuhr dann entschuldigend fort: „Klug ist sie schon wie eine Fünfjährige und war doch Lichtmeß erst drei Jahr. Bloß laufen kann sie noch nicht viel. Die Beinchen knicken immer wieder zusammen. Der Doktor sagt, das sei von ,Raschitis' und verschreibt Lebertran, aber den nimmt sie man nicht! Milch und Kalbsbrühe und frische Eier sollen ja auch gut sein, bloß das ist alles so sündhaft teuer. Ja, wenn ihr Vater, der Alfred, noch lebte! Der war Maschinist auf der Gute-Hoffnungs-Hütte und verdiente ein schönes Stück Geld. Aber beim Rückzug aus Flandern ist er geblieben. Da ließ ich seine Familie nach hier kommen. Die Marie, was meine Schwiegertochter ist, arbeitet auf ,Deutsche Erde' als Kohlensortiererin, denn von dem bisschen Rente kann sie mit ihren fünf Kindern ja nicht leben."
So plauderte der Alte mit seinem gutmütigen Lächeln, während er die Zugstränge wieder in Ordnung brachte. „Und was ich dann noch fragen wollte, Herr Sukrow: Wie lange wird denn das mit dem Streik wohl noch dauern? Man wird ja ordentlich bange. Das geht nun schon seit Sonnabend, und nichts rührt sich. Man braucht doch Geld zum Leben."
„Ja, Vater, das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Das hängt wohl von denen in Berlin ab. Wir müssen eben aus- und durchhalten, genau wie im Krieg, der hat ja sogar viereinhalb Jahre gedauert. Aber so lange dauert der Generalstreik sicher nicht", beeilte er sich hinzuzusetzen, als er das bestürzte Gesicht des Invaliden sah. „Ja, das hilft wohl dann nichts - also adjüs denn,... hüh!"
Der Alte nahm seine Zugleine wieder auf und machte einen Sprung. Noch eine ganze Weile hörte Sukrow das Quietschen des Karrens und vernahm das lachende „Hüh, Pferdchen, hüh!" des Kindes.
Auf der Ratinger Straße hörte er sich plötzlich beim Namen rufen. Vor ihm stand Kuhlenkamp, den er seit dem Werbeabend für den Rugardbund nicht mehr gesehen hatte.
„Ach, das nenne ich ein Glück, gerade Sie zu treffen. Gestatten Sie einen Augenblick; es handelt sich um etwas Wichtiges", sagte der Schmissige, seinen Arm nehmend.
„Ich hab's gerade etwas eilig", wich Sukrow aus, dem diese Begegnung nichts weniger als sympathisch war. Aber der andere schien den Einwand einfach zu überhören und zog ihn in das Hinterzimmer eines nahe gelegenen bürgerlichen Restaurants. Nachdem er sorgfältig die Tür zugemacht und Sukrow auf einen Stuhl genötigt hatte, begann er mit gedämpfter Stimme:
„Sagen Sie mal, verkehren Sie noch mit der kleinen Oversath von damals, wissen Sie noch, auf dem Einwohnerwehrball?"
Sukrow, der wie auf Kohlen gesessen hatte, sprang ärgerlich auf. „Darum schleppen Sie mich hierher? Bedaure sehr, in derartigen Zeiten hat man doch wichtigere Dinge im Kopf!"
„Aber ja doch, das ist es ja eben", suchte ihn Kuhlenkamp zu beschwichtigen. „Also lassen Sie sich doch erklären. Vielleicht wissen Sie es gar nicht. Der alte Oversath ist doch mit in dem roten Aktionsausschuss. Für uns ist es natürlich äußerst wichtig, Einzelheiten über seine Pläne und Verbindungen, vor allem aber über seine Waffenvorräte zu erfahren. Der Nachrichtendienst hier klappt einfach gottvoll. Was unsere Leute da für Schauergeschichten mitbringen, geht auf keine Kuhhaut. Da hat mich nun zugeteilt, weil ich doch hier von der Geschichte überrascht wurde und nicht nach Oberhausen zurück konnte. War gerade wieder mal dienstlich hier wegen des Grubenunglücks auf ,Hasdrubal'. Also, man tut, was man eben kann. Wenn man nur an die Mädels herankönnte? Die Meinige, die Lucie, die schreibt nämlich für den Aktionsausschuss. Hätte ich eine Ahnung gehabt, dass das so schnell losgeht - wir rechneten alle erst auf Ende April -, dann hätte ich mir ja die Kleine etwas wärmer gehalten, obwohl das eigentlich gegen mein Prinzip ist. Wissen Sie, solch Proletenmädel muss man mit einem Male erledigen, sonst werden sie nachher zu anhänglich. Ich könnte Ihnen da eine lehrreiche Geschichte erzählen..."
„Bleiben Sie doch bitte bei der Sache", ermunterte Sukrow, der jetzt nur mit Mühe seine Spannung verbergen konnte.
„Die Mädchen sind natürlich politisch doof. Die Lucie hat mir zum Beispiel erzählt, dass sie fleißig zur Messe und Beichte geht, was sie aber nicht abhält, ein kapitaler Betthase zu sein. Ich denke, wenn man nicht gar zu ungeschickt vorgeht, müsste es gelingen, Abschriften von Protokollen, Listen, Befehlen, Verbindungen und so weiter zu erhalten. Geld spielt hierbei keine Rolle. Was meinen Sie dazu?"
„Gewiss, gewiss - aber ich muss doch gestehen, dass ich Weibern in solchen Dingen kein allzu großes Geschick zutraue", antwortete Sukrow, nur um etwas zu sagen. In seinem Hirn begann es fieberhaft zu arbeiten, wie diese Verbindung wohl zum Nutzen für die Arbeitersache auszuwerten sei.
„Oh, das sagen Sie nicht. Was das Geschick anbetrifft, da ist ja doch unsere Meisterin, die schöne Gisela, ein lebendiger Beweis. Wie die unterirdisch wühlt und schafft, Freunde gewinnt, Verbindungen knüpft, Dinge auskundschaftet, das ist direkt zum Staunen. Sie hat bereits eine Verbindung zum Aktionsausschuss, aber die genügt noch nicht. Seit gestern abend ist sie in streng vertraulicher Angelegenheit in Düsseldorf."
In Sukrow stieg es siedend heiß hoch. „Nach Düsseldorf? Wird sie denn da glücklich durchkommen? Bahnen verkehren nicht, und der Autoverkehr ist doch verboten?"
Der Assessor lachte. „Dazu braucht man eben Verbindungen - doch das ist nicht unsere Sache. Vielleicht ist sie morgen schon zurück, und da möchte ich auch ihr gegenüber gern mit etwas Positivem aufwarten. Unter uns gesagt" - der Lange rückte näher - „ich bin daran nicht ganz uneigennnützig interessiert. Die schöne Gisela nämlich... ich habe Grund zu der Annahme, dass ich ihr nicht gleichgültig bin. Und wenn ich mich hier in ihren Augen ein wenig auszeichnen könnte, ich glaube, ich hätte dann die besten Chancen. Ich sag' dass Ihnen nur, damit - Sie verstehen doch - sie nicht erfährt, dass auch Sie dabei etwas mitgewirkt haben. Ehrenwort? — Also ich danke Ihnen herzlich, und wenn ich Ihnen mal behilflich sein kann, mit Geld oder sonst was..."
„Ich werde mein möglichstes tun und Ihnen Bericht schicken! Wo ist Ihr Hauptquartier, damit ich Sie ständig auf dem laufenden halten kann", fragte Sukrow mit erkünstelter Gleichgültigkeit.
Kuhlenkamp blickte ihn argwöhnisch an.
„Das weiß ich selber nicht, und wenn ich's wüsste, dürfte ich's Ihnen, weil Sie nicht zum engeren Ring gehören, nicht sagen. Alles geht streng konspirativ. Aber heute abend bin ich um sieben Uhr hier in diesem Zimmer. Falls Sie jemand schicken, lassen Sie nach Herrn Rotdorn fragen. Hier haben Sie also für vorläufig fünfhundert Mark. Aber vorsichtig sein, nicht alles mit einem Male anbieten, damit der Appetit beim Essen kommt."
Gut", sagte Sukrow aufstehend, „das wird genügen. Hoffentlich schaffen wir alles."
,Wir haben die besten Nachrichten", sagte Kuhlenkamp wichtigtuerisch. „General Watter ist zur Stunde mit seinen Truppen schon auf dem Anmarsch. Hagen, wo die Roten eine tolle Räteherrschaft eingerichtet haben, soll zuerst zerniert werden. Im Reich stehen weitere Verstärkungen bereit, die anrücken, sowie man die Eisenbahner wieder zur Arbeit bekommen hat. Mit der Entente sind bereits Verhandlungen wegen Einmarschs in die 50-Kilometer-Zone eingeleitet worden. Sowie das in Ordnung ist, geht es konzentrisch vor. Bis dahin müssen wir eben durch Auskundschaftung des Gegners alles vorbereiten. Alles, was hier sonst entbehrlich ist, soll sich als Zeitfreiwilliger nach Essen begeben."
„Ich hatte auch schon die Absicht", log Sukrow.
„Nein, Sie müssen bleiben, diese Arbeit ist wichtiger als hundert Mann", betonte Kuhlenkamp, ihm zum Abschied die Rechte schüttelnd.
Sukrow überlegte draußen einen Augenblick, wohin er sich wenden solle, schlug dann kurz entschlossen den Weg zum Volkshaus ein. Vor einer Reklamesäule drängte sich eine große Menschenansammlung vor einer mit Blaustift geschriebenen Bekanntmachung des Aktionsausschusses. Jemand las mit buchstabierender Stimme vor - was aber die Hintenstehenden nicht verstehen konnten, zumal fortwährend lautjubelnde Beifallsäußerungen einsetzten.
Es musste etwas Außerordentliches geschehen sein, denn die Leute gebärdeten sich teilweise wie toll, schrieen Bravo und gestikulierten mit den Fäusten. Endlich gelang es Sukrow, sich unter rücksichtsloser Anwendung der Ellenbogen nach vorn durchzuarbeiten und mit eigenen Augen den Bericht über die Vernichtung eines Teiles des Freikorps Lichtschlag in Herdecke und Wetter zu lesen. Die gegen Hagen angesetzte Kompanie Hasenclever, die sich offen für Lüttwitz erklärt hatte, war dort nach erbittertem Straßenkampf in dem engen Ruhrtal völlig aufgerieben, die Kompanie Lange gefangen genommen worden. Allein in Wetter waren dabei vierundsechzig Kappisten gefallen, die Arbeiter zählten nur sieben Tote. Zahlreiche Waffen und Munition, darunter eine gefechtsfertige Batterie, waren erbeutet worden. Sukrow nahm sich keine Zeit zum Diskutieren. Was er hier soeben erfuhr, deckte sich völlig mit Kuhlenkamps Auskünften. Die Würfel waren gefallen, die Kappisten machten Ernst, den Generalstreik der Ruhrarbeiter im Blute zu ersticken. Während die Divisionen schon im Anmarsch waren, spannten hier bereits Spionage und Verrat ihre Netze, um die Abwehr zu verhindern.
Es war gar nicht so einfach, bis zum Aktionsausschuss vorzudringen. Den Eingang des Volkshauses hielten bewaffnete Arbeiter versperrt. Sukrow zeigte sein Parteibuch. „Das kann jeder haben", sagte der Kumpel seelenruhig und machte keine Miene, beiseite zu treten.
„Aber ich habe eine wichtige Meldung über die Kappisten zu machen", rief Sukrow schon ärgerlich.
„Das ist dann was anderes, ersten Stock, Zimmer 14", antwortete der Posten, den Eingang freigebend.
„Du bist ein tüchtiger Kerl. Wenn jemand ein Parteibuch zeigt, dann versperrst du ihm den Weg. Sagt er aber, er habe eine wichtige Meldung, so gibst du ihm den Weg frei. Das ist reichlich unvorsichtig, wo jetzt überall Spitzel umherschnüffeln."
Der Mann machte ein dummes Gesicht. „Ich kann dir ja jemand mitschicken,... ich denke nur, wenn einer so sicher kommt."
Sukrow ließ ihn stehen und ging nach oben, wo er vor dem Zimmer auf ein neues stärkeres Hindernis in Person eines buckligen Arbeiters stieß, der gemütlich sein Pfeifchen rauchte.
„Wenn du jemand sprechen willst, musst du in eineinhalb Stunden wiederkommen, jetzt ist Sitzung", sagte er, sich in voller Breite vor der Tür aufpflanzend.
„Aber es handelt sich um etwas sehr Wichtiges", suchte ihn Sukrow zu überzeugen.
„Wichtig ist jetzt alles, oder meinst du, die da drinnen sind am Karten?" antwortete der Wächter mit unerschütterlicher Ruhe.
In Sukrow kochte es hoch. „Zum Donnerwetter, seid ihr denn hier Idioten oder Menschen? Was ich berichten will, ist in eineinhalb Stunden vielleicht schon zu spät. Willst du etwa dafür die Verantwortung übernehmen?"
„Ich trage nur die Verantwortung dafür, dass die Sitzung nicht gestört wird, alles andere geht mich nichts an. Wenn du wirklich so was Wichtiges zu sagen hast — du siehst mir gar nicht danach aus, lieber Freund - dann sag es nur mir."
Mit einem derben Stoß warf Sukrow den schwerfälligen Menschen beiseite und griff nach der Klinke, fühlte aber seine Handgelenke sofort von zwei eisernen Fäusten umklammert. Im nächsten Augenblick ging die Tür auf. Max Grothe stand vor ihm mit erstauntem Gesicht.
„Ihr habt ja hier einen schönen Zerberus vor die Tür gestellt. Seit einer Viertelstunde erkläre ich ihm, dass ich euch eine sehr wichtige Meldung zu machen habe, und dieser Schafkopf sagt, ich soll in eineinhalb Stunden wiederkommen", schimpfte Sukrow.
„Ist es denn so eilig? Na, dann komm herein. Mach es aber kurz", raunte Grothe ihm zu.
In dem raucherfüllten Zimmer saßen wohl ein Dutzend Männer an einem Tisch.
„Genossen, ich bin soeben durch Zufall einem konterrevolutionären Anschlag gegen den Aktionsausschuss auf die Spur gekommen. Ich weiß aber nicht, ob ich in diesem großen Kreis berichten darf, oder ob es nicht zweckmäßiger ist..."
„Nur zu, erzählen Sie, was Sie wissen, wir gehören alle mit zum Aktionsausschuss", wurde er durch Kösfeld ermuntert.
„Nein, nicht, er hat vollkommen recht, nicht gleich alles breitgetreten, lasst mich erst mal hören, was es ist", rief Ruckers und schob ihn in ein leeres Nebenzimmer. Schweigend, mit zusammengebissenen Zähnen, hörte der alte Bergarbeiterführer den Kurzgefassten Bericht an. In seine Augen kam ein drohendes Leuchten.
„Es ist doch gut so, dass du nicht draußen gleich alles ausgepackt hast, aber die Meldung kommt uns ungemein gelegen. Du hast doch schon von den Kämpfen in Westfalen gehört. Man beginnt ein großes Kesseltreiben, will uns wieder abschlachten. Lies mal dieses hier, das brachte unser Mittagskurier aus Essen mit."
Ruckers entnahm seiner Brieftasche ein gedrucktes Flugblatt, dem man ansah, dass es schon durch viele Hände gegangen war. Folgende Zeilen waren rot angestrichen :
In Swertrup wütet der rote Terror! Die Arbeiterschaft hat sich aus geheimen Depots bis an die Zähne bewaffnet. Die Einwohnerwehrmitglieder wurden - soweit sie nicht rechtzeitig fliehen konnten - nachts aus ihren Wohnungen geholt, vor den Augen ihrer entsetzten Familienangehörigen gemartert und dann erschossen, soweit nicht hohe Lösegelder bezahlt wurden. Die Polizei ergab sich nach zweistündigem Feuergefecht gegen Zusicherung freien Abzuges. Nach Niederlegung der Waffen aber wurden alle meuchlings niedergemacht. Dem bei den Kommunisten besonders verhassten Polizeikommissar Becker wurde eine Dynamitpatrone in den Mund gesteckt und der Kopf auseinandergesprengt.
Plündernde Banden brandschatzten Geschäfte und Privathäuser. Der Aktionsausschuss, dem die Massen völlig aus der Hand geglitten sind, wurde durch den aus dem Gefängnis befreiten Anarcho-Kommunisten Jakob Meiring gesprengt. Meiring hat auf dem Rathaus die Räterepublik ausgerufen! Die Mitglieder des Aktionsausschusses haben sich im Verein mit der Stadtverwaltung und den Unterschriften aller Stadtverordnetenfraktionen einschließlich der USPD an das Generalkommando um sofortige Hilfe gewandt!" Sukrow sah den Alten hilflos an. Ruckers fletschte seine starken gelben Zähne. „Nicht wahr, die Leute haben eine fabelhafte Mordphantasie?"
„Ich hätte nie geglaubt, dass man auf einem Fetzen Papier so viel Lügen zusammenbringen kann", flüsterte Sukrow völlig fassungslos.
„Ja, das ist das berühmte System Noske! In Lichtenberg mussten auch die angeblich ermordeten dreihundert Schutzleute herhalten, um einen Vorwand zu den Märzschlächtereien und Standgerichten zu geben. Genauso wird jetzt die Pogromstimmung gegen uns vorbereitet. Dieses Flugblatt - es stehen von den anderen Orten ähnliche Geschichten drin - wird nun nicht nur an das Militär verteilt, sondern auch durch Flugzeuge abgeworfen."
„Aber das glaubt ihnen ja doch kein Mensch", rief Sukrow voller Zuversicht.
Ruckers kniff vielsagend ein Auge zu. „So, meinst du? Du warst doch vergangenes Jahr in Berlin. Hand aufs Herz, hast du die Lichtenberger Gräuelgeschichte von den dreihundert abgeschlachteten Polizisten geglaubt? -Ja oder nein?"
„Die ersten Tage allerdings!"
„Na also! - Aber so leicht wird es den Bluthunden diesmal nicht gemacht. Wir werden uns wehren! Die in Wetter und Dortmund haben bereits den Anfang gemacht", sagte Ruckers, das Blatt wieder sorgsam wegsteckend.
„Das wäre ja furchtbar, wenn es hier auch zu Straßenkämpfen käme", erschauderte Sukrow, denn die Schreckensbilder aus Lichtenberg traten ihm wieder deutlich vor Augen. „Aber", setzte er zuversichtlich hinzu, „die Regierung wird Mittel und Wege finden, das zu verhindern. Hier ist doch alles ruhig, und Lügen haben kurze Beine. Kapp wird klein beigeben müssen, wenn die rechtmäßige Regierung ein zuverlässiges Heer gegen ihn zusammengebracht hat. Habt ihr noch keine Nachrichten aus Berlin?"
Ruckers überhörte die letzte Frage. „Du bist noch immer der alte Phantast, der auf Gott und Ebert vertraut. Mancher begreift's eben nie! Die Regierung und ein republikanisches Heer? Ja, woher denn nehmen?
Wenn es nur darum ginge, die Kappisten zu schlagen, brauchten sie doch nur uns freie Hand lassen. Wir würden schon allein fertig. Aber davor haben sie ja am meisten Angst. Sonst hätten sie uns ja erst gar nicht zu entwaffnen brauchen und die Konterrevolution zu bewaffnen- Wir vertrauen auf nichts weiter mehr als hierauf", er zeigte seine schwieligen Fäuste.
„Und was willst du betreffs der Spionageangelegenheit tun?" erinnerte Sukrow an den eigentlichen Zweck seines Kommens.
Ruckers klatschte sich an die Stirn. „Da vergessen wir über das Quatschen fast die Hauptsache; ich bin nämlich schon halb meschugge. Seit Sonnabend habe ich, wenn es hoch kommt, zehn Stunden geschlafen. Warte mal einen Augenblick!" - Er kehrte gleich darauf mit Kösfeld, Grothe und zur Linden zurück, Sukrow musste noch einmal kurz sein Erlebnis erzählen.
„Den Burschen werden wir uns greifen. Wenn man ihm ein bisschen Angst macht, wird er schon alles gestehen", sagte zur Linden entschlossen.
„Das wird wenig nützen, denn bis er wirklich gestanden hat, haben seine Komplicen Zeit, sich aus dem Staube zu machen und irgendwo einen neuen Laden aufzuziehen", zweifelte Grothe.
Plötzlich begann Kösfeld laut eine Karnevalsweise zu pfeifen, dass sich alle erstaunt nach ihm umsahen. „So muss es gehen", sagte er mit einem Gesicht, als habe er eine wichtige Entdeckung gemacht. Und dann raunte er seinen Genossen einige Worte zu, absichtlich so leise, dass Sukrow, der den argwöhnischen Blick des kleinen Mannes bemerkte, nichts verstehen konnte. Seine Idee musste wirklich etwas für sich haben, denn über Ruckers' verwettertes Gesicht hüpfte ein schadenfrohes Grinsen, zur Linden verzog den Mund, dass die Ohren Besuch bekamen, Grothe aber klatschte vor Freude in die Hände.
„Das muss Max machen, der kann von uns allen am besten schwindeln", sagte Ruckers.
Kösfeld flüsterte wieder einige Worte, aber Rucker8 sagte absichtlich laut:
„Betreffs des Genossen Sukrow bürge ich. Grothe kennt ihn übrigens auch schon länger. Natürlich muss er als Verbindungsmann wissen, was wir für Berichte machen, sonst trifft er eines Tages seine Auftraggeber, und er weiß dann gar nicht mal, was er geschrieben hat."
„Recht hast du, Pidderchen!" - Kösfeld reichte Sukrow herzhaft die Rechte.
„Wenn die beiden Genossen für Sie bürgen, muss mir das genügen, auch wenn ich Sie persönlich nicht kenne. Misstrauen ist nun einmal in solcher Kampfsituation unentbehrlich, da wir auf Schritt und Tritt von Spitzeln umgeben sind und man keinem Menschen seine Ehrlichkeit an den Augen ablesen kann."
„Wir wollen zum Schein auf die Geschichte eingehen und fortlaufend Berichte schicken, die unsere Feinde irreführen", erläuterte Grothe.
„Auf diese Weise haben wir nämlich auch die Einwohnerwehr zermürbt. Die dummen Kerls wussten zuletzt vor lauter Gespenstern nicht mehr, ob sie Jungens oder Mädels waren", fügte Ruckers hinzu.
Sukrow begriff plötzlich. „Darum auch das Gerede in der Stadt von den Minenwerfern und den Angriffen auf das Rathaus und die Post? - Nun wird mir erst vieles klar!"
Die fünf Männer brachen in ein schadenfrohes Gelächter aus.
Dann gleich los damit, ich werde der Lucie diktieren. Du kommst gleich mit", sagte Grothe in seiner kurz entschlossenen Art und winkte Sukrow. Auf dem Korridor aber kamen ihm Bedenken betreffs der Maschinistin.
Warte mal hier einen Augenblick!" -
In wenigen Sekunden kam er mit fröhlichem Gesicht zurück. „Mary Ruckers schreibt auch Maschine, und sie ist sogar hier im Hause."
In einem Zimmer des Erdgeschosses fanden sie die Gesuchte damit beschäftigt, gemeinsam mit einigen Männern und Frauen einen Berg gesammelten Verbandmaterials zu sortieren. Auf einem Tisch standen Flaschen mit essigsaurer Tonerde und Sublimatlösung. An der Wand lehnten einige Krankentragen. Es roch nach Lysol und Jodoform.
„Kannst du mal eine halbe Stunde abkommen?" fragte Grothe. Sie band ihre weiße Schürze ab und folgte nach oben. Mit einigen Worten komplimentierte er Lucie Oversath, die sich die Langeweile gerade mit einem Schundroman vertrieb, hinaus und begann - mit großen Schritten auf und ab gehend - zu diktieren. Als er fertig war, ging er hinaus, um sich mit den Genossen nochmals zu besprechen. Sukrow blieb mit dem jungen Mädchen allein.
„Sie halten also auch mit uns?" fragte sie mit einer Verwunderung im Ton, die ihn kränkte.
„Kommt Ihnen das so überraschend?"
„Offen gestanden ja, nach Ihren früheren Reden und Ansichten zu urteilen! Aber ich habe ja schon gehört, Sie sind Sozialdemokrat geworden, und die machen ja auch mit. - Vorläufig wenigstens noch", setzte sie hinzu.
Er verstand die Anspielung und antwortete in gereiztem Ton: „Wenn ich mit dabei bin, so folge ich nicht den Anweisungen irgendeiner Partei, sondern weil ich die Sache der Arbeiterschaft für richtig halte. Und was meine früheren Äußerungen anbetrifft - nun, ich bin nicht feige, einzugestehen, dass ich inzwischen eine ganze Menge zugelernt habe. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen."
„Sie nehmen mir meine Worte doch nicht übel, so war es jedenfalls nicht gemeint", sagte sie, ihn mit ihren dunkelbraunen Samtaugen bittend anblickend.
„Sie müssen Geduld mit mir haben, jeder Mensch ist doch ein Produkt seiner Erziehung und Umgebung", antwortete er mit niedergeschlagenem Blick. „Sie kennen doch mein Leben, Mary, und ich hatte eigentlich zu Ihnen Vertrauen, ich war davon überzeugt, dass Sie mich begreifen werden."
Mary tippte auf der Maschine spielend hin und her. „Sie sagten, gerade zu mir hätten Sie Vertrauen, warum denn gerade zu mir?" fragte sie mit leiser Stimme.
Er wurde verlegen, wusste nicht, was er auf diese peinliche Frage antworten sollte. Schließlich wählte er eine harmlose Deutung: „Nicht nur Sie allein, Mary, es schmerzt mich allgemein, wenn ich immer verkannt werde, auch von Hannes, Ihrem Vater, Max und den anderen."
„Ach so!" - Er bemerkte kaum die Enttäuschung, die aus diesen beiden Worten klang, denn sie stand auf und begann in völlig verändertem Ton: „Das kann ich wohl verstehen, übrigens ist das Verkanntsein unsererseits sicher nicht so groß, als Sie annehmen. Vater zum Beispiel hält große Stücke auf Sie. Er sagt..."
„Was sagt er?" fragte er neugierig, da sie plötzlich wieder abbrach. Sie blickte ihm groß und frei in die Augen.
„Dass Sie noch den Weg zu uns finden werden!" Sukrow musste erst mehrmals schlucken - er dachte in diesem Augenblick an ein anderes Mädchen und eine andere Partei - dann gab er sich einen aufrechten Ruck.
„Sie sehen, Ihr Vater hat nicht so Unrecht. Ich habe lange gekämpft und geschwankt, und mit mir und anderen gerungen, ehe ich richtig klar sehen konnte. Jetzt liegt mein Weg ziemlich frei und offen vor mir, und wenn ich auch noch kein Unabhängiger bin, so bin ich doch auch kein Sozialdemokrat mehr. Lassen Sie mir Zeit! — Ich bin nun mal ein Mensch mit etwas langer Leitung, aber wenn es bei mir erst mal durch ist, dann..." Ihre Augen leuchteten freudig auf.
„So gefallen Sie mir besser, als wenn Sie für diese Geldsackrepublik Kohle picken wollen."
Grothe kam mit vergnügtem Gesicht zurück. „Alles in Ordnung, den Brief schicken wir um sieben Uhr nach dem verabredeten Lokal. Selbstverständlich lassen wir es unauffällig beobachten, vielleicht, dass wir diesem mysteriösen Herrn Rotdorn auf die Spur kommen. Jetzt aber ist es Zeit, nach dem Hindenburgplatz zur Kundgebung zu gehen. Man weiß schon gar nicht mehr, wo einem der Kopf steht."
„Das wackere Mädel arbeitet auch unablässig", sagte er, als sich die Tür hinter Mary schloss. „Es ist immerhin ein Trost, zu wissen, dass auch barmherzige Geister in unseren Diensten sind."
„Ich würde mich auch gerne irgendwo zur Verfügung stellen", sagte Sukrow mitgerissen.
Grothe sah ihn aufmerksam an. „Du warst doch Offizier oder Offiziersaspirant? Solche Leute können wir noch gebrauchen, wenn wir mit unserer Arbeiterwehr durchdringen. Wir wollten von Anfang an den Selbstschutz der Arbeiter durchführen, aber Reese und Oversath waren dagegen. Sogar die Entwaffnung der Einwohnerwehr geschah gegen ihren Willen. Wir sollten uns lediglich mit einer Art Einwohnerwehrersatz begnügen, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen."
„Gegen die militärischen Organisationen werdet ihr damit aber nichts ausrichten", fiel ihm Sukrow ins Wort.
„Das ist es ja, was die nicht einsehen wollen", rief Grothe aufgebracht. „In Wirklichkeit wissen sie natürlich ganz genau, dass wir recht haben, aber sie wollen vermeiden, einen Schritt weiterzugehen, als ihren famosen Obergenossen recht ist. Sogar ein Teil ihrer eigenen Genossen ist gegen diese Bremser. Jetzt, wo die Nachrichten aus Westfalen den ganzen Ernst der Situation aufzeigen, müssen wir durchdringen. Und wenn nicht - nun, dann nehmen wir die Sache selbständig in die Hand. Der Meiring bestürmt uns schon fortgesetzt mit der Forderung: Aufruf zur Bildung einer roten Armee! Und er hat sehr viel Anhang unter den Arbeitern, vor allem bei denen von ,Beate'. Wir sind lediglich aus politischen Gründen gegen den Namen. Wir nennen es ,Arbeiterwehr'; die Hauptsache ist eine regelrechte militärische Gliederung, Einteilung und Disziplin."
„Da hast du vollkommen Recht, daran fehlt es anscheinend auch hier im Aktionsausschuss. Ihr müsst vor allem die Aufgaben spezialisieren, euch einander ablösen, sonst seid ihr physisch fertig, wenn es wirklich hart auf hart kommt."
„Ich habe schon veranlasst, dass da eine Änderung geschaffen wird. Aber wie steht es nun mit dir? Uns fehlt es an militärischen Fachleuten. Ich habe zwar auch meine vier Jahre Kriegserfahrungen und mich theoretisch oft und viel mit der Formierung einer Arbeiterarmee befasst.
Wenn´s so weit ist, werde ich wohl den Führer machen müssen, aber ich würde lieber einem anderen, der da mehr Erfahrungen hat, Platz machen oder möchte ihn wenigstens als Sachverständigen zur Seite haben."
Sukrow fühlte sich geschmeichelt. „Ich habe im Kriege mehrmals Kompanien geführt."
Also darüber sprechen wir noch! Und bis dahin Heil und Sieg! Auf Wiedersehen, Ernst!"

 

12. KAPITEL

Die Nachmittagskundgebung auf dem Hindenburgplatz war womöglich von einer noch größeren Menschenmenge als die des vergangenen Sonnabends besucht. Die Nachrichten vom Angriff der Watterschen in Westfalen taten ihre Schuldigkeit. Umso enttäuschter waren die Arbeiter, als sie wiederum nur allgemeine politische Redewendungen hörten. Nach Schluss der Ansprachen bildeten sich überall lebhaft diskutierende Gruppen. Meiring hatte mehrere hundert Zuhörer um sich.
„Brüder", rief er in seiner von Fanatismus durchglühten Art, „in Dortmund und Remscheid kämpfen unsere Brüder auf Leben und Tod, und wir halten die Hände im Schoß und lassen uns mit Redensarten besoffen machen. Der Aktionsausschuss tut nichts als quatschen und nochmals quatschen. Wo bleiben denn die Taten? Wir wollen endlich Taten sehen, ehe es wieder zu spät ist."
„Was machst du denn, Köbes, du quatschst doch auch bloß den ganzen Tag; wo sind denn deine Taten?" fragte ein stämmiger Westfale vortretend.
Meiring wurde vor Wut kreidebleich, nur seine Augen funkelten wie die einer Katze. „Ich, Genossen? – Ihr kennt mich doch. Ich rüttle die Massen auf, jawohl, damit sie nicht einschlafen."
„Aufhetzen tust du sie, Köbes, Uneinigkeit säst du wieder, warum bringst du keine praktischen Vorschläge?" fragte der andere furchtlos, obwohl sich drohende Fäuste gegen ihn erhoben.
Wir haben Bewaffnung des Proletariats und Aufruf der ,Roten Armee' verlangt", schrie Meiring gereizt.
„Verlangt? Verlangen kannst du alles. Hast du auch was besorgt? - Aber wir haben uns Waffen besorgt! Von der Einwohnerwehr, sind denn das keine Taten? Und damit werden wir uns auch wehren, wenn es drauf ankommt. Oder willst du mit dem Flugzeug nach Dortmund fliegen, um dort zu helfen? Die werden sicher allein fertig", entgegnete der Westfale unerschütterlich.
Es bildeten sich zwei Parteien, eine für, die andere gegen den Aktionsausschuss. Plötzlich turnte ein Arbeiter auf die Schulter des anderen.
„Genossen", schrie er mit überlauter Stimme, „ich bin zwar noch nicht lange in Swertrup, aber ich wundere mich, dass ihr so ruhig bleibt. Bei uns in Oberschlesien geht das ganz anders. Da reden die Bergsklaven nicht lange, sondern schlagen dazwischen. Ihr seid ja doch keine Kinder! Aber ihr lasst euch wie Kinder behandeln. Meiring hat vollkommen Recht, der Aktionsausschuss ist keinen Schuss Pulver wert. Wir wollen frei sein! Wir brauchen keine Bonzen! Wir wollen eine rote Ruhrrepublik, eine Räteregierung, wie in Russland! Wir streiken und streiken, dabei kommt doch nichts heraus! Derweil wir verhungern, halten es die Dickköpfe noch immer aus. Die haben Küche und Keller voll und lachen sich ins Fäustchen. Warum gehen wir nicht hin und nehmen uns das, was sie uns gestohlen haben? - Wer will uns denn daran hindern? - Der Aktionsausschuss mit seiner roten Einwohnerwehr? Diese Hampelmänner sollen nur kommen!"
„Bravo! Bravo!" tönte es von mehreren Seiten. Der Sprecher glitt aalglatt von seiner lebenden Kanzel herab.
„Verdammt, wenn das nicht ein Spitzel ist", knirschte der Westfale und schob sich näher heran.
„In vielem hast du ja recht, Kollege. Wo arbeitest du eigentlich?"
„Ich? - Ich bin erst hier hergekommen", stotterte der andere und suchte seine Hand freizubekommen.
„Ja, das merkt man, fragt sich bloß, wer dich Luder geschickt hat, uns hier gegeneinander zuhetzen", rief der Westfale.
„Was willst du von dem Kollegen?" - „Lass den Mann los!" - „Recht hat er!" -
Der Westfale sah sich von drohenden Gestalten umringt.
„Ein Lockspitzel ist es, den müssen wir feststellen", rief er, aber ein wuchtiger Faustschlag unter den Ellbogen zwang ihn, loszulassen.
„Ihr Esel, haltet den Kerl, er ist ein Agentprovokateur, seht euch nur seine Hände an, die haben ihr Leben lang noch keine Haue angefasst", fluchte der Arbeiter, sich seinen vor Schmerz gelähmten Arm haltend. Alles rief und lief durcheinander, und in dem Tumult gelang es dem Spitzel und seinen Helfern, unterzutauchen.
Vor der Villa des Zechendirektors Buchterkirchner standen noch immer die beiden vom Aktionsausschuss bestimmten Arbeiterposten mit geladenen Gewehren. Die Villa selbst, ein protziger Barockbau mit überdachter Autoauffahrt, lag in schweigendem Dunkel. Nur in einem Zimmer der oberen Etage schimmerte schwacher Lichtschein.
So ausgestorben wie die Villa von unten erschien, war sie aber in Wirklichkeit gar nicht. In dem durch eine Kerze dürftig erleuchteten Herrenzimmer der ersten Etage saßen um einen mit Papieren bedeckten Tisch drei Männer, die auf etwas zu warten schienen. Keiner sprach ein Wort, aber ihre Augen gingen immer wieder unruhig nach der gleichmäßig tickenden Kaminuhr.
„Gleich acht Uhr, Kuhlenkamp lässt auf sich warten", sagte schließlich ein hochgewachsener Mann mit herrischem Gesichtsausdruck und befehlsgewohnter Stimme, fortwährend auf den Tisch trommelnd.
„Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen. Ich halte das Ganze überhaupt für äußerst gefährlich, Herr Oberst", bemerkte sein Gegenüber, der eine Zigarre nach der anderen rauchte.
Der Oberst meckerte ein Lachen. „Gefährlich, mein lieber Neuhaus, ist alles, was mit Krieg und zumal mit Bürgerkrieg zusammenhängt. Etwas Mut und Geschicklichkeit, verbunden mit Hingabe zur nationalen Sache sind dabei eben unentbehrlich; aber daran hapert es hier in Swertrup noch sehr."
Neuhaus fuhr gereizt empor, aber der kaltlächelnde Blick des anderen entwaffnete ihn. „Sie brauchen das absolut nicht persönlich aufzufassen, das liegt im System der Einwohnerwehren, deren Organisation ich für durchaus verkehrt halte. Sie sind bei Tage unzuverlässig und bei Nacht nicht zu gebrauchen; so ist es überall. Die Arbeiter holen sich von ihnen mühelos die Waffen. Aber man wird ja daraus lernen, für künftige Fälle."
Er stand auf und begann mit großen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen.
„Wollen Sie sich nicht lieber setzen, Sie wissen doch, wir werden bewacht", warnte Neuhaus.
Der Dritte am Tisch, ein Herr Anfang der Vierziger, mit graumeliertem Vollbart und goldenem Kneifer, hatte bisher in Aufzeichnungen geblättert. Jetzt stand auch er auf und trat vorsichtig hinter den Fenstervorhang.
„Unsere Ehrenposten stehen noch ruhig da, meine Herren, bei diesem kümmerlichen Licht ist von unten nichts zu sehen", sagte er, an den Tisch zurücktretend. „Eigentlich, Herr Direktor, muss ich sagen - verzeihen Sie den Ausdruck - ist es ein freches Stück, dass wir unsere konspirative Tätigkeit noch extra von diesem Aktionsausschuss bewachen lassen. Aber Recht haben Sie. In ganz Swertrup sind wir wohl nirgends vor Beobachtungen und Überraschungen so sicher wie gerade hier. Hier vermutet uns kein Mensch", lachte der Offizier fröhlich. „Übrigens, weiß Herr Kuhlenkamp Bescheid über den Weg, den er zu nehmen hat?"
Buchterkirchner nickte. - „Kuhlenkamp ist vorsichtig und geht durch mehrere Häuser, die er hintenheraus verlässt, ehe er sich uns nähert. Hinten an der Gartenmauer steht mein Chauffeur mit der Leiter, um ihn herüberzuholen. "
„Ihr Chauffeur? Ist der denn zuverlässig?" „Keine Sorge, ehemaliger Offizier und Mitglied im Rugard", beruhigte der Industrielle. „Das sonstige Personal haben wir bis auf die Hausdame, die streng national ist, beurlaubt."
Plötzlich fuhren alle drei in die Höhe. Auf der Treppe ertönten Schritte.
„Das ist er!" rief Neuhaus und öffnete die Tür. Mit einem „Guten Abend, meine Herren" trat der Bergassessor, der einen verschossenen Gummimantel und unförmigen Filzhut trug, über die Schwelle. Auf seinem hochnäsigen Akademikergesicht lag ein stiller Triumph. ,Sie blieben lange, haben Sie denn wenigstens was Brauchbares mitgebracht?" fragte der Offizier, der seine Ungeduld nur noch schwer meisterte.
„Ich musste mehrere große Umwege machen, denn mir schien, als ob ich verfolgt wurde. Aber im Hause des Friseurs Silbergleit wurde ich sie los."
„Das machen wohl Ihre Schmisse, Herr Assessor! Sie können sich verkleiden wie Sie wollen, den Arbeitern werden Sie immer verdächtig erscheinen", bemerkte Neuhaus ironisch.
„Ich kann mir doch deshalb nicht den Kopf abschneiden. - Ja, jemand anders schicken? Wo wir in jedem beinahe einen Verräter sehen müssen? Bitte, lesen Sie", antwortete Kuhlenkamp ärgerlich.
Alle Anwesenden sahen sich bestürzt an.
„Zeigen Sie her!" Mit unsicheren Fingern entfaltete der Offizier die mit Maschine beschriebenen Blätter.
„,Fünf Kompanien Arbeiterwehr beschlossen' - hm, das weiß ich schon seit sechs Uhr. ,Bewaffnung noch nicht feststehend' - so genau wollen wir das gar nicht wissen. »Verbindung nach außerhalb aufgenommen" -das kann ich mir allein denken. ,Führer ein höherer österreichischer Offizier?' - Wenn das man kein Russe ist? - Aber Namen nennt Ihre Gewährsperson ebenso wenig wie genaue Details. Das scheint mir keine fünfhundert Mark wert zu sein", sagte er, Kuhlenkamp scharf ansehend.
„Verzeihung, Namen werden auch genannt, allerdings aus wenig erfreulichem Anlass", bemerkte der Assessor, ein anderes Blatt überreichend.
„Was?... "
Der Offizier schrie so erschrocken auf, dass alle Anwesenden zusammenfuhren. „Das ist ja doch..., ja, da sind wir ja keinen Augenblick unseres Lebens sicher!" -
„Was gibt's denn, was ist denn passiert?" fragte Buchterkirchner mit vor Angst bebender Stimme.
Der Oberst lachte höhnisch auf. „Das also ist Ihr wunderbarer Nachrichtenapparat, über den so viel Wesen gemacht wurde? Ein Dreck ist er wert, wenn so etwas möglich ist! Wenn der Aktionsausschuss der Roten fortwährend über uns Informationen erhält, wenn nicht nur die Einwohnerwehrliste, sondern auch Waffendepots verraten werden. Das sind Ihre Rugard-Helden, Herr Assessor, lassen sich mit russischen Rubeln bestechen!"
„Verzeihen Sie, Herr Oberst, ich übernahm diesen Posten erst vertretungshalber vor zwei Tagen, ich bin selber auf das höchste schockiert", verteidigte sich Kuhlenkamp etwas kleinlaut.
„Und wer hatte vorher den Nachrichtendienst? Sofort muss der Betreffende Rede und Antwort stehen!"
Kuhlenkamp blickte sich hilflos um, aber Ingenieur Neuhaus kam ihm mit der Antwort zuvor.
„Die Zenk also, hm - kenne ich auch, sonst ja ein sehr vorsichtiges und überlegenes Frauenzimmer, aber... Kennen Sie denn den Kerl, dieses infame Schwein da?" fragte der Oberst, dessen Gesicht einen grauenerregenden Anblick darbot.
„Fräulein Zenk könnte über ihn am ersten Auskunft geben. Sie hat ihn während ihrer Volontärzeit bei Flaschner geworben, aber sie ist noch nicht von Düsseldorf zurück. Ich kenne ihn nur oberflächlich, ein junger Mensch von vielleicht zwanzig Jahren. Mir kam er, offen gestanden, von Anfang an nicht ganz geheuer vor, da er seine Nase in alles steckte", antwortete der Bergassessor.
„Und falsche Nachrichten über die Roten haben wir auch erhalten, wird hier angegeben. Nun, das haben wir schon selber zur Genüge bemerkt. Bloß jetzt weiß man es, wo sie herkommen: Firma Kuhlenkamp und Zenk", höhnte Neuhaus, der weiter gelesen hatte.
„Nun, was das anbetrifft, Herr Neuhaus, da darf ich bloß an Ihre Einwohnerwehr mit der Angst vor den Minenwerfern erinnern, die die Arbeiter angeblich in ihren Klosetts versteckt halten. Das kam aber nicht von ,Firma Kuhlenkamp und Zenk'. Kümmern Sie sich nur etwas besser um Ihre Leute! Was die da heute nachmittag für Dummheiten auf dem Hindenburgplatz anstellten, das ist einfach hahnebüchen. Wenn die Arbeiter den Schwindel nicht sofort durchschaut hätten, wären sie vielleicht dem Rate Ihrer Provokateure gefolgt und hätten die Villen gestürmt. Ich glaube, eine der ersten wäre diese hier gewesen, was uns wohl ein bissel ungelegen gekommen wäre. Sie sehen also, lieber Neuhaus, so ganz ohne zuverlässige Späher sind wir nun doch gerade auch nicht", gab Kuhlenkamp spitz und eisig zurück.
„Sie werden beleidigend!"
„Ich stehe zur Verfügung!" Buchterkirchner legte sich ins Mittel.
„Kein Streit, meine Herren, um Gottes willen, nur das jetzt nicht! Wir müssen ruhig Blut behalten. Fehler kann ja jeder machen, und in der Aufregung fallen auch mal Worte, die nicht so genau zu nehmen sind. Vor allem müsste dieser - wie heißt doch der Kerl - dieser Peikchen isoliert werden."
„Das können Herr Direktor dem Rugard-Bund überlassen, der solche nun leider mal nicht auszurottende Fälle in seiner Verfassung wohl vorgesehen hat", sagte Kuhlenkamp; seine wässrigblauen Augen funkelten kalt und böse.
Alle blickten jetzt auf den Oberst, der sich erhoben hatte.
„Also, meine Herren, um es kurz zusammenzufassen", begann er langsam und mit Betonung jedes einzelnen Wortes. „Nach dem heute nachmittag erhaltenen Funkspruch scheinen sich die Dinge überall so zuzuspitzen, dass man möglicherweise das ganze Gebiet zwischen Ruhr und Lippe preisgeben muss. Was sich in Wetter und Herdecke ereignete" - er biss auf den blutlosen Lippen herum -, „jedenfalls hat kein Mensch damit gerechnet, dass der Pöbel so viel Courage haben wird. Aber das bringt den Stein ins Rollen und schafft uns die Möglichkeit, endlich einmal gründlich - ganz gründlich - auszukehren."
„Auch in Swertrup?" fragte Buchterkirchner lauernd. - Sein Spitzbart zitterte sichtbar.
„Auch in Swertrup und hier ganz besonders, meine Herren", bekräftigte der Offizier. „Dieser Prozess wird gar nicht so lange auf sich warten lassen. Truppen und Zeitfreiwillige haben wir genug, auch die entsprechenden Waffen. Es ist nur noch zweierlei notwendig: erstens, dass der Generalstreik aufhört und wir die Eisenbahnen benutzen können, zweitens, dass die Entente uns erlaubt, in die 50-Kilometer-Zone einzudringen. Für beide Voraussetzungen sind - das glaube ich sagen zu dürfen -die Aussichten nicht ungünstig. Die Herren Rechtssozialisten kriegen nämlich schon selber Angst vor den Geistern, die sie gerufen. Regierungskommissar Mehlich zum Beispiel hat öffentlich erklärt, dass die selbständige Bewaffnung der Arbeiter unzulässig sei und deshalb Militär ins Industriegebiet müsse. Seine radikalen Brüder von links denken darüber natürlich ganz anders, und so glaube ich, dass dieser Punkt die Herrschaften sehr schnell wieder veruneinigen wird. Meine Anwesenheit hat hier unter diesen Umständen keinen Wert mehr. Ihre Aufgabe kann jetzt nur darin bestehen, Ihren Nachrichtenapparat zu reinigen, um uns laufend gute Informationen zu geben. Die Ausstreuung von Gerüchten und Vermutungen ist natürlich ebenfalls geeignet, unsere Aufgabe zu erleichtern. Und dann vor allem noch eins. Sie kennen die Hauptunruhestifter, meine Herren. Stellen Sie uns eine zuverlässige Liste zusammen, denn diesmal werden wir dieser Revolutionshydra ein für allemal den Kopf abschlagen."
„Für die Liste werde ich sorgen, da können Sie sich drauf verlassen", knirschte Buchterkirchner, und dann geleitete er seinen Gast persönlich die dunkle Treppe hinunter bis an die bewusste Leiter.
Was der Offizier des Generalkommandos bei der geheimen Besprechung in der Wohnung des Zechendirektors andeutete, wurde bereits über Nacht blutige Wirklichkeit. Solange sich die bewaffnete Konterrevolution zurückhielt, bewahrten auch die streikenden Arbeiter des Industriegebietes bewunderungswürdige Ruhe. Dass man sich nicht allein auf die passive Waffe der verschränkten Armee verließ, war nur ein Beweis dafür, dass die Arbeiter aus den Ereignissen Lehren gezogen hatten. Man holte sich die Waffen von den Einwohnerwehren, Krieger- und Schützenvereinen und aus den aufgespürten Geheimdepots der illegalen Militärverbände. So fiel allein in Bochum den Arbeitern eine Bahnsendung von zweitausend Gewehren in die Hände. Aber obwohl diese Waffen nirgends zu irgendwelchen Gewalttaten benutzt wurden, erhob sich sofort ein großes Geschrei. Nicht nur bei den mit Kapp liebäugelnden Reaktionären, sondern auch bei den so genannten Republikanern! „Waffen in Arbeiterhänden?" -
Das war in den Augen der Ebert-Bauer eine ebenso große Gefahr wie in denen der Kapp-Lüttwitz. Beide Parteien, die sich soeben noch drohend gegenüberstanden, wurden sich sofort klar, dass dieses „Verbrechen" verhindert werden musste.
Hatten die Kappisten zu Beginn ihres übereilten Putsches noch gehofft, die revolutionäre Arbeiterschaft durch Versprechungen wenigstens so lange zu neutralisieren, bis man das Staatsruder fest in der Hand habe, so änderten sie doch sofort die Taktik, als sie auf den entschlossenen Kampfwillen der Arbeiter stießen. Am 13. März begann der Putsch - und wenige Stunden später brach der Generalstreik aus, aber bereits am Tage darauf ordnete das Generalkommando Münster den militärischen Aufmarsch gegen die Ruhrstädte an. Nicht, ohne sich vorher des stillschweigenden Einverständnisses der in Frage kommenden sozialdemokratischen Regierungskommissare Severing und Mehlich zu versichern. Dieses Vorgehen fand später auch die volle Billigung der alten Regierung.
Über Nacht war vergessen, dass diese Truppen ja am ersten und gründlichsten Ruhe und Ordnung gestört hatten. Aber die Erwartung, dass die Arbeiterschaft sich von den in noch blutiger Erinnerung stehenden Truppen des Generals Watter widerspruchslos entwaffnen und damit auf Gnade oder Ungnade ausliefern würde, fand eine überraschende Enttäuschung. Am 16. März wurden Teile des Freikorps Lichtschlag bei Wetter und Herdecke vernichtend geschlagen. Mit Hilfe der erbeuteten Waffen gelang es, am Tage darauf in Dortmund das Gros des Freikorps und die mit ihm verbündete Polizei und Einwohnerwehr zu zersprengen.
Gleichzeitig kam es in Verden, Lennep, Barmen, Essen, Heiligenhaus und anderen Orten zu spontanen Kämpfen; überall blieb die Arbeiterschaft Sieger. In Reinscheid, wo das Freikorps Lützow mit klingendem Spiel einen herausfordernden Parademarsch unter schwarzweißroten Fahnen durch die Stadt unternahm, wurden die Kappbanditen nach achtzehnstündigem Kampf in das von den Engländern besetzte Gebiet gejagt. Überall hatten die Truppen schwere blutige Verluste, fielen den Arbeitern mit zahlreichen Gefangenen große Mengen schweren und leichten Kriegsmaterials in die Hände.
Damit war die Lage für die in Mülheim, Duisburg und Hamborn liegenden Truppen des Freikorps Schulz ebenso unhaltbar geworden wie für die in Düsseldorf und Essen stationierten Kontingente. Unter dem Druck der bewaffneten Arbeiter zogen sie sich nach Norden auf die Festung Wesel zurück, nicht ohne noch auf dem fluchtartigen Rückzug in schwere Kämpfe verwickelt zu werden, wo weiteres Kriegsmaterial in Händen der Arbeiter blieb.
In wenigen Tagen war die Säuberung des gesamten Industriegebiets von konterrevolutionären Freikorpsbanden ebensolche Tatsache wie die Bewaffnung des Proletariats. Mitten im Kampf formierten sich die Arbeiterbataillone, den flüchtenden Gegner bis unter die Mauern der Festung Wesel verfolgend. In Westfalen stießen bewaffnete Arbeitertruppen über die Lippe bis sieben Kilometer vor Münster nach. Da aber im Rücken der geschlagenen Truppen alles ruhig blieb, gelang es ihnen, an der Lippe wieder Fuß zu fassen. So bildete sich hier von Hamm bis Wesel eine regelrechte Kampffront aus.
Auch Swertrup, das an der Rückzugsstraße nach Wesel lag, wurde in diese Kämpfe auf das schwerste hineingezogen. Die hier besonders aktiven Berg- und Hüttenarbeiter hatten, entgegen dem Widerspruch einiger Aktionsausschussmitglieder, durchgesetzt, dass man zur Bildung einer Arbeiterwehr aufrief. Fünf Kompanien zu je hundert Mann, die sich um ihre Arbeitszentren gruppierten, sollten aufgestellt werden, aber die vierfache Anzahl drängte sich zu den Einschreibestellen. Nur die knappe Hälfte konnte mit Gewehren bewaffnet werden, einige weitere Stoßtrupps mit Pistolen, Seitengewehren und Handgranaten. Alles drängte darauf, so schnell wie möglich irgendwohin geführt zu werden, um die Kräfte mit den Konterrevolutionären zu messen, ihnen weitere Waffen zu entreißen.
„Was die Dortmunder Kumpels können, können die Swertruper auch", - das war die allgemeine Stimmung.
Bürgermeister Dr. Livenkuhl hatte auf Reeses Veranlassung die Geschäfte im Rathaus wieder aufgenommen. Jeitner und Reese, die beiden Vorsitzenden des Aktionsausschusses, begaben sich Freitag früh zu ihm, um wegen der zunehmenden Lebensmittelschwierigkeiten Rücksprache zu nehmen. Die Lager nahmen infolge der stockenden Zufuhr sehr rasch ab. Bei den Kaufleuten verschwanden, ungeachtet aller Erlasse, die vorhandenen Lebensmittel spurlos. Man machte sich kein Hehl daraus, dass ein Versagen der Versorgung eine ernste Gefahr für die erfolgreiche Durchführung des Generalstreiks mit sich bringen müsste.
Vor dem Rathaus stießen die beiden Funktionäre auf eine große Menschenansammlung, deren Mittelpunkt ein über und über mit Kot bespritztes Militärauto war, das vorn am Kühler eine weiße Flagge trug. Der Chauffeur, mit Unteroffizierslitzen an der Lederjacke, saß mit steinernem Gesicht am Steuer, neben sich hatte er drei gespannte Karabiner und eine offene Kiste mit wurfbereiten Handgranaten.
Das Auftauchen der bekannten Arbeiterführer brachte Bewegung unter die in feindseligem Schweigen harrende Menge.
„Beim Bürgermeister drinnen sind zwei Offiziere", riefen ihnen mehrere Stimmen entgegen.
„Da müssen wir nach dem Rechten sehen", sagte Jeitner und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Freitreppe hinauf, gefolgt von Reese und dem soeben noch eingetroffenen zur Linden.
Zu jeder anderen Zeit hätte sich Dr. Livenkuhl wohl das Betreten seines Allerheiligsten ohne Anmeldung und Anklopfen energisch verbeten, jetzt aber ging er den Eindringenden entgegen und streckte ihnen jovial beide Hände entgegen.
„Das ist gut, meine Herren, dass Sie kommen. Soeben wird mir mitgeteilt, dass in einer halben Stunde das Mülheimer Regiment bei uns durchmarschiert", sagte er, dabei auf die beiden am Fenster stehenden Offiziere weisend. „Die Herren sind nämlich vom Aktionsausschuss", setzte er, zu den Offizieren gewendet, hinzu.
Der ältere der Offiziere, der auf den Schulterstücken Hauptmannesterne trug, hob die rechte Hand an seine Mütze, tat einen Schritt näher und sagte mit müde klingender Stimme, wobei er vermied, jemanden anzusehen: „Es handelt hier sich für Swertrup um keine Besetzung, sondern lediglich um einen notwendigen Durchmarsch. Uns kommt es darauf an, Zusammenstöße mit den Arbeitern zu vermeiden."
„Das liegt auch ganz in unserer Absicht, Herr Hauptmann", beeilte sich Reese zu beteuern, wobei er sich leicht zum Fenster hin verbeugte.
„Das käme wohl immerhin noch drauf an, aus welchem Grunde das Regiment in diesen Tagen hier durchmarschiert, und zu welcher Regierung es hält", funkte Jeitner, durch Reeses Voreiligkeit gereizt, dazwischen.
„Es handelt sich um eine anbefohlene Bewegung, über deren Zweck Auskunft zu erteilen ich nicht befugt bin. Was die politische Stellungnahme anbetrifft" - der Hauptmann machte eine kleine Atempause - „wir sind Soldaten, kümmern uns um keine Politik und kennen nur die Befehle unserer Vorgesetzten!"
Jeitner wusste im Moment nicht, was er auf diese diplomatische Erklärung antworten sollte, und auch zur Linden blickte sich ratlos nach seinen beiden Genossen um. Woraufhin Reese erklärte, dass die hiesige Arbeiterschaft für Ruhe und Ordnung sei und der Aktionsausschuss dafür sorgen werde, dass es zu keinen feindlichen Handlungen der Bevölkerung kommen werde. „Gestatte mal, Genosse Reese, der Aktionsausschuss bist du doch nicht alleine; wenn die Herren verhandeln wollen, müssen sie sich schon nach dem Volkshaus bemühen", platzte jetzt zur Linden in ehrlicher Entrüstung heraus. Die Offiziere blickten den Arbeiter mit einem Ausdruck hasserfüllten Staunens an.
„Wir sind", sagte der Hauptmann, „nicht zu Verhandlungen mit irgendeinem Aktionsausschuss, sondern lediglich zwecks einer Mitteilung zur Bürgermeisterei gekommen. Außerdem fehlt uns zu weiteren Erörterungen die Zeit. Ich hörte schon, dass Sie hier eine bewaffnete Arbeiterwehr haben, unsere Leute sind friedlich, aber aufs Äußerste gereizt!"
„Das sind wir auch", unterbrach ihn zur Linden.... aufs Äußerste gereizt", fuhr der Offizier in schärferem Ton fort. „Bei einem etwaigen Überfall schießen wir mit Kanonen."
„Das ist wenigstens deutlich, aber wir lassen uns nicht mehr drohen; die Zeiten sind vorbei", schrie der Bergarbeiter aufgebracht.
„Das ist keine Drohung, sondern nur eine Warnung, in Anbetracht gewisser Erfahrungen", erwiderte der Hauptmann mit eiserner Ruhe.
„Aber meine Herren, bedenken Sie doch, wenn so etwas in unserer lieben Stadt vorkäme, die Folgen wären ja unübersehbar", versuchte der Bürgermeister einzulenken.
„Sie kennen doch unsere Kumpels", sagte Jeitner. „Die Herren da vermeiden jede eindeutige Erklärung über ihre Stellung zur Regierung. Sie verstecken sich hinter ihrem Vorgesetzten, General Watter. Soviel mir bekannt ist, hat sich Watter für Kapp-Lüttwitz erklärt, das müssen Sie doch auch wissen."
Die beiden Epaulettenträger sahen sich vielsagend an, streiften sich dann die wildledernen Handschuhe wieder über. Der Ältere lächelte hämisch, so dass man die großen Goldzähne in seinem Gebiss sehen konnte.
„Wenn Exzellenz Watter sich für Kapp-Lüttwitz erklärt haben, so stehen wir natürlich auch demgemäß!" „Das genügt; dann haben wir uns weiter nichts zu sagen", sagte Jeitner und ging, gefolgt von Reese und zur Linden, ohne Gruß zur Tür hinaus. Die Kappisten knallten vor dem Bürgermeister die Hacken zusammen, verbeugten sich, die Hand an die Mützenschirme legend, und stiegen sporenklirrend die Treppe hinunter.
Als sie auf dem Hof zwischen Freitreppe und Gittertor sichtbar wurden, erhob sich in der inzwischen auf mehrere hundert Köpfe angewachsenen Menge lautes Johlen und Pfeifen, so dass sie erschrocken stehen blieben. Eben räumten Arbeiter die Waffen aus dem Auto.
„Wir sind Parlamentäre; wir verlangen Schutz und freies Geleit", sagte der junge Leutnant erbleichend zu dem ihnen nachgeeilten Bürgermeister. Livenkuhl erwischte Jeitner noch beim Rockschoß.
„Herr Stadtrat, so geht das doch nicht! Sorgen Sie um Gottes willen für die Unverletzlichkeit der Parlamentäre", keuchte er. Auch Reese versuchte zu vermitteln.
„Es tut ihnen ja keiner was. Aber man kann ihnen ja einige Leute zur Stadt hinaus mitgeben", antwortete Jeitner mit verächtlichem Blick.
„Sie sind für unsere Sicherheit verantwortlich, mein Herr", zischte der Hauptmann, der ein grünliches Gesicht bekommen hatte. „Wir kamen als Parlamentäre. Veranlassen Sie bitte sofort, dass unsere Waffen zurückgegeben werden."
„Parlamentäre und Waffen? Das reimt sich wohl schlecht zusammen. Wenn Arbeiter als Parlamentäre zu Ihnen mit Waffen kämen, stellten Sie sie sicher sofort an die Wand. Seien Sie. zufrieden, wenn wir Sie nach Ihren eindeutigen Erklärungen ungeschoren wieder fortlassen", antwortete Jeitner kalt.
Der Offizier biss sich auf die Lippen und wartete schweigend, bis es gelungen war, den Raum zwischen Gitter und Auto frei zu machen. Dann stiegen sie schnell ein, und von je einem bewaffneten Arbeiterwehrmann auf den Trittbrettern flankiert, nahm das Auto seinen Weg langsam über die südliche Ratinger Straße zurück, begleitet von abermaligem Johlen und Pfeifen. Die Insassen starrten mit verglasten Augen und fest zusammengepressten Lippen geradeaus ins Leere.
Im Volkshaus, wo die Kunde vom Anmarsch der Truppen bereits die Mehrzahl der Aktionsausschussmitglieder versammelt hatte, herrschte ein wirres Durcheinander. Keiner war zunächst imstande, irgendwelche Anordnungen zu treffen.
„Die Arbeiterwehr muss alarmiert werden!" - „Wir müssen Barrikaden bauen." - „Wo ist Ruckers?" so rief es durcheinander, aber kein Mitglied des Sicherheitsausschusses war zu sehen.
Reeses Stimme durchdrang den Tumult.
„Seid ihr verrückt geworden? Mit euren paar Flinten könnt ihr doch nicht gegen ein ganzes Regiment ankämpfen. Die Hacketäuer schießen mit Kanonen. - Ihr legt die ganze Stadt in Trümmer", brüllte er, dass ihm der Speichel in den wohlgepflegten Spitzbart troff.
„Sollen wir etwa warten, bis uns dein Genosse Noske auch Kanonen gibt?" fragte der Bergmann Felgentreu höhnisch und zog sich kampfentschlossen den Leibriemen hoch.
„Ihr wisst nicht, was ihr tut! Denkt doch an eure Frauen und Kinder", beschwor der Gewerkschaftssekretär, der mit Erschrecken die Grenzen seiner Beredsamkeit feststellte.
„Eben daran denken wir", antwortete sein Parteigenosse Schmidt.
Jeitner fühlte mit Zentnerschwere die auf ihm ruhende Verantwortung, unter deren Last auch er völlig den Kopf verlor. „Was sollen wir denn bloß tun? Die Arbeiter werden sich nicht aufhalten lassen", sagte er tonlos.
Reese raffte sich zusammen. „Wir müssen die Seitenstraßen der Ratinger Straße durch unsere Arbeiterwehr absperren, mindestens je zweihundert Meter tief, damit es zu keinen Zusammenstößen kommt", rief er mit alles übertönender Stimme.
„Dazu ist wohl die Arbeiterwehr nicht geschaffen, außerdem möchte sich wohl dazu kein bewaffneter Prolet hergeben. Die Straße ist unser", erklang von der Tür ein bekanntes Organ. Die drei Obleute des Sicherheitsausschusses wurden sofort umringt. „Ruhe", gebot Ruckers, und sofort wurde es still.
„Eben kam die Nachricht, dass die Truppen bereits in allen Orten in Kämpfe verwickelt wurden. Abziehen dürfen sie unter keinen Umständen, denn es besteht kein Zweifel, dass sie verstärkt und vermehrt wiederkommen werden. Unsere Leute brennen darauf, anzugreifen. Die vierte Kompanie steht unter Gewehr auf dem Hof der ,Beate', die andern sind noch nicht alarmiert, aber..."
„Was, noch nicht alarmiert? Ja, wie zum Teufel denkt ihr euch denn das?" fragte Kösfeld.
Ruckers winkte ab. „Das Alarmieren ist nicht so schwer, unsere Kumpels schlafen mit der Knarre unterm Kopfkissen. Aber das Wiedernachhauseschicken, Genossen, das ist nicht so einfach, gesetzt den Fall, ihr seid nicht gewillt, die Opfer zu bringen. Darüber dürft ihr euch nicht im Zweifel sein, dass der Kampf nicht nur auf die Arbeiterwehr, sondern auch auf die gesamte Bevölkerung übergreift und große Opfer kosten wird, auch unter Nichtkämpfern, Frauen und Kindern!"
„Das sagt Kollege Reese auch fortwährend, aber ihr lasst ihn ja nicht ausreden", rief der alte Küpper. Jeitner sah sich hilflos um. „Genossen, ich bin kein Soldat, mir fehlen die Sachkenntnisse in derlei Dingen. — Wenn also der Sicherheitsausschuss, der ja dafür zuständig ist, meint - das heißt, die eine Frage müsst ihr beantworten, ob bei dem Kräfteverhältnis ein Angriff unsererseits überhaupt einen Sinn, eine Aussicht auf Erfolg hat, und nicht schließlich nur eine blutige Geste bleibt?"
Auf Ruckers' Stirn vertieften sich die Falten noch mehr. „Rein militärisch sind uns die anderen überlegen, zumal wir auch noch mit den Essener und Düsseldorfer Truppen rechnen müssen. Irgendwelche Garantien kann da kein Mensch übernehmen, das liegt ganz bei dem Elan unserer Leute einerseits, bei der Moral der Truppen andererseits."
„Aber die Waffen! Ihr habt doch nicht genügend Waffen!" schrie Reese, mit der Faust auf den Tisch schlagend.
Felgentreu tippte sich an die Stirn. „Die in Wetter haben sich auch erst die Kanonen erobert, und wir werden es ebenso machen, ich glaube, wir haben sogar für den Anfang mehr als die Genossen irgendwoanders."
„Also, Genossen, entscheidet euch, die Zeit drängt. Bei so widerstreitenden Ansichten kann ich allein die Verantwortung nicht tragen", drängte Ruckers, dessen Nerven jetzt auf das Äußerste gespannt waren. „Entweder werfen wir unser Leben in die Waagschale und kämpfen bis aufs Messer, oder - wir gehen hübsch brav in die Betten."
Es war plötzlich ganz still geworden. Jeder blickte, von der Verantwortung gedrückt, zu Boden. Dann ertönte, wie aus nebelhafter Ferne, eine von schlecht verhehlter Erregung stockende Stimme:
„Ich meine, Genossen, dass man in Anbetracht der ungleichen Kräfte doch wenigstens von einem Kampf in der Stadt absehen sollte!"
Es war der Straßenbahner Schmidt.
„Dann lasse ich abstimmen, also wer dafür ist, dass wir nicht angreifen, der hebe die Hand", rief Jeitner entschlossen.
Eine Anzahl Arme gingen in die Höhe.
„Die Gegenprobe?"
„Arme hoch", riefen Grothe und Felgentreu zugleich. -
„Zweifelhaft!"
„Nochmal abstimmen!"
„Auszählen!"
In diesem Augenblick begann ein markerschütterndes Heulen die Luft zu zerreißen. Alles fuhr, wie von der Tarantel gestochen, hoch.
„Das Alarmsignal!"
„Zu spät, sie sind schon da, so lange habt ihr Idioten gequatscht!"
Kösfeld stampfte seinen Stuhl auf die Erde, dass die Beine absplitterten.
Ruckers stöhnte vor ratloser Verzweiflung. Reese kreischte gleich einem hysterischen Weib:
„Für das, was jetzt kommt, tragt ihr die Verantwortung, ich mache nicht mehr mit, ich gehe nach Hause!"
„Wir müssen jetzt aufzuhalten versuchen, was noch aufzuhalten geht. Legt alle eure Armbinden an, verteilt euch die Ratinger Straße rauf und runter, wir müssen jetzt das Ärgste, einen planlosen Kampf, verhüten", rief Ruckers und stürzte als erster zur Tür hinaus.

 

13. KAPITEL

Ernst Sukrow hatte an diesem Morgen einen Spaziergang in Richtung Süderholt unternommen. Die Sonne kämpfte mit einem feinen Nebel, der noch die den Horizont zerhackenden Schlote, Halden, Fördertürme und Hochöfen verhüllte. Auf den Wiesen am Kanal leckten ein paar magere Ziegen das schüchterne Grün ab, und eine Lerche trillerte in unsichtbarer Höhe dem Licht entgegen. Der Frühling hat sich auch in diese trostlose Gegend verirrt, dachte der einsame Wanderer, dessen Gedanken seinen Schritten weit vorauseilten, dorthin, wo es keine hässlichen, von kranken Menschen überfüllte Industriestädte gab. Seine wanderfrohen Gefühle sammelten sich schließlich in einem Vagantenliedchen, das er früher oft mit frohen Gesellen auf freier Fahrt gesungen hatte:
„Mein Schatz nahm einen andern Wohl um das schnöde Geld. Drum will ich als Spielmann wandern In die weite, weite Welt."
Jetzt mit den ersten Frühlingslüften kam ihm erst zu Bewusstsein, was den ganzen Winter so schwer und dumpf auf ihm gelastet hatte. Er gehörte hier nicht her, würde sich nie an Kohlenstaub und Aschenregen, an diesen ständig grauverhangenen Himmel gewöhnen. Wenn hier die Schornsteine wieder zu rauchen anfingen, war es mit dem bisschen Frühling sowieso schnell vorbei.
Im rüstigen Weiterschreiten wuchs in ihm ein Entschluss. Er würde nicht bleiben! Seine Träume hier waren endgültig ausgeträumt, sowohl die von der Bergarbeiterpoesie als auch die von der sozialen Republik. Und auch das Liebeslied war zu Ende, das kitschige Kindermärchen von dem armen Hirtenknaben und der schönen Prinzessin! Er lachte und schämte sich zugleich, fand eine stille Genugtuung darin, vor sich hin zu variieren: Du bist ein Esel, du bist ein großer Esel, du bist ein so großer Esel, wie es ihn noch nie gegeben hat!"
Aber Gott sei Dank! Das alles lag nun weit hinter ihm. Umsonst war diese harte Schule hier nicht! Er hatte versucht, das Leben bei den Hörnern zu packen und war Sieger geblieben! Er war sichtbar gereift, und dies machte ihn so froh, dass er singen konnte.
Sowie der Generalstreik zu Ende war, ging er fort! Seine „Alma Mater" sollte jetzt draußen die Landstraße sein. Den Rhein hinauf auf Schusters Rappen, wie Grothe es so oft erzählt hatte. Mit seiner Klampfe und zwei Händen, die zuzupacken gewöhnt waren, würde er wohl überall durchkommen. Vielleicht, dass er seelisch noch eben so frei werden konnte wie der Freund, den er so oft darum beneidete.
Hier hielt ihn ja nichts zurück. „Mary?" -
Ein leiser Stich in der Brust zeigte, dass da noch ein kleiner Stachel saß. Aber der würde sich draußen ausheilen. Sie und Grothe passten entschieden besser zusammen. Grothe hatte sich in der Welt genügend umhergetrieben, um hier vor Anker gehen zu können. Mochten die beiden glücklich werden, er wünschte ihnen alles Gute. Mit einem trockenen und einem feuchten Auge konnte er scheiden.
Durch die Luft zitterte von fern her ein singender Ton. Betroffen aufhorchend blieb er stehen. Das war doch die Sirene von „Deutsche Erde"?
Das Alarmsignal? -
Er begann mit großen Schritten den Weg zur Stadt zurückzugehen. Jetzt unterschied er auch deutlich das grelle Pfeifen von „Beate", den dumpfen Brummton von „Kaltenborn und Opler"! Wie von selbst setzten sich seine Füße in Dauerlauf.
Plötzlich stockte sein Fuß und Herz zugleich. Durch das nervenaufpeitschende Heulen der Alarmsirenen drang ganz deutlich das wohlbekannte „Taktaktak" eines Maschinengewehrs an sein Ohr. Kein Zweifel, in Swertrup ging es los!
Eine unsagbare Wut überkam ihn, Wut über seine eigene Ohnmacht. Erst gestern abend noch hatte Grothe ihm gesagt:
„Wird es ernst, wirst du Kommandeur und ich dein Adjutant." Dann hatten sie sich eine volle Stunde über organisatorische und technische Einzelheiten unterhalten, wobei ihn die guten militärischen Kenntnisse des jungen Kommunisten, der nur einfacher Infanterist gewesen war, überraschten. Unzweifelhaft würden sie beide zusammen Ersprießliches leisten. „Halte dich nur bereit, wir werden dich schon noch brauchen", hatte Grothe beim Abschied gesagt. Jetzt brauchte man ihn... und er war ganz in Gedanken und Gefühlen erstickt hier hinausgelaufen, weil er keine Ausdauer zum Abwarten gehabt weil er nicht mehr im Ernst an Kampf geglaubt hatte. Den Treidelweg am Kanal herab kam ein Radfahrer. Sukrow lief über eine alte Schuttabladestelle hinweg auf ihn zu.
„In Swertrup wird gekämpft; ich muss dabeisein; nehmen Sie mich mit!" rief er dem Mann entgegen, ehe dieser noch abgebremst hatte.
„Steige hinten auf", sagte der andere, indem er mit dem rechten Fuß das Gleichgewicht stützte. Ein dumpfes Rollen aus der noch etwa zwei Kilometer entfernt liegenden Stadt schütterte herüber.
„Das sind doch Minenwerfer?" rief der Arbeiter und begann unter Einsatz des ganzen Körpergewichts zu treten. In wenigen Minuten waren sie zwischen den Mietshäusern. Die von Sonnenglanz erfüllte Straße lag wie ausgestorben, aber an der nächsten Ecke kam ihnen ein aufgeregter Schwarm Männer, Frauen und Kinder entgegen. Fluchen, Weinen und wilde Verwünschungen! Inmitten der heulenden Weiber und gestikulierenden Männer humpelte ein alter Mann, über die rechte Schulter ein armseliges Bündel Flicken geworfen, aus dem es rot heruntertropfte.
„Hövelmann! — Um Gottes willen, was ist denn geschehen?"
Der Alte glotzte ihn mit irren Blicken an, als kenne er ihn nicht.
„Vier Jungen sind im Kriege gefallen, den letzten haben voriges Jahr die Noskes in Bottrop erschossen und jetzt noch das Hannchen!" murmelte sein zahnloser Mund. Das leblos baumelnde Kinderköpfchen mit den verglasten Augen zeigte, dass hier jede ärztliche Kunst zu spät kam. Ein Mann erzählte:
„Ein Panzerauto kam die Gräfrather Straße heruntergefahren und begann plötzlich aus den Maschinengewehren links und rechts in die Häuser zu schießen. Das kleine Ding da wurde in seinem Bettchen getroffen."
Durch die Menge ging ein tierhaftes Auf brüllen. Ein Arbeiter schwenkte einen verrosteten Karabiner.
„Rache! Rache!"
„Gib mir!" keuchte Sukrow und griff impulsiv nach der Waffe.
„Du bist wohl geck!" Der Mann gab ihm einen Stoß, dass er gegen einen Bretterzaun prallte und lief dem Knattern der Maschinengewehre entgegen.
Kurz vor dem Einsetzen der Alarmsirenen hatte eine Kompanie der „Hacketäuer" auf dem Hindenburgmarkt haltgemacht, wo sie, ohne Gewehr und Gepäck abzulegen, aus dem Bergmannsbrunnen tranken. Die Soldaten zeigten unter den unförmigen Stahlhelmen blutjunge, aber aschgraue Gesichter. Viele stützten, bis die Reihe an sie kam, ihre schweren Tornister auf die Gewehre.
Die Offiziere liefen, halblaut zur Eile treibend, auf und ab. Die um sie herum sich ansammelnde Menschenmenge machte sie sichtbar nervös.
Hinter der Kompanie kam ein Zug schwerer Maschinengewehre; dann mit Planen verdeckte Krümperwagen. Ein Sanitäter mit einem Pferdeeimer voll Wasser schlug die Plane eines Wagens zurück; Gestalten mit erdfarbenen Gesichtern und blutigen Verbänden kamen zum Vorschein. Die Mitleidsäußerung einer alten Frau ging restlos in dem Zorn der anderen unter.
„Wie viele von unseren Kollegen haben die wieder auf dem Gewissen?"
„Habt ihr denn vergangene Ostern schon vergessen?"
„In Hamborn haben sie schon ordentlich Dunst gekriegt."
„Schade um jede Kugel, die danebenging!"
Die Bemerkungen erfolgten so laut, dass die Soldaten sie wohl verstehen konnten.
„Fertigmachen!" rief der Führer, dem die wachsende feindselige Stimmung nicht entging. Den letzten noch zum Wasser Herandrängenden schlug er die Becher aus den Händen.
„Kompanie ohne Tritt, marsch!" Johlen und Pfeifen der Menge folgte.
„So ist's richtig; jetzt lasst ihr sie ruhig abziehen, damit sie unsere Brüder wieder abschlachten. Ihr seid ja auch keine Männer, Scheißkerle seid ihr", höhnte ein hageres Weib den mit geballten Fäusten drohenden Männern. Da begannen die Sirenen zu heulen. -
Der erste Zusammenstoß erfolgte an der über die tiefliegende Eisenbahn hinwegführenden Brücke. Ein großes Lastauto, auf dem Kopf an Kopf Sicherheitssoldaten standen, bahnte sich, fortwährend hupend, seinen Weg durch die von Menschen gefüllte Straße. Hinten angebunden war ein Minenwerfer.
Auf der steilen Brückenrampe geriet der Minenwerfer seitlich ins Rutschen und kippte an der Bordschwelle um. Die Menge drängte näher heran, und ein junger Bursche versuchte, mit seinem Taschenmesser das Seil zwischen Auto und Geschütz zu durchschneiden.
In diesem Augenblick flog vom Auto herab ein kleiner Gegenstand einer Frau mitten in den Einholekorb. Mehr einer instinktiven Eingebung folgend, schleuderte die erboste Korbträgerin das schwarze Ding mit dem blanken Metalldraht augenblicklich zurück. Die Eierhandgranate krepierte nach Art eines Schrapnells mit dumpfem Krachen dicht über den Köpfen der Soldaten. Die Wirkung war eine doppelte. Man sah blutbespritzte Uniformierte kopfüber herunterspringen. Für die Menge aber, von der die wenigsten überhaupt die Ursache bemerkt hatten, war die Detonation das Signal zum Losbruch des so lange zurückgehaltenen Grolls. Kaum einer hatte eine andere Waffe als seine Fäuste, aber man riss die bestürzten Soldaten mit bloßen Händen nieder, trat sie mit Füßen, entriss ihnen die Waffen.
„Ihr Hunde wollt auf uns schießen?" -
Fäuste, Markttaschen, Taschenmesser, Hausschlüssel, Gewehrkolben, Seitengewehre sausten nieder, aber das Ungestüm der herandrängenden Menge war so groß, dass in dem wüsten Knäuel bald kaum noch einer die Arme heben konnte.
„Schlagt sie tot, die Bluthunde!"
Plötzlich peitschten von der anderen Seite in schneller Folge Schüsse die Straße entlang. Im Nu stob die Menge auseinander, aber die Männer, die die Karabiner an sich genommen hatten, begannen aus Hausfluren und hinter Mauervorsprüngen hervor die anrückenden Truppen zu beschießen. Der Straßenkampf begann!
Von allen Seiten eilten bewaffnete und noch mehr unbewaffnete Arbeiter herzu. Das heftige Knattern des Gewehrfeuers, das nervenerschütternde Bellen der Maschinengewehre, untermischt von den dumpfen Schlägen zerspringender Handgranaten, alarmierte bis in die Außenviertel hinein. Aber noch aufpeitschender wirkte das sich fortwährend wiederholende Aufheulen sämtlicher Werksirenen.
Von der evangelischen Kirche läutete es Sturm!
Niemand auf Seiten der Arbeiter hatte in diesem elementar aufbrennenden Kampf zunächst eine Führung. Jeder tat, was ihm nach Lage der Dinge selbst als richtig erschien. Erst allmählich im Laufe des dreistündigen Kampfes setzten sich Beispiel und Rat einzelner in lokale Führung um, bildeten sich planmäßig vorgehende Gruppen. Zwar wurde die Ratinger Straße, die den nach Norden drängenden Truppen allein als Abzugsstraße übrig blieb, von diesen in der Längsrichtung beherrscht, aber überall wurden jetzt die Seitenstraßen aufgerissen, wuchsen Barrikaden aus Pflastersteinen, Mülleimern, Karren und Gerümpel, von wo aus die vorbeimarschierenden Soldaten unter Feuer gehalten wurden. Zwar erstürmten einige Abteilungen solche Barrikaden, fanden aber, wenn sie das Hindernis besetzten, dieses geräumt und die Gegner in die nächsten Häuser geflüchtet.
Eine Abteilung von dreißig Mann, die sich hierbei zu weit in die Lichstraße hinein vorwagte, sah sich plötzlich rückwärts abgeschnitten und warf auf Zuruf die Gewehre bin. Aber nicht genug damit, die Arbeiter machten auch erfolgreiche Gegenangriffe, wobei ihnen an einer Stelle mehrere Brot- und Munitionswagen und fünf schwere Maschinengewehre in die Hände fielen.
Die bereits nach Norden durchgekommenen Truppen machten wieder Front gegen die Stadt und begannen mit schweren Minen zurückzuschießen. Unter furchtbarem Krachen schlugen die auf gut Glück gerichteten Geschosse durchweg in außerhalb der Kampfzone liegende Häuser.
Aber weder diese unsinnige Bombardierung noch das Vorstoßen Feuer speiender Panzerwagen in Seitenstraßen vermochte irgendwie die Kampfeswut der Arbeiter zu dämpfen. Auch die weiter nördlich gelegenen Zechen begannen jetzt den Truppen zuzusetzen, so dass der Ab-
marsch immer mehr ins Stocken geriet. Alles kam durcheinander, und in wilder Panik warfen ganze Züge der durch fortwährende Kämpfe, Märsche und Gerüchte zermürbten Truppen ihre Gewehre vor einigen schlechtbewaffneten Kumpels hin und gaben sich gefangen.
Ein Hauptmann von den 135ern versuchte angesichts der verstopften Brücke mit seiner Kompanie seitwärts entlang der Bahn einen Übergang zu gewinnen. Sie fanden auch nur wenig Widerstand, aber die Straße mündete bald in einen schmalen Engpass. Links lag der Bahnkörper mit hohem stachligem Eisenzaun, jenseits der Bahn der Kanal, rechts aber zogen sich weithin die hohen Mauern der Schlackensteinfabrik.
Eine riesige, von Betonmauern gestützte Schlackenhalde sprang wie ein Sperrfort rechteckig in die Straße hinein.
„Da oben sind welche", rief ein Unteroffizier, dessen scharfe Augen den unheimlichen Berg ängstlich abtasteten.
„Die Kerls haben ja keine "Waffen", beruhigte der Offizier, der, sich im Sattel aufrichtend, durch das Fernrohr ein halbes Dutzend fäusteballender Arbeiter erblickt hatte. Aber plötzlich begann es dort oben zu rutschen und zu prasseln, Steine und Schlackenbrocken bis zur Größe eines Quadratmeters brachen hernieder.
„Auseinander! Marsch, marsch!" brüllte der Hauptmann, da schmetterte schon ein scharfzackiger Schlackenbrocken seinem Pferd in die Vorderfüße, dass sich Roß und Reiter überschlugen. Rettung vor den Lawinen gab es nur vorne! Als sie aber die Straße durch einen quergestellten Wagen verriegelt fanden, warfen auch sie die Gewehre hin und ergaben sich.
Sukrow war im Weiterlaufen auf die rückwärtige Mauer der Berg- und Hüttengesellschaft „Deutsche Erde" gestoßen, an der entlang er bis zur Ratinger Straße kommen musste. Immer heftiger wurde das Geschieße, aber die Mauer wollte und wollte kein Ende nehmen. Kurz vor der Ratinger Straße lag eine alte Abraumhalde, nach den Straßen hin mit einer schräggestellten Betonmauer abgesteift. Unten standen an zwanzig Arbeiter, von denen einer ein Infanteriegewehr mit abgesplittertem Kolben, ein anderer einen Pferdeeimer aus Segeltuch mit Stielhandgranaten trug. Gierig streckten sich die Hände danach aus. Sukrow erwischte die letzte.
„Oben haben sie zwei Maschinengewehre eingebaut, damit können sie die ganze Ratinger- und Lichstraße beherrschen, wir müssen sie runterholen", sagte jemand. Sukrow hatte gewohnheitsgemäß den Handgranatenstiel herausgeschraubt und traute seinen Augen nicht. „Wisst ihr denn überhaupt mit den Dingern Bescheid?"
Ein junger Bursche machte die Bewegung des Handgranatenwerfens: „Einundzwanzig - zweiundzwanzig -dreiundzwanzig! -"
„Ja, ihr Schafsköpfe, aber die Sprengkapseln fehlen, so gehen sie nicht los", rief ein kleiner Kerl in verschmutzter Marineuniform.
Sukrows Blick fiel auf einen Jungen, der eine Holzschachtel in der Hand hielt und erkannte sofort die gefährlichen Dinger. Schnell waren die Wurfgranaten geschärft.
Oben begannen die unsichtbaren Maschinengewehre zu hämmern.
Der Matrose maß prüfend die Höhe der Wand. „Ach was, die acht Meter kommen wir schon hinauf", rief er, steckte die Granate in die Tasche und begann, ohne sich umzusehen, geschickt die schräglaufenden Regenrinnen auf allen vieren emporzuklimmen. Die anderen folgten. Einige rutschten zwar zurück, aber die meisten kamen doch bis zur Mauerkrone.
Die Schützen an dem MG., die sich durch den hinter ihnen klaffenden Abgrund gesichert glaubten, bekamen keinen schlechten Schreck, als hinter ihnen eine Detonation ertönte. Alle hoben die Hände hoch bis auf einen Unteroffizier, der die Pistolentasche aufriss. Aber ehe er zum Schuss kam, schlug ihm eine Stielhandgranate über das Gesicht, dass das Blut spritzte.
Sukrows geübter Blick erkannte sofort die strategische Wichtigkeit dieses Postens. „Alles hört auf mein Kommando!"
Die Arbeiter blickten ihn erstaunt an - und gehorchten.
„Die Gefangenen legen sich drüben am Mauerrand platt auf die Erde, zwei Mann als Bewachung dazu. Sowie sich einer rührt, Handgranaten dazwischen! Wer ist am MG. ausgebildet?"
Der Matrose und zwei Mann meldeten sich. Sukrow richtete das eine Gewehr eigenhändig auf die etwa dreihundert Meter entfernte Straßenkreuzung, die gerade von dichten Infanteriekolonnen passiert wurde. Schon nach der ersten Geschoßgarbe, die etwas zu hoch ging, stockte der Durchmarsch. Während ein Teil der Soldaten die kugelspritzende Halde unter Feuer zu nehmen versuchte, machten die anderen gegen die nachdrängenden Arbeiter einen wütenden Gegenangriff, wobei sie aus den Kellern der Häuser alle Einwohner heraustrieben. Und nun geschah das Unglaubliche: Sie jagten die Gefangenen in das Schussfeld der gegnerischen Maschinengewehre, damit der Durchmarsch weiterhin ungehindert vonstatten gehen konnte.
„Verdammt", schrie der Matrose, „jetzt stellen wir unsere Gefangenen auch vor die Gewehre."
„Das nutzt uns einen Dreck, wenn wir uns dann gegenseitig nur angaffen. Die ganze Gruppe rückwärts hinter die Halde", kommandierte Sukrow.
„Solche Schufte!" keuchten die Arbeiter, die nicht übel Lust hatten, ihre Erbitterung an den Gefangenen auszulassen.
„Acht Mann mit einem MG. halten den Posten besetzt, damit sich die Noskes nicht wieder einnisten. Wir anderen müssen sehen, ihnen wieder in die Flanke zu kommen", sagte der Führer. Durch die verödeten Werkanlagen hindurch gelangten sie auf eine Seitenstraße, wo sich ihnen neue Arbeitergruppen anschlossen.
Gegen drei Uhr zog sich der Kampf nach Norden hinaus. Hinter den geschlagenen Truppen aber stießen die einmal in Wallung geratenen Arbeiter scharf her. Die Ratinger Straße dröhnte von den verfolgenden Lastkraftwagen; schussfertig drohende Maschinengewehre auf den Führerhäuschen. Auf Trittbrettern und Kühlern, ja selbst auf den Kupplungen der Anhänger standen und hockten in lebensgefährlichen Stellungen, den Hut weit im Genick, die Knarre schussgerecht in der Faust, die schwarzen, verwegenen Gestalten der Hamborner und Ruhrorter Kumpels. Ein Kommandoruf - und wie die Katzen sprangen sie ausschwärmend herunter. Unter großem Jubel folgte ein Panzerauto mit roter Flagge.
Auch Sukrows Abteilung hatte ein Lastauto requiriert. Die Arbeiter brannten darauf, sich der Verfolgung anzuschließen, aber der umsichtige Führer ließ vorerst auf einem benachbarten Hof Benzin zapfen. In der Nähe des Bahnüberganges musterte er inzwischen seine auf ungefähr fünfzig Mann angewachsene Schar, die sich willig seinem Kommando untergeordnet hatte. Bei Ausgleichung der Bewaffnung, Gruppenteilung usw. unterstützte ihn wiederum Kleinjohann, der Matrose, ein ehemaliger Angehöriger der Berliner Volksmarinedivision. Aus den umliegenden Häusern aber eilten Frauen herbei, um die tapferen Streiter mit Kaffee und Brot zu laben. Ein Kaufmann verteilte Zigarren.
Plötzlich rief eine bekannte Stimme Sukrow beim Namen. Max Grothe, das Gewehr über den Rücken, zwei halbgeleerte Patronengurte um den Hals, und eine blutige Binde um die Stirn, begrüßte ihn stürmisch. „Bist du verwundet?" fragte Sukrow besorgt. „Nicht der Rede wert, mein Junge, ein Steinsplitter streifte mich, als bei der katholischen Schule eine Mine einschlug, - aber wo hast du nur gesteckt, wir suchten dich schon überall."
„Wir haben die Halde bei ,Deutsche Erde' gestürmt! Zwei Maschinengewehre erbeutet", prahlte ein junger Arbeiter.
„Dann wart ihr die, die den Abmarsch auf der Ratinger Straße ins Stocken brachten? - Unterdessen haben die Hamborner zwei Kanonen erbeutet", schmunzelte der junge Kommunist. „Aber jetzt musst du mit zum Volkshaus, wo der Vollzugsrat über den militärischen Oberleiter beraten wird."
In diesem Augenblick fuhr das Auto vor, und die Arbeiter sprangen, noch ehe es richtig hielt, hinauf. Sukrow machte ein unschlüssiges Gesicht. „Ich möchte meine lieben Kerle doch jetzt nicht im Stich lassen!"
Grothe widersprach. „Dudo, der militärische Oberkommandierende aus Mülheim, dem wir uns unterstellt haben, ist hier und besteht darauf, dass wir uns eine vernünftige militärische Organisation schaffen. Es sind genug unterwegs, um die Noskes weiterzujagen. Aber was wir brauchen, ist eine richtige Rote Armee, die uns ein festes Rückgrat gibt, um den Stoß weiterzuführen, wenn die Kappisten sich setzen. Wir haben eine ganze Menge Waffen erbeutet. Du musst jetzt das Einteilen unserer Formation übernehmen."
Sukrow zauderte noch immer. „Gerade aus dem Grunde wird es gut sein, wenn ich mitfahre, um die Noskes auf dem laufenden zu halten. Das Einteilen kannst du ebensogut vornehmen, da wir ja erst neulich die Sache eingehend besprochen haben. Außerdem kennst du die Leute alle besser als ich."
Die Kumpels auf dem Auto wurden schon ungeduldig, und der Chauffeur ließ den Wagen langsam anlaufen. „Also topp, dann Hals- und Beinbruch zur fröhlichen Jagd, ich komme dir spätestens morgen früh mit dem formierten Haupttrupp nach", entschied Grothe, kurz entschlossen ihm die Hand drückend. Ein Dutzend Hände streckten sich Sukrow beim Aufsteigen hilfreich entgegen.
Die Zurückbleibenden schwenkten ihre Kappen. „Hoch!" - „Hoch!" - „Gebt's ihnen noch ordentlich, Kumpels!" - „Wir kommen nach!" riefen sie den Abfahrenden nach. Lustig flatterte der rote Wimpel im Winde.

 

14. KAPITEL

Stehend und mit entblößtem Haupt hörten die Männer den kurzen Nachruf des Vollzugsratsvorsitzenden für die im Kampf gefallenen Proletarier an.
„Aus unserer Mitte hat es den Genossen Kösfeld erwischt. Fehlt sonst noch jemand?"
„Nur noch Genosse Reese", rief der Straßenbahner Schmidt, dessen rechte Hand in einem unförmigen Verband steckte.
„Weiß einer was von Reese? Hat ihn jemand im Kampf wo gesehen?" fragte Jeitner.
„Der und Kampf? - Der sitzt sicher noch im Keller", rief eine Stimme, was auf den ernsten Gesichtern der Arbeitervertreter ein verständnisvolles Grinsen hervorrief.
Ein kleiner, kahlköpfiger Mann, der beide Hände auch beim Sprechen nicht aus den Taschen seines Überziehers nahm, erhob sich.
„Das ist ,Dudo'", raunte man sich gegenseitig zu. Der mysteriöse Kampfleiter mit den rotentzündeten Augenlidern machte in seinem verwahrlosten Äußern den Eindruck, als ob er seit acht Tagen nicht mehr aus den Kleidern gekommen sei.
„Genossen, es ist jetzt noch nicht Zeit, die Toten zu beklagen", begann er mit erhobener Stimme. „Es wird noch mehr Opfer geben, ehe wir unser großes Ziel erreicht haben. Damit es sowenig wie möglich werden, müssen wir wenig reden, aber schnell und entschlossen handeln! Soeben kommen drei Mülheimer sowie eine Rad fahrende Kompanie aus Styrum durch. Von Düsseldorf sind vierzehnhundert Mann unterwegs. Die Swertruper müssen sich anschließen, aber nicht wie eine regellose Hammelherde, sondern straff organisiert und diszipliniert. Ohnedem ist eine Rote Armee nicht denkbar. Vor allem müsst ihr jetzt einen militärischen Führer bestimmen."
„Nehmen wir doch unseren alten Sicherheitsausschuss", schlug einer vor. - Grothe bat ums Wort. „Genossen, wir stehen natürlich völlig zur Verfügung, haben auch schon allerlei Vorkehrungen getroffen. Aber zum eigentlichen Kommandeur soll man doch möglichst einen Mann nehmen, der größere Fachkenntnisse als unsereiner besitzt. Ich schlage dafür den Genossen Sukrow vor -einen ehemaligen Offizier - der wohl einigen von euch bekannt sein dürfte."
„Bravo, Sukrow ist der richtige - wo ist er denn", rief Oversath, froh, dass ein Sozialdemokrat vorgeschlagen wurde.
„Mit einer Autostaffel hinter den Hacketäuern her!"
Der Vorsitzende machte ein bedenkliches Gesicht.
„Ich weiß nicht, ob man jemand, den man persönlich so
wenig kennt, mit solch verantwortungsvollem Posten
betrauen kann?"
„Ich bürge für ihn", rief Ruckers.
„Was heißt bürgen? Er hat die Halde bei ,Deutsche Erde' erstürmt", rief zur Linden aufgebracht. Diese Bemerkung gab den Ausschlag für die einstimmige Wahl des in der preußischen Armee degradierten Offizierstellvertreters Sukrow zum Kommandeur des roten Swertruper Bataillons.
Die Ratinger Straße und die angrenzenden Viertel waren von dem erbitterten Straßenkampf hart mitgenommen. Aber tausend geschäftige Hände bargen die Toten und Verwundeten, sammelten Waffen und Ausrüstungsgegenstände, regten sich zur Beseitigung der Barrikadentrümmer. Währenddessen durchstreiften bewaffnete Arbeiterpatrouillen mit roter Binde am Arm die Straßen, um etwaigen Plünderungen und Aneignungen vorzubeugen.
In der „Tonhalle" hatte man für die Gefangenen, die einen bejammernswerten Eindruck machten, eine Sammelstelle eingerichtet. Die meisten von ihnen, vor allem aber die Offiziere, erwarteten nichts anderes, als dass man sie auf den Hof führen und reihenweise erschießen würde. Sie glaubten ihren Ohren nicht zu trauen, als gegen sieben Uhr abends das Kommando erscholl: „Zu zweien antreten zum Kaffee- und Brotempfang!" Was sich aber von den Swertruper Arbeitern jung und frisch fühlte, das drängte auf dem Hof des Cäcilienlyzeums zu den Freiwilligenlisten. Neben blutjungen, kaum der Schule entwachsenen Burschen kamen Kumpels mit gebeugtem Rücken und eisgrauem Haar, ja selbst Invalide, und es gab viel Verdruss, wenn offenkundig Ungeeignete mit Vertröstung auf später zurückgewiesen wurden.
Auf dem Hof standen die Eingetragenen Kopf an Kopf. Von einer Bank herunter bemühte sich Grothe, Ordnung in das Chaos zu bringen.
„Ruhe und mal herhören!" brüllte er. „Alles, was nicht an der Waffe ausgebildet ist, auf dem hinteren Hof in zwei Gliedern antreten."
„Sollen wir denn keine Flinten kriegen?" fragten mehrere argwöhnisch.
„Gewiss, Alterchen, aber man wird euch mit Kollegen zusammenstellen, die euch Bescheid zeigen, damit ihr keine Löcher in die Luft schießt", antwortete Grothe gutgelaunt. Annähernd die Hälfte strömte nach hinten.
„Alle ehemaligen Chargierten vom Gefreiten aufwärts bis zum Generalfeldmarschall nach dem Konferenzzimmer im ersten Stock!" Wieder verschwand ein Teil.
„Artilleristen und Minenwerfer rüber zur Turnhalle, desgleichen alle Matrosen", kommandierte Grothe, dem es Spaß machte zu sehen, wie eifrig man seinen Anordnungen nachkam.
„Willst du mit den Kulis eine reitende Gebirgsmarine einrichten?" fragte Ruckers.
„Nee, aber für den Fall, dass nicht genügend Artilleristen vorhanden sind, greifen wir auf die Matrosen zurück. Die wissen vom Schiff her am besten, wo bei den Kanonen vorn und hinten ist."
„Maschinengewehrschützen sammeln sich drüben in der Ecke; die Spezialisten: Pioniere, Flammenwerfer und dergleichen nach der Aula. Alles Übrige in zwei Gliedern antreten, aber ein bisschen marsch, marsch!"
„Wo bleiben die Kavalleristen?" fragte eine Stimme.
„Vorläufig reitet ihr auf Schusters Rappen mit der Infanterie."
„Mensch, das Kommandieren hast du weg, wie mein früherer Hauptmann", bemerkte Ruckers bewundernd.
„Wie das Kommando, so die Ausführung! - Jetzt teilst du hier von den Infanteristen immer Gruppen zu fünf Mann ab, die sich aus ihrer Mitte einen stellvertretenden Gruppenführer wählen. Von zur Linden lässt du dir zu jeder Gruppe vier Unausgebildete hinzugeben, Der Stellvertreter schreibt dann sofort Name, Adresse, Alter, Beruf und Organisation der Leute auf. Ich werde mir jetzt oben die Chargierten ansehen. Jeder Gruppen - und Zugführer, den ich dir schicke, kriegt einen Zettel." „Zu Befehl, Exzellenz!" lachte Ruckers, „aber wenn die Chargierten nun nicht ausreichen?"
„Dann befördern wir welche kraft unserer Vollmacht", antwortete Grothe und eilte die Treppen empor. Hier kam ihm schon der Lehrer Fahrenhorst mit einer Liste entgegen.
„Neunundzwanzig Gefreite, dreiundzwanzig Obergefreite und Unteroffiziere, fünf Feldwebel und je ein Offizierstellvertreter, Leutnant und Oberleutnant", meldete er.
„Der Leutnant sind Sie; aber wo haben Sie den Oberleutnant her?" fragte Grothe überrascht.
Ein etwa vierzig Jahre alter Mann mit rötlichem Vollbart und Kneifer stellte sich mit unverkennbarem österreichischem Dialekt vor: „Alois Lubasch - Buchhalter bei Kaltenborn und Opler - vom 16. k. u. k. Artillerieregiment!"
Grothe kämpfte mit einem unbehaglichen Gefühl. „Und Sie wollen zur Roten Armee? Haben Sie sich das auch reiflich überlegt?"
„Ich war anderthalb Jahre in Russland gefangen und kommandierte bei Kasan eine rote tschechische Kompanie. Das kann ich Ihnen natürlich im Moment nicht beweisen. Ich verstehe Ihr Misstrauen vollkommen, lege auch keinen besonderen Wert auf ein Kommando. Am liebsten hätte ich einen Stoßtrupp; dann könnten
Sie sehen, wer ich bin", antwortete der Österreicher einfach.
„Wir sprechen später über die Artillerie. Gehen Sie einstweilen nach unten und sehen Sie sich die Leute an", sagte Grothe kurz entschlossen und wandte sich den anderen zu. In einer knappen halben Stunde hatte er die provisorischen Gruppen- und Zugführer bestallt.
Bei den technischen Truppen sah es noch recht unordentlich aus. „Ich habe", sagte Felgentreu, „sieben Pioniere zu einer Gruppe zusammengeschlossen. Die drei Sanitäter und den Feldunterarzt werden wir auch gebrauchen können. Einen Büchsenmacher habe ich gleich nach unten zur Waffensammelstelle geschickt. Aber was machen wir mit den anderen? Da sind Flieger, Blinker, Flammenwerfer, Schallmessleute und sonstiges Gesocks."
„Das ist ja fein, die werden in ihrer Waffenart registriert und in Gruppen zur besonderen Verwendung bereitgehalten", sagte Grothe.
Unterdessen waltete in den abgesperrten Parterreräumen Ruckers mit einer Anzahl Arbeiter der schwierigen Aufgabe des Sortierens, Registrierens und Nachsehens der Beutewaffen. Da gab es ganze Haufen von Gewehren und Karabinern, die sich zum Teil infolge unkundigen Gebrauchs in einem trostlosen Zustand befanden. Dazu Koppel mit Seitengewehren, Schanzzeug und Brotbeuteln, ferner Handfeuerwaffen, Maschinenpistolen und Handgranaten. Auf dem Gang standen in langer Reihe leichte und schwere Maschinengewehre sowie ein Granatwerfer. In einem anderen Zimmer gab es Tornister, Zeltbahnen, Stahlhelme; in einem dritten Feldstecher, Leuchtpistolen und Kartenmaterial. In einer Hofecke waren vier erbeutete Feldgeschütze und fünf Minenwerfer sowie eine Anzahl Feldküchen aufgefahren. Und noch immer brachten Leute einzeln oder mit Handwagen allerlei Waffen, Munition und Ausrüstungsstücke. Vergeblich versuchte Ruckers, dessen Nerven eine bedenkliche Spannung erreicht hatten, Ordnung zu schaffen, kommandierte hierhin und dorthin, traf Anordnungen, die er im nächsten Moment widerrief, und schimpfte, bis ihn ein Kumpel mit sanfter Gewalt auf eine Handgranatenkiste niederdrückte:
„So, lieber Pidder, nun hole erst mal tief Luft und rege dich etwas ab; wir werden schon unterdessen allein weiterkommen."
Grothe hatte gehofft, bis elf Uhr abends mit allem fertig zu werden, um sich dann einige Stunden Ruhe zu gönnen. Aber es wurde drei Uhr, ehe er sich auf einer Bank im Physikzimmer zu einem unerquicklichen Schlaf niederstrecken konnte. Der Bataillonsarzt, Dr.Dirschauer, hatte es sich auf drei Stühlen bequem gemacht. Auf dem Tisch schliefen dicht an dicht Konsumlagerhalter Bähnisch und Krankenkassenbeamter Plötz, die mit den wichtigen Funktionen des Proviant- bzw. Zahlmeisters betraut waren, während der Mechaniker Hofrichter, den man zum Waffenmeister bestimmt hatte, einfach in einer Ecke auf der Erde schnarchte. Am Fenster aber saß, zusammengekauert in einem Armsessel, Hans Küpper, der kleine flinke Spüljunge des Flaschnerlaboratoriums, der, seitdem ihn Grothe beim Bau einer Barrikade mitten im Feuer angetroffen hatte, zur Würde einer Bataillonsordonnanz avanciert war. - In Aula, Turnhalle und den Klassenzimmern hockten und lagen die Arbeitersoldaten in den unmöglichsten Stellungen umher. Aber wenig Schlaf kam in ihre Augen. Um fünf Uhr früh weckte eine helle Feldtrompete die Schläfer, und alles rüstete sich zum Abmarsch.
Wohl läuteten an diesem Sonntagmorgen die Swertruper Kirchen zu Frühmesse und Gottesdienst. Aber alles strömte nach dem Hindenburgmarkt, um dem Auf - und Abmarsch der Roten Armee beizuwohnen In Viererreihen und straffer Haltung, das Gewehr auf der Schulter, marschierten die Kompanien auf und schwenkten zu einem Karree. Polternd auf dem Kopfsteinpflaster folgten die Geschütze, Sanitäts- und Bagagewagen.
Ein an militärischen Gamaschendienst gewöhntes Auge mochte an dieser buntscheckigen Schar wenig Wohlgefallen finden. Die meisten trugen ihre Arbeiterkleidung, schmutzig, zerrissen und geflickt, so wie sie auf Schacht und Hütte gingen. Nicht wenige hatten allerdings alte Uniformstücke an, die oft wunderlich mit der übrigen Zivilkleidung in Gegensatz standen. Die erbeuteten Stahlhelme anzunehmen, wie es die militärischen Fachleute geraten, hatten sie aus ihrem instinktiven Hass gegen dieses Symbol der Noskiten abgelehnt.
Von allen Seiten herzu drängten sich Frauen, Kinder und andere Verwandte und Freunde der roten Soldaten, um sie noch einmal zu sprechen, ihnen ein Paketchen mit Liebesgaben zuzustecken, und die aufgebotenen Ordner hatten alle Hände voll zu tun, um das Aufmarschterrain freizuhalten. Um halb acht Uhr erschien der Vollzugsrat, um Abschied von den Truppen zu nehmen. Plötzlich hörte man laute „Ah!"-Rufe.
„Reese ist wieder von den Toten auferstanden." „Wie war es denn im Kohlenkaschott, Reese?" „Komm man mit, Emil, wir haben bei der Feldküche für dich einen Platz reserviert!"
Stürmisches Gelächter rollte über den Platz.
Der, dem diese Sticheleien galten, wurde krebsrot, wäre gern in diesem Moment zum unscheinbaren Mäuslein geworden. Da ein Umkehren unmöglich erschien, tat er, als ginge ihn das alles nichts an, und markierte eine emsige Unterhaltung mit seinem Nachbarn. Der Vollzugsrat hatte Reese zum Sprecher bestimmt. Jetzt weigerte er sich aber entschieden. Jeitner war vollkommen heiser, Ruckers mit seinen Nerven fertig, und alle anderen erklärten, nicht genügend vorbereitet zu sein. So blieb Grothe nichts weiter übrig, als sich selber die „Leichenrede" zu halten, wie er sich ironisch ausdrückte.
Als er die als Tribüne dienende Munitionskarre bestieg, wusste er noch gar nicht, was er sagen sollte, hatte nur das eine Gefühl: Jetzt werde ich bestimmt Unsinn verzapfen. Als er aber dann in die vertrauensvoll zu ihm aufblitzenden Augen der Kameraden blickte, überkam ihn naturhaft eine Begeisterung, die ihm Worte, besser als nach sorgsamster Rededisposition, verlieh.
„Kampfgenossen!" rief er mit heller Stimme, dass es von den Häuserfronten widerhallte, „der große Augenblick ist gekommen, wo wir als Rote Armee hinausziehen, um für die heilige Sache des Proletariats zu kämpfen. Viele von uns haben es oft genug erlebt, hinaus auf die Schlachtfelder des Imperialismus geschickt zu werden, dafür, dass die Reichen noch reicher und übermütiger und die Armen noch ärmer und noch mehr unterdrückt werden. Wir aber, Genossen, ziehen freiwillig aus, folgend unserer eigenen politischen Einsicht und dem Grundsatz berechtigter Notwehr. Ihr alle wisst, dass weder die Arbeiter Swertrups noch sonst irgendeiner Stadt Deutschlands aus Übermut die Waffen ergriffen haben. Die Reichswehr, geführt von reaktionären Offizieren, ist der unfähigen Regierung völlig aus der Hand geglitten. Wenn man angefallen wird, fragt man nicht lange nach Gesetzesparagraphen, dann verteidigt man sich eben. Überdies hat die Regierung zum Generalstreik und zum Kampf gegen die Kappisten ,mit allen Mitteln' aufgerufen.
Wir geloben, die Waffen nicht eher aus der Hand zu lassen, bis wir endgültige Garantie dafür haben, dass man uns nicht wieder meuchelmörderisch überfällt.
Der Vollzugsrat ist erschienen und hat mich beauftragt, euch seinen Dank und die besten Wünsche für neue Siege mitzugeben. Jeder Frontkämpfer erhält neben freier Verpflegung täglich fünfzig Mark. Man wird den nötigen Nachschub organisieren und für die Angehörigen der Verwundeten und Gefallenen sorgen. Verlangt wird dafür aber strenge Ordnung und Disziplin. Plündern und Feigheit vor dem Feind sowie Gehorsamsverweigerung werden durch revolutionäre Standgerichte mit Erschießen bestraft. Noch ist niemand gebunden, und es steht jedem frei, zurückzutreten. Mir ist zu Ohren gekommen, dass sich Kameraden beschweren, weil sie die Nacht ohne Stroh kampieren mussten oder heute früh keinen Kaffee erhielten. Ich nehme an, dass diese Kameraden bei der Firma ,Preuß und Österreich' jeden Morgen ihren Kaffee ans Bett bekamen. Bei uns klappt das leider noch nicht! Wir werden daher Lüttwitz bitten, den nächsten Putsch so zeitig voranzumelden, dass wir alles bereithalten können, vom Kopfkissen bis zu Wärmflasche und Regenschirm."
Jetzt ging das Grinsen der Arbeiter in laut schallendes Gelächter über.
„Genossen", brüllte Grothe mit einer Stärke, die ihm der Zorn verlieh, und augenblicklich wurde alles wieder mäuschenstill. „Hier gibt's nichts zu lachen. Die Sache ist zu ernst. Für den wilhelminischen Größenwahn habt ihr euch jahrelang in Schlamm und Dreck gesielt, euch aushungern, betrügen, quälen und treten lassen. Da hat kein Aas auch nur gemuckt. Aber wenn es um eure eigene Sache geht, um eure Frauen und Kinder, dann geht von vornherein das Räsonieren los. Das dulden wir nicht! Wer für unsere große Sache nicht Not und Entbehrungen auf sich nehmen kann, der kann noch viel weniger sein Leben in die Schanze schlagen. Auf solche Elemente verzichten wir!"
„Die sollen zur Reichswehr gehen", rief ein grauhaariger Hüttenarbeiter.
„Jawohl, Grothe hat Recht! Ran an den Speck! Hoch Genosse Grothe!"
Alle Disziplin vergessend, drängten die Nächststehenden vor, schüttelten ihm die Hände, und ein pockennarbiger Pole umarmte und küsste ihn stürmisch auf die Wange.
Ein Kommandoruf ordnete wieder die Reihen. Die Kompanieführer traten vor ihre Formationen.
„Kompanie Rosa: Im Gleichschritt, marsch!"
„Kompanie Deutsche Erde: Im Gleichschritt, marsch -anhängen!"
„Kompanie Liebknecht: Im Gleichschritt, marsch -anhängen!"
„Kompanie Zeche Beate: Im Gleichschritt, marsch -anhängen!"
„Kanoniere und Bagage: Aufgesessen!" - „Batterie: Marsch - anhängen!"
Die Tambours der Arbeiterturner ließen ihre Trommeln wirbeln. Der fünfundsechzigjährige Bergarbeiter Simoweid hob das rote Banner. Die Menge schwenkte Hüte und Tücher. -
„Hoch unsere Rote Armee!"
„Nieder mit den Kappbanditen!"
„Nieder!"... „Nieder!"... „Nieder!"
Und dann setzte plötzlich schmetternd die Bergarbeiterkapelle ein: „Die Internationale", und mit entblößtem Haupt sangen die Massen begeistert mit:
„Völker, hört die Signale, Auf zum letzten Gefecht. Die Internationale Erkämpft das Menschenrecht!"
An der Spitze gab ihnen der Vollzugsrat das Geleit bis zum Eisenbahnübergang. Reese hatte sich spurlos verkrümelt.
Mit einem furchtbaren Schlag seiner stahlharten Faust hatte sich der Titan Proletarier im Ruhrgebiet Luft gemacht. Über Nacht schossen, wie Pilze nach einem warmen Regen, die Kampfformationen der Arbeiter, die „Rote Armee", aus der Erde.
Ein Wunder war geschehen! Die durch politische, gewerkschaftliche und konfessionelle Strömungen zerrissene Arbeiterschaft hatte sich zu einer Aktionseinheit zusammengefunden. Den Einheitskitt bildete der gemeinsame Hass gegen das Noskesystem.
Im gewöhnlichen Leben kommt es öfter vor, dass jemand, der sich in den Streit zweier Straßenpassanten einmischt, von diesen zum Schluss nun gemeinsam verprügelt wird. So ging es auch den Ruhrarbeitern im März 1920, die sich urplötzlich einer geschlossenen Front gegenübersahen, die von den Kappisten über die republikanischen Parteien bis zu den Sozialdemokraten reichte.
Schlotternde Angst vor den bewaffneten Proletariermassen schmiedete sie zusammen. Kapp und einige seiner Mitkämpfer begaben sich ins Ausland. Ihre bewaffneten Verbände aber stellten sich - genau wie 1919 -der „rechtmäßigen Regierung" zur Verfügung... gegen die Arbeiterschaft!
Während die putschistischen Brigaden sich hinter der Lippe sammelten, ließ die Regierung durch ihre Kommissare alle Minen springen, die Arbeiter zur Waffenabgabe zu veranlassen. Konferenzen über Konferenzen fanden statt, Aufrufe wurden verbreitet - Gerüchte kolportiert - alles in der bewussten Absicht, die Arbeitereinheitsfront zu zersetzen.
Andererseits fuhren deutsche Militärbevollmächtigte nach Paris, um die Einkreisung der Roten Armee zu vollenden. Am 23. März bettelte ein deutscher Offizier, Herr von Michaelis, beim „Erbfeind" um die Erlaubnis, mit achtundvierzig Bataillonen, vierzehn Schwadronen und vierzig Batterien in das Ruhrgebiet einmarschieren zu dürfen; eine Forderung, die drei Tage später der deutsche Geschäftsträger, Mayer, wiederholte. Schamlos erinnerte er dabei an die Bütteldienste, die Bismarck fünfzig Jahre vorher gegen die Pariser Kommunarden geleistet hatte.
Außerdem erstand der Reaktion im Lager der Arbeiter noch ein furchtbarer Verbündeter: der Hunger! Der Inhalt der Lager verausgabte sich oder verschwand in unterirdischen Kanälen. Da alle Zufuhren abgedrosselt waren, sahen sich die Vollzugsräte alsbald zu einschneidenden Rationalisierungen gezwungen. Die Lieferungen für die Rote Front stockten, so dass sich die Arbeitertruppen zu Requirierungen gezwungen sahen, was neuen Anlass zu Geschrei über Plünderungen und roten Terror gab. Ende März konnten in vielen Orten an die Zivilbevölkerung nur noch pro Woche und Kopf zwei Pfund Brot und vier Pfund Kartoffeln abgegeben werden.
So war die Lage auch in Swertrup, als am Dienstagnachmittag nach dem roten Sonnabend sich auf der Düsseldorfer Chaussee ein einspänniges Wägelchen der Stadt näherte. Auf dem Rücksitz lehnte, den Rosenkranz zwischen den Fingern, eine Ordensschwester in der grauen Tracht der Ursulinerinnen. Sie hatte den Schleier weit über das Gesicht gezogen, so dass nur die Augen und ein weißer Nasenverband zu sehen waren. Bei der Bahnüberführung waren die Schranken herabgelassen. Einige Mitglieder der Arbeitersicherheitswehr ließen sich vor dem Wärterhäuschen kartenspielend die warme Märzsonne auf den Rücken brennen.
„Wie komme ich zum Sankt Ursula-Hospital?" fragte das Bäuerlein, das pfeifeschmauchend den Wagen lenkte. „Hast du einen Ausweis?" - Der Bauer reichte umständlich einen zusammengefalteten Zettel.
Der Posten schüttelte den Kopf. „Das ist ja ganz schön und gut. Da schreibt der hochwürdige Pater Benedikt aus Düsseldorf eine Überweisung der Schwester Veronika, die sich bei der Krankenpflege in Palästina den Lupus zugezogen hat, ins Ursula-Hospital. Aber ohne Ausweis des Düsseldorfer Vollzugsrats darf ich dich nicht passieren lassen."
Der Kutscher zuckte blöde mit den Schultern. Die Wachleute warfen halb neugierige, halb mitleidige Blicke auf die vermummte Gestalt.
„Lupus ist ja etwas furchtbar Ansteckendes, so wie Lepra", sagte einer, sich schüttelnd. - „Gott, eine Kranke - da braucht man es doch nicht so genau zu nehmen", bemerkte ein anderer.
„Man weiß nie, wie man es recht macht", sagte der Wachhabende. „Einmal sollen wir jeden ohne Ausweis zur Kommandantur schicken, andererseits aber auch den christlichen Gefühlen der Arbeiter Rechnung tragen! Also macht schon die Schranke hoch und zeigt ihnen den Weg!"
Langsam ratterte das Wägelchen nach dem Ursula-Hospital, wo die Insassin mit Hilfe der Pförtnerin zu dem im ersten Stock gelegenen Zimmer des Anstaltsgeistlichen emporstieg.
Der alte Herr sprach den Willkommenssegen, rückte der Kranken einen Stuhl hin und öffnete, nachdem sich die Pförtnerin entfernt hatte, das überreichte Schreiben.
Als er, hinter seinem Rücken ein Geräusch hörend, sich umsah, entfiel der Brief vor Schreck seinen zittrigen Händen. An Stelle der kranken Nonne stand vor ihm der leibhaftige Satan in Gestalt eines schönen jungen Weibes in grauem Reisekostüm.
„Sie brauchen kein Kreuzlein zu schlagen, hochwürdiger Herr", lachte Gisela Zenk, sich am Entsetzen des alten Seelsorgers weidend.-„Ich bin-wie Sie aus dem Schreiben ersehen - gezwungen, für einige Stunden Ihre Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Ich verspreche Ihnen, wenn Sie mir diese Briefe hier gleich durch einen zuverlässigen Boten besorgen lassen, dass ich Sie noch vor Anbruch der Nacht von meiner Anwesenheit befreien werde. Da aber in Klöstern und Pfarrhäusern die Türen häufig Augen und Ohren haben, habe ich mir erlaubt, einstweilen meinen Mantel vor das Schlüsselloch zu hängen." —
„Sie haben viel gewagt, gnädiges Fräulein", sagte Assessor Kuhlenkamp bewundernd, indem er Gisela wiederholt die Hand küsste.
„Nicht der Rede wert, mein Lieber", lachte sie übermütig und schlug ihrer Gewohnheit gemäß die Beine übereinander. „Mir macht Mummenschanz von jeher Spaß, und dieser hier umso mehr, da er unserer guten Sache dient. Tatsächlich war er nicht ganz ohne Gefahr, denn wenn die Herren Räte mich und meine Post erwischt hätten, wären sie wohl wenig zärtlich mit mir verfahren. Aber das Aufregende und Prickelnde ist mein Lebenselement! Ich verstehe nicht, wie es die Leute in der langweiligen Zeit vor dem Kriege überhaupt aushielten? Wenn ich ein Mann wäre, würde ich Soldat werden. Leider gibt es noch keine Walkürenregimenter, wo man die Kugeln pfeifen hören kann."
„Dazu hätten Sie vergangenen Sonnabend auch hier in Swertrup reichlich Gelegenheit gehabt. So etwas von beiderseitiger Erbitterung habe ich kaum in Frankreich erlebt", sagte Kuhlenkamp. „Übrigens, wenn Sie rauf zur Lippe kommen, können Sie es noch genug knallen hören. Die Roten haben sogar Geschütze und Minenwerfer."
„Also, Sie begleiten mich über den Rhein und helfen mir, den Peikchen an die richtige Adresse abzuliefern", sprang Gisela auf ein anderes Thema über.
„Ich fürchte, er wird Schwierigkeiten machen, da seine Mutter schwer krank an der Grippe liegt", bemerkte Kuhlenkamp.
„Das lassen Sie meine Sorge sein. Ich habe mir geschworen..."
Sie brach jäh ab; aber ihr Gegenüber bekam vor dem funkelnden Hass dieser schönen Augen ein Grauen. -
An der Haltestelle des Postautos trafen sie sich mit Peikchen.
„Es freut mich, dass Sie mich nicht im Stich lassen", sagte Gisela, während er, gewohnheitsgemäß die Hacken zusammenschlagend, ihre Fingerspitzen an die Lippen führte. - Kuhlenkamp, der sich mit einem abgetragenen Joppenanzug und einem Pflaster über seinen verräterischen Schmiss unkenntlich gemacht hatte, ging in einiger Entfernung auf und ab. - Peikchen machte ein klägliches Gesicht. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie unglücklich ich bin, dass gerade jetzt meine Mutter schwerkrank und ich..."
Gisela zog finster die Brauen zusammen. „Wie, Sie wollen nicht mit?" - Der junge Mann sah sie bittend an. „Leider hängt das nicht von meinem Willen ab."
„Ach, entschuldigen Sie, ich vergaß ja Ihre kranke Frau Mutter! Wir haben zwar im Rugard eine Eidesformel, die da lautet: ,Zu Lande, zu Wasser und in der Luft, zu jeder Jahres-, Tag- und Nachtzeit - ohne Rücksicht auf eigene Vor- oder Nachteile!' Man wird in der Zukunft auch noch einfügen müssen: auch bei Krankheitsfällen in der Familie!"
Der so mit eisigem Hohn Begossene wurde kreideweiß: „Wenn Gnädige befehlen..."
„Bemühen Sie sich nicht, Herr Peikchen! Ich werde auch ohne Ihren Schutz bei den Roten und Belgiern durchkommen. Herr Kuhlenkamp kann mich leider nur bis zum Rhein begleiten, da er eine andere Mission zu erfüllen hat. Befehlen lassen sich solche ritterlichen Dienste nicht!"
Peikchen straffte sich wie unter einem Peitschenhieb.
„Verzeihen Sie, dass ich wankte, ich bin ganz der Ihre", rief er mit fast weinerlicher Stimme.
„Schreien Sie nicht so, sonst müssen wir Sie doch noch hier lassen", sagte Gisela; ein triumphierender Seitenblick begegnete Kuhlenkamps spöttischen Augen.
„Also hören Sie zu: Sie haben sich unterwegs jeder eigenen Äußerung zu enthalten, auch das ,Gnädige Fräulein' und dergleichen beiseite zu lassen. Wenn Sie gefragt werden, verweisen Sie an mich, wir reisen unter der Flagge von Genossen. Ich bin Frau Gisela Krüger, Kuhlenkamp heißt Ewald Schumann, und Sie sind Walter Steinbock! Auch müssen wir uns von jetzt ab duzen — hast du verstanden?------"
„Zu Bef... Jawohl, Genossin Gisela", antwortete Peikchen.

 

15. KAPITEL

In Hörsum wartete ihrer eine Überraschung; die Straßenbahn, mit der sie bis Rheinfelden zu fahren gedachten, nahm erst am folgenden Morgen ihren Betrieb wieder auf. In einem Gasthof erkundigten sie sich nach der Entfernung bis zur Fähre. Der Wirt winkte einen der Gäste heran, der den Weg auf zwei Stunden taxierte. „Dann tippeln wir los", entschied das junge Mädchen. „Das wird Ihnen nichts nützen, denn das Motorboot stellt schon um acht Uhr wegen des Hochwassers den Verkehr ein", bemerkte phlegmatisch ein anderer. Der Bergbeamte wetterte alle deutschen und polnischen Flüche, die er von den Kumpels gelernt hatte. - „Haben Sie's denn so eilig?" fragte der Wirt. Gisela Zenk entfaltete mit geheimnisvollem Gesicht ein Schreiben; jetzt kam mit einem Male Bewegung unter die Anwesenden. Alle interessierten sich für das Dokument, das aber die Besitzerin nicht aus den Händen gab.
Ausweis.
Die Genossen Schumann, Steinbock und Frau Krüger sind von unterzeichnetem Vollzugsrat beauftragt, sich auf schnellstem Wege nach Amsterdam zu begeben, um die Verhandlungen über Einfuhr holländischer Lebensmittel ins Ruhrgebiet zum Abschluss zu bringen. Wir ersuchen alle Vollzugsräte und sonstigen Behörden, sie unbehindert reisen und ihnen jegliche Unterstützung angedeihen zu lassen.
Swertrup, den 23. März 1920.
Als Unterschrift trug der Ausweis den Stempel der Swertruper Bürgermeisterei, den Namen des Bürgermeisters Dr. Livenkuhl, und bei dem Vollzugsratsstempel einen unleserlichen Schnörkel, dessen Anfangsbuchstabe wie ein lateinisches B aussah.
„Da muss Rat geschaffen werden", rief ein einarmiger Kriegsbeschädigter. „Wir Großen sind ja das Hungern vom Krieg her schon gewöhnt. Aber wenn man die Kinder vor Hunger weinen sieht, krampft sich einem das Herz zusammen."
„Können Sie nicht Rad fahren?" fragte ein junger Arbeiter, „da sind Sie nämlich in zwanzig Minuten an der Fähre." Als das bejaht wurde, erschien er kaum zehn Minuten später mit drei Fahrrädern. „Ein Damenrad konnte ich nicht auftreiben", sagte er entschuldigend.
„Das macht nichts, ich bin schon öfter im Herrensattel gefahren", sagte Gisela, die mit Kennermiene die fast neue Maschine in Augenschein nahm.
„Die Räder stellt ihr an der Fähre im Gasthof auf den Namen Jeschke unter. Ich hole sie morgen früh wieder ab. Das meinige habe ich mir erst vor vierzehn Tagen auf Abschlag genommen, da ich in Könkern auf der Zeche arbeite und mit der Bahn immer so schlecht mitkomme. Jedem würde ich es auch nicht übergeben, ich hafte natürlich auch für die beiden anderen", sagte der Arbeiter, als er ihnen zum Abschied die Hand reichte.
Mit schmunzelndem Wohlgefallen sahen die Männer, wie sich das junge Mädchen ungeniert auf das Herrenrad schwang. - „Macht eure Sache gut, Genossen. Und lasst euch in Holland kein Kadaverfett anschmieren", wurde ihnen noch nachgerufen.
„Eure Kadaver werden bald selber Fett lassen", knurrte Kuhlenkamp, der die Spitze nahm. Mittlerweile war es dunkel geworden. Peikchen fuhr als letzter und wusste es so einzurichten, dass der grellweiße Lichtkegel der Karbidlaterne auf die taktmäßig auf- und niedersteigenden, grauseidenen Beine der Angebeteten fiel. Er bedauerte es aufrichtig, dass nach kurzer Fahrt schon die mattschimmernden Wellen des Stromes in Sicht kamen. „Drei Personen und drei Fahrräder", forderte der Assessor am Fährhaus. „Aber lassen wir denn die Räder nicht hier?" fragte Peikchen schüchtern. - „Schafskopp, die brauchen wir noch drüben", lautete die kurzangebundene Antwort.
Das kleine Motorboot hatte schwer gegen die heftige Strömung anzukämpfen, ehe es das jenseitige Ufer erreichte. Der Brückensteg stand unter Wasser, und die Reisenden mussten von einigen aufgekrempelten Arbeitern gegen ein Trinkgeld ans Ufer getragen werden. Ein belgischer Posten geleitete die drei Ankömmlinge in ein nahe gelegenes, vornehmes Gasthaus, in dem sich die Ortskommandantur befand. Der schwarzbärtige Kapitän machte bei Peikchen, der keinerlei Papiere bei sich trug, Einwände. Zu seinem Bedauern verstand Peikchen von der zwischen ihm und Gisela auf französisch geführten Unterhaltung kein Wort. Kuhlenkamp verschwand inzwischen, die Verhandlung kam aber nicht weiter.
Gisela starrte mit fest zusammengekniffenen Lippen vor sich auf den Teppich. Miene und Gesten des Belgiers schienen zu sagen: „Ich habe Zeit!" - Als sie mal verstohlen aufblickte, begegnete sie den lauernden Augen des Offiziers. Beide lachten, worauf wiederum in der Peikchen so verhassten Sprache schwadroniert wurde. Wie kam dieser belgische Hund dazu, mit Deutschen auf ihrem Heimatboden welsch zu sprechen?
Gisela wandte sich an ihren Begleiter: „Es ist Ihres Ausweises halber; es müssen noch telefonisch Informationen eingeholt werden. Unser Zug fährt erst nach zehn Uhr. Bringen Sie inzwischen Herrn Kuhlenkamp zur Bahn und holen Sie mich später hier wieder ab. Inzwischen hoffe ich, dieses Missverständnis beseitigt zu haben."
Plan- und ziellos, mit mancherlei widersprechenden Gedanken im Kopf, schlenderte Peikchen durch die im Dunkel des Märzabends unfreundlichen Straßen. Ein unwiderstehlicher Drang aber trieb ihn alsbald wieder zurück. In der Gaststube lastete die ganze Langeweile der Kleinstadt. Einige Honoratioren droschen einen endlosen Skat, im Nebenzimmer klapperte das Billard. Schließlich bekam er Hunger und erkundigte sich am Büfett nach etwas Essbarem ohne Marken. Gerade wurde ein Tablett mit einem verführerisch duftenden Abendessen fertig gestellt. „Zwei Champagnergläser", rief der Wirt. Von einer Ahnung getrieben, beobachtete Peikchen, wie die Ordonnanz mit diesem Souper im Zimmer des Kapitäns verschwand. Als der Soldat wieder erschien, fragte er im höflichsten Ton, dessen er fähig war, ob die Verhandlung des Offiziers mit der Dame noch nicht beendet sei. Der Belgier sah ihn von oben bis unten spöttisch an:
„Non, mon ami! Monsieur Kommandant verhandeln noch mit Mademoiselle; dürfen nix gestört werden!"
Da stürmte er, von maßloser Eifersucht getrieben, hinaus ins Freie. Eine große Ernüchterung war über ihn gekommen. Wenn er sich die ganze Geschichte überdachte, musste er sich eingestehen, dass er hier eine ziemlich lächerliche Rolle spielte. Und darum hatte er seine schwerkranke Mutter verlassen? Am liebsten wäre er sofort umgekehrt, aber heute abend kam er ja nicht mehr über den Rhein. Und morgen früh musste er erwarten, drüben von den Arbeitern wegen der verkauften Fahrräder angehalten zu werden. Bei der Erinnerung hieran überkam ihn ein höchst unbehagliches Gefühl. Kuhlenkamp hatte alle seine moralischen Einwendungen überlegen lächelnd abgetan: „Sie müssen noch lernen, dass man im Krieg und zumal im Bürgerkrieg den Feind mit allen Mitteln schädigen muss." Von dem erhaltenen Geld hatte er ihm aber nur hundert Mark abgegeben. -
Als er gegen neun Uhr wiederum im Gasthof vorsprach, übergab ihm der Offiziersbursche einen Zettel mit einigen von Giselas Hand flüchtig hingeworfenen Zeilen:
„Lieber Freund! Sei nicht böse, dass ich Dich so lange warten lasse. Es geht nicht eher. Der Kapitän muss noch eine Unterschrift einholen. Sei pünktlich am Bahnhof zu 10 Uhr 20 Minuten. Gisela."
Die Bahnhofsglocke ertönte bereits zum zweiten Male, als ein geschlossener Personenkraftwagen vorfuhr, dem Gisela Zenk eilig entstieg. Der Offizier half ihr dabei, küsste ihr galant die Hand und salutierte zum Abschied, die sporenklirrenden Lackschuhe zusammenschlagend. Peikchen hätte ihn am liebsten auf der Stelle niedergeschossen.
„Also, da bist du ja; der Zug muss wohl gleich kommen", sagte sie leichthin und schritt auf die Sperre zu. -
„Ohne Fahrkarten wird man uns hier wohl nicht durchlassen;... oder hat das der liebenswürdige Kommandant auch schon geregelt?" fragte er mit tiefem Groll in der Stimme.
Gisela errötete verlegen: „Ich verstehe dich nicht. Fahrkarten habe ich allerdings schon."
In ihrem Zweiter-Klasse-Abteil saß bereits ein älteres Ehepaar; so wechselten sie während der Fahrt kein Wort. Gisela hatte ihren blonden Kopf in die Polster gelehnt und schien zu schlafen, während ihr Begleiter finster in die Nacht hinaus brütete. Als der Zug dumpf rollend über die mächtige Rheinbrücke fuhr, ordnete sie ihr Kleid und trat hinter ihn ans Fenster.
„Also, Walter, nun tue mir einen Gefallen und mache wieder ein anderes Gesicht. - Oder bist du noch eifersüchtig?" flüsterte sie. - Peikchen fühlte einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Zum ersten Male hatte sie ihn beim Vornamen genannt.
„Gisela, ich liebe dich doch so sehr", stöhnte der junge Mensch, ihre Hand drückend, dass sie leise aufschrie.
Sie zeigte ihre glänzenden Zähne: „Aber deshalb braucht man doch nicht eifersüchtig zu sein, und noch dazu auf einen Belgier? Pfui, so etwas auch nur zu denken! Ich weiß", wehrte sie seine Einwendungen ab, „ich habe dich heute schlecht behandelt, behandeln müssen, aber es soll das letzte Mal gewesen sein. Heute noch soll deine Liebe und Treue für mich und unsere Sache so belohnt werden, wie ein deutsches Mädchen vom Rugardbund Liebe und Treue nur belohnen kann." Dabei lächelte sie so verheißungsvoll, dass er ihr willenlos zu Diensten war.
Der Bahnhof Wesel glich einer Etappenstation während des Weltkrieges. Obwohl es bereits kurz vor Mitternacht war, wimmelte es von Offizieren und Soldaten aller Waffengattungen. Mit dem soeben eingelaufenen Zug waren eine ganze Anzahl Zivilisten - Zeitfreiwillige -mit dem bekannten Reservistenköfferchen angelangt. Damen in Schwesterntrachten und Roten-Kreuz-Binden verteilten aus riesigen Blechkannen heißen Kakao sowie ganze Berge belegter Brote. Feldgendarmen kontrollierten die Ausweise. Peikchen, bereits gewöhnt, dass seine Begleiterin alle Angelegenheiten in Ordnung brachte, stärkte sich ausgiebig, indessen Gisela in der Bahnhofskommandantur vorsprach. Mit großem Interesse beobachtete er das kriegerische Bild des Festungsbahnhofes. Auf einem Nachbargleis hielt ein langer Militärzug; deutlich erkannte er unter den übergeworfenen Planen die Konturen von Geschützen. Sein Herz bebte vor Stolz, bald auch mit dabei sein zu dürfen.
„So, das ging ja schneller, als ich dachte. Wir bekommen sogar ein Auto und können unverzüglich an die Front fahren", sagte Gisela, als sie nach einer knappen halben Stunde zu ihm zurückkehrte. „Was? Jetzt gleich noch?" -
„Ja, ist dir das etwa nicht recht? Du kommst zu den Bayern."
Die Aussicht, bei den tapferen Bayern eingereiht zu werden, hätte ihn unter anderen Umständen in höchstes Entzücken versetzt. Aber er hatte sich so darauf gespitzt, gleich den anderen Zeitfreiwilligen, erst noch in Wesel eingekleidet und etwas ausgebildet zu werden, dass er ein Gefühl des Unbehagens nicht unterdrücken konnte.
Sie lachte, da sie sein Zögern merkte, hämisch. „Du bist ein merkwürdiger Mensch! Ich wende all meinen Einfluss auf, um für dich die Extravergünstigung, sofort zur Truppe zu kommen, zu erwirken – wahrscheinlich wirst du sogar als Offiziersaspirant aufgenommen - und nun ist es wieder nicht recht. Ich wollte dich sogar selbst bis in die Stellung begleiten. Aber wenn du dich etwa..."
Sie sprach das Wort nicht aus, aber der junge Mensch fühlte sich auch ohnedem an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. „Ich mich fürchten? Ich hoffe, dir noch heute abend den Gegenbeweis anzutreten. Zur ersten Patrouille, die zu gehen ist, melde ich mich freiwillig." -
Der offene, viersitzige Opelwagen bremste kurz hinter dem Stadtausgang, und der Führer reckte sich über die Windschutzscheibe zu seinen Fahrgästen: „Bis hierher sind schon die Roten gewesen!"
„Dann ist die Front wohl gar nicht mehr weit?" fragte Peikchen, dessen Pulse mit einemmal fieberhaft zu klopfen begannen - „Gradeaus weiter bis zum Lippeschlösschen, kaum zwanzig Minuten! Das hat bereits viermal seinen Besitzer gewechselt. Bei Hünxe sind die Roten noch diesseits der Lippe und haben die Eisenbahnlinie nach Münster gesprengt. Wir fahren jetzt östlich auf Scharmbeck zu."
Mit fühlbarem Ruck sprang der Wagen wieder an. Es war eine kühle, aber sternenklare Nacht. Das Auto fuhr mit kleingeblendeten Lichtern, so dass die Finsternis voll zur Geltung kam. Die weißgekalkten Chausseesteine sausten wie eine Perlenschnur vorüber. Rechts feldeinwärts flackerten ab und zu in unbestimmbarer Entfernung grünlichweiße Leuchtkugeln auf. Einmal geisterten irgendwo ein paar Schüsse durch die Nacht. Peikchen wurde wehmütig feierlich zumute. Der schönste Tag seines Lebens, da er für das Vaterland kämpfen durfte, war gekommen. Zwar hatte er ihn sich etwas anders vorgestellt: Auszug mit Musik, Tücherschwenken, Blumen am Gewehr, Liebesgaben! Aber er hatte eigentlich gar keinen Grund, sich zu beklagen. Weil man ihn, Walter Peikchen, dringend brauchte, fuhr man ihn sogar im Auto bis in den Schützengraben, und das schönste Mädchen, das je ein Männerherz bezauberte, gab ihm dorthin das Geleit.
„Bist du nun zufrieden?" fragte sie, die bis dahin schweigend zum Sternenhimmel aufgesehen hatte. -Peikchen ergriff ihre Hand und küsste sie. „Vollkommen glücklich und zufrieden werde ich erst sein, wenn ich weiß..."
„Was willst du wissen?" fragte sie und gab ihm einen leichten Wangenschlag.
„Gisela, warum quälst du mich so?"
„Großer, dummer Junge, wer quält dich denn noch?" Peikchen starrte sie verständnislos an. In dem Ungewissen Zwielicht kam sie ihm noch hundertmal begehrenswerter vor. Da rückte sie ganz dicht an ihn heran, nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und starrte ihn wohl fünf Sekunden aus ihren Sphinxaugen an. Dann küsste sie ihn so heftig auf den Mund, dass er zugleich mit dem Schmerz einen faden Blutgeschmack verspürte.
„Gisela, du bist das erste Mädchen, das ich liebe", stammelte er.
„Jetzt bist du mein eigen nach altgermanischem Brauch."
Der Wagen hielt am Eingang eines Dörfchens. Peikchen sprang als erster heraus.
„Ist Leutnant von Lunkwitz hier?" fragte das Mädchen den näher tretenden Posten. Der Soldat geleitete sie zum Zimmer des Ortskommandanten, während ihr Begleiter in die Wachstube verwiesen wurde. Hier lagen auf Strohschütten, gestiefelt und gespornt, wohl ein Dutzend Soldaten im Halbschlaf, während am Tisch beim Schein einer Petroleumfunzel sechs andere „Schlesische Lotterie" um hohe Einlagen spielten. Die phantastisch beleuchteten Spieler, die nicht einmal den Stahlhelm abgenommen hatten, erinnerten den jungen Mann an ein Bild aus Wallensteins Lager, das er einmal im Swertruper Stadttheater gesehen hatte.
Die Tür ging auf: „Zwei Mann zum Gefangenentransport nach Wesel!" rief die Stimme eines Unteroffiziers. Zwei Mann standen auf und luden ihre Gewehre. Jetzt erst erblickte Peikchen in einer dunklen Ecke, auf einem Schemel sitzend, einen gefangenen Roten. Es war ein älterer Mann mit leicht ergrautem Haar. In seinem aschgrauen Gesicht flackerten zwei ängstliche Augen. Die Hände waren ihm auf dem Rücken zusammengebunden.
„Eine Patrouille von fünf Mann kam über den Fluss. Vier knallten wir ab, der da hob die Hände hoch. Als wir ihm das Gewehr auf die Brust setzten, wurde er gesprächig und verriet alles, was wir wissen wollten", erklärte einer der Soldaten sachlich.
Peikchen schalt sich selbst einen Weichling, weil er nur mühsam ein gewisses Mitleid mit dem gefangenen Rotarmisten unterdrücken konnte. Man forderte ihn zum Mitspielen auf, er setzte mit dem von Kuhlenkamp erhaltenen Geld. Zwar war er kein Freund vom Spielen, aber hier musste man sich soldatisch benehmen. Plötzlich fuhr er auf: In nicht allzu weiter Entfernung war ein Schuss gefallen, dem bald darauf ein zweiter folgte.
„Ist denn die Front so nahe", fragte er verwundert. Die Leute sahen sich vielsagend an, dann bemerkte der eine: „Die Front liegt nach der anderen Seite!"------
„Wo bist du denn her?" fragte ein Unteroffizier, der besonders hohe Einsätze machte. - Peikchen teilte kurz mit, dass er soeben von Swertrup über Wesel an die Front gekommen sei. Jetzt legten die Soldaten ihre Karten hin, starrten ihn verwundert an:
„Na, du hast es wohl verdammt eilig. Wirst schon noch die Nase vollkriegen, hier ist dicke Luft!"
„Das ist mir schon recht, Kamerad, dann kann man sich doch wenigstens auszeichnen. Ob's hier auch das Eiserne Kreuz gibt?"
„Wenn's net vorher a Eisen ins Kreuz kriegst, kann dös schon sein, die Spartakisten drüben schießen a net mit Zwetschgenknödel", antwortete ein waschechter Münchener trocken.
„Hast net in Wesel was vom Waffenstillstand gehört, den wo sie in Bielefeld abgeschlossen haben sollen", fragte ein anderer.
„Achtung!" - brüllte plötzlich eine Stimme, worauf Spielende und Schlafende aufsprangen und Haltung annehmen.
„Ich brauche noch einen dritten für eine Patrouille", sagte der Leutnant. —
Sofort meldeten sich mehrere, aber der Offizier schritt, als bemerke er sie nicht, auf den Zivilisten los, der, die Hände an der Hosennaht, meldete: „Zeitfreiwilliger Peikchen aus Swertrup!"
„Man hat mir gesagt, dass Sie beim Rugard ausgebildet sind und gern Patrouille gehen wollen. Dazu haben Sie heute — vielleicht zum letzten Mal - Gelegenheit. Die schlappen Judenbengels in Bielefeld haben gestern tatsächlich einen Waffenstillstand mit den Bolschewisten unterzeichnet. Nach Münster zu ist schon alles ruhig, nur unsere Mülheimer Freunde da drüben sind so vernünftig, noch keine Ruhe zu geben. Also, wollen Sie?" -Und ob er wollte!
„Zu Befehl, Herr Leutnant, bin mit achtundneunziger Gewehr und am leichten MG ausgebildet, bloß ich habe doch noch keine Uniform."
„Das macht doch nichts, die Roten haben auch keine", entgegnete der Offizier mit leichtem Spott.
Auf dem Hof warteten schon zwei dunkle Gestalten. Man überreichte ihm ein Gewehr und einige Patronenrahmen. „Folgen Sie genau den Anweisungen, die man Ihnen gibt, vor allem nicht sprechen! - Klappkorn, sie wissen, worauf es ankommt!" -
„Zu Befehl", antwortete eine tiefe Stimme unter dem Stahlhelm.
„Beinahe hätte ich's vergessen", sagte der Offizier. „Die Dame, mit der Sie gekommen sind, ist, um Ihnen den Abschied zu erleichtern, bereits wieder abgefahren. Sie lässt grüßen und sagen, Sie möchten beim ersten Kugelpfeifen an sie und den Rugardschwur denken." Diese Mitteilung warf einen Schatten auf sein junges Soldatenglück. Aber es blieb keine Zeit, darüber nachzugrübeln. All seine Sinne waren jetzt aufs Schärfste beansprucht von dem unsichtbaren Feind, dem es jetzt entgegenging; fest umklammerte er sein Gewehr. Die schweigsamen Führer bogen jetzt links ab, gingen auf dem schmalen Rain eines Sturzackers, der sich abwärts senkte. Dort unten, wo die Nebel brauten, musste der Fluss - mussten die Roten liegen.
Bei einer knorpligen Weide war ein Schützenloch ausgehoben. „Da hinein", raunte ihm der Führer zu. Als Peikchen niederkniete, erhielt er plötzlich einen furchtbaren Schlag gegen die Schläfe, dass er sofort die Besinnung verlor. -
Als er wieder zu sich kam, entdeckte er zu seinem Entsetzen, dass er mit Stricken an den Baum gefesselt war.
Außerdem hatte man ihm vor den Mund einen Sandsack gebunden, so dass er keinen Laut von sich geben konnte. -
Also von den Roten überfallen! Hilflos gefangen? -Alle Schauermeldungen über Gräueltaten der Bolschewisten an gefangenen Weißen gingen ihm durch den Kopf. Sollte das schon das Ende seiner Laufbahn sein, ein qualvoller Tod durch einen unbarmherzigen Feind? Aber wo waren die Kameraden? Gefangen, gefallen oder entkommen?
Doch da standen ja beide, keine drei Schritte entfernt, und beobachteten aufmerksam, wie er wieder zu sich kam. Hatten die sich etwa mit ihm einen schlechten Rekrutenscherz erlaubt?
„Aha, da hat er ja wieder seine blöden Sinne beisammen", sagte der eine. „Wir hätten dich Lump ja einfach wie ein Schwein abkillen können, aber für einen Kerl, der Waflfendepots verrät und Einwohnerwehrlisten den Roten ausliefert, ist ein gutes bayerisches Messer noch zu schade. Deshalb haben wir für dich eine besondere Strafe erfunden. Höre fein zu, mein Junge: Du sollst durch deine eigenen Freunde, die da drüben jenseits der Lippe liegen, sterben. Wir werden mit Schießen anfangen. Drüben steht ein rotes Maschinengewehr, das wird aus dir dann Hackbraten fabrizieren!"
Peikchen glaubte seinen von dem Schlag noch immer schmerzenden, stechenden Ohren nicht zu trauen. Was sollte das heißen? Er und ein Verräter? Reden und Gebärden der beiden Soldaten zeigten ihm, dass es blutiger Ernst war. Hier musste ein furchtbares Missverständnis vorliegen. Wütend zerrte er an den Stricken, die aber keinen Zoll nachgaben.
„Lasst mich los, lasst mich doch wenigstens drei Worte zu meiner Verteidigung sagen, ihr mordet sonst einen
Unschuldigen", wollte er rufen, aber nur ein dumpfes Knurren kam aus seinem zugebundenen Mund. Ganz dicht sah er die hohn- und hasserfüllten Augen der beiden Henker vor sich, Speichel klatschte ihm ins Gesicht... dann waren sie verschwunden.
Die schmerzenden Stricke, das unerträgliche Stechen im Ohr und die feuchte Kälte, die von dem Wiesenboden her ihn anhauchte, sagten ihm, dass es kein böser Traum, sondern blutige Wirklichkeit war. Zu genau entsann er sich jetzt aller Einzelheiten seiner abenteuerlichen Flucht aus Swertrup. Seine schwerkranke Mutter hatte er verlassen, um der nationalen Sache zu dienen. Und nun? Verfemt und gerichtet, ohne Verhör und Verteidigung!
Dicke Tränen rollten ihm über die Wangen. „Arme Gisela! Ob sie weinen würde? - Ob sie überhaupt je erfuhr, wie elend er sterben musste?"
Ein furchtbarer Gedanke krallte sich plötzlich in sein Hirn ein.
Hatte sie ein falsches Spiel mit ihm getrieben? Woher kannten denn die Bayern seinen Namen, wussten von den Swertruper Ereignissen, kamen sie zu dem entsetzlichen Verdacht? - Darum also die verdächtige Eile, mit der man ihn fortgelockt und sogleich bis in die vorderste Linie gebracht hatte! - Beim ersten Kugelpfeifen sollte er an sie und den Rugardschwur denken!
„Verräter verfallen der Feme!" kreiste es in Flammenschrift vor seinen Augen! Kein Zweifel, sie gehörte ja dem „inneren Ring" an! Sie hatte ihn mit kalter Berechnung in den Tod geschickt, nachdem sie ihn noch die höchsten Wonnen hatte kosten lassen.
Von irgendwo, weither, schlug eine blecherne Turmglocke die dritte Morgenstunde. Die idyllische Kirche zu Marialinden fiel ihm ein, wo er als kleiner Knabe ministriert hatte. Der zum Tode Verurteilte begann zu beten:
„Gelobt seist du, Mutter Maria! Gebenedeite unter den Weibern! Bitte für uns an Gottes Thron, jetzt und in der Stunde des Todes."
Zwei Schüsse krachten hinter ihm auf. Deutlich hörte er die Kugeln vorüberfauchen. Das war das Ende! Gleich würde da drüben die Totenorgel beginnen. -
Aber was war das? Aus dem Nebel erhoben sich dunkle Gestalten. Vor und hinter ihm blitzte und knallte es jetzt in rascher Folge auf. Wie ein Lauffeuer raste es die ganze Linie entlang. Leuchtkugeln schossen in die Luft, Maschinengewehre blafften los. -
Da schwanden ihm die Sinne. -
Als er wieder zu sich kam, war es Tag. Sein erster Blick fiel auf ein Schulkatheder. Er lag auf einem Strohsack, und um ihn herum waren ein Dutzend blasser Gestalten mit weißen Verbänden. Ein Arzt im Operationsmantel und eine junge Schwester standen an seinem Lager.
„Er hat einen Bauchschuss, wird daher nicht mit abtransportiert. Achten Sie darauf, dass ihm auch niemand was zu essen oder zu trinken gibt. Höchstens den Mund etwas anfeuchten", hörte er sagen.
In diesem Augenblick begannen die Scheiben unter einem dumpfen Grollen zu zittern. - „Die in Wesel haben unser Ultimatum auf Übergabe abgelehnt. Jetzt beschießt unsere Artillerie die Festung", sagte einer der Verwundeten.
Also er war schwer verwundet und dazu noch gefangen, in einem roten Feldlazarett! Jetzt war ihm alles egal, und in tödlicher Ermattung schloss er die Augen.

 

16. KAPITEL

Die Lage für die Rote Armee wurde von Tag zu Tag unhaltbarer. Zwar war ein Vorstoß der Reichswehr auf dem westlichen Flügel in Richtung Friedrichsfeld erfolgreich zurückgeschlagen worden, aber die roten Truppen litten Mangel an allem, was der Soldat im Felde gebraucht. Die Lebensmittel kamen unregelmäßig und in ungenügender Menge an. Löhnung war überhaupt nur für die ersten fünf Tage gezahlt worden. An Ersatz für die abgerissenen Kleider und Stiefel war nicht zu denken, ebenso wenig an Decken, so dass die Arbeiter in den Schützengräben in den kalten Märznächten bitterlich froren. Auch Munitionsmangel machte sich stark bemerkbar; es kam vor, dass man die Truppen mit je drei Patronen ins Gefecht schicken musste.
Die Vollzugsräte stießen bei ihren Bemühungen auf schier unüberwindliche Schwierigkeiten, vom einfachen Mangel bis zur Sabotage und zum offenen Widerstand. Nichts aber zermürbt den Kampfgeist einer Truppe mehr, als wenn zum Mangel am Nötigsten das Gefühl der Verlassenheit hinzukommt, wie es sich rasch wachsend bei der Roten Armee breit machte. Dieselbe Truppe, die so heldenhaft gekämpft, freudig zu den höchsten Anstrengungen und Opfern bereit gewesen war, begann sich zu zersetzen, als sie merkte, für eine verlorene Sache zu stehen.
Im Stabsquartier des Swertruper Bataillons, einem verwahrlosten Dorfgasthof, warteten die Kompanieführer auf die Parole. Der Kommandeur war am frühen Morgen telefonisch nach Mülheim zu einer entscheidenden Sitzung der Kampfleiter beordert worden. Jetzt war es fünf Uhr nachmittags, und noch immer blieb er aus.
Kompanieführer Schulz schlug mit seiner Maurerfaust auf den Tisch, dass es krachte. „Die Hagener sollen uns mitsamt den Bielefeldern am Arsch lecken. Wer hat sie ermächtigt, über uns zu verhandeln? Haben wir sie delegiert? Aufhängen müsste man die Halunken, die das Abkommen mit unterzeichneten, mitsamt dem Severing."
„Bis jetzt haben wir uns ja auch noch nicht darum gekümmert und den Kampf fortgesetzt", bemerkte Kleinjohann, der Matrose.
Schulz lachte markerschütternd. „Das nennt ihr kämpfen? Dabei werden sich die Kappisten sehr wohlfühlen. Wenn es nach mir ginge, bombardierten wir Wesel, dass kein Stein auf dem andern bliebe, und dann Generalangriff mit allen Kräften! Die Festung müssen wir als Stützpunkt haben! Was meint ihr wohl, was wir dort an Munition und Fressalien und Kleidung in den Magazinen finden? Und dann hinter Wesel, da gibt's auch noch richtige Landwirtschaft, wo was zu haben ist, nicht solche Hungerleiderei wie hier in den Heidedörfern. Kommt man hier bei einem Bauern rein, möchte man ihm gleich noch was schenken, so verhungert sind die." „Gestatte mal, lieber Schulz", unterbrach ihn der Lehrer Fahrenhorst, „so einfach liegen die Dinge doch nicht. Zum Bombardieren gehören Granaten und Minen, und wie es damit steht, kannst du Kamerad Lubasch fragen, - stimmt es nicht? - Wie es mit der Infanteriemunition steht, weißt du ja selber. Mit blanker Waffe und Begeisterung allein aber stürmt man heutzutage keine Festungen mehr."
„Spar doch deine Schulmeistereien; so viel verstehe ich auch vom Kriegführen, wenn ich auch bloß Vizefeldwebel war", fuhr Schulz gereizt auf. „Wir hätten eben gleich weiterstoßen und hier nicht erst so lange festliegen und warten sollen, bis die Bonzen wieder anfangen, uns zu verhandeln!"
„Hätten, hätten! Was nützt uns denn das? Wir müssen jetzt mit dem rechnen, was ist! Wie liegen denn die Dinge? Wir sind, darüber gebe ich mich keinem Zweifel mehr hin, politisch unterlegen..."
„Sag doch lieber verraten", rief der lange Einzel.
„Meinetwegen auch das, die Wirkung bleibt dieselbe", fuhr Fahrenhorst unbeirrt fort. „Woran das liegt, ist eine Sache für sich. Unter diesen Umständen noch eine Offensive machen, heißt Unzählige ohne jede Aussicht auf Erfolg in den sicheren Tod hetzen. So etwas kann sich wohl ein Ludendorff leisten, aber nicht wir. Das muss man klar erkennen und auch den Mut dazu haben, es auszusprechen. Und darum sollten wir als Männer von Verantwortungsgefühl versuchen, aus dem Bielefelder Abkommen soviel wie möglich herauszuholen. So sehr schlecht, wie viele Genossen es darstellen, scheint es mir gar nicht zu sein."
„Ich weiß, ich weiß", schaltete sich jetzt Grothe ein: „Sozialisierung aller dazu reifen Betriebe - Reinigung der Reichswehr, Sipo und Behörden - Entwaffnung aller am Kapp-Putsch beteiligten Verbände - Amnestie für uns - strenge Bestrafung aller Schuldigen - und so weiter."
„Für uns ist nur ein Paragraph maßgebend, das ist der elfte, der da heißt: ,Es erfolgt sofortige Abgabe der Waffen, Munition sowie Rückgabe des requirierten und erbeuteten Heeresgerätes an die Gemeindebehörden, und die Arbeiter kehren sofort an ihre Arbeit zurück'", sagte Kleinjohann bitter.
„Das heißt zu deutsch", rief Grothe, „bei uns wird angefangen. Nachher könnt ihr euch mit eurem beschriebenen Papier den Hintern wischen, wenn nämlich die anderen wieder mit den Maschinengewehren diktieren! Wenn die Regierung ihre Versprechungen einhalten will, müsste sie von sich aus die ganze Reichswehr auflösen, denn die hielt ja samt und sonders zu Kapp. Stimmt das, oder stimmt das nicht?"
Die Männer pflichteten lebhaft bei, auch Fahrenhorst nickte.
„Bis jetzt ist noch keine einzige Kapp-Kompanie aufgelöst worden, weil die Regierung nicht die Macht dazu hat, vom Willen gar nicht zu reden. Dazu gehört, dass die Regierung über verlässliche Formationen verfügt, die sie eben nicht hat."
„Doch, doch, sind wir denn nicht da", rief Kleinjohann.
„Ja, das ist es eben", antwortete Grothe mit Nachdruck. „Wir sind die einzigen, die dazu in der Lage wären, wir, das organisierte, bewaffnete Proletariat! Aber uns will man nicht. Uns will man wieder entwaffnen, woraus doch der Dümmste erkennt, worauf das Ganze hinausläuft. Sollten wir lediglich darum gekämpft und geblutet haben, dass sich die Bonzen wieder in ihren Sesseln einrichten können?"
„Nimmermehr!" riefen alle wie aus einem Munde, nur der Lehrer drehte schweigend an einer Zigarette.
Schulz warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Wenn wir die Waffen auf dem Swertruper Rathaus abliefern sollen, können wir sie ebenso gut auch bei den Kappisten abgeben, denn die kriegen sie doch wieder in ihre Klauen."
„Lieber alles in den Rhein geschmissen, als auch nur ein Stück abgeben", knirschte Einzel.
„Und wir selber hinterdrein, denn da sind wir wenigstens sicher", lachte Schulz höhnisch.
„Unsinn", bemerkte zur Linden. „Einrücken ins Ruhrgebiet dürfen sie ja nicht,... das heißt, wenn wir die Bedingungen annehmen." Grothe sah ihn mitleidig an.
„Wer soll sie denn daran hindern, wenn wir uns ergeben haben? - Die ganze Wattersche Meute liegt drüben auf dem Sprung und sinnt nur auf Rache. Die Herren Offiziere haben doch ein viel feineres Ehrgefühl als wir Proleten. Die vergessen ihre Prügel ihr Leben lang nicht! Und solche Schmach kann nach ihrem Ehrenkodex nur mit Blut abgewaschen werden!" Fahrenhorst sprang auf.
„Solche Redereien sind unverantwortlich, Genossen! Das Abkommen ist doch nicht nur von Militär und Regierung, sondern auch von Parteien und Gewerkschaften mit unterzeichnet. Und ich habe doch noch so viel Vertrauen zu den deutschen Arbeitern, dass sie uns da nicht im Stich lassen. Wenn das eintreten würde, was Grothe an die Wand malt, würde ganz Deutschland wieder im Generalstreik aufflammen."
„Was du nicht sagst?" - Grothe maß den Lehrer, der hochroten Kopfes dastand, mit geringschätzigen Blicken.
„Generalstreik gegen einen neuen Putsch? Dann wären wir ungefähr wieder da, wo wir am 13. März waren, bloß mit dem Unterschied, dass wir diesmal auch noch die Regierung gegen uns haben. Generalstreik? - Hat uns denn der bloße Streik vor den Angriffen der Kappisten schützen können? Mussten wir nicht selber zu den Waffen greifen, uns wehren?" Fahrenhorst machte eine unwillige Geste, antwortete aber nichts.
„Ja, nun bist du platt?" höhnte Schulz.
„Sukrow kommt", rief Kleinjohann, dessen feines Ohr trotz des lauten Wortwechsels die Hupe des Stabsautos erkannt hatte. Aller Augen forschten gespannt in den Gesichtszügen des jungen Kommandeurs, aber der finstere Ausdruck seiner tief in den Höhlen liegenden Augen verriet nichts Gutes. Schwerfällig ließ er sich auf seinem Platz nieder und klatschte die Aktentasche auf den Tisch.
„Genossen", begann er mit klangloser Stimme, die vor innerer Erregung stockte, „was ich gefürchtet habe... ist Wahrheit geworden... wir sind verraten!"
Mehrere Minuten lang hörte man neben dem Ticken der Schwarzwälder Uhr nur das schwere Atmen der Männer, die düster vor sich hin starrten. Nur Schulz sah den Bataillonskommandeur mit fiebrigen Augen an, als wollte er von dessen Gesicht noch irgendeinen Trost ablesen. Dann aber stützte er den verwetterten Kopf in die mächtigen Hände und begann plötzlich zu schluchzen.
„Was soll nun werden?" fragte. Grothe tonlos.
Sukrow riss sich zusammen, nahm einen tiefen Schluck aus einer dargereichten Bierflasche und begann:
„Am Freitag nahm unser Zentralrat mit großer Mehrheit eine Resolution an, dass wir auf die papiernen Versprechungen der Regierung hin kein Gewehr niederlegen.
Es wurden aber neue Verhandlungen beschlossen. Sollten auch diese nicht die für uns notwendigen Garantien ergeben, so sollte die Parole ausgegeben werden, lieber kämpfend unterzugehen, als sich zu ergeben! In diesem Falle wollte man selbst vor Zerstörung der Schachtanlagen nicht Halt machen."
„Das war doch wenigstens ein "Wort", polterte Schulz dazwischen.
„Aber am Sonnabend", fuhr Sukrow fort, „tagte der Hagener Zentralrat mit Vertretern aller politischen Parteien. Lehrer Stemmer legte ihnen das ,Unhaltbare' der militärischen Situation dar, worauf sie beschlossen, uns aufzufordern, sofort den Kampf einzustellen und unsere Front drei Kilometer auf die Linie Dinslaken-Hünxe-Dorsten zurückzunehmen. Der Unabhängige Ernst kam selber nach Mülheim, um in der Konferenz unserer Kampfleiter seine Resolution durchzudrücken. Er sagte, dass ihm Watters und Severings Ehrenwort als Sicherheit vollkommen genüge."
„Habt ihr ihm nicht auf die feige Schnauze gehauen?" fragte Kleinjohann.
„Er sollte ja auch als Verräter verhaftet werden; es kam aber nicht mehr dazu, seine Freunde halfen ihm, zu entkommen."
Fahrenhorst schüttelte missbilligend den Kopf. „Und was wurde beschlossen?"
„Neue Verhandlungen mit dem Ziel: alle Waffen in die Hände der organisierten Arbeiterschaft! Bis dahin aber Fortführung der militärischen Aktion. Sollte aber die Regierung die Offensive anordnen, dann Aufruf zu neuem Generalstreik!"
„Richtig!" „Bravo!" erscholl es. Fahrenhorst rutschte nervös auf seinem Sitz hin und her.
„Ich habe euch noch nicht alles gesagt, Genossen", sprach Sukrow, „das Schönste kommt erst noch. -Ernst hatte, als er nach Hagen zurückkam, nichts Eiligeres zu tun, als an den Regierungskommissar Mehlich folgendes Telegramm zu schicken:
,Gegen Mülheim und Wesel muss im Notfall nach Verständigung einwandfreie Truppe unter Aufsicht eingesetzt werden'."(Anm: historisch)
„Das ist nicht wahr, das ist gelogen", schrie Fahrenhorst aufgebracht.
„Willst du mich als Lügner hinstellen?" fuhr Sukrow empört auf.
„Nicht dich, aber man hat dich falsch informiert", rief der Lehrer erregt.
Sukrow lächelte mutlos. „Genossen, es sind noch andere Dinge passiert. ,Im Notfall' und ,Nach Verständigung!' - Wisst ihr, was das bedeutet? Hör zu, Kompanieführer Fahrenhorst! Die Hagener sind im Begriff, gegen uns eine Arbeitertruppe in Marsch zu setzen, die uns durch Abschneiden der Etappen zum Rückzug zwingen soll. Ob sie genügend Schufte dafür finden werden, ist ihnen wohl selber noch zweifelhaft, deshalb soll ,im Notfall', ,nach Verständigung' - das heißt mit den Hagener Verrätern - die Reichswehr vordringen. Das ist authentisch, Genossen, ich kann's sogar schwarz auf weiß zeigen!"
„Teufel, das sind Arbeiterführer?" keuchte Schulz, der, an allen Gliedern bebend, einen furchtbaren Anblick bot.
„Usepeter sind es, Waschlappen, Jammerweiber, die sich wohl einen Namen machen wollen, aber uns konsequent verraten und verkaufen", brüllte Einzel.
So viel steht fest, Genossen, dass wir ohne die westfälische Front uns nicht mehr halten können, da wir sonst von der rechten Flanke her aufgerollt werden. Hinzu kommt, dass das übrige Deutschland uns völlig im Stich lässt. In Berlin hat eine unsichtbare Kampfleitung der Unabhängigen die Massen acht Tage lang an der Nase herumgeführt und auf die Hilfe angeblicher republikanischer Reichswehrverbände vertröstet, bis es zu spät war. Diese Kampfleitung war so tüchtig, nichts davon zu wissen, dass die Arbeiterschaft der Vororte in weitem Umkreis sich genauso wie wir hier bewaffnet hatte und nur auf das Losschlagezeichen wartete. So kam es zu isolierten Kämpfen in Hennigsdorf und Köpenick, wo die Kappisten hinterher blutige Rache
nahmen.
Ähnlich liegen die Dinge in Mecklenburg, Sachsen und Thüringen! Im Vogtland hält sich zwar noch Max Hölz mit einigen hundert Mann, aber das übrige Deutschland ist schon wieder ruhig, arbeitet und hat nur den einen Wunsch, dass wir es ihm nachmachen. Die ,Freiheit' in Berlin schreibt uns schon täglich zweimal tot: ,Es gibt keine Rote Armee', und ,Nur Verhandeln kann uns retten!' Jetzt rollen schon aus Norden, Osten und Süden die Züge mit Militär und Munition gegen uns heran. Die Entente wird sicher die Einmarscherlaubnis geben, und dann kann ja die große Treibjagd beginnen. Wir dürfen jetzt aber nicht die Nerven verlieren. Keine planlose Auflösung, keine Panikstimmung! Im Notfalle bleibt uns ja immer noch der Rückzug ins englische Besatzungsgebiet. Wenn wir zurückgehen, dann nur einheitlich und geschlossen, um dem Zentralrat nicht den letzten Verhandlungsfaktor aus der Hand zu schlagen."
Fahrenhorst räusperte sich: „Das ist sehr gut gesagt. Bei mir fehlten heute früh beim Appell wieder sechs Mann. Die Leute sind kaum noch zu halten."
„Alles eine Folge der verdammten Bielefelder Verhandlungen. Vorher dachte kein Mensch ans Desertieren", schimpfte Schulz, und Grothe setzte anzüglich hinzu: Es kommt auch viel auf das Verhalten der unmittelbaren Führer an!" Fahrenhorst schluckte, als wollte er etwas Scharfes erwidern. Sukrow entfaltete ein Blatt Papier mit folgendem Tagesbefehl:
„Auf Grund der mir übertragenen Gewalt durch die Zentralleitung befehle ich hiermit folgendes:
Sämtliche auf Grund des verräterischen Waffenstillstandsbeschlusses der in dieser Sache nicht kompetenten Konferenz von den Formationen der Roten Armee entfernten Mannschaften werden aufgefordert, sich innerhalb sechs Stunden nach Herausgabe dieses Befehls wieder bei ihrer Dienststelle zu melden. Auf Nichterfüllung steht Todesstrafe.
Die Kampfhandlungen werden nicht abgebrochen, bis die nötigen Garantien für Innehaltung der Regierungsversprechen gegeben sind. Die so genannten Bielefelder Beschlüsse sind für uns in keiner Weise vorhanden.
Gegeben zu Gelsenkirchen, den 27. März 1920.
Der Oberkommandierende des Abschnitts West
der Roten Armee, gez. Gottfried Karuseit.(Anm.:Historisch)
Dieser Befehl wird in allen Etappenorten angeschlagen und ist den Truppen durch Vorlesung bekanntzugeben", setzte Sukrow hinzu, indem er die Durchschläge an die Führer verteilte.
Fahrenhorst nahm den seinigen mit gleichgültigem Lächeln. „Den Stil haben sie wenigstens Ludendorff abgeguckt, nur wird sich damit keine Fliege aus der Bratröhre locken lassen."
„Kompanieführer Fahrenhorst!"
Der Lehrer zuckte bei dem scharfen Ton des Kommandeurs unwillkürlich zusammen. Sukrow blickte ihn eine Weile an, als wolle er ihn im nächsten Augenblick zerreißen, - dann aber siegte seine Selbstbeherrschung, und er sprach ruhig, jedes einzelne Wort abgrenzend: „Solange ich hier noch etwas zu sagen habe, verbitte ich mir derartige Randbemerkungen! Ich bin - und das bitte ich ebenfalls bekannt zu geben, damit sich niemand im Irrtum befindet, - fest entschlossen, dem Befehl mit allen Mitteln Nachdruck zu verschaffen. Der Genosse Fahrenhorst als ehemaliger Offizier müsste am besten wissen, dass derartige defaitistische Bemerkungen nicht geduldet werden dürfen."
„Bei Kaiser und Reich haben sie die Schnauze niemals aufzumachen gewagt", rief Schulz erbost.
„Wir sind hier Gott sei Dank doch nicht bei der kaiserlichen Armee mit ihrem Kadavergehorsam", antwortete der Angegriffene nicht minder laut.
Jetzt sprang alles auf und drang mit heftigen Reden auf ihn ein. Schimpfworte flogen, und Schulz stellte sich mit geballten Fäusten vor den Lehrer hin: „Wenn du feige kapitulieren willst, dann gehe doch zu deinem Kollegen Stemmer, das ist auch so eine Kreatur! Wir halten dich nicht! Wir brauchen die ganzen Intellektuellen nicht! Ihr tut euch bloß immer wichtig, und wenn es darauf ankommt, kneift ihr aus!"
„Genosse Sukrow, ich werde hier beleidigt, das lasse ich mir nicht gefallen", empörte sich Fahrenhorst.
Fordere ihn doch auf warme Würste oder ist er dir nicht satisfaktionsfähig", stichelte Einzel.
Mühsam nur gelang es Sukrow, den Sturm zu beschwichtigen. „Über Beleidigungen kannst du dich nur beschweren, wenn du keinen Anlass dazu gibst, Genosse Fahrenhorst. Ich weise deine Bemerkungen nochmals mit allem Nachdruck zurück und werde, wenn du dir noch einmal Ähnliches erlaubst, sofort disziplinarische Maßnahmen ergreifen."
Fahrenhorst putzte an seiner Hornbrille herum; man sah, wie er mit sich rang, dann sagte er schließlich leise: „Ich sehe, dass hier alles gegen mich ist. Das ist der Dank dafür, dass ich mich zur Verfügung stellte. Nun, das schadet auch nichts! Aber so kann ich meinen Posten nicht länger behalten. Ich lege ihn hiermit nieder."
Ruhig zog er sich die schmalen roten Bänder vom linken Unterärmel seiner Lederjoppe und stand auf. „Halt mal!"
Sukrow fasste ihn an die Schulter. „Du bist im Irrtum, lieber Fahrenhorst, von Niederlegen ist hier keine Rede. Oder verwechselst du eine Kompanieführerstelle in der Roten Armee mit einem Schriftführerposten im Swertruper Kegelklub? Der Befehl, den ich bekannt gegeben, gilt für alle, auch für dich. Ich frage dich zum letzten Male: Willst du dich der Disziplin fügen oder nicht?"
Ton und Gesichtsausdruck des jungen Führers ließen es Fahrenhorst doch geratener erscheinen, den Konflikt nicht auf die Spitze zu treiben. „Dann musst du mich aber auch vor Beleidigungen schützen", knurrte er ausweichend. „Das tue ich, sofern du nicht Disziplin und Moral untergräbst, aber..."
Der Selbstdegradierte wollte die Abzeichen wieder anlegen, jetzt aber hinderte ihn der Kommandeur daran.
„Dein Verhalten, Genosse Fahrenhorst, hat bewiesen, dass du nicht die moralische Qualifikation besitzt, um in schwierigen Situationen anderen leuchtendes Beispiel und Führer zu sein. Hättest du auf deiner Weigerung verharrt, hätte ich dich sofort hinten auf dem Hof an die Wand stellen lassen, nötigenfalls dich mit dieser Pistole niedergeschossen! Wir haben dich geschätzt als umsichtigen, sachkundigen und tapferen Kampfgenossen. Aber jetzt trennen sich unsere Wege, denn du hast den Glauben an unsere gute und gerechte Sache verloren. Du kannst jetzt gehen, wohin du willst, nur nicht mehr zu deiner Kompanie zurück! Die übernimmt, bis auf weiteres, Grothe. Der kleine Küpper wird sofort deine Sachen holen. Das Stabsauto steht dir bis Buldingrath zur Verfügung."
Wieder hörte man im Zimmer das Ticken der Wanduhr. - Fahrenhorst saß noch einen Augenblick wie betäubt auf seinem Stuhl, ehe er den Sinn des Ganzen begriff. Wohl war ihm das Loskommen von der Roten Armee sehr erwünscht, aber diese Abhalfterung ging ihm doch an die Ehre. Müde stand er auf, und Sukrow reichte ihm herzlicher, als eigentlich beabsichtigt, die Hand. Als Fahrenhorst aber dem nächststehenden Einzel ebenfalls die Hand reichen wollte, drehte sich dieser herum und sagte: „Einem Menschen, der in der Stunde der Gefahr die Genossen im Stich lässt, gebe ich nicht die Hand."
Da ging er mit müden Schritten aus dem Zimmer. -
Die Verwundeten aus dem Feldlazarett des Swertruper Abschnitts waren sämtlich - bis auf den wegen seines Bauchschusses Transportunfähigen - nach dem Swertruper Knappschaftskrankenhaus abtransportiert worden. Aber dieser eine machte der jungen Krankenschwester mehr Sorge als alle anderen zusammen. Bereits den dritten Tag lag er hier, war bei voller Besinnung - sprach aber kein Wort, obwohl man ihm ansah, dass er furchtbare Schmerzen litt. Kein Stöhnen entrang sich seinen fest zusammengepressten Lippen, die er nur öffnete, wenn Schwester Mary kam, mit dem Schwamm seine Durstqualen zu lindern.
Mit rührender Sorgfalt tat Mâry Ruckers alles, um seine Lage zu erleichtern. Jetzt, da sie wieder Luft hatte, betreute sie ihn, ohne müde zu werden, und stellte Sträuße mit den ersten Frühlingsblumen an sein Lager. Welches Grauen mochten diese stummen, groß aufgerissenen Kinderaugen gesehen haben, ehe sie jenen qualvollen Ausdruck angenommen hatten, der an den eines todwunden Rehs erinnerte?
Mit gemischten Gefühlen beobachtete Walter Peikchen die liebevolle Sorgfalt der roten Krankenschwester, wusste er doch, dass diese nur dem vermeintlichen Kampf- und Gesinnungsgenossen galt. In dem Augenblick, in dem sie in ihm den Feind erkennen würde, würde sie sich voller Abscheu von ihm abwenden, ihn wohl gar einem grausamen Tod ausliefern. Darum schwieg er beharrlich zu allen Fragen nach Namen und Herkunft. Sein Leben war zertreten, wie seine Liebe und seine Ideale!
In den frühen Morgenstunden hatte man einen württembergischen Unteroffizier eingeliefert, der bei einem nächtlichen Patrouillengefecht zwei Knieschüsse erhalten hatte und gefangen genommen worden war. Mit gespannter Aufmerksamkeit sah Peikchen, wie Sanitäter, Schwester und Arzt mit dem verwundeten Feind so sorgsam umgingen, als sei das die selbstverständlichste Sache von der Welt. Man verband ihn, gab ihm Morphium zur Linderung der Schmerzen. Die Schwester wusch ihn, brachte ihm zwei frische Eier und auch Schreibmaterial, damit er seine Angehörigen benachrichtigen konnte. Am Nachmittag fuhr draußen das Krankenauto vor. Man bettete den Verwundeten auf die Trage, und Mary gab ihm noch Blumen mit auf den Weg.
Sie war freudig überrascht, als sie, in das Zimmer zurückkehrend, sich von ihrem schweigsamen Patienten beim Namen gerufen hörte.
„Nun, Genosse, geht es schon besser?" Freundlich lächelnd ließ sie sich an seinem Lager auf der Fußbank nieder.
Der Verwundete griff nach ihrer Hand. „Sind Sie denn immer so zu den Noskiten?"
Mâry strich ihm sanft das Haar aus der Stirn. „Sprich nicht so hässlich, Genosse! Das war kein Noskit, sondern ein Hilfloser, der eine Reichswehruniform anhatte. Aber das ist doch ganz gleich. Wir wissen zwar, dass die da drüben mit gefangenen Arbeitern anders umgehen. Maßlose Verhetzung verleitet sie zu allerlei Grausamkeiten, das hast du ja wohl selber erfahren. Aber wir, Genosse, wir dürfen deshalb nicht Gleiches mit Gleichem vergelten."
„Und warum denn nicht?"
„Weil wir, Genosse, wenn auch gezwungenerweise, nicht ohne das Rüstzeug der Barbaren, so doch ohne die tierischen Methoden der Barbarei kämpfen! Wenn wir die Träger einer neuen, besseren Kultur sind, müssen wir das auch durch Taten beweisen. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich einem verwundeten Feind helfen kann. Der Württemberger, wenn der in seine Heimat oder zu seiner Truppe zurückkehrt, wird ganz gewiss nicht mehr verächtlich von den ,Bolschewisten' sprechen."
Peikchen starrte sie feuchtglänzenden Auges an und schien Mühe zu haben, das Gehörte zu begreifen. Dann lispelte er halblaut: „Denken hier denn alle so?"
Die junge Schwester lächelte verzeihlich: „Alle wohl gerade nicht, so zum Beispiel du! Aber bis jetzt sind die einzelnen Stimmen, die zur Wiedervergeltung aufforderten, jedes Mal und ohne Mühe von der großen Masse der Besserdenkenden erstickt worden. Das kämpfende Proletariat war immer großmütiger als seine Feinde! Das war schon zur Zeit der Sklavenaufstände unter Spartakus so, das war ebenso auch in den Bauernkriegen."
Der Verwundete hatte die Augen geschlossen, seine Brust atmete schwer. Unter den geschlossenen Lidern rollten zwei dicke Tränen über das abgezehrte Gesicht, und plötzlich begann er wild aufzuschluchzen.
„Um Gottes willen, was ist dir, Genosse, nicht aufregen! Denk doch an deinen Bauchschuss", rief Mâry erschrocken, denn der Körper des Verwundeten flog und zitterte wie unter elektrischen Schlägen. Morphium wird ihn beruhigen, dachte sie und stürzte aus dem Zimmer.
Als sie nach zwei knappen Minuten zurückkehrte, lag die Decke wild zusammengeknüllt neben dem Lager, und unter dem Verband sickerte es schwärzlichrot hervor. Schnell brachte sie sein Lager wieder in Ordnung, sprach ihm gut zu. Er lag jetzt ganz ruhig mit geschlossenen Augen da, aber der verfallende Gesichtsausdruck deutete auf die nahe Auflösung.
„Hübsch ruhig liegen und vernünftig sein, ich werde sehen, dass ich Doktor Dirschauer mit dem Feldtelefon erreiche", sagte Mary und wollte aufstehen und hinausgehen, aber ein schwacher Ruf des Sterbenden hielt sie zurück.
„Mir kann kein Arzt mehr helfen, Schwester Mary, lassen Sie mich nicht allein, bleiben Sie bei mir", bettelte er mit schwacher Stimme.
Mâry stürzten die Tränen aus den Augen, aber sie bezwang sich, rückte ihm das Kopfpolster zurecht und griff nach dem Schwamm. Da sie aber seine bittenden Augen sah, nahm sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, das ganze Glas. Der Verwundete trank in langen, gurgelnden Zügen und blickte sie dankbar an.
„Nun ist mir etwas besser, und jetzt, Schwester Mâry, kommen Sie einmal ganz dicht heran, ich habe Ihnen noch viel zu sagen."
Er hatte mit seinen kalten Händen ihre feste, warme Rechte umspannt und begann mit leiser Stimme zu erzählen:
„Mein Name ist Walter Peikchen, ich bin auch aus Swertrup, aber ich bin keiner der Eurigen gewesen. Sukrow, euer Kommandant, kennt mich, wir waren Kollegen bei Flaschner. Gern hätte ich ihn nochmals gesprochen, aber dazu ist es jetzt zu spät. Wir haben früher oft miteinander gestritten. Ich war für Schwarzweißrot, schwärmte für Kaisertreue, Hindenburg, Militär und gute alte Zeit! Ich hatte ja von Hause aus nichts anderes gelernt. Ich hasste, verabscheute und bekämpfte die Arbeiter, wie und wo ich nur konnte. Oh, man hat uns so geschickt reingelegt und verhetzt! Ich war beim ,Rugard', einem nationalen Kampfbund, der die Wiederaufrichtung der Monarchie zum Ziel hat. Wir mussten alle einen furchtbaren Eid schwören und uns selber für den Fall eines Verrates den Tod wünschen. Ich habe diesen Eid gehalten... bis heute!
Wir wurden im geheimen militärisch ausgebildet, und ich tat, was ich konnte. Herr Sukrow sollte auch ge-
worben werden, und ich gab mir selber die größte Mühe, ihn zu werben, aber er ging doch nach der anderen Seite,... das war sein Glück! Als man es mir befahl, ging ich stehenden Fußes von meiner schwerkranken Mutter dorthin, wohin man mich haben wollte, um mich umzulegen ! Ich weiß nicht, wie es kam, dass man mich plötzlich für einen Verräter hielt. Nur wenige Stunden war ich da drüben, aber was ich sah, hörte und erlebte, war nur Gemeinheit und Brutalität. Die Gefangenen werden kaltblütig, auf der Flucht' erschossen. Mich aber schickte man an die Front. Meuchlings wurde ich niedergeschlagen, gefesselt und geknebelt! Ohne Verhör und Verteidigung banden sie mich an einen Baum, damit ihr selbst mich totschießen solltet. Eure Kugel hat nur zu gut getroffen... Meine arme Mutter..."
Der Sterbende schwieg erschöpft einige Minuten, ohne seine Hände von der Rechten der Schwester zu lösen. Dann fuhr er fort:
„Ich war aber kein Verräter, nein, bei Gott, das war ich nicht! Aber jede Stunde reut mich, die ich den anderen da drüben geopfert habe. Es war ein großer Irrtum, den ich mit dem Tode büßen muss. Jetzt merke ich erst, wie ich getäuscht wurde und mit mir so viele andere, die auch noch an diese alten Götter glauben. Sie, Schwester Mary, haben mich sehend gemacht! Für mich ist es zu spät, noch umzulernen und gutzumachen. Ich verstehe euch nicht, aber ich fühle es, ihr müsst für eine große, gute und gerechte Sache kämpfen, sonst könntet ihr nicht so human sein. Grüßen Sie... den Genossen Sukrow. Und wenn Sie meinen Eltern schreiben... dann sagen Sie nicht... später erst... Haben Sie vielen vielen Dank, liebe, liebe Genossin... Sukrow... Verräter war ich aber nicht... Feierabend!"
Er stieß das letzte Wort aus wie ein Handwerker, der nach schwerer Arbeit sein Werkzeug hinlegt, streckte sich in seiner ganzen Länge — und war tot.
Mâry Ruckers beobachtete tränenden Auges, wie seine Züge sich glätteten, dann drückte sie ihm die Lider zu, legte, ehe sich die Finger in Todesstarre schlossen, den kleinen Strauß aus Veilchen und weißen Anemonen hinein und verließ auf den Zehenspitzen das Zimmer. -
„Armer Junge", sagte Sukrow tief erschüttert, als er mit Grothe und Mâry eine Viertelstunde später an der Leiche seines Kollegen stand.
„Hätte ich eine Ahnung gehabt, aber er sprach ja kein Wort", sagte Mary.
„Hatte er denn keine Papiere bei sich?"
„Nichts, keine Brieftasche, kein Geld, keine Uhr, als ob man ihn ausgeplündert hätte, nur in der Westentasche fand ich diesen Zettel, aber daraus ging auch nichts hervor." Sukrow ergriff den zerknüllten Zettel und las:
„Lieber Freund! Sei nicht böse, dass ich dich so lange warten lasse. Es geht nicht eher. Der Kapitän muss noch eine Unterschrift einholen. Sei pünktlich am Bahnhof zu 10 Uhr 20 Minuten.
Gisela."
„Verstehen Sie das?" fragte Mâry, die seinen veränderten Gesichtsausdruck bemerkte.
„Ja", sagte er, schwer atmend, „ich verstehe jetzt alles." Ein schwerer Seufzer entrang sich seiner Brust, er schämte sich nicht seiner Bewegung. „Armer Junge, er fiel als dreifaches Opfer! Seine nationalistische Verhetzung, ein dämonisches Weib und unsere Strategie zusammen haben ihn gefällt! Durch absichtlich falsche Gerüchte, die wir dem Gegner zutrugen, um ihn zu zersetzen, erweckten wir den Verdacht, der Anlass zu diesem fürchterlichen Fememord gab. Aber das haben wir nicht gewollt!"
„Wieso denn das?" fragte Grothe hart. „Wenn der Erfolg der ganzen Komödie nur in diesem einen besteht, der jetzt weniger gegen uns steht, tut es mir nicht leid. Sonst stände der sicher noch drüben, würde Arbeiter niederschießen. So starb er - wenigstens noch sehend geworden - das ist für ihn wie für uns besser, als wenn er auf dem berühmten ,Feld der Ehre' gefallen wäre!"

 

17. KAPITEL

In Swertrup ging unterdessen - rein äußerlich betrachtet - alles seinen gewohnten Gang, und doch war es ein anderes Leben als früher. Verdrossen und mit leerem Magen trottete der Kumpel morgens zum Zechentor, denn die Lebensmittelnot wurde täglich schlimmer. Man arbeitete, nur um zu arbeiten. Wer mochte auch auf der Dreihundert-Meter-Sohle mit Eifer Kohlen picken, während oben über der Erde die Dinge der Entscheidung entgegenreiften, jeden Augenblick wieder die Alarmsirenen ertönen konnten? Jede Stunde brachte neue Hiobs- oder Hoffnungsbotschaften. Die Zeitungsnachrichten waren bei Drucklegung schon überholt.
Wo war sie geblieben, die einheitliche, glühende Kampfstimmung, die die Arbeiter vor zehn Tagen beseelte? Rechtssozialisten und Unabhängige, Kommunisten und Christliche, Hirsch-Dunckersche und syndikalistische Arbeiter zogen damals an einem Strang, und selbst viele Bürgerliche sympathisierten. Jetzt aber, unter dem zersetzenden Einfluss der Bielefelder Verhandlungen und des Hungers, klafften die alten Gegensätze erneut und schärfer auf, erhoben Mutlosigkeit, Uneinigkeit, Verrat und Verzweiflung ihr Haupt.
Noch wurden jene, die zur Unterwerfung bereit waren, von den anderen überstimmt, die ganz deutlich die Reichswehrexekution mit nachfolgender gesetzlicher Restaurierung der kappistischen Pläne kommen sahen. Nur der Appell an die proletarische Solidarität mit den Brüdern im Schützengraben bewirkte noch einigen Halt.
Die Sitzungen des Swertruper Vollzugsrates gaben ein getreues Spiegelbild dieser widerströmenden Stimmungen. Reese, Oversath, Küpper und noch ein halbes Dutzend andere forderten sofortigen Abbau der Front, Rückkehr und Auflösung der Verbände und restlose Waffenabgabe auf dem Rathause, gemäß den Bedingungen des Regierungsultimatums, das am 30. März, mittags zwölf Uhr, ablief.
Ihr schärfster Widersacher war der Syndikalist Meiring, der Kampf bis aufs Messer predigte und nicht müde wurde, die Arbeiter gegen den Verrat der Bonzen zu alarmieren. Als Folge seiner Propaganda war zu verzeichnen, dass ein Trupp bewaffneter Arbeiter vor das Gebäude des Generalanzeigers" zog, den gerade anwesenden Chefredakteur herausholte und ihn zwang, sich vor der Menge wegen eines erschienenen Artikels, der scharfe Angriffe gegen die Arbeiter enthielt, zu entschuldigen.
Peter Ruckers gehörte zu denen, die vermöge ihrer Einblicke in die Politik und in die unzulänglichen Mittel der Arbeiterschaft blutenden Herzens die Nutzlosigkeit eines weiteren Widerstandes erkannten. Entgegen seinem Impuls - der ihn an die Front trieb - hatte man ihn mit der Organisierung des Nachschubs für die Swertruper Kontingente betraut. In dieser undankbaren Aufgabe hatte er sich aufgerieben, war er um zehn Jahre gealtert. Wie hatte er gearbeitet, geredet, gebettelt, gedroht, kommandiert und gescholten - und wie wenig hatte er vermocht? Um jeden Sack Haferflocken, um jede Kiste Nudeln musste er stundenlang nicht nur mit Bürgermeister und Lieferanten, sondern auch mit den vom engsten Ressortgeist besessenen Kollegen des Vollzugsrats schachern und feilschen. Seiner Initiative war es zu danken, dass bei einem Kaufmann eine halbe Waggonladung Kunsthonig beschlagnahmt wurde, aber die anderen hinderten ihn, dieses Nahrungsmittel der Front zuzuführen, sondern beanspruchten es für Kinder, Kranke und Mütter.
Ehe aber der Streit noch beendet war, entstand nachts in dem Schuppen, wo die Sendung untergestellt war, auf unerklärliche Weise Feuer, und der ganze Vorrat verbrannte.
Für Löhnung der Truppen hatte Bürgermeister Livenkuhl einmal 120 000 Mark ausgezahlt. Das war gleich zu Anfang unter dem Eindruck der Arbeitersiege gewesen. Dann erklärte er, es seien keine Zahlungsmittel mehr vorhanden, und schließlich weigerte er sich ganz entschieden, ohne Genehmigung seines Vorgesetzten, des Regierungspräsidenten, noch Gelder herzugeben. Die Unternehmer, die man zur Zahlung verpflichtete, fanden sich unter Druck schließlich zur Ausstellung von großen Schecks bereit, aber niemand löste sie ein, weil auch die Banken plötzlich keine Zahlungsmittel mehr besaßen. Ruckers fühlte dumpf, dass hinter diesem unerklärlichen Mangel an Barmitteln irgendein schwarzes Komplott steckte, zermarterte sich aber vergeblich den Kopf, wie dem beizukommen sei. Die Ausgabe von Notgeld - das sah er wohl ein - konnte hier nicht helfen, da niemand ein so unsicheres Papier als vollwertiges Zahlungsmittel anerkennen würde.
Mit Kleidung und Stiefeln war es ähnlich. In den Geschäften fand sich nichts dergleichen vor. Schließlich fiel ihm ein einfaches Mittel ein, das er aus der Geschichte der Großen Französischen Revolution kannte. Jeder Bürger der Stadt sollte durch Dekret gezwungen werden, ein Paar Stiefel oder Schuhe für die Front zu opfern; aber dagegen erhoben nicht nur Reese und seine Getreuen, sondern sogar sein eigener Parteigenosse Jeitner Einspruch. - „Wir sind doch keine Räuber!" - Ebenso wenig gelang es ihm, die noch auf der „Gewerkschaft Deutsche Erde" vorhandene Anlage zur Granatenfabrikation in Gang zu setzen. Man hatte zwar zugesagt, aber dann fehlte es doch an diesem oder jenem.
So war er auch schließlich gezwungenerweise zu jeder friedlichen Verständigung bereit. Der in seiner großen Mehrheit ebenso gestimmte Vollzugsrat traf bereits Vorkehrungen für den Rücktransport der Truppen, als, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, die durch Funkspruch bekannt gegebene Ausführungsbestimmung des Generals Watter zur Waffenabgabe bekannt wurde.
Bis zum 31. März, mittags zwölf Uhr, sollten vier schwere Geschütze, sechzehn Minenwerfer, zweihundert Maschinengewehre, zwanzigtausend Infanteriegewehre, vierhundert Schuss Artilleriemunition, hunderttausend Infanteriepatronen abgeliefert werden. Erfolgte das nicht, so sollten die Bedingungen des Waffenstillstandes als nicht erfüllt gelten, desgleichen, wenn noch irgendwelche Teile der Roten Armee oder einer sonstigen Wehr unter Waffen stünden, noch ein Vollzugsrat existierte oder ein Gefangener nicht freigelassen sei.(Anm.:Historisch)
Jetzt war es ganz klar, dass man durch die ganzen Verhandlungen in eine Falle geraten war. Das Militär pfiff auf alle Vereinbarungen, schuf sich seine eigenen Bestimmungen. Selbst wenn die Arbeiterschaft einmütig des unterwürfigsten Geistes gewesen wäre, konnten diese Bedingungen nicht erfüllt werden, weil es schon rein technisch gar nicht möglich war. Das Militär stellte absichtlich solche wahnsinnigen Forderungen, um mit ihrer Nichterfüllung Vorwand zu gewaltsamem Einmarsch und blutiger Rache zu haben.
Wieder heulten die Alarmsirenen durch die gequälte Stadt. Auf öffentlichen Plätzen gab man die Bedingungen des Generals bekannt. Ein vieltausendstimmiger Aufschrei der Empörung erhob sich! Selbst Leute, die noch am Vormittag für Kapitulation gestimmt hatten, verlangten jetzt einen neuen Generalstreik. „Lieber die Senegalneger als die Reichswehr", rief man einander zu, als mitgeteilt wurde, dass der Essener Zentralrat eine Kommision nach Köln gesandt habe, um die Entente auf die frevelhafte Einmarschprovokation in die verbotene 50-Kilometer-Zone aufmerksam zu machen.
Die am Hindenburgmarkt aufgefahrenen Lastautos zum Zurücktransport der roten Truppen wurden von Bewaffneten und Unbewaffneten gestürmt, die an die Front befördert zu werden verlangten. Ganz aus eigenem Antrieb bildeten sich Kommandos, um gegebenenfalls die Schächte in die Luft zu sprengen.
Wieder hielten die Werke ihren Betrieb an. Durch Rad fahrende Sonderkuriere hatte Jeitner die Vollzugsratsmitglieder nach dem Volkshaus zusammengetrommelt. Als man beginnen wollte, wurde ein Brief des Gewerkschaftssekretärs Reese abgegeben, in dem dieser kurz und bündig seinen Austritt aus dem Vollzugsrat erklärte. Diese Mitteilung löste weniger Empörung als Niedergeschlagenheit aus.
„Die Ratten verlassen das Schiff", bemerkte Ruckers mit grimmigem Humor. Dann verlas der Vorsitzende ein neues Telegramm, wonach die Regierung den Termin für die Waffenabgabe unwiderruflich auf Sonnabend, den 2. April, mittags zwölf Uhr, verlängerte. Bis dahin hatte die Reichswehr den strengen Befehl, nicht vorzurücken. Severing selbst erhielt Vollmacht, das etwaige Eingreifen zu regeln und zu überwachen.
Die Regierung baute also goldene Brücken, um es nicht zum Ärgsten kommen zu lassen; General Watter mit seiner offensichtlichen Provokation wurde nicht anerkannt. Niemand im Saal fühlte mehr den Mut, in dieser Lage gegen dieses Angebot zu sprechen. Nur ein alter Bergmann sagte halblaut: „Das sieht Karl Severing ähnlich!"
Oversath verlangte das Wort, wurde aber mit hämischen Bemerkungen empfangen. „Du bist auch noch hier? - Geh doch gleich zu deinem Freund Reese!"
Der sozialdemokratische Parteivorsitzende wurde kreideweiß.
„Ich danke für euren guten Rat, weiß aber selber, was ich zu tun habe. Wenn ich auch in vielen Dingen anderer Auffassung bin, deshalb verlasse ich im Augenblick der Gefahr doch nicht meinen Posten. Jedenfalls stehe ich für das, was ich sage, auch gerade und überlasse das Kneifen anderen Leuten."
Jeder verstand, wer mit den „anderen Leuten" gemeint sei. Mehrere riefen „Bravo", Oversath aber fuhr fort: „Diese neuerliche Verlängerung des Ultimatums und die anderen Maßnahmen der Regierung zeigen, dass von einem Ausliefern an die Generale kein Gedanke ist. Jetzt liegt es an uns, Genossen, jeden Vorwand zum Einmarsch illusorisch zu machen. Das neue Angebot
macht uns das leicht. Darum bin ich dafür, dass sofort die Arbeit wiederaufgenommen und alle Lastkraftwagen mobilisiert werden, um im Laufe des morgigen Vormittags alle Genossen von der Front zurückzuholen."
„Und wer bürgt dafür, dass die Reichswehr nicht marschiert?" fragte Meiring höhnisch.
„Unser Genosse Severing, der alle Vollmachten besitzt", antwortete Oversath unerschütterlich.
Meiring schlug ein markerschütterndes Lachen an. „Euer Severing? Gesetzt selbst den Fall, er wolle das Beste. Aber die Generale pfeifen auf alle seine Vollmachten! Ein Gewehr ist in solcher Situation mehr wert als zehntausend Quadratschnauzen!"
Jeitner läutete mit der Schelle. „Es ist jetzt nicht Zeit, mit Worten zu streiten. Kannst du einen praktischen Vorschlag machen, dann heraus damit, Genosse Meiring!"
„Ich verzichte darauf, ihr habt die Arbeiter gerufen, und jetzt gebt ihr sie preis! Eure ganzen Kuhhandeleien haben schuld an dem Schlamassel! Ihr kriegt uns nie wieder zu einer Aktion!"
Mit einem gewaltigen Fußtritt schleuderte der ehrliche Revolutionär den ihm im Wege stehenden Stuhl beiseite und verließ, ohne jemand eines Blickes zu würdigen, den Raum.
„Er hat leider nur zu Recht, aber jetzt ist es zu spät", sagte Ruckers tonlos. „Ich glaube also, unser aller Einvernehmen feststellen zu können, dass wir sofort unsere Truppen zurücknehmen. Es ist jetzt zwei Uhr mittags. Wer erledigt die Geschichte mit den Kraftwagen?"
Oversath meldete sich freiwillig.
„Gut! - Genosse Jeitner setzt sich sofort mit Livenkuhl in Verbindung, um die Waffenabgabe im Rathaus zu regeln. Nach dem Wortlaut der Regierungsvereinbarungen haben wir das Recht, eine Arbeiterwehr, drei Mann pro tausend Einwohner, zu behalten. Das muss einer von euch übernehmen."
„Warum nicht du, du verstehst das doch am besten", rief Pontow.
„Weil ich sofort mit unserem Auto zu unseren Leuten fahren will, um sie auf den Rücktransport vorzubereiten, denn ich vermute, dass es dabei noch allerhand Schwierigkeiten geben wird", antwortete Ruckers.
Die Notwendigkeit dieser Maßnahme sah jeder ein, und so wurde, weil kein anderer sich meldete, der christliche Vollzugsrat Küpper mit dem Kommando der neuen „Nachtwächtergarde", wie sie Meiring genannt hatte, betraut.
Hinter Niederwerth, wo die Zechen und Häuser mehr und mehr zurückblieben, gab der Chauffeur Vollgas, und der Wagen sauste mit sechzig Kilometer Geschwindigkeit dahin. Unterwegs begegneten sie mehrfach kleineren Trupps von auf eigene Faust heimwärts ziehenden Arbeitersoldaten. Ruckers erkannte daran, wie notwendig es sei, unverzüglich die zerbröckelte Front abzubauen, da unter solchen Umständen ein gewaltsamer Vorstoß der Reichswehr die schlimmste Niederlage der Arbeiter zur Folge haben musste. Aber Gott sei Dank blieben ja noch fünfundvierzig Stunden Zeit bis zum Ablauf der Frist!
Müde lehnte er sich in dem offenen Wagen zurück. Der scharfe Fahrtwind massierte wohltätig seine summenden Schläfen. Er schloss die Augen, versuchte etwas zu schlafen. Aber der Versuch scheiterte' an einer rätselhaften Unruhe, die - vom Herzen her kommend – seinen ganzen Körper bis zum äußersten Nerv unter schwingender Spannung hielt. Jetzt erst merkte er richtig, wie schlecht die letzten vierzehn Tage seinen Nerven bekommen waren. Zu gründlich hatte er sich in seine undankbare Aufgabe hineingekniet, zu ausschließlich hatte er all seine Kräfte auf Biegen oder Brechen eingesetzt. Aber das Missverhältnis zwischen seinem Sollen und Können war doch zu groß; der Ärger darüber fraß ihn fast auf. Warum konnte das nicht anders sein? Warum mussten immer und immer wieder die Arbeiter geschlagen werden? Warum waren die anderen auch diesmal wieder die Stärkeren? -
Da kroch es wieder heran, dieses ekelhafte, schleimige Untier mit den boshaft phosphoreszierenden Augen und den unzähligen Polypenarmen. Diese Fangarme schlängelten sich überall heran an alle fortschrittlichen Kräfte, banden sie, saugten ihnen die Lebenssäfte aus. Wie höhnisch-überlegen diese Fresse grinste! Bald stand darin etwas von der höflichen Korrektheit des Bürgermeisters Livenkuhl, bald etwas von der verbindlichen Liebenswürdigkeit des Generaldirektors Buchterkirchner. Dann spielte es mehr hinüber in die hasserfüllte Freundlichkeit der Geschäftsleute, um schließlich in das Grienen überzugehen, das ständig um den Mund des Gewerkschaftssekretärs Reese lag. Endlich aber zerfloss es zu jenem hilflosen Lächeln, das ihn in den letzten Wochen oftmals zum Rasen gebracht hatte, jenes hilflose Lächeln vieler Genossen, wenn sie wieder einmal vor den einfachsten selbständigen Aufgaben versagten...
Ein scharfer Ruck in einer Kurve ließ ihn aus seinem dumpfen Dahinbrüten auffahren. Sie hatten den Bereich der Zechen, Kohlenhalden und Arbeiterkolonien hinter sich gelassen. Rechts und links träumten behäbige Bauernhöfe unter uralten Eichen von jenen Zeiten, da noch nicht jener rauchende Schornsteinwald dahinter den Horizont verfinsterte. Auf den Ackern spross die Wintersaat. Schwerfällige rotbraune Ochsengespanne gingen vor blinkenden Pflugscharen. Aus klaffenden Furchen trug der Wind würzigen Erdgeruch bis zur Chaussee. Wie wohl das tat; in tiefen Zügen atmete der müde Arbeiter diesen kräftigen Duft ein.
Allmählich wurde die Gegend hügeliger und ärmlicher. Sanddünen mit Ginster, Wacholder und Kiefernkuscheln schoben sich vor. Nur die tief hängenden Birken zu beiden Seiten der Straße brachten mit ihren zartgrünen Schleiern etwas Farbe in die trostlose Gegend. Die Straße war zum holperpflasterigen Fahrweg geworden, der dem Auto nur halbe Geschwindigkeit erlaubte. Strohgedeckte Heidekaten tauchten ab und zu auf, und der Hebebaum eines Ziehbrunnens stand gleich einem Haltesignal schräg gegen den regenverheißenden Nachmittagshimmel.
Vorn in einer Senkung tauchte jetzt ein viereckiger Kirchturm auf, „Buldingrath".
Der Chauffeur zog plötzlich mit aller Kraft die Bremse. In einer Wegbiegung lag ein Hindernis. Ein Lastkraftwagen hatte auf der abschüssigen Straße einen der zweirädrigen Bauernkarren umgestoßen und die hier sehr schmale Fahrbahn völlig versperrt. Man war dabei, mit Stricken und Winden die Fahrzeuge wieder flottzumachen, doch sah Ruckers sofort, dass bis dahin geraume Zeit vergehen würde. So machte er sich, von Unruhe getrieben, zu Fuß auf den Weg. Holte ihn der Chauffeur ein, umso besser.
In den Straßen des Städtchens stieß er bald auf die ersten Arbeitersoldaten mit der roten Binde am linken Unterarm. Ruckers musste sich eingestehen, dass sie, zerlumpt und verwildert aussehend, guten Stoff für bürgerliche Hetzartikel hergaben.
Aus einem Gasthof am Marktplatz ertönte Klavierspiel und grölendes Singen. Er schaute von draußen durchs Fenster und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Das Gastzimmer war gefüllt mit lärmenden, zum Teil betrunkenen Rotarmisten. Einige tanzten mit Weibspersonen, deren Schwesternhaube ihren eigentlichen Beruf nur schlecht bemäntelte.
„Ist das unsere rote Front, die so unentwegt weiterkämpfen will?" fragte er grimmig.
Nein, das ist Etappe, Genosse, und die da haben es aufgegeben", antwortete ein Mann neben ihm.
In Ruckers drehte sich etwas um. „Da soll doch aber der Deubel... ist denn hier in der Stadt keine Kommandantur?"
„Seit heute mittag nicht mehr. Die da haben sie weggejagt, weil man ihnen keine Verpflegung gab", antwortete der andere.
„Sollte man das wohl glauben? Und warum gab man ihnen keine Verpflegung, war denn nichts mehr da?" forschte er weiter.
„Weil sie ihre Stellung ohne Befehl verlassen haben."
„Was? Ohne Befehl? Und das läuft noch mit der roten Binde herum?"
„Das ist gar nicht so verwunderlich, Genosse. Man hört an deinen Fragen, dass du den Betrieb hier noch nicht kennst. Das da sind Düsseldorfer, sonst ganz gute Kerle, ich habe sie bei Westhofen angreifen sehen! Aber frage sie, was sie bis jetzt an Löhnung und Verpflegung kriegten? Lass dir ihre Stiefel zeigen. Aus Düsseldorf war eine Ladung Stiefel für sie unterwegs, ich habe das Auto selber gesteuert. Aber hinter Walsum wurden wir von einem Marodeurhaufen, ebenso abgerissen wie der hier, angehalten und ausgeplündert. Als ich mit leeren Händen kam, riss ihnen die Geduld."
„Und was sind das für Krankenschwestern?" fragte Ruckers, den ein förmliches Gliederzittern überfallen
hatte.
Der Düsseldorfer zuckte die Achseln. „Das Gesocks findest du überall! Die da mit den fuchsigen Haaren kenne ich zufällig, mit der habe ich während des Krieges auf der ,Rheinmetall' an einer Bank ,Möbbelche' geschrubbt. Seit einem halben Jahre stricht sie auf der Graf-Adolf- Straße."
In einem Nebenzimmer erhob sich eine schrille Gesangstimme:
„Mit schwachen Armen, bleichen Wangen, Ein Kindlein steht vorm Bergmannshaus. Da tritt, das Herz voll heißem Bangen, Sein Mütterlein zu ihm hinaus. Die Locken streichelt sie dem Kinde, Das traurig fragt beim Abendschein: ,Ach, Mutter, gelt, die Glocken läuten, Kehrt denn mein Vater noch nicht heim? Ach, Mutter, gelt, die Glocken läuten, Kehrt denn mein Vater noch nicht heim?'"
Von einer Ahnung getrieben, trat Ruckers näher. Richtig, da saß die dicke Änne - anscheinend auch nicht mehr ganz nüchtern - auf dem Ledersofa, jeden ihrer vollen Arme um einen Burschen geschlungen, und sang eines ihrer steinerweichenden Lieblingslieder.
Der Bergmann spuckte aus. Er hatte genug gesehen und nur den einen Wunsch: so schnell wie möglich zu seinen Swertrupern! Zum Glück kam gerade das Auto. Die breite Dorfstraße, auf der die Hühner gackerten, lag wie ausgestorben. Nur ein altes Mütterchen, das an einer Schultertrage zwei Eimer balancierte, schaute dem rotbewimpelten Auto verwundert nach.
Am Türpfosten eines niedrigen Backsteinhauses wehte die Rote-Kreuz-Flagge. Ehe noch der Chauffeur den Wagen zum Halten gebracht hatte, stürzte eine weißbeschürzte Gestalt heraus. „Vater!"
„Ich habe gerade heute so viel an euch gedacht", sagte Mary, mit feuchtschimmernden Augen.
Etwas unbeholfen küsste der Arbeiter sein Kind auf die Stirn. Sein Blick fiel auf Grothe, der langsam, um die Wiedersehensszene nicht zu stören, näher trat.
„Bringst du denn wenigstens gute Nachrichten mit? Auf Geld und Stiefel zu hoffen haben wir uns schon abgewöhnt", sagte er, dem alten Kameraden die Hand reichend.
„Weder eines noch das andere, wir sind verraten und verkauft und bauen ab; ich komme, um euch das mitzuteilen, ihr werdet von Mülheim noch nähere Anweisungen erhalten", antwortete Ruckers düster. „Aber sag' mal", fuhr er, die Stirn runzelnd, fort, „bist du auch Sanitäter geworden? Ich glaube gehört zu haben, dass du in den letzten Tagen eine Kompanie übernommen hast?"
„Stimmt schon, Peter. Meine Kompanie liegt augenblicklich hier beim Stab in Reserve. Gleich hinter der Kirche haben wir drei Scheunen in Beschlag. Die Leute sind gerade beim Abendessen, und da bin ich schnell einmal herübergespritzt, um mir ein paar Hoffmannstropfen zu holen", antwortete Grothe, während Mâry über und über rot wurde.
So, so, Hoffmannstropfen hast du dir geholt? Hast jedenfalls Bauchschmerzen, na, das kommt ja im Krieg vor! Ich dachte schon, die Kompanieführer lassen sich hier gleich im Feldlazarett nieder! Nach dem, was ich soeben in Buldingrath gesehen, sind hier ja überhaupt merkwürdige Zustände eingerissen." Und dann polterte er alles heraus, was an Zorn und Empörung in ihm rumorte.
„Was willst du machen?" fragte er, als Grothe auf einer Torpedopfeife mehrere schrille Signale abgab, die alsbald irgendwo beantwortet wurden.
„Entwaffnen tu ich die Kerle, ihnen die rote Binde abnehmen, die sie entehrt haben, und dann bringe ich sie auf das laufende, dass sie die Hacken verlieren. Solche Schweinereien greifen um sich wie ein Flugfeuer, zum Vergnügen des Herrn Watter! Vorgestern erst haben wir einen Marodeurhaufen entwaffnet. Die Kerls wollten sogar schießen. Wenn die ganze Geschichte nicht sowieso zu Ende ginge, hätte ich alle vierzehn an die Wand gestellt. Ohne Disziplin ist eben nichts zu machen, aber die Verhältnisse werden stärker, und Not bricht Eisen." Sie waren weitergehend auf dem Dorfanger angelangt, wo die Rotarmisten bereits im Antreten begriffen waren.
„Wirst gleich mal sehen, dass wir doch noch Zug und Disziplin haben. Fahrenhorst hatte die Kompanie ja mächtig verludert. Das kam daher, weil ihm jede innere Gemeinschaft mit den Arbeitern fehlte. Sie gehorchten ihm nur, soweit sie ihn sahen."
„Und wie macht sich denn der Herr Kommandeur? Übrigens, wo steckt er eigentlich?" fragte Ruckers.
„Augenblicklich ist er vorne in Stellung. In Sukrow hat sich mancher geirrt. Ein Dutzend solcher Leute noch in führender Stellung, ich glaube, wir stünden anders da. Die Mannschaften haben vor ihm den größten Respekt, da er von keinem mehr als von sich selbst verlangt", war die Antwort.
In wenigen Minuten war die Kompanie in zwei Gliedern angetreten. „Hallo, ist das nicht Ruckers? -Glück auf, Pidderche, was gibt's Neues? - Wo hast du unsere Stiefel?" - rief es ihm entgegen.
„Kompanie stillgestanden!" schnitt der Führer jede Unterhaltung ab. „Kameraden! Wieder einmal müssen wir eine Bande von Marodeuren unschädlich machen. In Buldingrath geht es drunter und drüber. Man hat sogar die Kommandantur weggejagt. Das dürfen wir nicht dulden. Anarchie im Rücken ist schlimmer als der Feind vor uns, denn sie zieht uns den Boden unter den Füßen weg, nimmt uns den letzten Halt. - Abzählen zu vieren!"
„Willst du uns begleiten?" wandte er sich an Ruckers. „Ich muss erst Sukrow sprechen, kannst du mir nicht jemand mitgeben, denn allein werde ich ihn wohl schwer finden", gab dieser zurück.
„In Gruppen rechtsschwenkt, marsch,... Halt! - Das geht schlecht, Alterchen, wir werden jeden Mann gebrauchen. - Gewehr umhängen! - Aber Mary könnte dich begleiten, sie weiß den Weg. -Ohne Tritt, marsch! -Sage bitte gleich Sukrow Bescheid, was ich unternommen habe, er soll mir nach Buldingrath weitere Befehle zukommen lassen, ich schicke einen Befehlsempfänger, sowie ich dort aufgeräumt habe."
„Mâry soll mich begleiten? Und wer bleibt solange bei ihren Patienten?" fragte der Alte verwundert.
Grothe machte ein spitzbübisches Gesicht. „Ich bin augenblicklich ihr einziger Patient!" Er sprang – den Finger an die Mütze legend - seinen Leuten in großen Sätzen hinterdrein.
„Na, dann zieh dir man wenigstens deinen Mantel über", sagte Ruckers und zündete sich währenddessen ein neues Pfeifchen an.
„Da hinten, wo die Pappeln stehen, ist schon die Lippe, aber wir müssen bei Tage einen Umweg machen, weil die Noskes die Chausseen manchmal mit Schrapnells bestreuen", erklärte Mary, als sie fünfhundert Meter hinter dem Dorf von der Straße abbogen. Durch Kiefernkuscheln hindurch führte ein schmaler Zickzackweg. Während sie dahinschritten, erzählte sie von dem Leben hier, von dem Bruder, der bei einem benachbarten Abschnitt als Krankenträger Dienst tat, fragte nach der Mutter, nach Ludwig und allem möglichen in Swertrup. „Da ist nicht viel zu erzählen, denen geht es, wie es jetzt eben gehen kann", schnitt der Vater verdrießlich das Gespräch ab. „Aber nun erzähle mal auch von dir. Was hast du mit Grothe?"
Sie war hochrot geworden, buchstabierte in dem abgestorbenen Heidekraut zu ihren Füßen, als suche sie da eine Antwort. Ihr Schweigen sagte dem Vater genug.
Eine Weile schritten sie wortlos Seite an Seite dahin, dann begann der Alte wieder: „Du bist jetzt einundzwanzig, ich glaubte, ich könnte dir vertrauen, als ich dich mitziehen ließ. Ich hätte es doch nicht tun sollen!" „Dann sperre mich doch gleich ein. Soll ich denn mein Leben lang wie ein kleines Kind behandelt werden?" begehrte das Mädchen auf.
Ruckers blickte erstaunt auf. So leidenschaftlich hatte er seine Älteste noch nie gesehen. „Nun, nun, so war's ja nicht gemeint. Ich weiß, dass ich dich ein bisschen kurz gehalten habe, manchmal vielleicht sogar etwas zu streng. Vielleicht war es nicht ganz richtig von mir, aber ich meinte es gut. Und eben darum möchte ich nicht, dass du dich mit jedem Windhund..."
„Max ist kein Windhund, Vater! Frage hier herum, wen du willst, ob er nicht der Tüchtigste und Opferwilligste im ganzen Abschnitt ist!"
Aber deshalb brauchst du dich doch nicht ihm zu opfern. Ich habe meine Gründe, ihn in Weibergeschichten für einen Windhund zu halten."
„Lass doch das, Vater", bat Mary mit abgewandtem Gesicht. „Max ist kein schlechter Kerl, und wir haben uns sehr gern. Übers Heiraten zu sprechen ist immer noch Zeit, wenn das hier vorüber ist."
„Das ist es ja eben", sagte Ruckers weich; dabei tastete er nach der Hand seines Kindes. „Ich bin kein Spießer! Meinethalben liebt euch, du bist ja jetzt in dem Alter, obwohl mir manchmal noch ist, als seiest du noch mein kleines dummes Küken. Aber wie die Dinge hier jetzt stehen? Wir müssen mit allem rechnen, auch mit dem Einmarsch der Reichswehr. Dann muss ich flüchten und Max desgleichen. Ich weiß nicht, ob und wann wir mal zurückkommen. Ich würde leichter in die Fremde gehen, wenn ich mein Mädel unbeschwert zurücklassen könnte."
Mary sah ihn groß und ernst an. „Wenn Max flüchten muss, gehe ich mit ihm, Vater!"
Die Kiefernkuscheln wurden jetzt lichter und gestatteten Durchblicke auf das breite Wiesental, durch das sich der Fluss in einer Breite von fünfzig bis sechzig Metern hinschlängelte. Ein Teil der Wiesen stand deutlich sichtbar noch unter Wasser.
Im Zuge der Landstraße wölbte sich eine steinerne Brücke über den Fluss, aber der mittelste Brückenbogen war gesprengt. Dort, wo die noch stehenden Bogen die Ufer berührten, befand sich beiderseitig ein dichtes Stacheldrahtgewirr. Auf dem diesseitigen Ufer zog sich, ungefähr achtzig Meter vom Fluss entfernt, dem Kamm einer Bodenerhebung folgend, ein etwa zweihundert Meter langer Zickzackgraben hin.
„Ist denn das die ganze Stellung?" fragte Ruckers, der hinter einem Wacholderstrauch stehend Ausschau
hielt.
„Zwei Kilometer flussabwärts bei der Schleuse liegt unser nächster Posten. Nach rechts hin bei der Einmündung eines Baches befindet sich ein starker, flankierender Maschinengewehrposten; von hier aus kannst du ihn noch nicht sehen. Zwischendurch sind nur einige Schützenlöcher, die aber nur nachts besetzt werden", erläuterte Mâry.
Ruckers lächelte. „Man merkt doch gleich, dass du einen guten Lehrmeister gehabt hast. Aber wo stehen unsere Geschütze?"
„In einem anderen Abschnitt weiter flussabwärts bei Dinslaken! Hier haben wir nur einen leichten Minenwerfer, aber nur noch zwei Schuss dazu. Er steht drüben in der Mulde versteckt", antwortete das Mädchen unbeirrt weiter.
„Und wo sind die Noskes?"
„Sie liegen drüben über den Fluss weg am Waldrand. Nachts kommen sie bis da unten an die Heuschober. Seit unserem letzten Angriff haben sie auch bei Tage einen Posten an dem Brückenrand. Wir müssen jetzt durch den Laufgraben."
In gebückter Stellung gelangte man durch den anderthalb Meter tiefen Graben in den Schutz der Höhe, auf der sich die roten Soldaten eingegraben hatten.
An der rückwärtigen Seite des Hügels hatten sie sich aus Brettern, Zweigen, Rasen und Zeltbahnen primitive Unterstände in den Erdrücken hineingebaut. Phantastische Gestalten hockten um kleine Feuerchen herum. Als die Soldaten der „Kompanie Liebknecht" Ruckers erkannten, liefen sie sofort herzu, ihn mit Fragen überhäufend. Er blickte in wettergebräunte, unrasierte Gesichter und tiefliegende Augen. „Ist Sukrow bei euch?" fragte er, ohne auf ihre Fragen einzugehen.
„Gerade beim Telefonisten." Man wies auf einen halboffenen Verschlag, der, durch Zweige gegen Fliegersicht gedeckt, einer Sommerlaube glich.
„Was, Telefon habt ihr hier auch?" wunderte sich Ruckers.
„Ja, aber nur bis zu unserem Stab. Alle Gespräche, die von weiter her kommen, müssen übertragen werden", antwortete Mary, die auch hier Bescheid wusste.
Sukrow saß an einer Kiste, die Hörer am Kopf, und trommelte mit dem Bleistift auf seinem Notizblock. Als er die Besucher erblickte, hellten sich seine finsteren Züge um einen Schein auf. „Einen Augenblick, eben wird ein Gespräch vom Zentralrat in Essen übertragen."
„Rückzug, was?" fragte Ruckers leise. Der junge Kommandeur nickte nur und begann wieder zu schreiben.
„Also, wir können einpacken!" Die Hörer flogen mit lautem Krach zu Boden. „Bei Hamm und Lünen sind die Stellungen schon heute früh geräumt worden. Wir gehen noch heute abend auf Buldingrath zurück!"
„Grothe ist schon dort", sagte Ruckers und richtete seine Bestellung aus.
Sukrow machte ein gefasstes Gesicht. „Seit vier Tagen kämpfen wir vorn gegen die Reichswehr, hinten gegen die Marodeure. Ihr habt uns aber auch mit allem im Stich gelassen, und das zersetzt unsere Front."
„Ich tat, was ich konnte, aber wenn du wüsstest..."
„Ich weiß es; dir persönlich mache ich auch keinen Vorwurf. Die ganze Geschichte, die so hoffnungsvoll begann, ist gründlich verfahren worden."
„Hoffentlich bist du dir auch über die Ursachen im klaren."
„Da kannst du Gift drauf nehmen. Glaube mir, Peter, diese zehn Tage Bürgerkrieg waren mir lehrsamer als alle Vorträge, die du und Max mir gehalten habt und noch halten könntet. Heute vormittag noch schickte die, Kompanie Zeche Beate' eine Deputation mit der Forderung, die Lippe überschreiten zu dürfen. Und das, obwohl die ,Kompanie Dudo' gestern nacht bei einem Sturmangriff zwischen Dinslaken und Friedrichsfeld mit furchtbaren Verlusten zurückgeschlagen wurde. Die Reichswehr bombardierte heute früh Dorsten und nahm uns die Lippebrücke. Wir hatten an achtzig Tote. Und all dieser Heroismus ist nun umsonst gewesen? ... Aber lass mich jetzt einen Augenblick allein, damit ich meine Anordnungen treffe. Es dämmert gleich, und vor Einbruch der Dunkelheit möchte ich geräumt haben, damit es nicht noch zu irgendwelchen Zusammenstößen kommt. Der Zentralrat legt darauf ganz besonderen Wert, und er hat ja auch Recht, nicht noch zu guter Letzt Vorwände für die Reichswehr zum Nachrücken zu geben."
„Und glaubst du wirklich, dass sie sich genieren werden?" fragte Ruckers in lauerndem Ton.
„Aber das wäre ja dann doch gegen Treu und Glauben", rief Sukrow entrüstet.
Der Bergmann pfiff durch die Zähne. „Eines hast du immer noch nicht gelernt, mein lieber Ernst, nämlich, dass Politik nicht mit. Treu und Glauben gemacht wird. Hat die Regierung das Militär in der Hand, oder das Militär die Regierung? Glaubst du, dass die Watter und Kabisch über einen dieser Schwindelparagraphen stolpern werden? Wenn wir die Waffen abgegeben haben werden, finden sie schon einen Vorwand zur Offensive. Ich weiß schon vorher, was unsere unabhängige Presse nachher wieder schreiben wird: ,Sofortige Untersuchung, strenge Bestrafung aller Schuldigen, volle Entschädigung der Hinterbliebenen usw.' Aber ich werde mich rechtzeitig verduften und empfehle jedem, dasselbe zu tun."
„Aber es sollen doch Zivilkommissare den Truppen zugeteilt sein und Severing selber..."
„Beschwer dich nachher bei diesen politischen Küchenkommissaren, wenn man dich totgeschossen hat", sagte Ruckers, sich kurz umdrehend, und ging nach vorn, um wenigstens einmal auch einen Blick zum Graben hinauszuwerfen.
Die Kumpels packten bereits schweigend ihre armselige Habe zusammen.
Früher als sonst setzte die Dämmerung ein, denn der Himmel hatte sich mit schweren Regenwolken verhangen, nur fern im Westen leuchteten noch einige Wolken in einem kalten Abendrot. Ein heftiger Wind war aufgesprungen, peitschte über die Grabenböschung, dass der Sand stiebte.
Die Stellung lag bereits wie ausgestorben, bis Rukkers, hinter aufgelegten Sandsäcken an einen Querbalken gelehnt, noch einen einsamen Posten fand. Der Mann starrte hinter dem schussfertig aufgelegten Gewehr unverwandt ins Tal hinaus. Als der Besucher näher trat, wandte er den von einem schmutzigen Filz bedeckten Kopf. Eine Sekunde blickte Ruckers in ein zerfurchtes Proletariergesicht mit buschig-grauweißem Backenbart. Der Mann musste wohl Sand in die Augen bekommen haben, denn das helle Wasser lief ihm über die Wangen.- Bei einem geräumten Beobachterstand machte der Besucher halt. Lange schweifte sein Blick nach drüben, wo die Abenddämmerung schon schwarze Schleier über dem Walde webte. Dort lag der Feind, der weiße Feind! Aber hier war noch rote Erde, freie Erde, beschirmt von stählernen Waffen in stählernen Proletarierfäusten! Seine harten Finger krallten sich in den feuchten Sand. Hier diese Erde hatte sich das Proletariat im harten Kampf Schritt um Schritt erobert, mit seinem Blute getränkt! Aber Uneinigkeit und Verrat hinderten es am Festhalten. Zum letzten Mal ging die Sonne über der roten Ruhr unter.
Ihn fröstelte. Stimmen und schwere Schritte kamen den Graben herauf. Er musste sich hart an die Wand drücken, damit die Leute mit dem schweren Maschinengewehr vorüber konnten.
„Wenn die sich denken, mein gutes MG so zu kriegen, dass sie damit nochmals auf uns schießen können, haben sie sich eklig geschnitten", hörte er noch einen der sich entfernenden Männer sagen.

 

18. KAPITEL

Während die auf dem Rückzug befindlichen Rotarmisten in zugigen Scheunen hausten, saßen die guten Bürger von Buldingrath ungekränkt in ihren warmen Stuben und tuschelten.
Die Roten gingen zurück! Das bedeutete Ende des Ruhrkrieges und damit Ende aller Einquartierungen, Scherereien und Requisitionen! Ordnung und Ruhe kehrten wieder, und verstohlen überschlug man bereits, welche Schadenersatzforderungen man an die Regierung stellen könne.
Der Bürgermeister hatte ausdrücklich um Stellung von Straßenpatrouillen ersucht, da er von den finster blickenden Arbeitersoldaten nichts Gutes erwartete. Sukrow hatte einen ganzen Zug dazu bestimmt und einen weiteren mit Kompanieführer Schulz auf Feldwache geschickt.
Ruckers war noch denselben Abend nach Swertrup zurückgefahren, um die Anfuhr der Transportautos zu beschleunigen. Die Zweifel des Alten hatte auf Sukrow immerhin einigen Eindruck gemacht, so dass er den Posten größte Aufmerksamkeit einschärfte und Befehl gab, ihn bei verdächtigen Vorkommnissen sofort zu wecken. Dann hatte er sich, todmüde von den Aufregungen, ohne die Stiefel auszuziehen, in der für den Stab beschlagnahmten Gasthofstube auf einer Strohschütte niedergelegt.
Draußen wütete der Sturm mit aller Heftigkeit. Die Luft war erfüllt von Fauchen, Heulen, Stöhnen und Poltern. Ein richtiges Wetter für einen Überfall, dachte er, noch bevor ihn die Müdigkeit bezwang.
Er hatte das Gefühl, sich eben erst niedergelegt zu haben, als man ihn heftig beim Fuße zog; zugleich blendete ihn Laternenschein. Vor ihm stand die kleine Ordonnanz Küpper mit verstörtem Gesicht.
„Genosse Sukrow, das Militär rückt uns nach!"
Er sprang mit beiden Beinen empor, griff taumelnd nach Pistolengurt und Kartentasche.
„Wir beobachten schon die ganze Nacht, dass man hinter uns mächtig viel Leuchtkugeln abschießt. Jetzt aber leuchten sie dauernd mit einem Scheinwerfer herüber nach der Stadt", fuhr der Kleine aufgeregt fort.
Sie waren ins Freie getreten. Der Sturm hatte sich gelegt, aber es war empfindlich kalt. Ein fahlgelber Saum am östlichen Horizont kündete den nicht mehr fernen Morgen an. Im Norden geisterten noch immer die Leuchtkugeln über der Heide. Irgendwo krähte ein verschlafener Hahn, sonst war es still.
„Wie spät ist es eigentlich?" fragte Sukrow; seine eigene Armbanduhr hatte er aufzuziehen vergessen. Zur Linden, der eben um die Ecke kam, gab die Antwort.
„Was, gleich fünf Uhr? Warum habt ihr mich nicht eher geweckt, wenn euch was Verdächtiges vorkam? Wo ist Schulz?"
„Er ist mit fünf Mann auf Kundschaft nach dem Kalvarienberg und hat mir währenddessen die Wache übertragen. Da drüben ist es nicht geheuer, da... da ist es wieder!"
Irgendwo hinten in der finsteren Heide blitzte ein Licht auf, und dann tastete ein weißer Riesenarm gespenstisch das Gelände ab.
„Das kann nur auf dem Kalvarienberg sein, also sind sie über die Lippe gekommen", sagte zur Linden. „Sollen wir Alarm blasen?"
„Ich glaube das noch nicht, wir wollen doch warten, bis Schulz zurückkommt, unsere Leute sind müde genug", wehrte Sukrow ab.
„Heut' ist erster April, vielleicht macht Herr Watter nur einen kleinen Aprilscherz..."
Der Bergarbeiter brach plötzlich ab, der Morgenwind trug ganz deutlich Gewehrgeknatter herüber.
„Das ist Schulz, der muss auf was gestoßen sein", rief zur Linden und zog ohne weiteres seine Pfeife.
Aber es hätte nicht erst des Alarmsignals bedurft. Über dem Buldingrather Kirchturm erschienen plötzlich weiße Wolkenknollen, in denen es feurig aufzuckte. Bautz - bautz - bautz - bautz!
Klirrend schlugen die Schrapnellkugeln auf die Dachziegel. Zugleich stiegen längs der Landstraße pechschwarze Rauchfontänen aus der Erde; zwei, drei... und dann noch eine vierte! Dumpf rollten die Geschützeinschläge durch das schlafende Städtchen.
Aus den Hoftoren stürzten schreckverstörte Arbeitersoldaten hervor, die Kleidung noch voller Halme. Viele ohne Gewehre, einige, die die Stiefel ausgezogen, barfuss oder auf Strümpfen. Laut jammernde Bürger flüchteten in Nachtkleidung in die Keller.
„Wir sind verraten, die Noskes brechen die Abmachung", schrie es durcheinander.
Nicht flüchten, stehen bleiben, sammeln!" rief Sukrow, sich einem flüchtenden Trupp entgegenstellend, aber seine Stimme hatte jede Autorität verloren. Ein Stoß warf ihn rücklings über ein Maschinengewehr zu
Boden.
Am Nordostrande der Stadt musste schon gekämpft werden. Man hörte Knattern der Gewehre und das harte Pochen der Maschinengewehre.
Aus einer Seitenstraße drang unter Führung Einzels jetzt ein leidlich geordneter Trupp von dreißig Mann, der mit seinem Maschinengewehr an der Straßenecke in Stellung ging.
Alles auf mein Kommande hören! Den Friedhof besetzen !" schrie Sukrow, die Hände als Schalltrichter benutzend, und ergriff zwei der schweren Patronenkästen. Durch einen Hof hindurch gelangten sie unangefochten zu dem hoch auf einem überragenden Hügel gelegenen Friedhof, der mit seinen festen Feldsteinmauern einen, strategisch wertvollen Stützpunkt darstellte. Hierher zogen sich alsbald weitere, teils kämpfende, teils flüchtende Gruppen zurück. Bald tackten auch ihre Maschinengewehre dem in Richtung der Rückzugsstraße vorstoßenden Militär in die Flanke, so dass es gegen das kleine Fort Front machen musste.
Aber die Weißen hier hatten genügend Artillerie zur Hand, die alsbald ein vernichtendes Feuer gegen dieses bequeme Ziel eröffnete. Laut aufbrüllend fuhren die Granaten in das dichte Geäst der alten Ulmen und Trauerweiden.
Der Jesuskörper des hochragenden Kreuzes am Eingang wurde gleich von einer der ersten Granaten heruntergerissen. Einen Augenblick lehnte der sterbende Menschensohn an der Gittertür, als wollte er weiterem
Verderben Zutritt verwehren, ehe ihn ein Volltreffer in Stücke schlug.
Und immer wieder heulte es heran. Die Gräber öffneten sich unter dem wütenden Biss der Granaten, als wäre nicht genug lebendes Gebein zu zermalmen. Erdbrocken, Äste, blutige Menschenglieder und halbverfaulte Fetzen längst Verstorbener wirbelten in diesem Höllenorkan durcheinander und dazwischen Stücke von Grabkreuzen mit der Inschrift: „Hier ruht unter dem Schutz der göttlichen Jungfrau..."
Wohl eine halbe Stunde lang trommelte die Artillerie gegen den Friedhof. Der Turm des Feldsteinkirchleins sprang mit dumpfem Knall auseinander, eine dicke Wolke weißen Kalkstaubs mischte sich mit dem schwärzlichen Qualm der krepierten Geschosse, die Stätte des Grauens in einen wohltätigen Mantel hüllend.
Dann setzten die Soldaten zum Sturm an! -
Das Bombardement des Friedhofes hatte das Sperrfeuer von den Rückzugsstraßen abgelenkt, was die noch in der Stadt befindlichen Rotarmisten zum Zurückfluten benutzten. Die Wut über den heimtückischen Überfall war wilder Verzweiflung gewichen. Ein großer Teil hatte bereits die Waffen fortgeworfen, um so schnell wie möglich aus dem Bereich des mörderischen Feuers zu kommen. Das Stabsauto, mit Flüchtenden bis zum Brechen überfüllt, bahnte sich fortwährend hupend einen Weg.
Am Straßengraben standen drei schussfertige Maschinengewehre, die Grothe mit vieler Mühe bis hierher durchgebracht hatte, dann waren ihm die Leute plötzlich davongelaufen.
„Halt!" brüllte er mit heiserer Stimme und richtete, den Finger am Abzug, ein MG drohend auf das Auto, so dass der Führer erschrocken bremste.
„Sofort alles aussteigen, sonst schieß' ich euch augenblicklich zusammen!"
„Hier die MG und Patronenkästen aufgeladen", kommandierte er, als die Arbeiter absprangen, „dann noch die Verwundeten hinzu. Das Auto wartet am Dorfeingang von Welkum. Wir gehen zu Fuß und decken den Rückzug!"
So gelang es ihm nochmals, eine Gruppe von zwanzig Mann zusammenzuraffen, mit der er bis zu dem eine halbe Stunde entfernten Dorf gelangte. Hier hatten die Flüchtenden inzwischen alles, was an Wagen, Pferden und Fahrrädern aufzutreiben war, requiriert und sich damit davongemacht.
Das Auto mit den Maschinengewehren stand unversehrt am Dorfeingang. Grothe wollte seinen Augen kaum trauen: Auf dem Fahrersitz stand hochaufgerichtet, einen Karabiner in der Hand, eine schlanke Mädchengestalt.
„Mary? Mordsmädel, du hier? Was machst du denn
da?"
„Ich passe auf deine MG auf. Ohne mich lägen die schon längst im Graben, und dein Auto wäre futsch", entgegnete sie, als handle es sich um die einfachste Sache
der Welt.
Ein Mann mit einem Fahrrad sauste vorüber, rief ein
paar unverständliche Worte.
„Ich verstand was von Kavallerie", sagte der Chauffeur, der soeben den Motor wieder anließ.
„Dann sind wir verloren und die anderen da vor uns auch", sagte Grothe, erbleichend nach dem Feldstecher greifend. Deutlich erkannte er zwischen den Bäumen der Chaussee wiegende Pferdeleiber und darüber flatternde blau-weiße Lanzenfähnchen.
Sein Gesicht bekam einen Ausdruck verzweifelter Entschlossenheit.
„Raus mit den Maschinengewehren! Einen Tod können wir nur sterben, er soll den Kappisten teuer zu stehen kommen! Wer sich nicht feige abschlachten lassen will, bleibt bei mir und hilft den Rückzug der anderen decken."
Und zu dem Chauffeur gewendet: Du bringst die Verwundeten weg. Mary, du nimmst den Karabiner mit und sorgst dafür, dass euch keiner anhält. Bleibt auch nicht in Swertrup, sondern macht, dass ihr über die Grenze ins besetzte Gebiet kommt."
„Ich bleibe bei dir, Max", antwortete Mary. Ihre Augen flackerten freudig auf.
Da brüllte er sie an. „Du gehst, verdammt noch einmal, mach, dass du wegkommst, du hältst uns hier nur auf!"
„Geh doch, Mary", flehte er,als sie keine Miene machte, in den bereits langsam anlaufenden Wagen zu steigen. „Dein Platz ist bei den Verwundeten, also beeile dich, wir treffen uns wieder in Swertrup."
„Nein, Max, ihr kommt nicht wieder, das weiß ich, und darum bleibe ich! Ihr werdet ja auch Verwundete haben. Und zur Not weiß ich auch mit der Waffe Bescheid!"
Sie winkte dem Chauffeur, der es sich nicht zweimal sagen ließ und mit Vollgas davonschoß.
Ein wunderbarer Selbstverleugnungsgeist war über die kleine Schar gekommen. Siegte die eigene bessere Einsicht? War es das mutige Beispiel des jungen Führers? Oder wollten sie sich an Tapferkeit nicht von dem jungen Mädchen beschämen lassen?
Die bayerischen Ulanen, die geglaubt hatten, ohne Widerstand das Dorf auskehren zu können, rissen entsetzt ihre Pferde herum, als ihnen aus nächster Nähe eine volle Lage entgegenprasselte.
Links vom Straßenrand lag ein einstöckiges Haus, anscheinend zu der in der Nähe gelegenen Ziegelei gehörig. Ein junger Obstgarten mit einem neuen Zaun aus Drahtgeflecht umgab es von drei Seiten. Rückwärts stieß der Garten an einen Elsenbruch, in dem die Frösche quakten. Hierhin zog sich Grothe mit seinem Häuflein zurück, als die abgesessenen Kavalleristen, verstärkt durch Infanterie mit Maschinengewehren, in Schwarmlinie wiederkamen.
Die Bewohner des Hauses waren geflüchtet, und die Arbeiter verbarrikadierten mit Möbeln, Betten und Matratzen Türen und Fenster. Grothe selbst postierte die Maschinengewehre derartig, dass sie die Straße und die ganze Umgegend beherrschten. Sie waren außer dem Mädchen noch siebzehn Mann.
Hinter Zäunen, Hecken und Bäumen hervor begannen die Soldaten das Haus unter Feuer zu nehmen, ohne dass es ihnen gelang, die tapfere Besatzung niederzukämpfen. Angstvoll lauschten die Dorfbewohner dem wütenden Gekläff der Maschinengewehre, die mit ihren Geschoßgarben die armselige kleine Festung zerfetzten. Aber immer wieder, wenn man längst schon glaubte, dass die Belagerten zum Schweigen gebracht waren, knallte es aus irgendeiner Luke, tackerte ein Maschinengewehr Antwort, und die Ambulanzen auf dem Grasplatz hinter dem Ziegelofen hatten alle Hände voll zu tun.
Ein bayerischer Hauptmann raste vor Wut. Gegen zehn Uhr vormittags beorderte er seine Mannschaften auf den Grasplatz und hielt ihnen folgende Rede:
„Ihr wollt Soldaten sein und lasst euch auf eine stundenlange Belagerung mit ein paar Spartakisten ein? Arschlöcher seid ihr durch die Bank! Mit zwanzig solchen Kerlen, wie sie da drin sitzen, schlage ich euer ganzes Bataillon in die Flucht. Jetzt hört mir aber das blöde Geknalle auf, dazu sind die Patronen zu teuer. Ich werde euch schon die Nasen aus dem Dreck bringen! Jetzt wird gestürmt, verstanden? Und wer mir kehrt macht, ehe er da drüben seine Handgranaten abgeladen hat, dem schieße ich eine Kugel in den Arsch."
Die jungen Soldaten blickten scheu auf die Handgranatenkisten, aus denen man ihnen die Koppel spickte. Ein paar ältere, die in den Trichtern vor Verdun und in den Argonnen mitgekämpft hatten, sahen herausfordernd drein, als wollten sie sagen: „Hannemann, geh du voran!" Der Hauptmann verstand diesen Blick und warf sich kurz entschlossen selber einen Sturmsack mit Handgranaten über die Schulter.
Als die Uhr der Dorfkirche zehn ausgeschlagen hatte, brachen die Stoßtrupps aus ihren Deckungen mit lautem Hurra hervor. An der Spitze lief, mit seinen weitaufgeblähten Breeches wie ein Känguruh aussehend, die Wurfgranate über den Kopf schwingend, der Hauptmann.
Hinter den zerfetzten Wänden blaffte und ratterte es trotzig auf! Noch ehe der Hauptmann die Hälfte der Distanz durcheilt hatte, fiel er vornüber auf das Gesicht, während er die Füße mit den komischen Reithosen krampfhaft nach oben warf.
Unschädlich explodierten alle geworfenen Handgranaten weit vor dem Ziel... und bald war das Schussfeld wieder klar, bis auf die noch immer gegen die Sonne gerichteten Reithosen und einem halben Dutzend weiterer regungsloser Uniformbündel.
Da zog der kommandierende Offizier seine Leute auf einen entfernteren Feuerring zurück und schickte nach einem Minenwerfer. -
Mut steckt ebenso an wie Feigheit. In der Hitze des Gefechts lassen sich auch oftmals solche Menschen zu Mut und Todesverachtung hinreißen, deren stärkste Seite die Tapferkeit sonst nicht ist. Aber in einem umzingelten Hause, ohne jede Aussicht auf Entsatz oder Pardon stundenlang untätig zu sitzen und dabei genau zu wissen: Ehe die Sonne untergeht, ist alles vorbei... dazu gehört mehr als landläufige Tapferkeit.
Die vierzehn Männer, die in dem belagerten Hause noch atmend auf den Tod warteten, hatten ihm sowohl auf den Schlachtfeldern des Weltkrieges wie tief unter der Erde im Kampf mit den Gewalten der Tiefe oft genug ins Auge geblickt.
Die Soldaten hatten ihnen aus ihren Deckungen heraus die fürchterlichsten Drohungen und die Mitteilung von dem angeforderten Minenwerfer zugerufen. Was das bedeutete, verstand jeder, aber auch so gab sich keiner einer Illusion über die Ausweglosigkeit seiner Lage hin. Wasser für die gleichermaßen durstenden Menschen und Maschinengewehre gab ja der im Flur liegende Saugbrunnen, und gegen den Hunger fand sich neben Brot ein großer Vorrat gelber Rüben. Aber noch ein solcher Angriff... und die letzte Patrone flog hinaus.
Inmitten des Hauses befand sich unter einer Falltür ein finsteres, feuchtes Kohlenverlies. Hierher hatte man vor den ständig durchschlagenden Kugeln den Kommandeur, dem ein Geschoß das rechte Schultergelenk zerschmettert hatte, in Sicherheit gebracht. Auf einem Lager von alten Kleidungsstücken lag er langausgestreckt, seinen Kopf hatte Mâry in ihren Schoß gebettet.
Auf seine Anordnung stellte man nach dem abgeschlagenen Angriff überall starke Beobachtungsposten, während die anderen sich für den noch schweren Endkampf ausruhen sollten. Einer nach dem anderen tappte die gebrechliche Leiter hinab. Kaum einer sprach ein Wort. Auf Stühlen und Kisten hockten sie umher. Das flackernde Licht einer rußenden Petroleumfunzel ließ die fahlen, eckigen Gesichter noch fahler und eckiger erscheinen.
Eine bleierne Erschöpfung war über alle gekommen, aber kein Schlaf senkte sich auf die müden Lider. Jeder fühlte, dass die Gedanken der anderen auch nur gleich einem müden Hippodrompferd um den einen verfluchten Punkt kreisten und kreisten! Aber kein Laut der Klage kam über die blutiggenagten Lippen.
Plötzlich wuchs in einer Ecke des Kellers ein laut schlürfendes Geräusch: Schnarchen, das so komisch klang, dass alle in ein lautes Lachen ausbrachen.
„Was ist denn los, warum lacht ihr denn so?" fragte der Aufgewachte mit noch ganz benebelter Stimme.
„Nun habt ihr ihn wach gemacht. Schlaf ruhig weiter, mein armer Prüm, die Noskes dürfen dir nichts tun", antwortete eine väterliche Stimme, so dass neues Lachen den Raum erschütterte.
Grothe verzog schmerzlich sein Gesicht. „Kinder, macht nicht solche Witze, wenn ich lache, ist es mir, als wenn ein Bohrer in meiner Schulter Akkord bohrt."
„Lachen ist besser als die Köpfe hängen lassen und grübeln; lasst uns doch ein bisschen ,labern'", sagte ein Schlesier, die Lampe zurechtschneuzend.
„Da hast du Recht; wenn uns erst die Würmer fressen, ist es mit dem Quatschen sowieso aus", spottete ein anderer.
„Verdammt noch mal, wer reißt da sein dreckiges Maul auf? Sagst du noch einmal solch Wort, schlag' ich dir die Zähne ein", rief Grothe, sich aufrichtend.
Mary zog ihn sanft zurück, und eine Weile war es wieder still.
Dann begann eine fistelnde Stimme. „Ich war vor acht Jahren mit unter den vierzehn Kumpels, die drei Tage lang auf Zeche Radbod eingeschlossen waren. Aber es ist merkwürdig. Damals hatte ich eine fressende Todesangst, obwohl wir die Retter hörten, heute aber bin ich beinahe vergnügt."
„In Frankreich", begann ein anderer, „mussten wir einmal einen Sturmangriff machen. Als es aber soweit war, konnte keiner aus dem Graben heraus, weil jeder, vom Leutnant angefangen, die Hosen abgeknöpft hatte."
„Ich freue mich direkt, dass ich hier mit dabeisein darf, wo ich doch noch höchstens zwei Jahre zu leben habe", fistelte der Schwindsüchtige weiter. „Wie der Hauptmann da seine Luftballonbuxen in die Gegend schmiss..."
Ein alter Häuer, der, den Kopf auf die angezogenen Knie gestützt, zu schlafen versucht hatte, richtete sich aus der unbequemen Stellung empor: „Einen Tod kann man doch nur sterben, das ist wahr. Das Hundeleben, das unsereiner führt, ist kaum wert, dass man darüber spricht. Nur meine fünf kleinen Blagen tun mir leid. Unseren Frauen wird kein Mensch was geben! Wenn das Älteste wenigstens ein Junge wäre, dann könnte er nächstes Jahr schon mit zur Grube gehen."
Er sprach schwer, mit dumpf abgehackten Sätzen. Jedes Wort schien er zwischen den priemgeschwärzten Zähnen erst durchzukauen. Irgendwo fing sich ein Laut wie von einem niedergekämpften Schluchzen.
Ein Jüngerer stand auf. „Euer Gesülze hier kann ja Mensch und Tier verrückt machen! Da gehe ich lieber wieder nach oben. Aber eins sage ich euch noch: Ich habe zwar bloß ein Kind, einen lieben, drolligen Kerl von zwei Jahren. Als ich weg machte, kriegte er gerade die ersten Höschen. Er ist mir genauso viel wert wie dir deine fünfe! Wenn er groß geworden ist, wird er nicht einmal wissen, wie sein Vater ausgesehen hat, aber mit Stolz kann er dann sagen: Mein Vater war damals auch mit dabei... für unsere gute Sache! - Ich tausche jetzt mit keinem!"
„Das war ein richtiges Wort", sagte der Schlesier. „Wenn ich so an die anderen denke, die wir mitnehmen, kommt mir das gar nicht so schlimm vor. Eines ist nur schade: Dass wir hier kein Dynamit haben; für uns, und für die andern da draußen."
„Ich weiß was Besseres, Genossen", nahm der Verwundete das Wort. „Wenn sie uns auch hier das bisschen Leben ausblasen, wenn es ihnen auch diesmal noch gelingt, unsere Bewegungen niederzuschlagen, der Kampf geht deshalb doch weiter. Jede Revolution braucht, ehe sie durchdringt, Misserfolge und Niederlagen. Aber Karl Liebknecht sagte: Die Geschlagenen von heute werden die Sieger von morgen sein! Über Niederlage und Niederlage führt der Weg zum Sieg! Auch aus diesem Kampf wird man lernen. Und unser Blut düngt den Boden, auf dem die endgültige Menschheitsbefreiung, der Sozialismus erwachsen wird!"
Er lehnte sich erschöpft zurück. Eine Weile schien jeder über das Gesagte nachzudenken, dann erklang mit einem Male leise, aber rein, eine Mädchenstimme: „Es ist wunderbar, in diesem Gedanken verliert der Tod alle Schrecken!"
„Du armes Mädel hast auch noch nichts vom Leben gehabt", sagte bedauernd der alte Häuer.
„Aber jetzt habe ich doch was, und das allein lohnt schon, gelebt zu haben", rief Mary.
„Gehen wir lieber wieder nach oben an die Sonne; hier fällt uns doch die Decke auf den Kopf", schlug der Alte vor. Einer nach dem andern krabbelten sie wieder die Leiter empor. „Aber keine unnütze Knallerei", rief ihnen Grothe noch nach.
„Bleibe bei mir, Mâry", flüsterte er, als sie eine Bewegung machte, als ob sie aufstehen wolle.
„Wie ist dir jetzt, Max?" fragte sie, sich niederbeugend, seine heißen Wangen streichelnd.
„Besser, meine Gute, nur schmerzt mich der Gedanke, dass ich untätig in diesem verfluchten Loch liegen muss, uns nicht verteidigen kann, wenn die Noskehunde eindringen", antwortete er bitter.
Sie schmiegte sich eng an ihn. Plötzlich fühlte er etwas metallisch Kaltes in der Hand. „Nicht lebendig, Max!"
Er verstand und drückte sie mit dem gesunden Arm an sich, bis seine Wunde schrie.
Sie presste ihre Lippen lang auf die seinen.
„Wie gut war es doch, Liebster, dass ich dir nicht gehorchte und hier blieb. Jetzt würdest du mutterseelenallein in diesem Keller liegen."
„Und du hast keine Angst vor dem großen Nichts, das da vor uns steht?"
Eine Weile war es still,... dann fielen zwei dicke heiße Tropfen auf sein Gesicht.
Sie führte seine Hand auf ihr Herz. „Wenn es schneller schlägt, so ist es nur die Freude, Max, diese Stunde noch mit dir teilen zu dürfen, die letzten vierzehn
Tage waren doch die schönsten in meinem ganzen Leben."
Da zog er sie erschauernd zu sich nieder.
Noch ehe der Minenwerfer herangebracht werden konnte, war es einem Stoßtrupp von sechs Mann gelungen, sich an die Rückseite des Hauses heranzuarbeiten.
Der dort postierte Mann erwachte aus seinem Halbdämmer nur, um im nächsten Moment von der geballten Ladung in Stücke gerissen zu werden. Die durch alle Fenster und Türen geschleuderten Handgranaten vollendeten dann in wenigen Minuten ihr Vernichtungswerk. Wandflächen stürzten ein, Decken prasselten nieder, und was dann noch von den im Hause Befindlichen ein Lebenszeichen von sich gab, wurde von den durch schwere Verluste und reichlichen Alkoholgenuss erbitterten Söldnern mittels Kolben, Seitengewehr und Schüssen schnell zum ewigen Schweigen gebracht.
Dann schleifte man die teilweise bis zur Formlosigkeit zerrissenen Leichname auf den Hof.
Ein junger Zeitfreiwilliger stieß mit dem Absatz nach einem nur noch an Fleischfetzen baumelnden Kopf. „Ihr Hunde schießt mir meinen Hauptmann nicht noch einmal tot", knirschte er mit glasigen Augen.
„Schade", sagte gedankenvoll ein Offizier beim Anblick der Toten, „wir hätten sie doch lieber aushungern und dann zum Anschluss an uns bewegen sollen. Solche tapferen Kerle fehlen uns; daran dürft ihr euch ein Beispiel nehmen!"
Das war die einzige Leichenrede auf die namenlosen Helden von Welkum, bevor man sie in einem flüchtig aufgeworfenen Massengrab sang- und klanglos verscharrte.

 

19. KAPITEL

In Swertrup hatte man seit langer Zeit mal wieder ruhig geschlafen. Der in später Abendstunde von der Front zurückkehrende Ruckers hatte noch im Volkshaus Bericht vom begonnenen Rückmarsch der roten Truppen erstattet, worauf der Vollzugsrat sich gemäß der Regierungsforderung endgültig auflöste.
Eine tiefe Resignation war auch über die Radikalisten gekommen. Die Bewegung war verpatzt, jetzt kam es nur noch darauf an, keinerlei Vorwand zum Einmarsch des racheschnaubenden Militärs zu geben.
Die am Vortage in Essen zustande gekommenen Lohnvereinbarungen zwischen Zechenverband und Gewerkschaften schienen geeignet, die Enttäuschung schneller überwinden zu lassen. Unter Tage sollte es pro Schicht 5,50 Mark mehr geben. Das war doch endlich mal ein annehmbares Angebot, das sicher auf den Schreck zurückzuführen war, den die Kumpels den Herren eingejagt hatten. Die vielgeplagten Bergarbeiterfrauen, die in den letzten schweren Wochen noch spitzere, gramverzerrtere Gesichter bekommen hatten, überschlugen bereits, wie sie mit dem Mehrverdienst die entstandenen Lücken wieder ausstopfen würden.
Auch im Hause Schapulla wurde gerechnet. Schapullas waren immer für Ruhe und Ordnung gewesen, deshalb konnte im ganzen Ruhrgebiet niemand froher über die endliche Beendung des Bürgerkrieges sein.
Ihre Bilanz sah trostlos genug aus. Frau Schapulla hatte zwar ihre Süppchen von Tag zu Tag wässeriger gestaltet, und im Übrigen gab es selten mehr was anderes als Kohlrübenkaffee und dünne Marmeladeschnitten.
„Kinder, ist das 'ne Zeit; das ist ja man grad sowie im richtigen Krieg; sollen sie doch endlich Schluss machen", pflegte Herr Schapulla zu sagen, der es nie versäumte, seinen Gästen mittags die Zeitungsberichte über die Lebensmittelschwierigkeiten vorzulesen.
Alle saßen bei ihm mehr oder minder dick in der Kreide, da Mutter Schapulla - gewissenhaft, wie sie war -die Beträge in alter Höhe anrechnete. Das konnte man ja auch gar nicht anders bei diesen teuren Zeiten, und wo außerdem noch das halbe Haus leer stand. Acht Kostgäste, darunter auch der ,möblierte Doktor', waren au der Front.
Mutter Schapulla seufzte, wenn sie an all das frische junge Blut dachte, das so plötzlich hinaus in den Krieg gezogen war.
Um den Doktor hatte sie die wenigste Angst. Mit dem konnte nichts Schlimmes passieren! Seine große Bücherkiste deckte wohl allein schon die aufgesummte Miete. Aber bei den Kumpels?
Die meisten hatten ihre einzig brauchbaren Anzüge und Stiefel auf dem Leibe. Was ihre Kasten an zerfetzten Hemden und Papierkragen enthielt, war gar nicht der Rede wert.
Die neue Zulage eröffnete da einige Lichtblicke. Oh, man gönnte den armen Teufeln den höheren Lohn! Auch eine kleine Steigerung des Kostgeldes ließ sich nicht umgehen, zumal ja auch eine neue Kohlenpreiserhöhung eintrat.
Herr Schapulla war eben damit beschäftigt, auf dem Hofe einige Körbe fauler Kartoffeln auszulesen, als plötzlich die Alarmsirenen zu heulen begannen.
„Was ist denn nun schon wieder los?" Schapulla hatte diese Alarmsirenen, die allemal nur Böses ankündigten, ebenso fürchten wie hassen gelernt. Sie sollten doch nun endlich einmal Ruhe geben und die Leute arbeiten lassen. Als aber die Sirenen unablässig weiterlärmten, wischte er sich doch die Hände an Seiner Schürze ab, zog die Jacke über und ging auf die Straße.
Die Leute standen in Gruppen vor den Häusern und machten ängstliche Gesichter. Mehrere, die er fragte, zuckten mit den Achseln, bis irgendwer die Kunde brachte: „Die Noskes kommen!"
„Das ist doch man bloß ein fieser Aprilscherz", sagte Schapulla, aber er fühlte doch, wie er blass wurde. Wenn das wahr wäre, dann gab es neue Streiks mit Lohnausfall und Straßenkämpfen, und die Schuldenlatte seiner Kostgänger konnte er endgültig in den Rauch schreiben.
Von Angst und Neugier getrieben, ging er nach dem Rathaus zu; aber je weiter er kam, umso erregter wurden die Menschen. Versprengte berichteten von dem heimtückischen Überfall bei Buldingrath. Zugleich kamen telefonische Meldungen von überall, dass die Reichswehr nirgends die Bestimmungen innehielt, sondern auf der ganzen Front vordringe und die Rückzugsstraßen der Roten Armee mit Sperrfeuer belege.
„Wir sind verraten! Die Regierung, der Zentralrat und der Vollzugsrat - alle sind Verräter und müssen aufgehängt werden!"
Man sah Männer mit wutverzerrten Gesichtern und nach Waffen schreiend vor Rathaus und Volkshaus ziehen. Am Bahnübergang wurde planlos mit dem Bau einer Barrikade begonnen. Vor Aufregung halb wahnsinnige Frauen, die um ihre Männer und Söhne bangten, warfen an der Wohnung des Bürgermeisters Livenkuhl alle Fenster ein. Die Wohnung des Gewerkschaftssekretärs Reese entging dem gleichen Schicksal nur dadurch, weil bei der Entwaffnung eines Sicherheitswehrpostens ein Schuss in die Luft ging, der die Menge mit dem Schreckensruf: „Sie sind schon da!" sofort auseinanderstieben ließ.
Es zeigte sich nun, wie verhängnisvoll die vorzeitige Auflösung des Vollzugsrates war. Niemand war mehr da, der die Menge so oder so zu irgendwelchen Maßnahmen veranlassen konnte. Wenn jetzt schon die Truppen einmarschierten, musste es infolge des planlosen Widerstandes einzelner zu einem fürchterlichen Blutbad kommen. Flüchtlinge von der Front, die über das schonungslose Vorgehen der Soldateska zu berichten wussten, vermehrten noch die Panik. Der letzte Zug nach Duisburg war von Flüchtlingen überfüllt.
Gegen ein Uhr mittags verließ ein Personenauto mit weißer Parlamentärflagge Swertrup in nördlicher Richtung. Mit vieler Mühe war es dem unabhängigen Stadtrat Jeitner gelungen, eine Parlamentärkommission zusammenzubringen. Außer ihm fuhren Frau Kabitzki und ein alter, als Menschenfreund und Pazifist stadtbekannter Arzt, Dr. Krausnik, mit. Der vierte im Bunde war... Martin Schapulla, Kost- und Logierwirt, Vorstandsmitglied der St.-Rochus-Brüderschaft und anderes mehr.
Eben darum, weil er als christlicher und ordnungsliebender Bürger bekannt war, legte man so großen Wert darauf, ihn mitzubekommen. Martin Schapulla wusste selber nicht recht, wie er zu dieser Ehre gekommen war, und kam erst wieder richtig zu sich, als man Könkern passierte.
Wenn das man gut auslief? Aber warum musste er denn auch - anstatt ruhig und gottergeben zu Hause abzuwarten - sich so lange vor dem Rathaus herumdrücken, bis ihn Dr. Krausnik am Kragen hatte. Er hatte vor dem Doktor, der ihn vor zwei Jahren von einer schweren Fleischvergiftung heilte, einen mächtigen Respekt. Vor einem solchen Herrn durfte er sich doch nicht blamieren, und so hatte er, als man an seine Bürgerpflicht und seine stadtbekannte Gesinnung appellierte, sich breitschlagen
lassen.
Wenige Kilometer hinter Könkern stießen sie schon auf die ersten Vorposten, die ihnen hinter den die Straße sperrenden spanischen Reitern drohend die Gewehrmündungen entgegenstreckten.
„Was, verhandeln wollt ihr? - Da kommt ihr einen Posttag zu spät! Wir verhandeln nur noch hiermit!" riefen die Soldaten und klopften auf ihre Stielhandgranaten.
„Sie haben kein Recht, uns den Weg zu versperren, wir verlangen, dass Sie uns unverzüglich zum Kommandierenden General durchlassen, sonst tragen Sie alle Verantwortung", fuhr der Stadtrat, alle Kraft zusammennehmend, die Soldaten an, was auf die das Anschnauzen gewöhnten Leute sichtbaren Eindruck machte. Sie öffneten im Drahtverhau eine Gasse, und mit je einem Mann auf Führersitz und den Trittbrettern fuhr man auf einen in der Nähe gelegenen Hof.
Während einer der Leute Meldung machen ging, sammelte sich um das Fahrzeug ein Haufen aufgeregter Soldaten, die gegen die Insassen die schrecklichsten Drohungen ausstießen.
„Mein Gott, sind das Menschen, hier kommen wir ja lebend nicht wieder weg", stöhnte Frau Kabitzki, auf die die gemeinsten Schimpfworte niederprasselten. Schapulla, der vergeblich seinen dicken Korpus unsichtbar zu machen versuchte, gelobte eine Wallfahrt nach Kevelar, wenn er hier wieder glücklich herauskam.
Aus dem Hause kam ein Oberleutnant, der - obwohl die bedrohliche Lage der Parlamentäre erkennend - sich nicht im geringsten beeilte.
„Herr Oberleutnant", rief ihm Jeitner entgegen, „wir sind Parlamentäre und ersuchen um Ihren Schutz." —
„Was suchen Sie?" fragte der Offizier mit höhnischem Tonfall, indem er seine Hände tief in den Taschen seiner Litewka vergrub.
Jeitner schlug das Bajonett, das ihm vor dem Gesicht fuchtelte, mit der Hand beiseite und schrie: „Ich verlange, dass Sie uns als Parlamentäre behandeln, ziehen Sie sofort Ihre Leute zurück!"
„Das klingt ja gerade, als ob Sie hier zu kommandieren haben. Wer sind Sie denn eigentlich, dass Sie sich solchen Ton erdreisten?" krähte der Offizier.
„Mein Name ist Jeitner, Stadtrat in Swertrup; das hier sind Bürger der Stadt. Doktor Krausnik, Gastwirt Schapulla, Frau Stadtverordnete Kabitzki."
„Von was für einer Partei?" fragte der Offizier lauernd.
„Wir kommen nicht im Auftrage einer Partei, sondern im Auftrag der gesamten friedliebenden Einwohner", fiel Dr. Krausnik ein und sah den Offizier durch seine scharfgeschliffenen Brillengläser fest an.
Der fletschte die Zähne und grinste: „Nicht mehr nötig, dass Sie sich bemühen, wir sind schon unterwegs, um mit den Herrschaften in Swertrup persönlich zu verhandeln."
„Das ist es ja, wogegen wir protestieren. Sie haben kein Recht, weiter zu marschieren. Die Vereinbarungen von Bielefeld und Münster..."
Die Soldaten brachen wie auf Kommando in ein wieherndes Gelächter aus. Jeitner ließ sich nicht beirren. „Die Arbeitertruppen befinden sich auf dem Rückmarsch, die Waffenabgabe ist eingeleitet, der Vollzugsrat aufgelöst, in Swertrup selbst herrscht Ruhe und Ordnung. Sie durften überhaupt auf keinen Fall vor morgen mittag zwölf Uhr die Linien überschreiten."
„Sehr verbunden für Ihre gütige Belehrung, Herr Rat", sagte der Oberleutnant, sich höhnisch verbeugend. „Aber wir kennen keinerlei Abmachungen und Vereinbarungen! Wir sind Soldaten und haben nur die Befehle unserer Vorgesetzten auszuführen."
„Sie können sich doch nicht über die Beschlüsse der Regierung hinwegsetzen; außerdem hat sie auch das Wehrkommando mit unterschrieben", rief Frau Kabitzki mit weinerlicher Stimme.
„Tut mir leid, gnädige Frau, davon ist in meinem Befehl nichts bekannt, da müssen Sie sich in Münster beschweren", antwortete der Offizier hämisch.
Jeitner sah ein, dass hier nicht weiterzukommen sei, und verlangte mit Bestimmtheit, zum General geführt
zu werden.
„Haben Sie hier zu bestimmen oder ich?" brüllte jetzt plötzlich der Offizier los, dass Schapulla fast vom Sitz herunterrutschte. „Aber das Kommandieren gewöhnen wir euch ab! Wir sorgen für Ruhe und Ordnung, das lasst euch gesagt sein. Frechheit sondergleichen!... Eigentlich müsste ich Sie sofort an die Wand stellen lassen."
„Los, an die Wand", brüllten die Soldaten, und einer versuchte die Autotür aufzureißen.
„Wir sind in Ihrer Gewalt, tun Sie, was Sie verantworten können, aber es dürfte Ihnen teuer zu stehen kommen. Wir kamen freiwillig als Parlamentäre, Sie haben keinerlei Recht, uns derartig zu behandeln", sagte der Arzt, seine ehrwürdige Gestalt aufrichtend.
Der Oberleutnant gab seinen Leuten ein Zeichen. „Was habe ich nötig, mich mit Ihnen abzugeben? Mag Exzellenz selber entscheiden. Verbindet ihnen die Augen und bringt sie zum Stab", sagte er, sich umdrehend, in verändertem Ton.
„Aber nicht ohne Wache, Herr Oberleutnant, Ihre Leute sind zu aufgeregt", rief der Stadtrat, dem die Erschießungen auf der Flucht einfielen. Vier Soldaten luden ihre Gewehre, pflanzten die Bajonette auf und verbanden ihnen die Augen.
„Nicht so viele auf die Trittbretter, meine Herren, das hält ja der Wagen nicht aus", hörten sie den Chauffeur rufen. An dem Geschrei und am schweren Arbeiten des Motors merkten sie, dass mehr als vier Mann das Geleit gaben. Keiner gab mehr einen Pfennig für sein Leben. Als der Wagen wieder hielt und man ihnen für einen Augenblick die Binden von den Augen nahm, befand man sich an der Rückseite einer Scheune.
„Seht euch das mal an, da kommt ihr nachher auch noch hin", rief einer der Soldaten, nach der Wand deutend, wo sechs oder acht regungslose Gestalten in rotglänzenden Pfützen lagen. Frau Kabitzki schrie laut auf, dann schwanden ihr die Sinne, und auch die drei Männer waren keines Wortes mehr mächtig.
Nach zehn Minuten Weiterfahrt kündete großes Geschrei eine neue Leidensstation an. Man nahm ihnen diesmal nicht die Binden ab, aber sie hörten, wie einer der Posten Meldung machen ging. Währenddem standen sie Höllenqualen aus, denn ihre geschärften Gehörsinne nahmen deutlich wahr, wie die Soldaten sich berieten, die vier „Spartakisten" einfach aus dem Wagen zu ziehen und totzuschießen. Der Oberleutnant musste den Posten aber doch scharfe Instruktionen mitgegeben haben. Ein doppelter Aufschrei zeigte an, dass sie zwei der Zudringlichsten sogar mit dem Bajonett verwundeten, worauf etwas Luft wurde.
Sie wussten nicht, ob sie Minuten oder Stunden in dieser furchtbaren Lage zugebracht hatten, als sie wie aus unendlicher Ferne eine Stimme in ostpreußischer Mundart sagen hörten: „Der Herr Jeneralmajor lehnt ab, Sie zu empfangen oder weiterzujelaiten, da er seine Befehle direkt von Exzellenz von Kabisch erhält. Ich muss Sie jlaich zurückbringen!"
Martin Schapulla verstand nur den Sinn des letzten Wortes: „Zurück". Also würde man sie nicht erschießen! Er würde Swertrup wieder sehen! Dieser Gedanke machte ihn so froh, dass er trotz seiner zitternden Füße am liebsten gehüpft wäre. In seiner Freude gelobte er sogar eine Wallfahrt nach Vierzehnheiligen!
Nur eins fiel ihm jetzt noch schwer auf die Seele, dass er nämlich damals die rote Fahne zum Fenster hinausgehängt hatte. Wenn die Reichswehr nach Swertrup kam, und ihn ein guter Nachbar denunzierte, konnte das noch üble Folgen haben.
Als er mit Einbruch der Dämmerung wieder glücklich in seinen vier Pfählen ankam, musste er sich vor Erschöpfung gleich zu Bett legen. Frau Schapulla aber wusste Rat und setzte sich sofort an die Nähmaschine. Im Kaschott unterm Dach aber heulte Tönnies, den seine Mutter mit dem väterlichen Leibriemen grün und blau geschlagen hatte, weil er den Streifen weißer Leinwand von der alten Fahne zur Fabrikation eines Riesenflugzeuges verwendet hatte. Nun musste sie eines ihrer guten Betttücher zerschneiden.
In Swertrup schwirrten unterdessen die wildesten Gerüchte. Neben solchen von blutigen Überfällen, Kämpfen und grausamen Hinrichtungen auch solche, dass eine Division Engländer im Anmarsch sei, um die Neutralität der Fünfzigkilometerzone, in der auch die Stadt lag, zu schützen. So unwahrscheinlich das auch klang, es wurde doch geglaubt, wobei natürlich der Wunsch der Vater des Gedankens war.
Auf Meirings Betreiben hin hatten sich Sprengkolonnen gebildet, um die Schachtanlagen bei Annäherung der Truppen in die Luft zu sprengen. Gegen abend aber kam vom Essener Zentralrat der telefonische Befehl, Widerstand und Sabotageakte unter allen Umständen zu verhindern, um nicht noch nachträglich eine Rechtfertigung des Einmarsches zu geben. Daraufhin machte sich Meiring in einem Auto mit sechs Mann auf den Weg nach Essen, um den „verräterischen Zentralrat" zu verhaften. Niemand hörte je wieder etwas von ihm.
Küpper, der Führer der durch den Regierungserlass begründeten Arbeitersicherheitswehr, lief inzwischen von Haus zu Haus, um seine Leute zur Besetzung aller durch Sabotageakte bedrohten Punkte zu veranlassen. Als die sechs mit weißen Armbinden und Gewehren ausgerüsteten Arbeiter auf „Beate" erschienen, fanden sie die Zechentore schon von Bergarbeiterfrauen besetzt.
„Geht man woanders hin", riefen sie ihnen zu, „wir passen hier schon selber auf. Wovon sollen wir denn leben, wenn die Jungs uns unsere Zechen kaputt machen?"
Peter Ruckers hatte von all den Ereignissen nur wenig gehört und noch weniger gesehen. Schon während der Rückfahrt von der Front fühlte er eine bleierne Müdigkeit in allen Gliedern. Mit Mühe hatte er noch im Volkshaus Bericht erstattet. Frau Ruckers, die in Sorge um den Mann und ihre beiden Kinder noch bis ein Uhr nachts aufgeblieben war, war erschrocken über das Aussehen ihres Lebensgefährten. Müde und gebrochen, das Gesicht verfallen, die Augen fieberhaft glänzend, war er hereingewankt. „Es sind wohl bloß die verdammten Nerven, die spielen mir jetzt öfters einen Streich", beruhigte er seine Frau, die ihm beim Ausziehen behilflich war. Das Essen hatte er nach wenigen Löffeln beiseite geschoben.
Aber es schienen nicht nur die Nerven zu sein. Im Bett begann er zu husten und über Schwere und Schmerzen in allen Gliedern zu klagen. Anscheinend hatte er sich bei der nächtlichen Fahrt in dem offenen Auto erkältet.
Frau Ruckers stand wieder auf, kochte Tee und machte ihm eine Brustpackung. Der Freischwinger zeigte die zweite Nachtstunde. Draußen fauchte der Sturm wütend durch die Straßen. Bald stöhnte und winselte es wie hilflose kleine Kinder, dann dröhnte es wieder wie ein Kanonenschuss, wenn der Wind eine lose Hoftür gegen die Mauer schlug.
Ein Grauen übermannte die einsame Frau. Wo mochten die Kinder weilen? Nebenan röchelte der Krüppel, und vor ihr wälzte sich der kranke Mann in unruhigem Halbschlummer hin und her. Sie hing ein Zeitungsblatt vor die Lampenglocke, damit ihn das grelle Licht nicht störe. Erst gegen Morgen fiel er in einen unruhigen Schlaf.
Das Fieberthermometer, das sie von der Nachbarin lieh, zeigte 39,8 Grad. Sie wollte zum Arzt schicken, aber Ruckers lehnte hartnäckig ab. „Es ist nur die Aufregung der letzten Tage, das kommt jetzt, wenn man in Ruhe ist, alles nach, lass mich nur eine Weile schlafen", sagte er beruhigend.
Frau Ruckers hatte den Krüppel in die Küche gesetzt, um den Schlaf des Kranken nicht zu stören. Vergeblich zermarterte sie sich den schmerzenden Kopf, wie sie ihm etwas Stärkendes kochen könne; außer Gerstenflocken hatte sie nichts im Hause.
Als gegen Mittag die Sirene zu heulen begann, fuhr Ruckers hoch und verlangte die Ursache zu wissen. Da redete sie ihm vor, dass es ein letztes Signal zur Waffenabgabe sei, aber ihr Herz krampfte sich bei der Lüge zusammen, denn sie ahnte etwas Unaussprechliches, Schreckliches. Wider Erwarten drehte sich der Kranke nach der Wand herum und begann wieder zu schlafen. Da schlich sie auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und lief in Pantoffeln und Umschlagetuch bis zum Zechenportal, wo sie die Hiobsbotschaft vom Anmarsch der Reichswehr erfuhr.
Das Herz stockte ihr, wenn sie an ihre Kinder dachte, und in diese mütterliche Sorge mengte sich die um den kranken Mann und um seine Sicherheit. Zwar hatte er, um sie nicht vorzeitig zu beunruhigen, nie über diese Möglichkeit gesprochen, jedoch ihr Instinkt sagte ihr, dass er fliehen müsse. Aber krank und fliehen?
Einer plötzlichen Eingebung folgend, ging sie zum Verwaltungsgebäude mit heran, um gleich einen Krankenschein mitzunehmen, aber die Schalter waren bereits geschlossen, da auch die Beamten erneut im Ausstand waren.
Was sollte sie tun?...
Einen Augenblick stand sie ratlos, dann hetzte sie, von Sorge beflügelt, um den Arzt ohne Schein zu holen. Sie hatte zwar kein Geld mehr im Hause, aber sie würde später den Schein bringen oder auch bezahlen. Wenn der Arzt nichts Ernsthaftes fand, musste Peter fort, das stand bombenfest.
Auf halbem Wege kehrte sie um, erst nochmals nach dem Kranken zu sehen. Der lag noch immer der Wand zugewendet und brummte unverständliches Zeug vor sich hin. Als sie ihm prüfend ihre kühle Hand auf die heiße Stirn legte, fuhr er erschrocken hoch.
„Sind Hannes und Mary schon nach Hause gekommen?" fragte er mit belegter Stimme. Da sie verneinte, wandte er ihr wieder den Rücken zu und brummelte weiter.
Frau Ruckers bat die Nachbarin, ab und zu mal nach ihrem Mann zu sehen, schärfte ihr ein, ja nichts verlauten zu lassen, und flog mehr als sie lief zum Zechenarzt. Der junge Doktor hörte sich zwischen Tür und Angel ihre atemlosen Erklärungen an, fragte, ob sie Geld habe, ließ sich Namen und Adresse sagen... und erklärte schließlich, nicht kommen zu können, da ja alle wieder streiken!
Schwapp war die Tür wieder geschlossen.
Die Nachbarin empfahl, zu dem entfernt wohnenden Dr. Krausnik zu gehen, der sie bei der letzten Fehlgeburt sogar ganz umsonst behandelt habe. Der würde bestimmt kommen. Um eine Hoffnung gestärkt, machte sich die geängstigte Frau nach der Ratinger Straße auf, wo sie erfuhr, dass Dr. Krausnik mit einer Verhandlungskommission zum General unterwegs sei und schwerlich vor spätnachmittags wieder zurück sein werde. Man notierte sich die Adresse und versprach ihr das Beste.
Etwas beruhigter kehrte sie nach der Zechenkolonie zurück. Eine Verhandlungskommission war unterwegs, da konnte die Gefahr ja nicht so groß sein. Vielleicht waren die ganzen Gerüchte, die sie im Vorbeigehen von den Leuten aufgeschnappt hatte, eben nur Redereien, entstanden durch die aufgeregte Atmosphäre. Vielleicht rückte die Reichswehr gar nicht vor, die roten Truppen kehrten friedlich mit ihren beiden Jüngsten heim, und zum Schluss würde noch alles wieder gut.
Ruckers trank am Abend ein großes Glas Grog und schwitzte mächtig, worauf er nach seiner verweigerten Suppe verlangte und dann fest und ruhig die Nacht durchschlief. Die Frau fand auch diese Nacht wenig Ruhe. Bei dem geringsten Geräusch fuhr sie empor. Al8 sie in der sechsten Morgenstunde aus unruhigem Halbschlummer aufwachte, war ihr erster Blick nach dem Bett in der Kammer. Die Kinder waren wieder nicht heimgekommen.
Eine tiefe Mutlosigkeit überfiel sie. Lange netzte sie die Kissen mit ihren Tränen. Was sollte das werden, welche Schreckensbotschaft wartete noch auf sie? Dass Hannes und Mâry etwas zugestoßen sein musste, das unterlag für sie jetzt keinem Zweifel mehr.
Die Scheiben begannen plötzlich zu klirren, und durch die Luft zitterte ein dumpfes Rollen.
Kanonen?
Sie hörte von ihrem Sofalager aus, wie ihr Mann sich im Bett aufrichtete und lauschte.
Da... schon wieder zweimal der bekannte, knurrende Donnerlaut.
„Meta, bist du wach?... Sind die Kinder noch nicht
da?"
Sie brach in fassungsloses Schluchzen aus. Er antwortete nicht, aber sie empfand beim Dunkel der geschlossenen Fensterläden förmlich, wie seine Gedanken arbeiteten. Und immer wieder und wieder die fernen Geschützeinschläge.
Plötzlich fiel ihr wieder ein: „Herrgott, ja, die Noskes kommen."
Sie zog sich schnell an, öffnete einen Fensterladen und fiel ihrem Mann weinend um den Hals. „Peter, die Kinder!"...
Seine rauen Hände tasteten zärtlich über ihren Scheitel. „Die werden doch wiederkommen, beruhige dich nur, Meta, sie sind ja Sanitäter." Er schien wieder ganz bei Sinnen zu sein.
Sie schluchzte wild auf. „Aber du, Mann? Du musst fort! Wenn sie kommen und dich finden, schießen sie dich tot. Wenn es nicht vielleicht schon zu spät ist? O Gott, Peter, Peter!"
Er löste sanft ihre Arme von seinem Hals, schaute ihr in das tränennasse Gesicht. „Du siehst Hirngespinste, Meta. Ich brauche doch nicht zu fliehen! Ich habe nur meine Pflicht getan und bin mir keiner Schuld bewusst. Und was ich getan habe, verantworte ich auch jederzeit."
Auf der Straße wurden Stimmen laut, Frau Ruckers öffnete eilig das Fenster. „Die Noskes sind schon da und sperren alle Stadtausgänge mit Drahtverhauen ab", wurde gerufen.
Und immer wieder donnerten gegen Könkern die Kanonen, Zechen und Arbeiterhäuser in Schutt und Asche legend. Niemand wusste warum. Widerstand war nicht geleistet worden, die Könkener Kumpels hatten noch am Abend vorher ihre Waffen im Swertruper Rathaus abgeliefert.
Während die Marinebrigade Löwenfeld die Stadt in großem Umkreis abriegelte und auf der Ratinger Straße, am Rathaus und vor den in feindlichem Schweigen liegenden Zechentoren Geschütze auffuhr, nahm die Säuberungsaktion blockweise ihren Anfang. Nach einem bestimmten Plan wurden Haussuchungen und Fahndungen vorgenommen. Wo sich noch irgendwelche Waffen und Munitionsteile vorfanden, wurden alle männlichen Personen, die über vierzehn Jahre alt zu sein schienen, mit fortgeschleppt. Wo man die Gesuchten nicht antraf, nahm man ohne viel Federlesens Familienangehörige mit.
„Alle werden erschossen", antworteten die Soldaten auf die besorgten Fragen der Zurückgebliebenen. Die Verhafteten wurden unter Kolbenstößen nach der Stadtbrauerei getrieben, und bald lief durch die Stadt die Schreckenskunde: „Die Marinebrigade hält Standgericht und nimmt Massenerschießungen vor!"
Nach Ankunft der Truppen atmeten die so lange ängstlich verkrochenen Swertruper Reaktionäre wieder erleichtert auf. In kurzer Zeit bedeckten sich die Fassaden der Bürger- und Geschäftshäuser mit schwarzweiß-roten Fahnen und Marinekriegsflaggen. Der plötzlich wie aus einer Versenkung wieder aufgetauchte Bürgermeister Dr. Livenkuhl brachte in unglaublicher Schnelle einen „Bürgerausschuß zum Empfang der Befreier" zusammen. Die Bürger griffen nach dem ausgestandenen Schrecken tief in Brieftaschen und geheime Hamster- Vorräte. Und da auch von der Geschäftswelt sich niemand auszuschließen wagte, kamen große Geldbeträge und Liebesgaben aller Art zusammen. Gymnasiasten und Lyzeumsschülerinnen wetteiferten mit Damen und Herren der Gesellschaft, die „tapferen Krieger" mit Blumen, Zigarren, Schokolade, Kognak und Lebensmitteln jeder Art zu überschütten.
Besonders lebhaft ging es im Hotel „Maxloher Hof" zu, wo eine Offizierskompanie ihr Standquartier aufgeschlagen hatte. Bürgertöchter, zu Ehren des Tages im besten Feststaat, drängten sich herzu, um die Helden aus der Nähe zu bewundern, ihnen die Hände zu drücken und sich wonnebebend die „furchtbaren Gräueltaten der Roten" noch einmal haargenau erzählen zu lassen.
Der Wirt hatte den Weinkeller geöffnet, die Befreiung vom roten Terror musste doch gebührend gefeiert werden. Brausend erklang unter Klaviergehämmer aus markigen Kehlen „Ein Ruf wie Donnerhall" - „Deutschland, Deutschland über alles" - das Lied von der „Wonnegans" und schließlich
„Hakenkreuz am Stahlhelm, Schwarzweißrotes Band, Die Brigade Ehrhard Werden wir genannt."
Durch Fenster und Türen, die bei dem warmen Aprilwetter weit geöffnet waren, drang das Gesinge und Getobe bis in die dunklen Ställe und Keller der benachbarten Brauerei, wo mehr als dreihundert Menschen, Männer, Frauen und halbwüchsige Kinder, angstvoll auf ihr Schicksal warteten.
„Was wollen sie denn mir, ich habe doch nur im Auftrage der Regierung und des Bürgermeisters die Arbeitersicherheitswehr organisiert. Drei Mann auf tausend Einwohner, wie es vorgeschrieben ist. Dafür kann man mich doch nicht bestrafen! Wer weiß, ob sonst die Schachtanlagen und der Bahnhof noch stehen würden, und ob die Waffen alle im Rathaus verblieben wären?" So sagte der Bergarbeiter Küpper wohl schon zum zwanzigsten Male zu seinen Leidensgefährten, ohne indessen damit seine innere Unruhe zu beschwichtigen.
„Auf einem Hof in der Lichstraße haben sie gleich heute früh vier Mann von der Sicherheitswehr erschossen", erzählte ein Bergmann von „Zeche Beate", dem das Nasenbein eingeschlagen war.
„Das ist unmöglich, das ist ungesetzlich, das ist gegen die Zusicherungen der Regierung, die überhaupt keine Standgerichte will", rief Küpper aufgeregt.
„Die machten das auch ohne Standgerichte und ohne Apparat. Die vier wurden einfach bei der Stadtsparkasse, wo sie Posten standen, nach dem Hof geführt und ohne weiteres an die Wand gestellt. Ich wohne in dem Hause und protestierte dagegen. Da wurde auch ich verhaftet und kann meinem Schöpfer danken, dass sie mich nicht auch gleich niederknallten", erklärte der Arbeiter.
Soeben öffnete sich die Stalltür, und zwei neue Ankömmlinge flogen mit Fußtritten und Schimpfworten herein.
„Ich protestiere, ich bin zu Unrecht verhaftet, ich verlange, sofort dem Gerichtsoffizier vorgeführt zu werden", rief der Gestürzte, sich erhebend und trotz der vorgehaltenen Seitengewehre gegen die Tür angehend.
„Wirst schon noch früh genug das Vergnügen haben; augenblicklich musst du dich noch etwas gedulden, die Herren speisen zu Mittag", lachte eine rohe Stimme.
„Verzeihen Sie", sagte ein junger, gutgekleideter Mann mit einem Kneifer, „ich bin heute früh aus dem Bett heraus verhaftet worden, weiß aber immer noch nicht, warum. Könnte ich nicht wenigstens eine Kleinigkeit zu essen bekommen, ich will es ja gern bezahlen."
„Essen?" - Der Feldwebel, der hier den Oberschließer vorzustellen schien, machte ein beleidigtes Gesicht. „Ja, wozu denn noch essen? So dick haben wir es doch nicht, um euch unnütz zu füttern. Die eine Stunde, die ihr noch zu leben habt, werdet ihr schon noch aushalten."
Befriedigt seinen Schnauzbart streichend, beobachtete der Büttel die Wirkung seiner Worte, die in lauten Unschuldsbeteuerungen, Weinen und Wehklagen bestand.
„Wir sind doch noch gar nicht verurteilt", rief eine
alte Frau verzweifelt.
Der Feldwebel zog die Stirn in ernste Falten. „Das ist ja man auch nur Formsache, das geht bei uns alles sehr schnell. Die hier drin sind, werden allesamt erschossen." Krachend schlug das Tor wieder zu.
Küpper lehnte einen Augenblick wie betäubt an der Futterraufe, als sein Blick auf den einen der Neueingelieferten, der so dringend nach dem Gerichtsoffizier verlangte, fiel.
„Mein Gott, Sie auch hier, Herr Oversath", rief er
entsetzt.
„Ein Missverständnis, da« sich aufklären wird", versuchte dieser sorglos zu lächeln, aber sein verstörtes Gesicht strafte seine Absicht Lügen.
„Mir scheint viel eher, dass das Missverständnis auf deiner Seite liegt, und ich Heuochse bin dir Schafskopf richtig mit ins Garn gegangen", sagte eine andere bekannte Stimme.
„Und du auch, Ruckers, wie kommst du denn hierher, ich dachte, du seiest über alle Berge?" fragte Küpper erstaunt.
„Ja, wie komme ich hier wohl her?" knurrte Ruckers, Oversath einen verächtlichen Blick zuwerfend, „weil ich dämlich war! Seit vorgestern liege ich krank zu Hause, so 'ne Art Grippe, vielleicht ist es die Kopfgrippe, denn mit normalem Verstand wäre ich wohl nicht selber in die Höhle des Löwen gerannt."
Und dann erzählte er, wie er gerade im Begriff war, sich anzuziehen, als Oversath mit einigen Arbeitern hereingestürzt kam. „Jetzt wird sich zeigen, ob Ruckers auch solch feiges Luder ist wie die anderen, die bloß immer die Klappe aufreißen und sich, wenn es sengrig wird, verduften", schleuderte ihm der eine, dessen Sohn man verhaftet hatte, aufgeregt entgegen. Seit einer Stunde waren sie schon umhergelaufen, um einige führende Persönlichkeiten zusammenzutrommeln, die beim General wegen der Besetzung und der Willkürherrschaft der Soldateska Protest erheben sollten. Jeitner war nicht zu finden, und auch von den wenigen anderen, die man noch zu Hause antraf, hatte sich keiner bereit gefunden.
„Geh nicht mit, Peter. Du kommst da nicht wieder frei, verstecke dich Heber", hatte Meta Ruckers gefleht und damit unwillkürlich das Schicksal ihres Mannes besiegelt. Die Männer hatten höhnisch aufgelacht, und Oversath sagte verächtlich: „Nun ja, so seid ihr Hyperradikale alle, große Schnauze und nichts dahinter! Wenn es drauf ankommt, versteckt ihr euch unter die Röcke eurer Weiber. Nachher schimpft ihr uns Sozialdemokraten wieder Feiglinge. Aber dann gehe ich eben alleine."
Da hatte Peter Ruckers, noch um einen Schein blasser geworden, seinen Filz vom Haken genommen, sein weinendes Weib geküsst und war mitgegangen. Am Eingang zum „Maxloher Hof" hatte man sie mit dem erfreuten Ausruf: „Auf euch warten wir ja gerade", verhaftet.
Oversath stampfte zornig mit dem Fuß: „Lasst doch das blöde Gequassel sein, uns tut keiner was. Das Ganze ist nur eine Angstmacherei, weiter nichts, verstanden? Lasst mich nur mal erst mit den Maßgebenden reden!"
Küpper hörte solche zuversichtlichen Worte nicht ungern, und auch die anderen drängten herzu, um zu erfahren, was der bekannte Sozialistenführer vorhabe.
„Ich werde mit den Herren einmal ein ernstes Wort reden, sie auf das Ungesetzliche ihres Vorgehens aufmerksam machen. Ich habe den genauen Wortlaut der Vereinbarungen von Bielefeld und Münster sowie die betreffenden Kommentierungen durch Severing, Mehlich und Bauer bei mir", fuhr er mit gesteigerter Zuversicht fort. „Das sind doch keine bloßen Papierfetzen, Genossen ! Wollen wir doch mal sehen, ob diese Herren sich über das klare Recht hinwegzusetzen wagen? Ob Gewalt wirklich vor Recht geht? Ich sage euch, Genossen, sie werden es nicht wagen!"
Nach Verlauf einer guten halben Stunde wurde die Tür geöffnet und Küpper, Oversath und Ruckers herausgeholt. Unter Eskorte von sechs Mann mit aufgepflanztem Bajonett ging es zum „Maxloher Hof", wo sie am Eingang von dem gutgekleideten Pöbel mit lautem Geschrei begrüßt wurden. Rufe wie: „Das sind ja gerade die Richtigen, stellt sie nur gleich an die Wand!" erschallten. Die Soldaten mussten ihre Gewehre wie ein Gitter vorstrecken, um mit ihren Gefangenen überhaupt hindurchzukommen, konnten es aber nicht verhindern, dass ein besonders erboster Speckbürger dem als letzten gehenden Oversath den Nachgeschmack seines Mittagessens ins Gesicht spie.
Im Hintergrund des Vestibüls mußten sie einige Minuten warten, während der Offizier Meldung erstattete. Unterdessen gingen eine Menge Personen: Offiziere, Soldaten und Zivilisten, vorüber, darunter eine Anzahl gut bekannter Gesichter. Aber aus keinem war etwas anderes als hämische Neugierde, Hohn oder Schadenfreude herauszulesen.
Plötzlich schrie Oversath halblaut auf. Diesen grauen Gehrock, der dort in Begleitung eines höheren Offiziers die Treppe herunterkam, kannte er doch? Herrgott noch einmal, das war ja Reese, den ein guter Stern hierher führte.
„Reese - Emil! - Gott sei Dank, dass du hier gerade vorbeikommst!"
„Oversath?... Ja, was gibt es denn, ich habe gerade eine eilige Besprechung", antwortete der Gerufene mit einem scheuen Seitenblick auf die blanken Bajonette.
Na, siehst du denn nicht, Emil? Wir sind verhaftet, ohne jeden Grund hat man uns verhaftet und mit uns Hunderte, die drüben in der Brauerei sitzen! Man will uns allesamt erschießen", keuchte Oversath.
„Ach, Unsinn, lasst euch doch nicht bange machen, die erschießen keinen", lächelte Reese überlegen.
„Doch, doch", fiel Küpper ein, „erst hieß es, Standgerichte finden überhaupt nicht statt, und dabei haben sie von unserer rechtmäßigen Ortswehr heute früh in der Lichstraße vier Mann ohne jedes Verhör erschossen." —
„Davon hörte ich auch schon, das war aber auch kein Standgericht, sondern ein Missverständnis der Soldaten, die die Leute für Rotarmisten gehalten haben. Es wird dieserhalb eine Untersuchung stattfinden", erklärte Reese.
„Unterhaltungen mit den Gefangenen sind verboten", sagte jetzt ein Soldat, den Gewerkschaftsführer zurückdrängend.
„Bleibe bei uns, Emil, sie stellen uns sonst wirklich vors Standgericht. Du siehst ja doch, man hat uns schon widerrechtlich festgenommen", flehte der Genosse, als Reese sich zum Gehen wendete.
„Beruhige dich nur, das Standgericht besteht nach einer neuerlichen Regierungsverfügung aus einem Offizier, einem Juristen und einem Arbeitervertreter. Als solcher für Swertrup bin ich bestallt worden, wir wollen uns eben konstituieren. Also brauchst du keine Angst zu haben. Eure Verhaftung ist nichts weiter als ein Übergriff, erklärlich durch die ganze Atmosphäre, das ist doch zu begreifen. Ich werde veranlassen, dass ihr alsbald freikommt. Aber jetzt muss ich gehen." Damit eilte er seinem Begleiter nach.
Der Offizier kam zurück, und man führte die drei Arbeiter in ein am Gangende liegendes Vereinszimmer. Die Soldaten stellten sich Gewehr bei Fuß an Fenster und Tür auf, während der Offizier meldete: „Die drei Arrestanten zur Stelle!"
Am Tisch saß ein hochgewachsener älterer Offizier mit kurzgeschnittenem, grauem Haar. Goldenes Eichenlaub am Kragen deutete auf einen hohen Rang. Das Unheimlichste an dem Mann war das Gesicht, das in einer glattrasierten Unbeweglichkeit den Eindruck einer geschnitzten Fratze - der man über den Augenhöhlen graue Borsten angeklebt hatte - machte. Hinter ihm stand ein monokelbewaffneter Leutnant mit einer Mappe, anscheinend der Adjutant, der in jeder Hinsicht bestrebt schien, wie ein erstarrtes Anhängsel seines Gebieters zu erscheinen.
Drei Paar flackernde Augen forschten in diesen harten Gesichtern vergeblich nach einer Spur menschlicher Regung. Dennoch sah das Ganze wirklich nicht nach einem Standgericht aus, jedenfalls wollte man nur ein Verhör anstellen.
„Wer ist Küpper?" kam eine tote Stimme hinter dem Tisch hervor. Der Gefragte trat zwei Schritte näher. „Küpper, Herr General, Johannes Küpper!"
„Sind Sie der Obermacher von den bewaffneten Arbeitern?" fragte der Unheimliche, ohne sich im geringsten zu bewegen.
„Nein, Herr General, ich habe nur im Hinblick auf die Regierungsverordnung und unter besonderem Auftrag des Herrn Bürgermeisters die örtliche Arbeitersicherheitswehr, drei Mann pro tausend Einwohner, gebildet. Als die Meiringleute die Zechen sprengen wollten, haben wir..."
„Antworten Sie nur, was ich Sie frage! Sie waren doch auch mit im Vollzugsrat? - Nun!" - Messerscharf klang dieses „Nun", als Küpper, ganz verdattert, nicht gleich antwortete.
„Und Sie haben auch Waffen ausgegeben, stimmt das?"
„Ja, aber doch nur im Auftrage des Herrn Bürgermeisters Livenkuhl. - Ich will es aber ganz gewiss nicht mehr wieder tun, Herr General", wimmerte er los, als er den kalten Blick aus dem toten Gesicht auffing.
„Dazu geben wir Ihnen auch keine Gelegenheit mehr. Der nächste - wie beißt er doch - Oversath!" Der Adjutant suchte in seiner Liste und machte einen Vermerk.
Oversath nahm alle Kraft zusammen und trat bis dicht an den Tisch heran.
Bevor ich auf eine Frage antworte, möchte ich fragen, mit welchem Recht Sie uns verhaften, verhören und mit Ihren Drohungen einzuschüchtern versuchen? Sie haben kein Recht..."
„Das werden wir ja sehen! - Sie waren doch auch im Vollzugsrat?" - Oversath hatte sich fest vorgenommen, nicht zu antworten, jetzt tat er es wie unter einem unwiderstehlichen Zwange aber doch.
„Der Vollzugsrat wurde am 31. März aufgelöst." „Aber Sie waren doch heute früh erst mit einer Kommission hier?"
„Ja, aber doch nicht als Vollzugsrat; da kamen wir als Privatleute", stotterte Oversath. „Ich bin ja doch auch Stadtverordneter und erster Vorsitzender der Swertruper Ortsgruppe der Mehrheitssozialdemokratischen Partei Deutschlands", setzte er hinzu, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen.
Der General wechselte ein paar unverständliche Worte mit dem Adjutanten. „Dann hätten Sie auch was Gescheiteres tun können, als sich mit diesen Anführern einzulassen. Ich muss Sie auch erschießen lassen!"
Oversath versuchte eine lächerliche Grimasse zu ziehen, aber im Halse stieg ihm ein übler Geschmack auf. „Das sollen Sie mal versuchen, dazu haben Sie ja gar kein
Recht."
In dem Pagodengesicht zuckte keine Wimper, nur der Adjutant lächelte höhnisch, und mit einem Male kam auch dem Sozialdemokraten das Furchtbare seiner Lage zum Bewusstsein. Recht und Gesetz waren unstreitbar auf seiner Seite... aber jene da hatten die Macht, sie zu übertreten! Ein Blick in die versteinerten Gesiebter der Soldaten zeigte ihm, dass nur ein Wink des Generals genügte, um ihn zu erschießen. Aber Genosse Reese war ja Gott sei Dank im Hause!
Der General hatte sich dem dritten zugewandt: „Sie sind der berüchtigte Peter Ruckers?"
Furchtlos begegneten die Augen des alten Bergmannes denen des Generals. Wohl eine Minute lang starrten sich die beiden an, dann sagte der General langsam, jedes Wort durch die Zähne pressend: „Mit Ihnen haben wir ja den richtigen Fang gemacht, Sie sind ja einer der schlimmsten Hetzer!"
„Nun, was haben Sie zu sagen?" fragte er, als Ruckers ihn unverwandt weiter anstarrte.
„Wie, ich?" - Ruckers schreckte wie aus einem Traum auf. Ihm war, als ginge ihn das hier alles gar nichts an. „Jawohl, Sie! Sie werden natürlich auch erschossen!" Ruckers lachte verächtlich auf. „Was soll ich denn dazu sagen? - Mich verteidigen? - Was ich getan habe, verantworte ich voll und ganz, aber nur vor einem ordentlichen Gericht. Sind Sie denn ein Gericht? Sie können uns doch höchstens ermorden, dazu haben Sie ja die Gewalt. Aber verlassen Sie sich darauf, jeder Arbeiter, den Sie ermorden, wird tausendfach gerächt werden, an Ihnen und Ihrer Klasse!" „Sind Sie fertig?"
„Noch nicht", rief der Arbeiter, die Schwäche, die seine Beine überkam, gewaltsam niederkämpfend, „diesmal habt ihr es nochmals geschafft, aber nicht durch eure morschen Kräfte, sondern nur durch den Verrat und die Verbündeten, die ihr in unseren Reihen fandet. Aber die Arbeiterschaft wird daraus lernen, wird wachsen und wiederkommen! Jawohl, wir werden wiederkommen, darauf verlassen Sie sich, mein Herr General!"
„Jesus, Maria und Joseph, ich bin unschuldig", wimmerte Küpper auf und fiel auf die Knie.
„Das hier ist kein Standgericht, das ist glatter Mord", schrie jetzt auch Oversath, mit dessen Selbstbeherrschung es zu Ende war.
Der General erhob sich in seiner ganzen ungeheuren Länge. „Nach Recht und Gesetz habt ihr auch nicht gefragt und euch eure eigenen Gesetze gemacht, jetzt machen wir die unsrigen. Ordnung muss sein!"
Oversath stampfte mit dem Fuß. „Überlegen Sie es sich nochmals sehr genau, Herr General, es möchte Ihnen sonst leid tun. Ich stehe auf dem Boden der Regierung, bin auch nicht der erstbeste Parteigenosse! Ich habe Freunde; meine Parteigenossen in der Regierung würden genaue Rechenschaft von Ihnen fordern."
Der Lange zuckte geringschätzig die Achseln. „Beschweren können die sich, aber Ihnen wird es nichts mehr nützen. Wir müssen ein Exempel statuieren und uns dabei an die halten, die wir kriegen. Weg mit ihnen." Wie aus weiter Ferne hörten sie eine Tür zufallen und zwischendurch abgerissenen Gesangslärm. Küpper kniete noch immer auf der Erde und betete zu allen „vierzehn Nothelfern". Oversath lehnte blass und verstört gegen einen Tisch, und auch Ruckers musste sich setzen, seine Knie versagten den Dienst.
Er blickte den Genossen mit einem müden Lächeln an, das heißen sollte: Na, alter Junge, habe ich nicht doch recht gehabt, was sagst du nun?
Oversath zermarterte vergeblich sein Gehirn. Sein Selbsterhaltungstrieb erklärte das hier alles nach wie vor nur für einen grausamen Scherz, aber am besten wäre es doch, wenn jetzt Reese zur Tür hereinkäme und diese schlechte Komödie beendete.
Wenn er nun aber nicht kam? Wenn er sie vergaß? -Er musste noch im Hause sein, hatte eine Sitzung, während sie hier teuflische Todesängste ausstanden. Wenn man sich nur mit ihm in Verbindung setzen könnte? Ihm einen Zettel schicken? Aber die erstarrten Gesichter der Soldaten blickten unnahbar drein.
Hilfe rufen?... Wenn sie zu dreien riefen, musste es durch das ganze Haus dröhnen. Aber wenn es nun doch nur ein Scherz war? - Im Geiste sah er schon die hämisch grinsenden Gesichter der Offiziere. Nein, das war ja alles Unsinn, und zum soundsovielten Male hämmerte in seinem Gehirn der Satz: Sie werden es nicht wagen!... Aber sie wagten es doch! Ein stahlbehelmter Offizier öffnete die Tür, und man führte sie schnell über den teppichbelegten Gang zur Straße. Draußen knatterte schon der Lastkraftwagen, auf dessen Führerdach man soeben ein Maschinengewehr schussfertig machte. Hinter einem dichten Militärkordon wartete eine große Menschenmenge auf den Abtransport der drei Arbeiterführer, die vergeblich versuchten, jemand zu erkennen.
Den wie irrsinnig blickenden Küpper mussten die Soldaten hinaufheben. Oversath machte Umstände. „Wo soll das hingehen, ich protestiere!"
„Ja, nachher, Kamerad, jetzt haben wir keine Zeit, wir fahren ja nicht weit", antwortete einer, und Oversath schloss daraus, dass man sie nur woanders hinbringe. Die Fenster des Hotels waren von Zivil- und Militärpersonen besetzt, die den Vorgang wie ein Bühnenschauspiel durch Ferngläser betrachteten.
Dort im ersten Stock, waren das nicht der Spitzbart und die Glatze des Genossen? - Aber die soeben aufsteigenden Soldaten versperrten ihm die Aussicht; als er wieder hinsah, war der Platz leer.
Die Soldaten setzten sich mit schussfertigen Gewehren auf die Umrandung des Wagens, während die drei Arbeiter sich auf den Boden hocken mussten. Mit einem Ruck sprang der Wagen an.
Das also war das Ende?
Peter Ruckers kam das in Anbetracht der Umstände und der hellwarmen Frühlingssonne noch etwas unwahrscheinlich vor. Sein hartes Leben, voller Entbehrung, Sorge, Kampf und wiederum Kampf flimmerte an ihm vorüber. Wie seine Frau sich wohl drein schicken würde? - Und die Kinder? - Ob ihnen wirklich nichts passiert war?... Merkwürdig, dass er gerade jetzt daran denken musste, dass Hannes als kleiner Junge immer so gerne Schuster spielte.
Einer Eingebung folgend, zog er seine zerkaute Stummelpfeife und begann kalt zu rauchen. Die Kerle sollten sehen, dass er sich nicht fürchtete! Tausende waren vor ihm diesen qualvollen Weg gegangen. Tausende würden ihn noch gehen müssen, ehe die geeinte Kraft des Proletariats allem Morden und Standrechten ein Ende machen würde.
Sein Blick fiel auf den sozialdemokratischen Schicksalsgenossen, der dumpf ins Leere starrte. Beinahe hätte der die Märtyrerkrone allein getragen, und von Peter Ruckers und seinesgleichen hätte es geheißen: Sie haben sich gedrückt! Unter dieser geifernden Beschuldigung wären die ganzen Lehren der zwei Wochen Ruhrkampf erstickt. -
Ein entschlossener Zug kam um seinen Mund. Nein, er fiel hier nicht unnütz, wenn ihm auch der Tod auf der Barrikade zehnmal lieber gewesen wäre...
Ein Soldat sah die kalte Pfeife des Verurteilten und reichte ihm eine Zigarette. Ruckers blickte auf die Zigarette, auf den Spender, der ihm ein brennendes Streichholz entgegenhielt, dann siegte sein Wille über die Begierde, und in großem. Bogen flog sie auf die Straße. Jetzt werden sie mit uns links ab zum Gefängnis fahren und dann sagen: So, für diesmal habt ihr an dem Schreck genug, fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf — aber das Auto nahm den Weg rechts hinaus nach den Kiesgruben.

 

20. KAPITEL

Über der alten Rheinstadt Köln ging ein drückendschwüler Augusttag zu Ende. Asphalt und Dächer dampften noch von einem Gewitterregen, der aber keinerlei Abkühlung gebracht hatte. Im offenen Schaufenster eines kleinen Cafés der Hohen Straße saß ein junger Mann, in die Lektüre der „Sozialistischen Republik" vertieft. Er bemerkte nicht, dass ein Vorübergehender -seiner Wanderkleidung nach anscheinend ein Durchreisender - stehen blieb und ihn aufmerksam betrachtete. Jetzt blickte auch der Lesende auf, seine Augen begegneten denen des auf der Straße Stehenden, und ein freudiges Erschrecken flog über seine Züge. „Grothe - Max - bist du es wirklich?"
Der andere reichte ihm lächelnd die Hand. „Guten Abend, Ernst! Lange nicht gesehen."
Sukrow starrte seinen Gast mit offenem Munde an. „Stehen denn die Toten wieder auf? - Überall wurde doch erzählt, dass du unter den sechzehn Genossen warst, die bei Welkum den Rückzug deckten und als Gefangene erschossen wurden."
„Das erste stimmt schon, das zweite nur zum Teil, wie du ja selber siehst. Ich wurde nur verwundet, hier sieh, der rechte Arm ist steif, aber Unkraut vergeht nicht", antwortete Grothe, Platz nehmend.
Du siehst auch recht schlecht aus! Und grau bist du an den Schläfen geworden", bemerkte teilnahmsvoll der einstige Kampfgenosse, der vor Aufregung noch förmlich bebte.
Da soll ein verletzter Nerv dran schuld sein, vielleicht aber... ich habe allerlei durchgemacht!" Er starrte versonnen ins Leere, als ob vor seinem geistigen Auge die furchtbaren Bilder der Vergangenheit auftauchten. „Und wie bist du davongekommen? Willst du nicht erzählen?" ermunterte ihn Sukrow.
Der andere fuhr wie aus einem Traume auf. „Ja, so, natürlich, aber wie bist du denn an dem verwünschten Morgen aus Buldingrath herausgekommen?" „Viel zu erzählen ist dabei nicht, zumal die ganze Geschichte kein besonderes Ruhmesblatt für uns war." „Du meinst wegen der Panik?"
„Ja, das mach' ich mir heute noch zum Vorwurf. Wir hätten nicht blind auf die gegebenen Versprechungen bauen dürfen, bessere Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen. Ruckers warnte mich noch am Abend vorher. Aber wer dachte auch an solch niederträchtigen Überfall!"
„Im Bürgerkrieg gelten eben in jeder Beziehung andere Regeln. Hoffentlich bist du nun von deinen Illusionen geheilt?"
„Das schon, aber wir haben es teuer bezahlen müssen", fuhr Sukrow ernst fort. „Wir hatten uns zu sechzig oder achtzig Mann nach dem Kirchhof zurückgezogen. Bald darauf aber fingen sie an, mit 15-Zentimeter- Granaten zu trommeln. Die Mehrzahl unserer Leute war schon so demoralisiert, dass sie mehr an Deckung als an Widerstand dachten. Jemand, der einige Tage später den Friedhof zu sehen Gelegenheit hatte, schilderte ihn als ein einziges Trichterfeld. Als die Soldaten stürmten, war kein einziges Maschinengewehr mehr intakt. Alles, was der Reichswehr noch lebend in die Hände fiel, wurde sofort an Ort und Stelle niedergemacht.
Wie ich weggekommen bin, weiß ich selber nicht mehr richtig. Es ging querfeldein, links und rechts purzelten die, die mit mir rannten. In einem Graben watete ich dann bis zu den Hüften im Wasser bis an einen Waldrand, und dann ging es weiter, bis ich an ein einsames Bauernhaus kam. Ich wollte ein Rad haben, aber die Leute machten Schwierigkeiten, bis sie meinen Browning sahen. Es ging um mein Leben, und ich war zu allem fähig. Ich stieß dann auf einen Trupp aus Recklinghausen, mit dem ich über die Grenze ging, wo wir von den Engländern entwaffnet und nach Köln transportiert wurden. Dort erfuhr ich, dass bei den Rückzugskämpfen auch der wackere ,Dudo' gefallen ist. Mein erstes war, dass ich dem Bauern das Rad mit einem Entschuldigungsbrief zurückschickte.
Wir wurden drüben in Deutz in den alten Ausstellungshallen untergebracht. Es waren mehrere tausend Mann, Rheinländer und Westfalen. Die ,Tommys' behandelten uns sehr anständig, gaben uns gute Verpflegung, und wir durften uns auch frei bewegen. Dann verzog sich einer nach dem andern. Ein Teil ging in das Aachener und in das Saargebiet. Manche kehrten auch auf gut Glück nach Hause zurück. Von einigen hörte ich, dass sie in der Fremdenlegion gelandet seien. Ich bekam bald Anstellung bei einer chemischen Fabrik in Kalk, habe da ein annehmbares Gehalt und kann mich in persönlicher Beziehung eigentlich nicht beklagen. In Köln ist es hundertmal schöner als in dem verräucherten ,Pütt'"
Grothe hatte, den Kopf in die Hand gestützt, aufmerksam zugehört. „Und wie stehst du jetzt politisch? Du warst doch damals in Swertrup der SPD beigetreten."
Sukrow machte eine abwehrende Bewegung. „Das war einmal, lieber Max. Wem anders als dieser Partei haben wir diese furchtbare Niederlage zu danken? Wie könnte heute die deutsche Arbeiterschaft dastehen, wenn sie von diesen Leuten beim Kapp-Putsch nicht so schnöde verraten worden wäre? - Wenn ich noch daran denke, mit welchem Elan unsere Kumpels gegen das Kapp-Gesindel losgebrochen sind! - Die Halde bei ,Deutsche Erde' wurde sozusagen mit bloßen Händen gestürmt. Wieviel Opfer sind gefallen? - Und wofür? -Keiner der siebzehn Bielefelder Punkte - soweit sie sich gegen die Hakenkreuzler richteten - wurde erfüllt. Die Kappisten laufen stolz und frei mit Orden, Ämtern und Pensionen umher. Alle Mörder von ihnen gingen straflos aus. Aber uns, die wir für die Republik, gegen die Putschisten gekämpft haben, uns verfolgt und sperrt man ein, und ein sozialdemokratischer Reichspräsident findet sich sogar bereit, Todesurteile gegen Arbeiter zu unterschreiben! Pfui Deibel! - Und das alles lässt sich die Arbeiterschaft wie die selbstverständlichste Sache der Welt gefallen? - Keinem der feigen Mörder ist bisher ein Haar gekrümmt worden. Das Blut des armen Ruckers, Oversaths, Küppers, der Genossin Kabitzki, des alten Hövelmann und all der andern ist noch ungesühnt."
„Was, der alte Hövelmann auch?" fragte Grothe, der das originelle Faktotum des Flaschnerwerks auch sehr gut kannte, erschrocken.
„Das weißt du noch nicht? Dann lass dir erzählen. Der alte Mann hat im Krieg vier Söhne verloren, und der letzte wurde vergangenes Jahr von der Sicherheitswehr in Bottrop erschossen. Um das Maß des Unglücks voll zu machen, wurde sein kleines Enkelkind bei den Kämpfen in Swertrup in seinem Bettchen von einer Kugel tödlich getroffen. Ich kam dazu, wie der arme Kerl mit dem blutenden kleinen Wesen zum Arzt lief."
Sukrow musste einen Augenblick innehalten, denn in Erinnerung an die grausige Vergangenheit erstickten Tränen seine Stimme. Dann fuhr er fort: „Seitdem war der alte Mann nicht mehr ganz bei Sinnen. Fortwährend murmelte er: ,Fünf Jungen haben sie mir erschossen und nun auch noch das kleine Hannchcn!' Schließlich brachte man ihn ins Hospital, wo man ihn gerade einen Tag, bevor die Besetzung erfolgte, als harmlosen Geisteskranken entließ."
„Und diesen harmlosen Irren haben sie auch erschossen?" fragte Grothe erschüttert.
„Totgeschlagen haben sie ihn wie einen räudigen Hund. Als er vor dem Tor der Zeche ,Deutsche Erde' die Militärwache sah, ging er mit Fäusten auf sie los. Man nahm ihn natürlich fest, und dann sah ihn keiner mehr, bis man seine grässlich zugerichtete Leiche in der Friedhofshalle wieder fand."
Grothe hatte die Lippen fest zusammengepresst, die Falten zwischen Augen und Mundwinkel traten schärfer hervor, und sein Blick ruhte starr auf der Marmorplatte.
„Siehst du", begann Sukrow, nachdem er sich durch einen Schluck neu gestärkt hatte, „das alles passiert, und kein Hahn kräht danach. Sogar der arme Oversath, der doch gewiss kein Radikaler war - man sagt, er sei der größte Antibolschewist gewesen - musste daran glauben!
Und was tun seine eigenen Obergenossen'? — Sein Freund Reese, der uns immer Knüppel zwischen die Beine geworfen hat und uns in der entscheidenden Situation im Stich ließ, wurde Beisitzer im Standgericht! Und weißt du, was er heute ist? Landrat im Hannoverschen! So wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken! Aber ich habe nicht Charakter genug, solche Lumperei mitzumachen, und sei es auch nur durch passive Mitgliedschaft in dieser Partei. Mir können die Scheide- und Sollmänner..."
Grothe blickte ihn aufmerksam an. „Und nun bist du ganz indifferent?"
Sukrow lächelte verlegen: „Das gerade nicht, obwohl ich mir vorgenommen hatte, mich um nichts mehr zu kümmern. Aber so ganz kommt man ja um die leidige Politik doch nicht mehr herum. Wenn man sich nicht um die Politik kümmert, kümmert sich die Politik um uns! Die SPD ist für mich natürlich erledigt! Die Unabhängigen'?- Die finde ich noch komischer! Die haben durch ihre Verhandlungswut, durch ihre ,Möchtegern, aber mit Samthandschuhen' das Ihrige zu unserer Niederlage beigetragen. - Die Kommunisten? - Die Partei ist viel zu klein, um was zu erreichen, und dann... solch günstige Gelegenheit wie beim Kapp-Putsch kommt niemals wieder! Ja, die Russen, das sind andere Kerle, aber Deutschland ist ein hoffnungsloser Fall!"
„Da hast du Unrecht, und wie ich dich kenne, wirst du auch nicht lange passiv bleiben", sagte Grothe zuversichtlich. Er rückte ein Stück näher, begann auf den Freund einzureden, wie er es früher so oft getan.
„Ich habe", fuhr er fort, „keine Philosophie aus Büchern studiert, aber mir in der Praxis eine eigene Philosophie angeeignet, und die sieht so aus:
Was wir vorhaben, überall eine neue, höher organisierte Gesellschaftsordnung aufzubauen, das ist eine Aufgabe, wie sie gigantischer noch niemals gestellt wurde, solange diese Welt besteht! Und da sollte man verzweifeln, wenn der Baum nicht auf einen Hieb fällt? -Es existieren noch keine Instruktionsbücher darüber, wie man eine soziale Revolution einwandfrei und ohne Fehler durchführt, und es wird auch keine geben, weil jede Revolution sich ihre eigenen Lehren aus Fehlern und Niederlagen erkämpfen muss. Die Russen haben 1905 damit angefangen; wir 1918... und heute schreiben wir erst 1920."
Sukrow sah den Genossen mit ungläubigem Staunen an. „Wie lange sollen wir denn noch warten? Ich bewundere dich, das heißt mehr als deine Perspektive deine Ausdauer und Geduld! Ich habe das eben leider nicht." „Und doch sind das die wichtigsten Elemente, die wir brauchen. Erinnere dich doch, wieviel Geduld wir mit dir haben mussten, ehe du vom Wahn der Weimarer Demokratie frei wurdest !"
„Bei mir waren es die Schlacken der Erziehung: meine Eltern sind Spießbürger reinsten Wassers; das musst du schon entschuldigen", verteidigte sich Sukrow.
„Weiß ich alles, aber du willst diese Entschuldigung bei den andern, die ebenfalls ein Opfer ihrer falschen
Erziehung sind, nicht gelten lassen. Das ist intolerant."
„Ja, was soll man tun?" fragte Sukrow achselzuckend und zündete sich eine Zigarette an.
„Erziehen, aufklären, aber dazu gehört Arbeit", rief Grothe so laut, dass ein paar Vorübergehende einen Augenblick stehen blieben. „Die USPD gehört in Kürze der Geschichte an, da auf dem Halleschen Parteitag sicher das Gros zur Dritten Internationale stoßen wird.
Damit sind die Vorbedingungen für eine proletarische Massenpartei und für künftige bessere proletarische Politik gegeben."
„Daran hat es leider gefehlt seit 1918; viele Parteien, viele Köpfe, viele Sinne. Einer misstraute dem andern, bekämpfte den andern. Keiner hatte Autorität, sich durchzusetzen und die riesigen Massenkräfte zu organisieren", sagte Sukrow bitter.
Grothe schmunzelte: „Wie du gelernt hast, alter Junge; so weit sind wir gar nicht mehr auseinander!"
Sukrow sah verdutzt drein, dann lächelte auch er: „Mag sein, dass wir uns mal in Damaskus wieder treffen, wenn das alles erst ein bisschen weiter hinter mir liegt." Ein herbes Zucken spielte um des anderen Mundwinkel: „Ich habe keine Zeit, über Unvermeidliches nachzugrübeln. Ich darf es gar nicht, sonst..."
„Herrgott, ja, wir schwatzen, und von dir weiß ich noch gar nichts", rief Sukrow erschrocken.
„Dann lass es dir kurz erzählen", sagte Grothe, die Stirn im Handteller seiner Linken wühlend, als müsse er die gewaltsam zerstreute Erinnerung erst zusammenklauben. Dann begann er mit halblauter, trockener Stimme:
„Wir hatten uns zu siebzehn Mann mit drei Maschinengewehren in ein einzeln stehendes Haus bei Welkum geworfen, um die bayerischen Ulanen aufzuhalten. Da haben sie uns ziemlich zehn Stunden lang belagert. Wir schlugen auch mehrere Angriffe ab und blockierten mit unserem MG die Straße. Ich erhielt dabei einen schweren Schuss in die Schulter und lag ein paar Stunden in einem Kellerloch. Mâry pflegte mich, bis... "
„Wie? - Mâry war auch bei euch? Du weißt also, wo sie geblieben ist?" fragte Sukrow atemlos.
Grothe nickte. „Sie hätte flüchten können, aber sie wollte nicht. Sie war gerade bei mir, als es oben losdonnerte, als gehe die Erde unter. Ich glaubte erst, es seien Minen, aber später erfuhr ich, dass es geballte Handgranaten waren. Ich wollte nach oben, mein Leben so teuer als möglich zu verkaufen, aber die Falltür zu unserem Kaschott war schon verschüttet. Da das Haus keinen weiteren Keller hatte, fanden mich die Noskes nicht. - Erst am anderen Morgen gruben mich die Ziegeleiarbeiter besinnungslos aus und versteckten mich vor den Spitzeln der Weißen."
„Und Mâry? Wurde sie auch gerettet? - Ist sie tot, oder geriet sie gar lebend in die Hände der Soldateska? -In Westfalen sind ja furchtbare Schandtaten an unseren Krankenschwestern begangen worden."
Voll schmerzlicher Spannung forschte Sukrow in den gramverzerrten Zügen des andern. Und plötzlich wurde ihm die ganze furchtbare Tragödie klar, als der Freund mühsam herauswürgte: „Sie kommt nicht wieder;... sie starb in meinem Arm;... sie ist tot!... "
Er hatte die Augen mit der Hand bedeckt, und ein tiefes Stöhnen entrang sich seiner Brust. Auch Sukrow hatte den Kopf auf den Tisch gestützt. Er zermarterte seinen Kopf vergeblich nach einem Trostwort und
schwieg.
Plötzlich fragte Grothe, noch immer die Hand vor Augen haltend: Du hast sie wohl auch gern gehabt?"
Sukrow überkam ein wehes Gefühl bei der Erinnerung. „Ich war dir ihrethalben einmal sehr gram, Max! Seinerzeit, weißt du noch, beim Streik auf der Zeche Beate, da sagtest du mal zu mir: In einer bekannten Familie fängt man, wenn man keine Heiratsabsichten hat, Freundschaft mit einem Mädchen erst gar nicht an! Das leuchtete mir auch ein. Und dann habe ich euch zwei bei Frau Ruckers Geburtstag beobachtet. Da machtest du dich auf dem Platz breit, den du zu räumen mir empfohlen hattest."
Grothe blickte ihn ernst an. „Du tatest mir unrecht, Ernst. Du hattest - damals wenigstens - doch keine ernsten Absichten. Darum riet ich - obwohl persönlich uninteressiert - in beiderseitigem Interesse ab. Bei mir kam das erst später - wie so etwas eben plötzlich kommt. Aber wer sagt dir, dass ich nicht ernste Absichten hatte?" Sukrow schwieg betroffen; Grothe aber, dem es wohlzutun schien, über die Tote zu sprechen, fuhr mit leise vibrierender Stimme fort: „Sie war ein lieber, tapferer Kerl, hatte das Zeug in sich zu einem Kampfkameraden, wie ihn unsereiner braucht. Sie starb tapfer, wie sie mit uns kämpfte. Wenn wir beide lebend weggekommen wären..."
Er machte eine tiefe Atempause und schien einen Augenblick in schmerzlicher Erinnerung versunken. Dann aber richtete sich seine zusammengesunkene Gestalt auf, und sein Gesicht nahm einen hartgemeißelten Ausdruck an:
„Das hat nun mal nicht sein sollen und ist auch nicht zu ändern! Auch ihr Name steht - für mich sogar obenan - auf jener langen Liste, die wir eines Tages mal zur Abrechnung vorlegen werden. Und dass dieser Tag bald kommt, daran arbeite ich, solange ich noch Blut in den Adern habe!"
„Bist du denn wenigstens gesundheitlich wiederhergestellt?" fragte Sukrow, um von diesem schmerzlichen Gegenstand abzukommen.
Grothe bewegte krampfhaft seinen steifen Arm. „Mit dem hier ist's vorbei, der bedient keine Walzstraßen mehr.
Bis gestern war ich, unter einem andern Namen, in der Klinik eines sympathisierenden Arztes in Düsseldorf. Aber ich habe zu lange bei den Ziegeleiarbeitern in Welkum gelegen und mir die Wunde mit essigsaurer Tonerde selber geheilt. Meine gute Heilhaut tat das ihrige. Jetzt ist alles verknorpelt und versteift. Aber das konnte mir im Weltkrieg auch passieren."
Sukrows Blick hing bewundernd an dem jungen Kommunisten, der trotz der furchtbarsten Erlebnisse so fest und sicher auf den Beinen stand und sogar schon wieder lächeln konnte. Unwillkürlich kam ihm ein Spielzeug seiner Kindheit, ein Stehaufmännchen, in Erinnerung.
Der da war tatsächlich nicht kleinzukriegen. Aus solchem Holz mussten wohl auch die Menschen sein, die den Sozialismus aufbauen wollten. Ein beschämendes Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit überkam ihn.
„Und jetzt, Max - willst du in Köln bleiben?" fragte er schließlich.
Grothe schüttelte den Kopf. „Ich habe die Nacht im Volkshaus auf der Severinstraße logiert und wollte eben langsam zum Bahnhof schlendern, wo schon mein Rucksack wartet."
Er sah nach der Uhr: „Eine halbe Stunde habe ich noch Zeit. Um 9.07 fährt mein Zug nach Remagen. Ich will den Rhein hinauf, vorher noch einen Abstecher ins Ahrtal machen, alte Freunde aufstöbern. Dort bin ich mal als Achtzehnjähriger langgetippelt, und ich brauche jetzt ein bisschen Erholung für meine Nerven. Also lass uns schon immer gehen; du begleitest mich doch zur Bahn?"
„Selbstverständlich, das heißt: Willst du nicht wenigstens eine Nacht bei mir bleiben? Ich habe ein hübsches Zimmer draußen in Lindenberg. Und wenn ich dir sonst mit was dienen kann; wenn du Geld brauchst? Sage es bitte ungeniert."
„Was ich brauche - es ist nicht viel, denn ich kenne den Betrieb, vom Wandern zu leben - haben mir gute Geister zugesteckt", antwortete Grothe. „Und was das Logis anbetrifft - lassen wir das bis zum Herbst. Wenn mer Träuble schneidt, bin ich wieder da, dann kehr' ich auch bei dir, mein Schatz, ein! Für deinen überflüssigen Mammon aber weiß ich eine viel bessere Anlage. Ich werde dir die Adresse von Frau Ruckers geben, die man natürlich, nachdem der Ernährer ermordet war, auch aus der Koloniewohnung herausschmiss. Hannes ist zwar vor einigen Wochen zurückgekehrt, aber er ist seine Lehrstelle losgeworden. Die beiden leben jetzt mit dem Ludwig, dem armen Krüppel, in größter Not."
„Das soll gern geschehen", antwortete Sukrow hocherfreut, dem Freund einen, wenn auch mittelbaren, Liebesdienst erweisen zu können.
„Man riet mir auch", sagte Grothe, „nach Russland zu gehen; aber was soll ich dort? Spezialist bin ich nicht, mich können sie ja nicht mal bei der Roten Armee brauchen. Darum bleibe ich im Lande und ,hetze' redlich! Zum Herbst soll ja eine große Amnestie für die Ruhrkämpfer kommen, dann kehre ich nach dem ,Pütt' zurück. Gewiss, es gibt schönere Flecken Erde, aber mein Platz ist da oben, da gehöre ich hin. Die Dickköppe und ihre Lakaien werden bald wieder von Max hören. Es ist eine Menge aufzubauen, aber es wird nicht lange dauern, denn der Boden ist gut gedüngt. Die Herrschenden täuschen sich, wenn sie glauben, den großen Brand an der Ruhr mit Blut ausgelöscht zu haben. Der frisst und knistert weiter im Innern der Erde! Tausende neuer Kämpfer werden an Stelle eines Peter Ruckers erstehen."
Sie waren aufgestanden, vom brausenden Leben des abendlichen Kölns umfangen. Über den lichtspiegelnden Asphalt der Hohen Straße flutete vom Wallrafplatz bis zur Hohen Pforte der Strom der vergnügungssüchtigen Menge. Elegante Nichtstuer und geschminkte Straßendirnen, abenteuernde Ladenmädchen und köllsche Kleinbürger; Fremde, die auf der Durchreise einmal Köln bei Nacht studieren wollten, und dazwischen die glattrasierten Typen khakifarbener Engländer mit gelbem Lederzeug und breiter Schildmütze! Aus den weitgeöffneten Kaffeehausfenstern rauschte Musik, grellbunte Plakate versprachen humorvolle Unterhaltung.
Der Zug war noch nicht einrangiert, und sie gingen Arm in Arm den Perron bis zum äußersten Ende der halbdunklen Bahnhofshalle und noch ein Stückchen darüber hinaus. Unten spiegelten sich in den dunklen Fluten des Rheins die Lichter der Uferstraßen und Brücken.
„Da oben zieht sich wieder was zusammen", bemerkte Grothe, indem er mit der gesunden Linken stromabwärts deutete, wo sich pechschwarze Wolken ballten, rötlich angehaucht, wie von einer riesigen Feuersbrunst. Wetterleuchten gespensterte durch die Nacht - in der Ferne grollte dumpf der Donner des heranziehenden
Gewitters.
Langgezogene Schiffssirenen gellten herauf. Ein schwarzer Schleppdampfer mit grünroten Buglaternen schaufelte das Wasser. Nur langsam gewann er mit der endlosen Kette tiefbeladener Kohlenschiffe hinter sich Terrain gegen die reißende Strömung.