Willi Bredel - Rosenhofstraße (1931)
http://nemesis.marxists.org

Kapitel I.

Der Brothändler Kuhlmann war schlechter Laune. Soeben war er aus dem Bett gestiegen, hatte sich noch nicht einmal gewaschen und musste schon mit frischen Rundstücken auf die Straße. Während er die Brötchen mit seinen noch von der Nacht schweißigen Händen in den großen Korb zählte, brummte er unaufhörlich vor sich hin.
Er war ein kleines, schwindsüchtig aussehendes Kerlchen, mit einem für sein wachsartiges, schmächtiges Gesicht übergroßen Schnauzbart Seine Augen waren zusammengekniffen, sahen argwöhnisch drein und waren etwas krankhaft gerötet. In seinem groben, grauen Hemd und der mit einem Gürtel viel zu tief gehaltenen Hose, stand er hinter dem Ladentisch und zählte und brummte.
„Was brummst Du eigentlich?" schrie es plötzlich drohend aus einem Nebenraum.
Kuhlmann brummte nicht mehr, aber er zählte emsig weiter.
Doch die Stimme nebenan war nicht beruhigt. „Heh? Heh?" rief sie.
„Ach nichts!" Er hielt einen Augenblick mit dem Zählen an. „Ich hatte mich nur verzählt!"
„73 — 74 — 75 — 76!" zählte er dann laut weiter und warf jedes Rundstück mit einer ärgerlichen Bewegung in den Korb.
Frau Henriette Kuhlmann lag währenddessen noch im Bett. Eine dunkle Kammer, direkt neben dem Verkaufsraum, bildete das Schlafgemach. Es war nur klein; außer den zwei Betten konnte darin fast nichts stehen, aber trotzdem waren an beiden Seiten des Raumes Kisten und Kasten aufgestapelt. An dem Fußende des einen Bettes lag zusammengerollt ein mausgrauer Kater.
„Mach zu, Emil!" rief die Frau aus dem Bett energisch ihrem Manne zu, der sich immer noch im Laden zu schaffen machte.
Geknurr war die Antwort.
Frau Kuhlmann hatte sich schon wütend aufgerichtet und war im Begriff, kräftig loszukeifen, als eine Klingel schrill schellte.
Kuhlmann ging.
Sie neigte sich nun zum Fenster hin und schob die Vorhänge etwas zur Seite. Es war fast noch Nacht, der Morgen begann eben zu grauen. Mit einem tiefen Seufzer warf sie sich dann ins Bett zurück, legte sich mollig auf die Seite und zog sich die Bettdecke bis an den Mund.
„Was Sie nicht sagen?"
„Ja, und die halbe Nacht tobten sie. Kein Auge konnte man zu tun. Ich sage Ihnen, Frau Kuhlmann, bei den Heubergers gehen merkwürdige Dinge vor!"
„Was Sie nicht sagen?" wiederholte aufmerksam zuhörend die Brothändlerin.
„Diese Burschen müssten wieder zum Militär, dann würden sie auch später mal brauchbare Menschen werden, oder Arbeitsdienstepflicht, meint mein Mann. Wissen Sie, vorgestern Abend... ."
Der Mann der Brothändlerin kam aus den Wohnräumen und schlürfte mit einigen leeren Kohlensäcken über dem Arm grußlos durch den Laden. Als er die Tür hinter sich schloss, brummte er wieder; aber diesmal verstand man deutlich: „... Weiberpack!" Dann ging er in die Terrasse zum Kohlenkeller.
Eine alte verhutzelte Frau mit einer altmodischen Haube und einem langen, dunkelgrünen Rock lief vor der Rosenhof-Terrasse hin und her. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen, um die Hausnummer erkennen zu können. Schließlich blickte sie unschlüssig in die Terrasse. Eine Frau kam heraus.
„Ach, sagen Sie mir, bitte, ist dies Rosenhofstraße Nr. 3?"
„Ja, hier ist die Rosenhof-Terrasse!"
Die Alte konnte mit dieser Antwort scheinbar nichts anfangen, Ratlos stand sie da.
„Ich wollte zu Herrn Kummerfeld!" sagte sie schließlich zögernd.
„Na ja, dann stimmt's ja. Ganz hinten links, letztes Haus!"
Die Alte murmelte etwas wie „Danke" und trippelte in die Terrasse.
Der letzte Hauseingang links sah fast noch abscheulicher aus als die ersten, noch verfallener. Knapp über der Parterrewohnung klaffte ein breiter Riss in der Hauswand, der den baufälligen Charakter des Hauses noch erhöhte. Alles war schmutziggrau.
Vor der Parterretür mit dem Schild: Adolf Kummerfeld — suchte die Alte nach einer Klingel. Sie fand keine. Ihr Klopfen schien niemand zu hören. Da rüttelte sie kräftig am Türdrücker.
Die stockhagere Frau Kummerfeld öffnete leise.
„Ich habe einen Brief vom Wohlfahrtsamt!" Die Alte zeigte den blauen Umschlag.
Wortlos wurde die Tür innen aufgeriegelt und geöffnet. Über einen schmalen Vorplatz, wo allerlei Gerümpel stand, wo Kleiderstücke und Hüte lagen, wurde die Alte in ein Zimmer geführt. Auch hier proletarische Armseligkeit. Es war eng und dumpf in diesem Raum.
„Es ist doch hier richtig bei Wohlfahrtspfleger Kummerfeld?" fragte zweifelnd die Alte.
„Ja!" erwiderte leise die Frau. „Sie haben Glück. Mein Mann ist krank und im Hause. Sonst ist er um diese Zeit doch auf Arbeit. Setzen Sie sich nur!"
Die Alte zwängte sich an einem Stuhl vorbei ins Sofa.
Frau Kummerfeld war in den Nebenraum gegangen. Die Alte schnappte nach Luft und blinzelte in der Stube umher. Ihr gegenüber stand eine alte Kommode mit Bildern, Figuren und Erinnerungen.
Darüber hingen zwei große Bilder in breiten Rahmen. Sie waren schon gelblich. Die Alte grübelte, wer der mächtige Kopf mit den schlohweißen Haaren sein könnte. Es waren alte Photographien von Marx und Lassalle. Aber den Fritz Ebert, der dazwischen hing, den kannte sie. Auch den Spruch über dem Sofa konnte sie buchstabieren: „—Edel sei der Mensch, hilfreich und gut —".
Jetzt entdeckte sie auch noch eine große schwarze Katze, die links vor ihr auf der Fensterbank lag und schlief.
Die Alte saß in Gedanken versunken, die Hände übereinander gelegt, da. Die Wohnung des Wohlfahrtspflegers hatte sie sich so ganz anders vorgestellt. Große helle Räume mit Klavier, einem großen Bücherschrank und wertvollem Mobiliar, und nun war sie bei Leuten, die so ärmlich hausten, wie sie selbst.
Durch das Eintreten des Wohlfahrtspflegers wurde sie in ihren Betrachtungen unterbrochen.
„Guten Tag!" begrüßte er sie. Er sprach ebenso leise wie seine Frau. Um den Hals hatte er einen alten Wollschal gewickelt. Die Alte machte eine Bewegung, als wenn sie sich erheben wollte. „Aber bleiben Sie sitzen!" Kummerfeld nahm den blauen Brief vom Wohlfahrtsamt, riss ihn auf, setzte seine Brille zurecht und las.
Er war ein kleiner, schmächtiger Mensch. Die langen, weißen Haarsträhnen legten sich im Scheitel zur Seite. Man sah ihm auf den ersten Blick an, dass er zur ganz alten Generation der Sozialdemokratie gehörte. Die Alte betrachtete ihn ununterbrochen.
„Na, Frau Wendt, dann wollen wir mal ein kleines Formular ausfüllen!" sagte er und sah sie, als er das Schreiben gelesen und die Brille auf die Stirn geschoben hatte, mit seinen wasserhellen Augen freundlich an. Er kramte aus einem alten Karton, der auf einem kleinen viereckigen Tisch in der Ecke stand, einen weißen Bogen und Tinte und Feder hervor und setzte sich, nachdem er einen voll gepackten Stuhl freigemacht hatte, der Alten gegenüber.
„Sie heißen Frieda Wendt?" Langsam malte er die Buchstaben aufs Papier. „Ihre sämtlichen Vornamen?"
„Pauline, Wilhelmine!"
Die Feder kratzte hörbar. „Ihr Geburtsname?"
„Kramer!"
„Sind Witwe?"
„Ja!"
„Wohnen Gerhardstraße 6, bei Helmke?"
„Ja!"
Vorsichtig tauchte er die Feder ins Tintenfass und zupfte ein Fädchen von der Spitze.
„Haben Sie Kinder?"
„Zwei!"
„Die heißen?"
„Paul Wendt und Erna Helmke!"
„Beide verheiratet?"
„Ja!"
„Was ist Ihr Sohn von Beruf?"
„Klempner!"
„Und Ihr Schwiegersohn?"
„Kaiarbeiter!"
„Haben Sie Vermögen?"
„Wie?" fragte die Alte, die annahm, nicht recht verstanden zu haben.
„Ob Sie Vermögen haben?"
„Nee!" antwortete sie erstaunt.
„Die Frage steht hier auf dem Formular vorgeschrieben!" erklärte wie zur Entschuldigung der Wohlfahrtspfleger. „Haben Sie mal eine Erbschaft zu erwarten?"
„Nein!"
„Sie haben also bisher bei Ihrem Schwiegersohn gewohnt!"
„Jetzt auch noch!"
„Richtig! Ich meine, Sie haben dort gelebt und er hat für Ihren Unterhalt gesorgt. Durch anhaltende Erwerbslosigkeit ist er nicht mehr dazu in der Lage und Sie beantragen nun Wohlfahrtsunterstützung?"
„Ja!"
„Was bekommen Sie von Ihrem Sohn?"
„8 Mark monatlich!"
„Ist das nicht reichlich wenig?"
„Er hat nicht mehr über, sagt er!" erwiderte die Alte verlegen.
Nachdem alles langsam und bedächtig eingetragen war, erhob sich der Pfleger und erklärte, dass er in den nächsten Tagen bei ihr vorsprechen würde.
„Muss denn das alles wegen der paar Mark aufgenommen und auch noch nachgeforscht werden?"
„Die Wohlfahrt wird oft von habgierigen Menschen missbraucht, beste Frau, und alles muss doch seine Ordnung haben!"
Die Alte schwieg.
„Wir tuns persönlich doch nur aus Liebe zu den Armen! Abend für Abend müssen alle die vielen Pfleger opfern und keiner bekommt einen roten Heller dafür!" Man sah deutlich, dass die Alte etwas erwidern wollte, aber sie zögerte.
„Der Staat ist arm, bitterarm!" schloss der Wohlfahrtspfleger und geleitete die alte Frau langsam zur Tür. —
Bevor die Witwe Wendt die Terrasse verließ, sah sie sich noch einmal die grauen, unfreundlichen Häuser an. Aus einem der vielen geöffneten Fenster drang, entsetzlich in die Länge gezogen, der Gesang einer Frauenstimme von dem ,treuen Husaren, der sein Mädel ein ganzes Jahr und noch viel mehr liebte'. Aus einem anderen Fenster wurde nasse, bunte Wäsche herausgehängt. Auf dem Treppenaufgang des ersten Hauses spielten kleine, blasse Mädel und Jungen »Mutter und Kind'. Überall sah man Not und Elend. Mittendrin aber wohnte der Wohlfahrtspfleger, der den Armen zu helfen glaubte, und er war doch selbst einer der Ärmsten der Armen.
Else Langfeld war ein etwas rundliches Nähmädel, mit derbem, bäuerischem Gesicht und lebhaften grauen Augen. Sie hatte, wie viele Proletarierkinder, durch mangelhafte Ernährung und ungenügende Aufwartung in frühester Kindheit — nicht ganz gerade Beine.
Jahrelang war sie über ihre missratenen Beine verzweifelt gewesen. Misserfolge, die sie in der Liebe erlebte, führte sie, auf diese dummen Beine zurück. Was hatte sie für Bekanntschaften gehabt! Aber sobald ein Mann ihre gekrümmten Beine bemerkte, verschwand er. Den meisten Männern sind gerade Beine eben mehr wert, als ein gerader Charakter, dachte Else oft. Wenn sie auch vor ein paar Jahren noch oft unter Tränen nachts ihre Mutter verwünschte, weil sie nicht genügend Obacht auf ihre Beine gegeben hatte, als sie noch klein war; wenn sie auch nächtelang verzweifelnd die oberflächlichen Männer verflucht hatte, die den Wert einer Frau nach den Formen ihrer Beine maßen, so hatte sie sich doch im Laufe der Zeit von diesen selbstquälerischen Vorwürfen fast befreit. Jetzt lachte sie, wenn blasierte Gecken ihr erst freundlich ins Gesicht und dann erschreckt nach ihren Beinen sahen und lächelte über den frechen Witz flegeliger Schuljungens, die oft, wenn sie sich sehen ließ, den Schlager; — Dein Mund sagt nein, doch deine Beine sagen o — umdichteten. Else war jetzt sozusagen über ihre unschönen Beine erhaben. Wer sie nach ihren Beinen einschätzte, zeigte ihr nur, was er selbst wert war. Im übrigen war sie freundlich zu jedem, immer zu Gefälligkeiten bereit und arbeitete wie ein Pferd.
Ihre Mutter war schon viele Jahre tot. Der Vater und sie hausten allein in einer Zweizimmerwohnung der Rosenhof-Terrasse, Als sie Beschäftigung hatte, musste sie noch nach neun- und zehnstündiger, aufreibender Schneiderarbeit abends die Wohnung in Ordnung halten, für ihren Vater und sich für den kommenden Tag kochen, Geschirr reinigen, Wäsche waschen, also die ganze Arbeit einer Hausfrau erledigen.
Der alte Langfeld war ein wortkarger, stets unzufriedener Mensch. Als Gelegenheitsarbeiter fand er in seinem Alter nur noch selten Arbeit. Es kam vor, dass er tagelang in den Wirtschaften herum lag und trank. Aber nur, wenn ihn mal so richtig die Wut und Verzweiflung über sich und über alles packte. Verdiente er einige Mark, gab er sie fast immer restlos der Else zur Führung des Haushalts. Auch die paar Mark Unterstützung, die er erhielt, bekam sie bis auf einige Groschen, die er wöchentlich für seinen billigen, beißenden Tabak verbrauchte. Im Grunde hatte Else aber die ganzen Jahre den kleinen Haushalt allein aufrechterhalten. Viereinhalb Jahre hatte sie als Schneiderin in einem großen Warenhaus gearbeitet und bei den vielen Überstunden verhältnismäßig gut verdient. Zwar musste sie sich vieles gefallen lassen. Die Direktricen waren meistens herrschsüchtige, hinterhältige Menschen, und die Bourgeoisweiber, die die gekauften Konfektionswaren in der Schneiderei des Warenhauses nach ihren Wünschen ändern ließen, waren hochnäsig und grob, und behandelten die Schneiderinnen wie ihr Dienstpersonal.
Else hatte alle Wut über die Behandlung und die schamlose Ausbeutung die ganzen Jahre schweigend hinuntergeschluckt, bis — der Streik der Schneider und Schneiderinnen ausbrach. In einer Branchenversammlung hatte sie sich hinreißen lassen und die sklavenartige Behandlung, die mangelhaften sanitären und hygienischen Einrichtungen in dem bekannten Warenhaus angeprangert und Abhilfe gefordert. Als der Kampf dann mit gutem Erfolg durchgekämpft war, wurde sie vierzehn Tage später plötzlich ,wegen Mangel an Arbeit' entlassen. Und nun sah es schlimm für sie und ihren Vater aus. Von nun an war bittere Not ein ständiger Gast. Der alte Langfeld erhielt sechs Mark wöchentlich von der Wohlfahrt. Else bekam neun Mark Arbeitslosenunterstützung. Und von diesen fünfzehn Mark mussten jede Woche sieben Mark für Miete zurückgelegt werden. „Die Miete ist das Wichtigste", sagte der Alte immer, „ist man erst wohnungslos, verkommt man ganz." Und aus Angst, in Mieterückstand zu kommen und dann vom Hauswirt auf die Straße gesetzt zu werden, bekam die Vizenfrau jeden Ersten im Monat prompt achtundzwanzig Mark auf den Tisch gezählt; mochten die Gedärme bei Vater und Tochter noch so rumoren und das Herz beim letzten Anblick des vielen Geldes sich noch so sehr zusammenkrampfen.
Den Weg zum Pfandleiher musste Else nun auch manchmal machen. An der Ecke der Rosenhof- und der Kollbergstraße wohnte einer. Zu dem ging sie jedoch nie. Eine Art Scham über ihre Not trieb sie in einen ganz anderen Stadtteil, wo niemand sie kannte. Im Pfandhaus lernte sie erst den ganzen Jammer menschlichen Elends kennen. Abgearbeitete und doch verhungert aussehende Frauen brachten ihre ,Sonntagskleider', abgewaschene Schürzen, geflickte Bett- und Kissenbezüge, die dem Pfandleiher nichts wert schienen und den Besitzern alles waren. Ein alter, vertrockneter Mann, mit Filzlatschen an den Füßen, brachte sein einziges Paar Stiefel. Eine Frau stand mit einer Petroleumlampe aus Messing in der Ecke. Eine andere hielt einen Wecker in der Hand. Stapelweise konnte man die versetzten Sachen auf Stühlen und Tischen sehen. Es kam gar nicht selten vor, dass der Pfandleiher das Pfandstück nicht annahm. Dann wurde gebeten und gebettelt und der Verleiher unter Tränen angefleht, doch wenigstens ein paar Groschen darauf zu geben.
Ganz elend kam Else immer wieder nach Hause. Die paar Mark, die sie erhielt, musste sie, mit nicht geringen Zinsen, wieder zurückzahlen, wenn sie nicht ihr bestes Kleid und ihren Sommermantel verlieren wollte.
Der Vater wusste nichts von diesen Gängen zum Pfandhaus. Er kümmerte sich auch nicht darum, woher plötzlich Geld kam. Er aß mit, wenn etwas vorhanden war und hungerte schweigend oder knurrend, wenn nichts da war.
Da Else trotz allen Bemühungen keine Arbeit fand, versuchte sie durch Schneidern für Bekannte und Verwandte einige Mark zu verdienen. Sie nähte Kleider und auch kleine Hosen und Röcke für Kinder. Da sie eine gewissenhafte Schneiderin war, dauerte das, was sie arbeitete, auch seine Zeit, aber was sie dafür an Lohn erhielt, war bitterwenig. Die Nachbarsleute und die Verwandten machten sich ihre Not zunutze und verlangten jede Arbeit halb umsonst.
Sie nahm auch Wäsche zum waschen an und wusch sie bei sich in der Wohnung. Die kleine Küche war dann in Wasserdampf eingehüllt und mit nassen Wäschestücken vollgepackt. In der ganzen Wohnung war ein beißender Geruch von grüner Seife und Waschmitteln. Rot und schwitzend stand sie im Unterrock vor dem Waschtrog, hatte einen großen Leinensack vor dem Leib und rieb und knetete die dampfende Wäsche.
Weil Else ein Arbeitspferd war, schneiderte, wusch, die Wohnung instand hielt und den alten Vater versorgte, genoß sie bei den Frauen der Terrasse Achtung. Jeder lobte sie, jeder war freundlich zu ihr, wie sie zu jedem freundlich war. Da war die hübsche kleine Trudel Merker mit den lachenden Augen und den schnurgeraden Beinen, die soviel Verehrer wie Finger an der Hand hatte, gegen die Else ein richtiges Luxusgeschöpf, trotzdem sie nur Verkäuferin in einem Papierwarengeschäft war. Aber sie trug kunstvolle Schuhe, seidene Kleider, hauchdünne Strümpfe und den Hut immer nach der neuesten Mode. Heimlich half sie der Wirkung ihrer schöngeschwungenen, schmalen Augenbrauen durch einen dunklen Stift und wenn der nicht zur Hand war. durch ein angekohltes Streichholz nach. Ihrer Mutter half sie im Haushalt nie; sie manikürte dauernd ihre Hände oder kämmte und zupfte vor dem Spiegel das Haar.
Else dagegen war plump und unschön. Die Arbeiterfrauen der Terrasse aber betrachteten Trudel als nicht zu ihnen gehörig. Die Else dagegen war so ganz ihresgleichen. Ein ewig gequälter, ewig tief in Arbeit steckender Mensch; eine Arbeiterin wie sie alle. Dennoch war vielen Frauen unfassbar, was sich herumsprach — nämlich, dass sie Kommunistin geworden sei. Nun, es gab Kommunisten unter den Männern in der Terrasse und auch die Frauen dieser Männer nannten sich so, aber dass die Else, ein noch junges, lediges Mädel, sich offen als Kommunistin bekannte, war doch etwas Außergewöhnliches. Es gab wenige Frauen, die still schmunzelten, die meisten unterhielten sich erstaunt am Terrasseneingang über das neue Ereignis.
„Das macht die Erwerbslosigkeit!" sagte die eine.
„Ja, es ist der Hunger, der Kommunisten erzeugt!"
„Dabei weiß sie, so wenig wie die meisten anderen, was Kommunismus eigentlich heißt!" warf giftig die Frau des Malers Markquard, der Sozialdemokrat war, ein.
„Aber, wie ist sie bloß daraufgekommen?"
„Ja, wie ist sie bloß daraufgekommen!?" wiederholten die Frauen. -----------
Währenddessen stand Else in ihrer Küche, von Wasserdampf eingehüllt, an der Waschbalge und wusch.
Wenn es zu dunkeln begann, versammelten sich oft etliche Einwohner der Hinter- und Vorderhäuser vor dem Eingang der Rosenhof-Terrasse. Besonders der junge, der hochaufgeschossene Walter Heuberger, der in einer Weinküferei in der Lehre war, der große, stämmige Schauermann Karl Pohl und Erwin Müller, der als Steinmetz arbeitete und, von allen beneidet, viel Geld verdiente, waren fast regelmäßig vor dem Terrasseneingang zu finden. Dazu gesellte sich mal dieser oder jener, wohl auch mal ein junges Mädel, wie die Lina Boldt oder die Else Langfeld. Es wurde eine harmlose Hinterhauskonversation getrieben; die Ereignisse des Tages oder der Arbeit wurden besprochen und die besonderen Neuigkeiten und Ansichten der Einzelnen ausgetauscht. Die Dirt Track und das neue Ardie-Modell, ein interessanter Film, die letzten Fußballspiele und Boxerereignisse waren das Gesprächsthema. Es kam auch vor, dass über, die Weiber geredet und Witze gerissen wurden. Am seltensten aber gingen die Unterhaltungen ins Politische über. Politisiert wurde eigentlich nur, wenn ein direkter Anlass vorlag. Von all den Anwesenden, die sich hier versammelten, war kaum einer politisch organisiert. Politik war für sie ein undurchdringliches Dschungel, in dem es obendrein auch noch verflucht uninteressant war. Wurde aber einer von ihnen irgendwie zu einer Stellungnahme herausgefordert, dann zeigte er einen geraden Richtungsinstinkt, dann wurde sogar Erwin Müller, der, nach seinen Worten, mit dem Reichsbanner sympathisierte, von den anderen seiner verschwommenen Haltung wegen angegriffen. Auf Grund solcher Äußerungen wurden sie dann prompt Kommunisten genannt, obgleich die meisten nichts als etwas Klassenbewusstsein zeigten.
An diesem Abend aber kam es zu einem politischen Zwischenfall.
Der Sohn des Grünwarenhändlers Kafka, der an der Ecke der Rosenhofstraße und der Querreihe wohnte, kam im braunen Hemd, mit dem Sturmriemen unter dem Kinn und der roten Armbinde mit dem schwarzen Hakenkreuz auf weißem Feld am Arm, aus dem Geschäft seiner Eltern und ging die Rosenhofstraße hinunter. Mit militärisch forschem Schritt wollte er an der Terrasse vorübergehn, als plötzlich, allen unerwartet, Karl Pohl ihm zurief:
„He, Kafka!"
Mit einem „Guten Abend" blieb dieser auf der Stelle stehen. Der junge Schauermann war gegen diesen wohl großen, aber mageren Menschen eine wahre Athletenfigur, hatte breite, wagerechte Schultern und ein Paar tellergroße Hände. Trotzdem aber war er als einer der gutmütigsten Burschen und als wenig streitsüchtig in der ganzen Umgebung bekannt. Um so mehr erstaunten jetzt seine Kollegen, als er den Nazi anrief:
„Wir waren Schulkameraden, Kafka! Wir konnten uns auf der Schulbank ganz gut verstehen! Wenn du aber noch einmal in diesem Kostüm hier vorübergehst, schlage ich dich grün und blau!"
„Das soll wohl eine politische Argumentation sein, Karl!" erwiderte etwas verstört, aber doch spöttisch der Nazi, und auf seinen milchigen Teint legte sich eine tiefe Röte, die von seinen semmelblonden Haaren grell abstach. „Dann muss ich schon sagen, ist sie wenig überzeugend!" setzte er noch hinzu.
„Wir sind fast jeden Abend hier zu finden. Wir können uns aussprechen. Aber diese Feme- und Arbeitermorduniform lass zu Hause, sonst gibt's Keile!"
„Morgen abend bin ich hier!" Mit diesen Worten ging der kreidebleich gewordene Kafka mit betont festen Schritten weiter. —
„Mensch. Karl bist Du verrückt?"
„Wieso?"
„Dass Du den zum Krüppel schlagen kannst, ist nicht zu bezweifeln, aber politisch wickelt der nicht nur Dich, sondern uns alle um den Finger!"
„Abwarten!" antwortete stoisch der Schauermann und kaute an «einem Zigarettenstummel.
„Du bist doch sonst nicht so?" begann jetzt auch der Erwin. „Mit roher Gewalt bringst Du doch keinen von seiner Ansicht ab."
„Darum kommt er ja morgen. Das weitere wird sich finden!"
„Karl!" lachte der Steinmetz, „Du weißt ja gar nicht, was die Hakenkreuzler sind!"
„Doch!" Das kam ruhig und bestimmt.
„Na?" riefen die beiden wie aus einem Munde.
„Landsknechte der Kapitalisten!"
„Kannst Du das beweisen?"
„Natürlich!"
„Aber was bist denn Du eigentlich?" fragte Walter Heuberger.
„Prolet, wie Du und Erwin!"
„Ich meine, Partei?"
„Weiß ich noch nicht!"
„Und dann willst Du Dich mit dem Kafka anlegen?"
„Das hat doch mit einer Partei nichts zu tun!" schrie jetzt Karl Pohl wütend. Dann drehte er sich um. Die änderen merkten, dass er das Thema abbrechen wollte und schwiegen.
„Morgen sind wir vollzählig hier!" grinste nach einer Weile Erwin.
Karl Pohl zündete sich eine Zigarette an.
An diesem Abend wollte kein Gespräch mehr so richtig in Gang kommen, Walter Heuberger pries wieder einmal die Vorzüge der neuen Ardie-Motorräder.
„Fabelhaft sind die Düsen gelagert Es kann kein Dreck mehr reinkommen Auch die automatische Schmiervorrichtung ist eine neue Erfindung und funktioniert tadellos!"
Er redete sich in Eifer, aber niemand hörte so richtig hin. Es interessierte heute auch nicht, dass der Rennfahrer Drews auf der Dirt Track den Bahnrekord um 1,2 Sekunden verbessert und der HSV. sich wieder einmal in einem Spiel gegen eine zweitklassige Mannschaft bis auf die Knochen blamiert hatte. Erwin Müller und Karl Pohl waren immer sprungweise mit ihren Gedanken woanders.
Pohl dachte an morgen abend. Er wusste genau, dass die Kameraden recht hatten. Politisch war er entsetzlich unwissend. Warum eigentlich? Er wusste doch sonst so manches. Auch interessierte ihn die Politik. Er ging in Versammlungen und zu Demonstrationen, las die Zeitungen und zwar alle, die ihm in die Finger kamen. Trotzdem fehlten die verbindenden Gedanken und, — und das war das Schlimmste, --- er fühlte alles mehr, als dass er es begriff und wiedergeben konnte. Dies Bleichgesicht von Kafka fühlte sich ihm hoch überlegen und tat darum so selbstbewusst.
Der kommt morgen bestimmt, sagte sich in Gedanken Pohl, und er würde reden wie ein Versammlungsredner, denn ihm fiel plötzlich ein, dass Kafka schon in der Schule erstaunlich schwungvolle Reden gehalten hatte. Und den hatte er zu einer politischen Debatte herausgefordert. Pohl sah schon die höhnischen Gesichter seiner Kollegen. Eine Blutweile schoss dem jungen Schauermann in den Kopf Er drehte sich um, damit es keiner merke.
Der Lackierer Fritt kam aus der Terrasse herausgeschlendert und gesellte sich zu den Dreien. In demselben Augenblick kam auch ein kleiner, untersetzter Mensch die Straße daher. Karl Pohl zuckte zusammen, als er ihn gewahrte. Das war ja der Jungkommunist, mit dem Else Langfeld jetzt verkehrte und durch den sie in die Kommunistische Partei eingetreten war.
Als dieser mit einem „Guten Abend" in die Terrasse einbiegen wollte, hielt Pohl ihn zurück.
Sie sprachen leise miteinander, und so sehr sich der junge Heuberger und Erwin Müller auch anstrengten, sie verstanden kein Wort. Plötzlich rief der Jungkommunist:
„Aber natürlich! Sehr gerne!"
Sie schüttelten sich die Hände wie Freunde.
Als die beiden Karl Pohl fragend ansahen, lächelte er nur und schob sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen.
„Da traut sich ja kein Hund hinterm Ofen vor!" brummte der Wirt Hermann Kahl und bereitete den Rumgrog, den sein einziger Gast bestellt hatte. „Das wird wohl heute mit eurer Sitzung nichts werden!" fügte er laut hinzu.
Der Angeredete stand am Fenster und sah hinaus. Es goss in Strömen. Die Regenmassen klatschten auf die Steine und bildeten im Rinnstein gurgelnde Wasserlachen. Die Rosenhofstraße war menschenleer. Plötzlich lachte der Gast auf. Auf der anderen Straßenseite stampfte gemütlich ein Mann mit hochgeschlagenem Kragen dahin. Das Wasser troff ihm von der Kleidung. Hin und wieder neigte er den Kopf etwas vor, um den Regen, der sich in seinem Hutrand gesammelt hatte, ablaufen zu lassen.
„Olfers, lass deinen Grog nicht kalt werden!" rief der Wirt.
Der trat nun an die Theke und sah auf seine Taschenuhr. „Schon 10 Minuten drüber!"
„Das wird heute nichts!" wiederholte der Wirt und kraulte sich wie in Gedanken den Kopf. Da wurde die Tür aufgerissen und zwei Frauen stürzten prustend herein.
„Ooooh! — Puuuh!" schüttelten sie sich. „So ein Sauwetter!" Sie klappten den Schirm zusammen. „Guten Abend!" grüßten sie dann Olfers und den Wirt.
„Schon nach acht!" erwiderte Olfers auf den Gruß.
„Eine viertel Stunde warteten wir, in der Hoffnung, dass der Regen nachlassen würde!" entschuldigte sich die eine.
„Dabei sind wir die Ersten!" stellte die andere fest.
Der Wirt goss unaufgefordert dampfendes Wasser in zwei Groggläser.
„Mir einen Eisbrecher!" rief die eine Frau. Sie war klein, zappelig und redete ununterbrochen weiter.
Olfers stand wieder am Fenster. Der Wirt sprach mit den Frauen. Sie lachten. Draußen goss es unvermindert stark. Trotzdem kamen noch einige. Die Tabakarbeiterin Ehlers, der Handelsreisende Schmidt, der Buchbinder Kernatzki, Else Langfeld und ihr Freund, der Jungkommunist. Sogar der alte Wolters, der nicht mehr ohne Stock gehen konnte und dem krankhaft die Augen tränten, kam bei diesem Unwetter.
Olfers lächelte,
„Einen steifen Rumgrog für den alten Wolters, Hermann!" rief er dem Wirt zu. „Ich spendier' ihn!"
Dann begrüßte er den Alten, der sich umständlich den Regen aus dem Gesicht wischte.
Kurz darauf begaben sich alle in ein kleines Klubzimmer, in dem der Wirt gut eingeheizt hatte. Man sah, wie Olfers sich freute. Alle rückten an den Ofen heran und hängten die nassen Kleider und Hüte so, dass sie trocknen konnten.
„Nun ist es glücklich halb neun geworden!"
Olfers hatte sich als Leiter der kleinen Versammlung den Anwesenden gegenüber gesetzt.
„Gib dem Wetter schuld!" rief die kleine Zappelige.
„Also, hört nun her!" und Olfers begann einleitend über die letzten Arbeiten der Straßenzelle zu berichten.
„Sämtliche Mitglieder sind mit ihrer Arbeit in letzter Zeit verdammt lasch gewesen. Wenngleich ich die heutige Versammlung nicht als ein ausgesprochenes Zeichen der allgemeinen Inaktivität hinstellen will, es sind allerdings nicht einmal die Hälfte der Mitglieder anwesend, so spielen hier wohl noch andere Faktoren mit!"
Der Regen klatschte eintönig gegen die Fenster.
Olfers sprach von der sich täglich verschärfenden Wirtschaftskrise, der täglich steigenden Erwerbslosigkeit und den damit verbundenen wirtschaftlichen und politischen Kämpfen der Arbeiterschaft. Er sprach nicht fließend, sondern abgehackt, mühsam, aber er rüttelte auf, trieb an, sprach von den Aufgaben eines jeden einzelnen Kommunisten.
Und lautlos wurde ihm zugehört. Olfers hatte das restlose Vertrauen der Anwesenden. Er war nicht nur seit Bestehen der Partei Mitglied, er war auch während der ganzen Jahre aktiv gewesen, scheute sich vor keiner Kleinarbeit und war auf jeder Versammlung und jeder Demonstration der Partei zu treffen. Olfers durfte die Lauen und Faulen in der Zelle peitschen, ihm konnte keiner den Vorwurf der Trägheit machen. Dabei war er übertrieben bescheiden. Wenn er seine Arbeit für die Partei geleistet hatte, verschwand er wieder hinter den übrigen Genossen. Er gehörte nicht zu denen, die redeten, nur um zu zeigen, was sie können und sich dabei breitspurig in den Vordergrund rücken. Selbst wenn er in diesem kleinen Kreise als politischer Leiter der Straßenzelle sprach, konnte man oft das Gefühl haben, als käme er sich selbst dabei etwas zu vorlaut vor. Olfers war Schneider, aber da er in der Werkstatt, wo er arbeitete, der einzige Kommunist war, wurde er von der Parteileitung der Straßenzelle seines Wohnbezirks zugeteilt.
„Genossen und Genossinnen, ich habe Euch die Anweisungen der Bezirksleitung vorgelesen", fuhr Olfers fort. „Ungeheuer viel Arbeit liegt vor uns. Fast zu viel für unsere Kräfte. Aber das darf kein Grund sein, um alles liegen zu lassen!"
Else Langfeld saß mit ihrem Fritz etwas abseits, aber beide hörten Olfers Ausführungen aufmerksam an. Für Else war dies alles so seltsam neu. Vieles von dem, was gesagt wurde, verstand sie überhaupt nicht, aber das ungezierte, natürliche Benehmen dieser Menschen untereinander gefiel ihr. Sie musste an die Klempnerfrau in der Terrasse und an die Heuberger denken, die bei jeder Gelegenheit über die Kommunisten herfielen und sie durch den Dreck zogen. So sahen also organisierte Kommunisten aus. Aber besonders der Olfers gefiel ihr. Er hatte ein festes, hartes Gesicht; doch seine Augen waren fröhlich und klug.
Olfers fummelte unterdessen beim Weiterreden etwas nervös an einigen Bogen Papier, die vor ihm lagen, herum. —
„Als wichtigste Aufgabe steht also die Herausgabe einer Häuserblockzeitung vor uns. Ihr wisst, dass in zahlreichen Wohnbezirken solche Häuserblockzeitungen bereits existieren. Die Parteileitung verlangt nun, dass wir ebenfalls, und zwar so schnell wie möglich, eine herausbringen!"
„Wie sollen wir denn die herstellen?" rief eine der Frauen.
„Im Stadtteilbüro steht ein Hektograf, mit dem wird sie hergestellt!" erwiderte Olfers, „und zwar müssen hierzu Genossen bestimmt werden!"
„Und wer soll sie schreiben?"
„Wir selbst, Genossen!" lachte Olfers.
„Uuuuh!" und „Ooohaa!" riefen alle durcheinander.
„Ihr habt gelesen, Genossen, dass in der Jacobus-Terrasse eine Arbeiterfamilie seit Jahr und Tag in einer Notwohnung unterm Hausdach haust, dass dort bei Regenwetter das Wasser durch die Decke tropft und die Bewohner mit Regenschirmen ins Bett gehen müssen. Bei dem heutigen Wetter wird gewiss die ganze Wohnung überschwemmt sein. Zwei kleine Kinder sind da; eins hat schon Tuberkulose, aber nichts geschieht, um dieser Arbeiterfamilie eine gesunde Wohnung nachzuweisen. Kein Wohnungsamt, keine Gesundheitspolizei, kein Hauswirt kümmert sich darum. So etwas muss in die Häuserblockzeitung. Dass die Ascheimer in den Terrasseneingängen die ganze Umgebung verpesten, muss in die Häuserblockzeitung. Der unhaltbare Zustand einiger Terrassenfliesen, in denen tiefe Löcher sind und wodurch sich erst kürzlich spät abends ein Arbeitsmann den Fuß verletzte, muss in die Häuserblockzeitung. Mangelnde oder gar nicht vorhandene Treppenhausbeleuchtung, alle Missstände, alle Schikanen der Hausbesitzer und ihrer Vizenvögte müssen in die Häuserblockzeitung. Dazu dann die wichtigsten politischen Ereignisse; und da müssen wir uns natürlich besonders an die Arbeiterfrauen, die Erwerbslosen und die Heimarbeiter wenden und alles geschickt und interessant aufmachen, damit es jeder liest!"
„Und wer soll das alles geschickt und interessant machen?" fragte etwas höhnisch die kleine, zappelige Arbeiterfrau.
„Das werden zwei oder drei Genossen oder. Genossinnen sein", erwiderte unbeirrt Olfers, „und die müssen wir jetzt bestimmen!"
Alle schwiegen.
„Die Genossin Schenk!" rief der wortkarge Handelsreisende.
„Huuch!" rief die erschreckt. „Ich? — Nein!"
„Genossin Schenk!" notierte sich seelenruhig Olfers.
„Noch weitere Vorschläge?"
„Genosse Kernatzki!"
„Nein!" rief laut der Buchbinder, als wäre er gefragt.
„Kernatzki!" notierte Olfers. „Und?" rief er.
„Genossin Langfeld!" rief Fritz,
Else fuhr erschreckt zusammen und stieß Fritz etwas ärgerlich an.
„Genossin Langfeld ist noch eine sehr junge Genossin?" meinte Olfers.
,„Ich helf ihr!" rief der Jungkommunist.
„Also Genossin Langfeld!" notierte Olfers.
Die redete leise protestierend auf Fritz ein, aber er rückte lächelnd näher an sie heran und suchte sie ebenso leise zu beruhigen.
„Das wäre unsere Redaktion der neuen Häuserblockzeitungl" stellte Olfers trocken fest. „Die Genossinnen Schenk und Langfeld und der Genosse Kernatzki!"
„Ich nicht!" rief der Buchbinder ganz erschreckt.
„Genosse!" beschwichtigte Olfers, „das ist alles nicht so schlimm. Ich helfe Euch die erste Zeit und der Genosse Burmester auch!"
Er blickte zu Fritz.
„Aber ich kann doch nicht alles allein machen!"
Eine Unruhe entstand. Alle redeten jetzt durcheinander. Die, die nicht vorgeschlagen waren, redeten den Vorgeschlagenen Mut zu. Der alte Wolters machte witzige Bemerkungen.
„Kommenden Freitag in acht Tagen muss die erste Nummer erscheinen!" rief noch Olfers, „Die gewählten Redaktionsmitglieder bekommen noch eine Einladung zu einer besonderen Zusammenkunft." Dann schloss er die Straßenzellenversammlung. —
Der Regen hatte inzwischen etwas nachgelassen, aber der Wind war stärker geworden. Es heulte draußen und rumorte im Kamin der Gaststube. Die Frauen stürzten mit Gekreisch auf die stürmische Straße. Der alte Wolters erwärmte sich noch an einem heißen Grog Mit gedämpften Worten und lebhaften Gesten machte Else Langfeld immer noch ihrem Fritz Vorwürfe. Sie sei noch gar keine Kommunistin, — sie habe keine Ahnung von all' den Fragen, — sie werde nur sich und ihn mit blamieren, — sie hasse überhaupt die Politik. —
Fritz lachte.
Else weinte nahezu vor Wut. —
Mit Olfers, der im Vorderhause neben der Rosenhof-Terrasse wohnte, liefen sie, ihren Hut krampfhaft mit der Hand festhaltend, gegen den Sturm die Rosenhofstraße hinauf.
Als Else Langfeld, noch ganz verwirrt von dem Beschluss in der Versammlung, und ihrem Fritz grollend, in der Dunkelheit die ersten steilen Stufen zu ihrer Wohnung hinauftastete, sagte plötzlich jemand aus dem Dunkel: „Erschrick nicht, — ich bin es. Ich habe auf Dich gewartet!"
„Wer, — ich?" Else hatte sich doch heftig erschrocken und zitterte.
„Else, ich bin es. Trudell" -
„Was willst Du hier? Es ist bald zwölf Uhr!"
„Ich habe auf Dich gewartet!"
„Auf mich?" entfuhr es Else ungläubig. Was mag nur vorgefallen sein, dachte sie im nächsten Augenblick.
„Hast Du einen Moment Zeit für mich?" fragte die sonst so hochnäsige Trudel flehend.
„Komm mit zu mir!" antwortete Else und stieg an der auf der Treppe Sitzenden vorbei nach oben. —
In der Küche saßen sich dann die beiden Mädel gegenüber. Aus dem Nebenraum drang das Schnarchen des alten Langfeld. Draußen heulte der Sturm und peitschte wieder den Regen gegen die Scheiben.
„Also, was hast Du?" drängte Eise.
„Ich war — unvorsichtig. Jetzt will mir keiner helfen. Und ich weiß nicht, was ich machen soll!"
Langsam begriff Else. Sie dachte sofort an Fritz und erschrak wieder.
„Und was soll ich dabei tun?" fragte sie etwas frostig. Sie konnte sich nicht konzentrieren, die Müdigkeit und ihre eigenen Gedanken quälten sie.
„Mir helfen, Else!"
„Ich? — Was sagt denn Dein Freund?"
„Ich... ich habe keinen Freund!"
Beide schwiegen.
Else sah ratlos im Zimmer umher.
„Ich war schon bei Kummerfeld!" begann Trudel wieder,
„Wieso?" fragte Else verwundert.
„Ich dachte, sie könnte mir helfen!"
„Du bist wohl verrückt! — Sei um Gotteswillen vorsichtig! Was sagte er denn?"
„Ich war bei der Frau, natürlich! Das sind doch Sozialdemokraten!"
„Ja!" sagte Else gedankenlos.
„Die sind ja feige. Ängstlich war sie, einfach ängstlich. Das ist gegen das Gesetz, erklärte sie mir und darauf steht Zuchthaus, setzte sie hinzu. Es sei zwar schrecklich, aber sie könne mir nicht helfen und zu nichts raten., Die haben nur Angst!"
„Und was nun?"
„Ich will kein Kind!" schrie sie leise auf. „Was soll ich mit einem Kind?!"
„Sei ruhig! — Damit der Alte nicht aufwacht!"
Trudel schluchzte wieder. Else wurde selbst ganz verzweifelt.
„Lass mich nachdenken!" sagte sie.
Sie dachte an Gespräche in der Schneiderwerkstatt im Warenhaus. Dort war oft über dergleichen geredet worden. Aber was konnte es jetzt nützen. Und man musste doch helfen! Ihre Gedanken liefen bald hierhin, bald dorthin. Da dachte sie an Olfers. — — Olfers! Ja, der musste helfen können. Sie war ganz begeistert von diesem Gedanken. Am liebsten hätte sie diesen Namen laut hinausgeschrieen.
„Also ich werde versuchen, Dir zu helfen, Trudel!" wandte sie sich, erfüllt von dem Gedanken an Olfers, an diese. „Durch meine Parteifreunde!" setzte sie mit merkwürdigem Stolz hinzu. „Aber Du musst mir folgendes versprechen: Keinem Menschen ein Wort von deinem Zustand und unserer jetzigen Unterhaltung sagen!"
„Natürlich!"
„Und", fuhr Else fort, „so tun, als wäre nichts passiert. Lache und gehe aus, wie früher. Es darf keiner auch nur etwas ahnen!" —
„Geh' vorsichtig!" flüsterte Else, als sie mit der Petroleumlampe leuchtete und Trudel Merker leise die Stufen hinunterging.
Dann blieb sie am Küchenfenster stehen und sah einen Augenblick den jagenden Wolken nach. Kaum hörbar klappte die Haustür. Jetzt huschte die Andere über den Hof in das gegenüberliegende Haus.
Noch unter der Bettdecke, auf der Chaiselongue, irrten Eise's Gedanken von einer Frage zur anderen. Sie konnte keinen Schlaf finden. Wenn es mir nun selbst mal so geht, dachte sie. Kinder haben wäre so herrlich, aber bei diesem Elend? Keine Arbeit! Und Fritz? Auch der verdiente ja fast nichts und war häufig erwerbslos. Nein, man konnte sich den Luxus, Kinder zu bekommen, wirklich nicht erlauben. Ja, wenn sie feste Arbeit hätte und einigermaßen verdienen würde, wie gerne hätte sie dann sofort — ja — gesagt.
Unruhig, voll fragender, quälender Gedanken, warf sie sich' schlaflos auf ihrem Lager hin und her.
Draußen tobte noch immer der Sturmwind.
Dass der Schauermann Karl Pohl den Nazi Kafka zu einer politischen Aussprache herausgefordert hatte, sprach sich schnell in der Terrasse herum. Einige Arbeiter lachten, andere meinten: „De sünd ja noch nich mol dreug achter de Ohren!" Der Tischler Höhlein brauste sogar auf und schrie: „Dies Gesindel darf man überhaupt nicht politisch ernst nehmen!" Walter Heuberger, zu dem er dies sagte, wunderte sich, denn er wusste, dass der Tischler Sozialdemokrat war, und die waren doch sonst ganz friedfertig. Aber er sagte nichts. Einige Weiber jammerten schon im voraus: „Ach, die werden sich wieder schlagen, das kennt man ja!" Die Brothändlerin aber setzte allem die Krone auf. „Dass so etwas erlaubt wird!" sagte sie. „Man müsste die Polizei holen!"
Es war also nicht verwunderlich, dass am kommenden Abend ein gutes Dutzend Arbeiter vor dem Terrasseneingang stand und der Dinge harrte, die da kommen sollten. Es war kurz nach acht Uhr. Witze wurden gerissen, „Wo sind denn die beiden Kampfhähne?" rief einer und alle lachten. —-
Der junge Schauermann wurde mit Hallo empfangen und weidlich gehänselt. Einige erteilten ihm unter Gelächter der Übrigen noch Ratschläge und Verhaltungsmaßregeln. Karl Pohl erwiderte kein Wort und lachte mit den Lachern. Als Fritz kam, besprach er flüsternd etwas mit ihm.
„Ob der Kafka allein kommt, oder ob er sich Schutz mitbringt?'1 fragte lachend Erwin Müller.
„Der kommt allein!" meinte der Dreher Weidemann, „feige sind diese Burschen eigentlich nicht!"
„Auch weiß er, dass ihm heute bestimmt nichts passiert!" warf Walter Heuberger ein.
„Da kommt er!" rief einer.
Alle blickten in die Richtung der Gemüsehandlung Kafka. Zwei jüngere Männer kamen auf die Terrasse zu. Der eine war Kafka. Er ging fest und doch nicht gezwungen. Karl Pohl wurde einen Augenblick nervös. Er wusste nicht recht, wohin mit den Händen. Fritz Burmester aber lächelte. Das beruhigte Pohl. Keiner sagte ein Wort, als die beiden ankamen.
„Guten Abend!" grüßte Kafka als erster.
Ein Massengemurmel war die Antwort. Der Tischler Höhlein, der seine Neugierde doch nicht unterdrücken konnte, sah die beiden Nazis giftig an.
„Ich habe noch einen Gesinnungsfreund mitgebracht!" begann unbekümmert Kafka. „Der wird mich hin und wieder unterstützen!"
„Das trifft sich ausgezeichnet!" antwortete der Schauermann. „Auch ich habe einen Gesinnungsfreund zur Unterstützung hier!"
Er zeigte auf Fritz, nickte und lachte.
„Wie soll nun die Geschichte vor sich gehen?" fragte gezwungen lustig Kafka.
„Ich denke, wir wählen einen Unparteiischen, der die Diskussion führt, und jeder von uns bekommt 10 Minuten Redezeit zur Darlegung seiner Gedanken!" meinte Pohl.
Die Arbeiter sahen ihn erstaunt an. Sie wunderten sich über seine Sicherheit.
„Gibt es unter uns einen Unparteiischen?" fragte zweifelnd Kafka, „und 10 Minuten sind reichlich wenig. Sagen wir: jeder eine Viertelstunde!"
Pohl nickte zustimmend.
„Ich bin zwar nicht unparteiisch", trat zum Erstaunen Heubergers Höhlein vor, „aber wenn Ihr einverstanden seid, will ich die Diskussion leiten. Nur verlange ich, dass man mir aufs Wort hört!"
„Einverstanden!" antwortete Kafka.
„Gut!" sagte Pohl.
Interessiert rückten die Arbeiter näher. Auch die Brothändlerin trat aus ihrem Laden heraus und sah neugierig zu der Gruppe Männer. Aber sie verschwand sofort wieder.
„Arthur Kafka beginnt!" bestimmte Höhlein.
Der überlegte einen Augenblick. Alle schwiegen erwartungsvoll.
„Ich brauche wohl nicht erst zu betonen", begann er dann, „dass ich frei und ungeniert meine Meinung sagen werde. Persönlich darf sich keiner getroffen fühlen!"
Er fing damit an, die Entstehung der nationalsozialistischen Bewegung zu schildern, die, nach seiner Meinung, schon vor dem Kriege, wenn auch in verschiedenartigster Gestalt, besonders aber in den aktiven nationalen Jugendverbänden bestanden habe. Überhaupt stecke in der ganzen bürgerlichen Jugendbewegung etwas von dieser Idee, behauptete er, und darüber hinaus unter den jungen Opponenten aus allen Parteilagern. — Dann schilderte er den Weltkrieg. Es war ein Verbrechen, sagte er, aber ein Verbrechen, weil er nach seiner Meinung ungenügend vorbereitet und durch unfähige Diplomatie in den Vorkriegsjahren zur Niederlage für Deutschland führen musste. Er schilderte die Revolution 1918. Sie brachte keine Erneuerung der nationalen Kräfte, sondern wurde zur Grundlage unbeschränkter Ausbeuterherrschaft des jüdischen Finanzkapitals und karrieresüchtiger, korrupter Parteibonzen. Ungeheuer vergrößere sich auf der einen Seite das menschliche Elend, und auf der anderen Seite stiege bei den jüdischen Finanzgewaltigen der Reichtum ins Märchenhafte. Der Mittelstand würde durch dieses Trust- und Finanzkapital vernichtet und das Proletariat auf das Niveau chinesischer Kulis gedrückt. — Dann sprach er über den Versailler Diktatfrieden und die nachfolgenden Ergänzungsverträge von Dawes und Owen Young. Alles das war nach seinen Worten der „Erfolg" der Revolution 1918. Eine Auslieferung des deutschen Volkes an das jüdische Weltkapital.
„12 Minuten!" unterbrach ihn der Tischler, die Uhr in der Hand.
„Unser eigenes Elend und das unserer Volksgenossen", fuhr Kafka fort, „sowie unsere Unfreiheit und die ganze Ausweglosigkeit dieser Republik muss jedem einsichtigen Menschen sagen, dass der Geist von 1918, der Geist des Marxismus, Schiffbruch erlitten hat. So darf es nicht weitergehen, so kann es nicht weitergehen, denn das heißt Untergang, so sagt der Nationalsozialismus. Wir wollen das Bank- und Börsenkapital sozialisieren, das erraffte Kapital enteignen, die schöpferischen Kräfte innerhalb der Arbeiterschaft fördern und trotz aller Klassenunterschiede eine einige, verbundene deutsche Volksgemeinschaft verwirklichen. Mit einem Wort: Sozialismus, aber nicht in der bankrotten Art des Marxismus, wie er seit 1918 in Deutschland und in noch unverhüllterer Form in Russland herrscht, sondern Sozialismus auf nationaler Grundlage, nicht in gegenseitiger Vernichtung der nationalen Volkskräfte, sondern in Verschmelzung aller Gegensätze auf nationaler Grundlage."
Als der Nazi seine Ausführungen beendet hatte, entstand eine Bewegung unter den Männern. Aufmerksam hatten alle zugehört. Einige räusperten und schnauften sich jetzt, aber keiner sagte ein Wort.
„Denn man los, Korl!" rief einer.
Der stand unruhig an der Wand.
„Karl Pohl hat jetzt das Wort!" erklärte Höhlein.
„Ich will nicht auf die geschichtlichen Angaben Kafkas eingehen", begann der Schauermann, „das wird vielleicht noch der organisierte Kollege, den ich vorhin genannt habe, nachholen. Fürs erste will ich erklären, dass ich politisch unorganisiert bin. Und nun will ich die Widersprüche festnageln, die mein Vorredner gemacht hat!"
Dem Schauermann trat Schweiß auf die Stirne. Noch nie hatte er in seinem Leben vor ähnlicher Aufgabe gestanden. Ihm war, als müsste er sich die Worte einzeln aus dem Munde ziehen. Aber er durfte sich vor seinen Kollegen und den Nazis keine Blöße geben. In etwas schwerfälliger Sprache versuchte er darzulegen, dass der Weltkrieg doch nur durch die Profitsucht der Reichen überhaupt und nicht nur der reichen Juden, entstanden sei, dass die Arbeiter der ganzen Welt aber einen solchen Krieg verabscheuen und bekämpfen. Doch auch die Republik sei nicht nach dem Willen der Arbeiterschaft gestaltet worden, erklärte der Schauermann. Die Verbrecher des letzten Krieges seien doch auch die leitenden Militär- und Staatsmänner der Republik. Den Verrat der Sozialdemokratie am Sozialismus als eine Bankrotterklärung des Marxismus zu stempeln, sei doch eine zu durchsichtige und zu plumpe Demagogie.
Die umstehenden Arbeiter betrachteten ganz verblüfft den Schauermann. Der konnte ja reden. Und immer freier ging es dem vom Munde, je länger er sprach.
„Kafka sagt, nach 1918 herrsche das Finanzkapital noch schrankenloser als früher und unterdrücke noch skrupelloser die arbeitenden Massen. Das stimmt", erklärte immer sicherer werdend der Arbeiter, „aber nur jüdisches Kapital?"
„Unsere Ausbeuter sind durch die Bank brave Christen!" rief einer dazwischen.
„Weiter behauptet Kafka, die Konzerne vernichten den Mittel-« stand. Stimmt! Aber sind diese Trustgewaltigen nur Juden?"
„Karstadt! Tietz!" rief der Nazi.
„Und Hugenberg?' antwortete der Schauermann. „Hat Hugenberg durch seinen Zeitungstrust nicht unzählige kleine Existenzen vernichtet, hat er nicht durch seinen Filmkonzern hunderte kleiner Kinobesitzer ruiniert?"
Alle sahen triumphierend die beiden Nazis an«
„Die nationale Volksgemeinschaft, von der Kafka hier redete, ist nichts, als eine neue Auflage des Volksgemeinschaftsbetrugs der Sozialdemokraten. Zwischen Arm und Reich, zwischen Bürger und Arbeiter, d. h. zwischen denen, die andere ausbeuten und denen, die ausgebeutet werden, gibt es keine Volksgemeinschaft!"
„14 Minuten!" rief der Tischler.
„Die Nationalsozialisten nennen sich Arbeiterpartei, aber sie sind hauptsächlich gekaufte Kreaturen zum Schutze des bürgerlichen Eigentums und zur Aufrechterhaltung der Ordnung, die uns unterdrückt und ausbeutet!" rief der Schauermann. „Alle Redensarten von Sozialismus und Volksgemeinschaft im Munde eines Hakenkreuzlers sind Lüge und Betrug. Und dafür werden sie auch von den Industriellen bezahlt!"
Der Schauermann hatte sich heiß geredet. Verschiedene Arbeiter riefen in ehrlichem Erstaunen und spontaner Begeisterung „Bravo!" Fritz gab dem Schauermann einen freundschaftlich lobenden Stoß in den Rücken. Kafka grinste, halb verlegen, halb verächtlich.
„Und nun?" fragte der Tischler.
„Bekommt jede Partei zur Erwiderung noch einmal das Wort!" ergänzte Kafka.
„In Ordnung!" bestätigte der Schauermann .
„Also fangen Sie an!" wandte sich der Tischler an Kafka.
Für diesen aber trat nun sein Begleiter einen halben Schritt näher.
„Hellmuth Fischer, Student!" stellte er sich vor.
Keiner antwortete. Voller Misstrauen betrachteten ihn die Arbeiter. Einige brummten etwas Unverständliches vor sich hin. Der Student Fischer begrüßte nun in überschwänglichen Worten die Idee dieser Aussprache. Nicht in roher Rauferei, sondern in sachlicher, ruhiger Aussprache müssten sich stets die einzelnen Volkskreise unseres schwergeprüften Vaterlandes näher kommen, meinte er.
Einige Arbeiter räusperten sich vernehmlich.
„Und man mag darüber denken, wie man will", der Nazi wandte sich an die Unruhigen, „die heutige Aussprache ist ein solcher Schritt auf diesem Wege!"
Er sprach schnell, fast zu schnell und verschluckte im Eifer der Rede die Endungen seiner Worte.
„Ich will Ihnen eine geschichtliche Parallele geben!" fuhr er mit Nachdruck fort. „1806/07 verlor Preußen den Krieg gegen Napoleon und war sechs Jahre zerrissen, wehrlos, rechtlos, wurde von durchmarschierenden Franzosen gebrandschatzt und war ein Bild des Jammers. Die nationale Erhebung und ihre Organisatoren, wie Lützow, Schill, Jahn, Körner, ihre ideellen Verkünder, wie Fichte und Ernst Moritz Arndt, schufen die Grundlage zum modernen Preußentum, zu deutscher Einheit und Größe. Die Leibeigenschaft der Bauern wurde aufgehoben, den Bürgern wurde das Städterecht gegeben, in allen Gesellschaftsschichten zeigte sich ein rascher Aufschwung und ein steigender Wohlstand. Die nationale Revolution befreite Preußen-Deutschland von der Fremdherrschaft des Korsen-Cäsaren und brachte allen Teilen des Volkes die Freiheit."
Ü berheblich erzählte er den Arbeitern geschichtliche Dinge, von denen er bestimmt annahm, dass sie nichts davon verstünden. Else Langfeld kam aus der Terrasse. Sie stellte sich hinter den Männern auf. Fritz war so auf seinen Gegner konzentriert, dass er sie nicht bemerkte.
„Wir haben heute, nach mehr als hundert Jahren, eine ähnliche Situation. Was uns alle ins Elend drückt, ist das Diktat von Versailles, sind die Tributlasten des Youngplanes."
„13 Minuten!"
„Ja, gleich!" erwiderte der Student. „Der Internationalismus der Arbeiter ist eine gefährliche Illusion. Wo war die internationale Solidarität der Arbeiter bei Ausbruch des Krieges? Es gibt keinen nationaleren Mensch auf der Welt, als den Engländer. Und der Franzose? Der Italiener? Können Sie mir beweisen, dass die Arbeiter dort nicht national gesonnen sind? Und der russische Bolschewik? Ist der nicht in allen entscheidenden Fragen von einer erstaunlich nationalen Hartnäckigkeit? Nur der deutsche Arbeiter nennt sich immer stolz international. Man kann das nur bedauern, wenn sich die deutschen Arbeiter immer wieder an diese internationalen Phantome klammern und trotz aller Erfahrungen immer noch glauben, ohne das Bürgertum etwas erreichen zu können. Es wird ein vollendeter Schiffbruch sein, zumal die nationalen Kräfte im Volk erstarken, nicht, um gegen die Arbeiter, sondern, um mit den Arbeitern zusammen die Freiheit in Deutschland zu erkämpfen!"
„Heil!" rief sein Freund, der Nazi Kafka. Aber die Arbeiter standen trotzigstumm. Einige grinsten. Der Steinmetz Erwin fasste sich an den Kopf und rief laut „Meschugge!", aber niemand achtete darauf.
Nach einer Welle trat Fritz Burmester auf den Studenten zu. „Entweder glauben Sie, weil Sie hier unter Arbeitern sind, können Sie frechdreist die Geschichte fälschen, oder Sie sind über die bürgerlichen Geschichtsbücher ihrer ersten Schuljahre nicht hinausgewachsen!"
„Ich verstehe Sie nicht!" unterbrach ihn entrüstet der Student
„So hören Sie zu und Sie werden mich vielleicht verstehen!" erwiderte brüsk Fritz. „Sie haben die Dreistigkeit gehabt und die so genannten Befreiungskriege 1813/15 als Vergleich zu unserer Zeit herangezogen. Vielleicht wissen Sie sehr genau, dass diese Epoche eine der schmachvollsten der deutschen Geschichte ist!"
„Das sagen Sie!" rief der Student wütend, mit Betonung des Sie.
„Hören Sie zu!" fuhr Fritz fort. „Napoleon zerschlug Preußen. Um den Widerstand gegen Frankreich organisieren zu können, brauchten die Militär- und Staatsmänner des damaligen Preußen die frischen kernigen Kräfte der werktätigen Mittelstands- und Arbeiterschichten. Da köderten sie das Volk mit Reformversprechungen, genau so, wie Ihre Partei heute. Nicht nur Aufhebung der mittelalterlichen Leibeigenschaft, nicht nur Erklärung der jammervollen Bürger- und Städterechte, sondern eine Verfassung wurde dem Volke vom Preußenkönig feierlichst versprochen, wenn — Deutschland frei sei. Eine Verfassung war vor hundert Jahren eine revolutionäre Forderung des Bürgertums. Das Volk stand auf. Napoleon wurde vernichtend geschlagen. Deutschland war frei. Doch der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. brach schnöde alle feierlich gegebenen Verfassungsversprechungen, denn kaum waren die Dynastie und die herrschende Finanzaristokratie vor Frankreich gerettet, setzte eine tolle Reaktion gegen alle fortschrittlichen Geister in Deutschland ein. Fichte, den Sie erwähnten, musste schweigen. Andere wurden aus dem Land gejagt oder eingesperrt. Das war der ,Erfolg', den das arbeitende Volk durch die nationalen Befreiungskämpfe 1813/15 errang. Sie scheinen das nicht zu wissen!"
Fritz sah den Nazi unverwandt an. Keiner der Arbeiter rührte sich. Sogar Höhlein, der Diskussionsleiter, vergaß seine Uhr. „Das zu Ihrer Geschichtsfälschung. Nun einige Worte zum Internationalismus. Im Zeitalter des Bürgertums waren die sozialen Umwälzungen national begrenzt. Das 20. Jahrhundert aber durchbrach diese Begrenzung. Heute kann kein bürgerlicher Staat mehr völlig abgeschlossen von den anderen existieren. Die moderne Wirtschaft, die heutige Technik, alles ist international. Die Riesentrusts sind international, die Rüstungsindustrie ist international. Der Profit ist eine internationale Erscheinung. Wie bürgerliche Revolutionen sich nur national vollziehen konnten, so gesetzmäßig werden sich in unserem Zeitalter proletarische Revolutionen international vollziehen."
„Siehe Russland!" rief der Student giftig.
„Die Entwicklung der proletarischen Revolutionen in der Welt geht nicht so vor sich, dass sie auf einen Glockenschlag in allen Ländern ausbricht, sondern ist ein fortschreitender Prozess von Staat zu Staat. Russland ist nach der siegreichen Revolution und der Herrschaft der Arbeiterklasse der Anfang. Der Anfang, nicht abgeschlossen in sich und erledigt. Es kommt auf den geistigen Inhalt einer Revolution an. Der Geist der russischen ist absolut international. Die Sowjetunion ist nur der Anfang eines Staatenbundes der sozialistischen Staaten der ganzen Welt. Sie sehen, Sie können uns nicht wie kleinen Kindern historische Märchen erzählen."
Der Nazi wollte etwas erwidern.
„Sie wundern sich vielleicht, dass Ihnen einfache Arbeiter diese Wahrheit ins Gesicht schleudern!" fuhr Fritz hitzig fort. „Jawohl, wir müssen in den Fabriken arbeiten und uns von unseren ,Volksgenossen' der anderen Klasse ausbeuten lassen. Wir können nicht auf Kosten unserer Väter studieren, sondern müssen uns selbst ernähren. Aber wir lernen; lernen trotzdem, damit Sie und Ihresgleichen uns nicht mehr betrügen können!"
Es war lautlos im Terrasseneingang. Der Student hatte einen knallroten Kopf.
„Sie kämpfen gegen den Marxismus und haben keine Ahnung von ihm. Sie kämpfen für die nationale Volksgemeinschaft und haben noch nie in einer Fabrik arbeiten brauchen. Sie geben vor, gegen den Versailler Diktatfrieden zu kämpfen und Ihre Minister spielen seine Eintreiber. Sie glauben, uns Arbeiter belehren zu können und sind dümmer als wir!"
„Ich bitte Sie... !" raffte sich der geprügelte Nazi auf.
„Einige Fragen zum Schluss!" rief Fritz. „Gibt es in unserer heutigen Gesellschaft zwei Klassen, eine bürgerliche und eine proletarische?"
„Natürlich!" antwortete der Nazi.
„Sind Sie nach Ihrer Auffassung nun in einer bürgerlichen oder an einer proletarischen Partei?"
Die Hitlerpartei ist eine Arbeiterpartei!"
Schallendes Gelächter der Arbeiter folgte.
„Im Bunde mit Hugenberg, dem Trustmagnaten, mit Subventionen der Großindustrie!"
„Beweisen Sie es!" schrie der Nazi.
„Ihre Mitglieder beweisen es!" brüllte Fritz zurück. „Industrielle, Prinzen, Offiziere, Junker, irregeführte Mittelständler sind Ihre Parteigänger!"
„Und Arbeiter!" warf der Nazi wichtig ein.
„Deklassierte Elemente, Landsknechtsnaturen, die sich für das Morden und Schlagen gegen ihre eigenen Klassengenossen bezahlen lassen!" antwortete Fritz prompt.
„In dieser Tonart diskutier' ich nicht weiter mit Ihnen!" rief der Nazi-Student.
„Sie glauben wohl, da Sie in der Mehrheit sind, uns beleidigen zu können!" rief jetzt auch Kafka. „Ich bedaure, hergekommen zu sein!"
Fritz lachte und erwiderte: „Das kann ich verstehen!"
Die beiden Nazis machten Anstalten, fortzugehen.
„Halt!" brüllte da Karl Pohl.
Die beiden standen wie angewurzelt.
„Es bleibt also dabei, was ich Dir, Kafka, gesagt habe. Lässt Du Dich noch einmal in Deiner Arbeitermorduniform hier sehen schlag' ich Dir die Fresse kaputt!"
Die beiden Nazis gingen wortlos davon. Die Arbeiter lachten hinterher, —
„Die haben aber Kattun gekriegt!" frohlockte der Junge Heuberger.
„Die lassen sich hier nicht wieder sehen!" lachte der hagere Dreher Weidemann.
Der Tischler Höhlein und auch Erwin Müller sagten kein Wort. —
Else und Fritz verschwanden zu einem Spaziergang um den Häuserblock. Karl Pohl, Walter Heuberger und Erwin Müller gingen ein Glas Bier trinken. —
„Der Kleine war gut, was?"
„Ich weiß, was ich tun werde!" meinte nachdenklich Walter.
„Na?"
„Mich mal mehr hinter politische Fragen und Probleme klemmen. Das ist doch verflucht interessant und auch wichtig für uns. Wichtiger als der ganze Sportkram!"
„Dann haben wir beide die gleiche Absicht!" erwiderte trocken der Schauermann.
Erwin Müller ging schweigend nebenher.

 

Kapitel II.

Jeden Donnerstag hatte der Brothändler Kuhlmann Gesangsabend. Er war aktives Mitglied des Männergesangvereins „Sangeslust 1922" Darum machte er an den Donnerstagabenden pünktlich um sieben Uhr Feierabend, wusch sich gründlich, dehnte und reckte sich und probierte, wenn er allein in der Küche war, seine Kehle mit „ah — aah — aaah" die Tonleiter hinauf, wobei er den Kopf der Höhe der Tonlage entsprechend nach oben schraubte. An diesen Donnerstagabenden war Kuhlmann glücklich. Die grausamen Morgengänge mit Rundstücken, die schweren Kohlenlasten, die seine Kräfte oft überstiegen, das giftige Gezänk seiner Ehehälfte und der ewige Klatsch der Weiber im Laden, alles lag an den Donnerstagabenden weit hinter ihm. Wenn er seinen frischgestärkten Kragen mit den Korvettenkapitänecken und dem schmucken Schwarz-Weiß-Binder anlegte und sich dabei wohlgefällig im Spiegel betrachtete, versuchte seine Gattin immer noch, ihm seinen Wochengenuss zu verekeln. Mit der Präzision eines Uhrwerkes begann sie jeden Donnerstagabend über all' die Vergnügungen zu zetern, die er sich erlaube, und über den Egoismus der Männer zu lamentieren. Sie schrie dann in die Welt, was eigentlich die bedauernswerten Frauen vom Leben hätten. Ausgerechnet an Donnerstagabenden ging sie nämlich nie ins Kino oder Variete, die sie an den übrigen Tagen gerne und oft besuchte, nur, um mit einigem Recht jammern zu können. Wirkungslos aber prallte an diesen Abenden das gallige Gekeife an Kuhlmann ab. Er hörte es einfach nicht. Vor längerer Zeit hatte er ihr einmal gesagt, dass die Gesangsabende keine Vergnügungsabende, sondern Abende zur „Pflege der Kunst des Gesanges" seien. Das hatte einmal der Dirigent bei einer Ansprache gesagt, und Kuhlmann hatte sich diesen erhabenen Ausspruch gemerkt. So zuckte er also höchstens mit den Achseln, wenn ihm seine Frau Vergnügungsegoismus vorwarf und dachte bei sich: Was wissen die Weiber von der edlen Kunst des Gesanges?
Das Klublokal des Männergesangvereins „Sangeslust" war Hornauer's Gesellschaftshaus. Es lag ziemlich am Ende der Rosenhofstraße, wo bald darauf die Schrebergärten kamen und die Straße ins Freie lief. Kuhlmann hatte bis Hornauer's Gesellschaftshaus eine gute Dreiviertelstunde zu laufen, und der Weg war für ihn eine körperliche und seelische Erholung, besonders, wenn die Abende so herrlich waren, wie der heutige. Es war erst Anfang März, aber die Luft war klar und mild, und der Himmel wimmelte von Sternen. Tief holte Kuhlmann Atem. Die Lunge, die werktags Kohlenstaub1 schlucken musste, pumpte sich mit frischer Abendluft voll, und die Schultern, die die Last der Kohlensäcke zu schleppen hatten, hoben sich bei jedem Schritt frei und leicht. Kuhlmann war restlos glücklich. Als er einen Arbeiter traf, der müde, in schmutziger Arbeitskleidung von Spätschicht oder Überstunden kam, sah er schmunzelnd an sich hinunter, auf seinen sauberen Anzug und seine blanken Stiefel und zupfte zufrieden die Manschetten seines schneeweißen Hemdes einen halben Zentimeter aus dem Rockärmel heraus.
Ein leichter, kühler Wind wehte von der häuserfreien Seite« wo die Laubenkolonien waren, die Straße herauf. Kuhlmann, der gedankenlos dahinschritt, schreckte plötzlich auf. In dem Treppenflur, an dem er gerade vorüberging, tollten einige halbwüchsige Jungen und Mädel. Die Mädel kreischten hell auf. Kuhlmann ging etwas schneller. Als er in der Ferne das Gesellschaftshaus erblickte, summte er unwillkürlich die Melodie: „Wer hat dich, du schöner, Wald . . du schöner Wald!" — die sie das letzte Mal eingeübt hatten — „aufgebaut so hoch da droben... so hoch da droben?" Er machte sich einen besonderen Spaß daraus, die zweite Stimme auch hinterher zu singen. Als er sich dabei ertappte, dass er zur Melodie mit der Hand den Takt angab, sah er sich verlegen nach allen Seiten um. Er erblickte aber keinen, der ihn beobachtet haben konnte.
Inzwischen war er bei der vollmondartigen, gelben Lampe angelangt, die das Wahrzeichen des Hornauer Gesellschaftshauses war. —
Mit Hallo wurde Kuhlmann von etlichen Sangesbrüdern, die schon beim Wirt an der Theke standen, empfangen. In wohldurchdachter Absicht kam er immer erst kurz vor Beginn der Übungen, dann brauchte er nicht soviel mitzutrinken. Er kam doch schließlich des Gesanges, nicht des Bieres wegen.
„Ich wette, Kuhlmann bestellt einen Fingerhut!" flüsterte der dicke Schlachtermeister aus der Marienstraße.
„Na, Kuhlmann, heute gut bei Stimme?" Mit dieser Frage trat Ernst Abel, ein Zollbeamter, an ihn heran. Er sang, wie Kuhlmann, Tenor.
Kuhlmann lächelte geschmeichelt.
„Musst wohl noch ein bisschen Kohlenstaub wegspülen!" meinte der Schlachtermeister.
Kuhlmann nickte lachend und reichte den Umstehenden mit ihrem Sängergruß „Gut Lied!" die Hand.
„Herr Wirt, ein kleines Helles!" rief er dann.
Sofort setzte ein brüllendes Gelächter ein. Besonders der Schlachtermeister lachte, dass ihm der fleischige Kopf krebsrot anlief.
Kuhlmann sah erstaunt nach allen Seiten. Er merkte, dass das Lachen ihm galt, aber er wusste nicht, warum.
„Kuhlmann, nehme keinen ganzen Schluck, dann ist es nämlich gleich alle!" rief ihm der Zigarrenhändler Bretthorst zu, den er wegen seiner spitzen Nase und seiner fortgesetzten Sticheleien sowieso nicht ausstehen konnte, und der wiederum ihn gefressen hatte, weil er keine Zigarren rauchte und seinen Tabak nicht bei ihm kaufte.
„Meine Herren!" antwortete Kuhlmann mit Würde, „ich bin zum Singen, nicht zum Trinken gekommen!" Damit nahm er von seinem kleinen Glas Bier einen Schluck und wischte sich umständlich mit einem zierlichen Taschentuch den Schaum von den Barthaaren. Man achtete nicht weiter auf Kuhlmann. Seine Verteidigungsmethoden waren zu allgemein, da ließ man ihn lieber in Ruhe. Der Zollbeamte war ins Klubzimmer gegangen.
„Herr Wirt, geben Sie mir bitte zwei Frikadellen und ein Brötchen!" Als er das bestellt hatte und der Wirt es ihm zurecht machte, wunderte er sich selbst über diesen Einfall. Er war absolut nicht hungrig, nur etwas verlegen.
Der klobige Schlachter warf ihm einen spöttischen Blick zu. Dann hörte er etwas wie: „Kriegt wohl zu Hause nicht satt zu fressen!" Kuhlmann wurde nun noch verlegener und bestellte noch ein helles Bier. Während er aß und trank, ärgerte er sich zum ersten Male an einem Donnerstagabend. —
„Meine Herren, wir beginnen!" rief der Vorsitzende aus dem Übungszimmer. Der Schlachtermeister trank sein halbvolles großes Glas Bier in einem Zug aus und blickte hinterher überlegen und mitleidsvoll zugleich auf den kleinen Brothändler. Dann probte er seine Kehle mit tiefen „aa — aaa — aoo!" Er war als der kraftvollste Bass der Stolz des Vereins und man sah, dass er es wusste.
Der Vereinsdirigent war ein langer, schmaler Mensch mit einer kreisrunden Glatze und langen, grauen Künstlerhaaren an den Seiten. Er hantierte in den Notenblättern herum. Unter Gemurmel und Gekicher gruppierten sich die Sänger ihrer Stimmstufe entsprechend. Kuhlmann stand am äußersten Rande neben dem Zollbeamten.
„Meine Herren!" Der lange Dirigent hatte eine dünne Fistelstimme. »Einleitend singen wir unser neueinstudiertes Lied: ,Wer hat dich, du schöner Wald!' — Bitte!" Er schlug die Töne auf dem Klavier an. „Aa! — Aaaa! — Aaaaa!"
Jede der drei Stimmgruppen summte leise mit.
„Bitte!" Der Dirigent klopfte mit dem Taktstock, hob ihn, los. Aus dreißig Männerkehlen wurde die Frage des Liedes hinausgeschmettert. Für Kuhlmann war die äußere Welt versunken. Wie fasziniert hingen seine Augen am Taktstock. Mit einer Inbrunst sondergleichen schmetterte er: Lebe wohl! Lebe wohl, du schöner Wald!" in den Raum. Unangenehm war nur, dass er auch beim Gesang an den Schlachtermeister erinnert wurde, der mit seiner tollen Kehle den gesamten Bass überdröhnte.
Bei der vierten Strophe gebärdete sich der Dirigent wie besessen. Er warf seinen Kopf, hob beide Arme und dirigierte mit dem ganzen Körper.
Ein Mordskerl, dachte Kuhlmann beim Singen. „Meine Herren!" rief hüstelnd der Dirigent mit seiner hohen Stimme: „Die letzte Strophe muss kraftvoller anschwellen. Jeder muss das Letzte hergeben. Lesen Sie doch einmal aufmerksam die Worte dieses herrlichen Gedichts von Eichendorff:
„Was wir still gelobt im Wald, Wollens draußen ehrlich halten, Ewig bleiben treu die Alten: Deutsch' Panier, das rauschend wallt, Lebe wohl, Schirm dich Gott, du schöner Wald."
Die Sänger räusperten sich erschüttert.
„Das muss in gewaltigem, sich steigerndem Zusammenklang kraftvoll abschließen. Sonst aber ausgezeichnet, meine Herren!" schmunzelte der Dirigent. In dieser Form haben wir beim Sommersangesfest ein Wort mitzureden, oder vielmehr, einen Ton mitzusingen!" verbesserte er sich lächelnd.
Ein beifälliges, stolzes Gemurmel ging durch die Sängerschar.
„Und jetzt, meine Herren, eine Überraschung!"
Mäuschenstill war es im Saal.
„Ich schlage Ihnen als Neueinstudierung den Zigeunerchorgesang aus der Oper ,Troubadour' vor!"
„Ooooh!" murmelten die Sänger.
„Fabelhafte Oper!" sagte der Schlachtermeister zu seinem Nebenmann. „Von Wagner!"
„Sie wissen!" fuhr der Dirigent fort, „ich liebe das deutsche Volkslied über alles, aber zu dem Sängerwettstreit können wir ruhig mit etwas ganz Besonderem hervortreten. Wir können es gesanglich getrost riskieren, und im übrigen ist der Chorgesang aus dieser italienischen Oper von Verdi prachtvoll!"
„Natürlich Verdi!" korrigierte sich der Schlachter. „Ich hatte mich versprochen!"
Kuhlmann war ganz heiß vor Eifer. Jetzt wollten sie also sogar aus Opern singen.
„Glänzender Vorschlag, was?" stieß ihn der Zollbeamte an.
Aber Kuhlmann war ganz abwesend. Der Dirigent hatte sich ans Klavier gesetzt und spielte die Melodie vor. Jeder war begeistert. Die Sangesbrüder begannen von Verdi zu schwärmen, lachten und gratulierten sich gegenseitig, denn mit diesem Chorgesang glaubten sie schon beim kommenden Wettgesang den sicheren Sieg in der Tasche zu haben.
Der Dirigent lächelte befriedigt. Er wusste, wie man Sänger bei Laune hielt. Für ihn war alles in erster Linie Geschäft. Er dirigierte mehrere Gesangvereine. Das war sein Beruf. Aber wenn ihm der Verein für jeden Übungsabend 25 Mark zahlte, wollte er auch wissen, wofür.
Hingerissen sangen dann alle das hitzige ,Jägerlied', das mit den Worten begann:
Was sucht denn der Jäger am Mühlbach hier? Bleib', trotziger Jäger, in deinem Revier!'
Der Dirigent schüttelte nach der ersten Strophe den Kopf und zog die Stirne kraus.
„Die erste Stimme dringt nicht durch, meine Herren. Kräftiger, herausfordernder in den ersten Sätzen und schmelzender, wenn der Satz von dem zärtlichen Rehlein beginnt! Also bitte noch einmal!"
„Ein gründlicher Kerl!" murmelte der Zollbeamte anerkennend«
„Der muss ja ein Ohr haben!" staunte Kuhlmann.
Als dann noch einige der einstudierten Vereinslieder gesungen wurden, war die offizielle Übungsstunde beendet. Der Dirigent ging. Inoffiziell setzten die Sangesbrüder den Abend an der Theke fort, Es wurde getrunken und gesungen und gesungen und getrunken, Zwischendurch setzten sich auch einige zu Gruppen zusammen und besprachen das Neueste. Privatim waren auch politische Debatten erlaubt. Der Verein selbst aber war streng neutral; allerdings wurden nur Mitglieder oder Anhänger bürgerlicher Ordnungsparteien geduldet. Der Schuhmachermeister Tönning mit seinen sozialdemokratischen Anspielungen galt schon als Außenseiter. Kam es zu politischen Streitigkeiten, so hatte er todsicher den Anlass dazu gegeben«
„Ich verlange nur, meine Herren!" stritt sich tatsächlich der Schuhmachermeister wieder mit einigen Sangesbrüdern, „ich verlange nur, dass Sie die Sozialdemokratie als staatserhaltenden Faktor anerkennen!"
„Aus innerer Schwäche heraus bekennen sie sich notgedrungen zum bürgerlichen Staat!" erwiderte, Wort für Wort betonend, sein Antipode, der Kanzleischreiber Werner aus der Kollbergstraße. „Aus innerer Schwäche!"
„Und ich behaupte, Sie übertreiben aus Furcht vor der Stärke der Sozialdemokratie!" entgegnete hitzig der Schuhmacher.
„Mein Lieber!" lächelte der Kanzleischreiber, „das Bürgertum ist stark genug, um einen Otto Braun und Karl Severing ertragen zu können!"
„Sie können aber nicht ohne die Arbeiter regieren!"
„Sie meinen, ohne die sozialdemokratischen Führer!" entgegnete hohnvoll der Kanzleischreiber. „Unsere Geschäfte werden allerdings hin und wieder aus taktischen Gründen von Sozialdemokraten erledigt!"
„Und trotzdem bekämpfen Sie die Sozialdemokratie?" fragte der Schuhmachermeister.
„Die Partei, Herr Tönning, die Partei! Unter den Führern der Sozialdemokratie gibt es fraglos vernünftige, brauchbare Politiker, aber ihr Anhang! Bedenken Sie, in nicht zehn Jahren sind 4 1/2 Millionen sozialdemokratischer Anhänger Kommunisten geworden, und ich sage Ihnen, jeder sozialdemokratische Arbeiter kann morgen schon Kommunist sein!"
„Durch die Politik der bürgerlichen Parteien!" schrie der Schuhmacher erregt. „Das ist es ja gerade!"
„Eure ganze Politik ist Quatsch!" mischte sich jetzt der Schlachtermeister ein. „Hungrige und Satte hat es immer gegeben und wird es immer geben, wie es Faule und Fleißige, Starke und Schwache immer gab und geben wird!"
Einige nickten zustimmend.
„Uns rupft der Staat, wo und wie er nur kann, und den Erwerbslosen, die sich eins ins Fäustchen lachen und auf jede Arbeit husten, denen wird's in den Rachen geworfen. Vor dem Krieg hat es auch keine Erwerbslosenunterstützung gegeben. Wenn die nicht mehr gezahlt würde, dann wäre die Erwerbslosigkeit längst vorbei, dann würde sich jeder Arbeiter verdammt schnell nach Arbeit umsehen und jede sich bietende Gelegenheit anpacken!"
„So ist es! Sehr richtig!" riefen die Ladeninhaber und selbstständigen Handwerker dem Schlachtermeister zu.
„Heute braucht man nicht mehr arbeiten, um zu leben, heute ernährt das Arbeitsamt oder die Wohlfahrt jeden, der die Arbeit scheut!" rief der Zollbeamte.
„Wenn Ihr Wille maßgebend wäre, dann hätten wir morgen Revolution!" erklärte der Schuhmacher.
Allseitiges Gelächter antwortete ihm.
„Wozu haben wir Polizei und Militär? Und schließlich sind wir selbst auch noch da. Ich habe schon 1918 und 1919 in der Einwohnerwehr die Knarre getragen. Wenn es sein muss, trage ich sie morgen wieder!" rief der dicke Schlachter.
„Bravo!" rief sein Trinkkumpan an der Theke.
„Die Zeit der Herrschaft des Pöbels kommt nicht wieder, die ist endgültig vorbei."
„Aber wir leben doch alle von diesem Pöbel!" schrie jetzt der Schuhmacher,
„Ich verkaufe meine Ware nur an rechtschaffene Leute, die auch unter den Arbeitern Gott sei Dank noch zahlreich vertreten sind!" antwortete stolz der Schlachtermeister.
„Und wenn diese rechtschaffenen Leute nun Sozialdemokraten oder gar Kommunisten sind?"
„Es gibt unter rechtschaffenen Leuten weder Sozialdemokraten noch Kommunisten!" erklärte kategorisch der Schlachter. „Sie sind ein richtiger Hetzer, Tönning!" setzte er dann noch hinzu.
„Bewahre", rief der entsetzt. „Ich will Staat und Ordnung nur mit feineren Mitteln geschützt wissen!"
„Sangesbrüder, ein Lied!" rief es von der Theke.
Sie sammelten sich langsam.
„Lützows wilde, verwegene Jagd" wurde vorgeschlagen.
Der Schlachtermeister gab das Zeichen und dirigierte, sang aber selbst kräftig mit.
Mit einem tiefen Schluck wurde hinterher die Kehle für die Anstrengung belohnt. Allmählich kamen die Sänger und Trinker mehr und mehr in Geschmack, Immer noch ein neues Lied wurde angestimmt, und immer noch ein neues Glas Bier geschwungen. Der Schlachtermeister war in beiden Dingen tonangebend. Das war nun die Zeit, zu der Kuhlmann verschwand. Unauffällig beglich er seine Zeche und schlüpfte heimlich davon. —
Draußen war es kühl. Der volle Mond stand kalt über der Stadt. Kuhlmann fror und schlug seinen Rockkragen hoch. Während er die Rosenhofstraße wieder zurückschritt, seufzte er. Der Donnerstag war vorbei und eine neue, lange Woche mit Rundstückaustragen und Kohlensäckeschleppen stand vor ihm. Aber nicht daran denken, nur nicht daran denken, sagte er in Gedanken zu sich selbst.
Den Kopf zwischen den Schultern eingezogen und etwas vornübergebeugt, stampfte er dahin. Das gelbliche Licht der Laternen ergoss sich schwach über die Straße. Kuhlmann dachte an die Oper ,Troubadour' und versuchte die Melodie, die der Dirigent vorgespielt hatte, nachzusummen. Aber er bekam sie nicht zusammen. Wenn er den Text nur wüsste. Überhaupt die Oper einmal hören. Ach ja, das möchte er. Heimlich, allein, dachte Kuhlmann. Er schritt schneller aus und wälzte Pläne in seinem Kopf, — aber er verwarf sie alle wieder.
Wie ein Schatten schlich er an den Häusern entlang, Er dachte wieder an den kommenden Tag. Eine Woche ist elend lang, murmelte er und dachte an Rundstücke und Steinkohlen.
Vollzählig war an einem Dienstag die kleine Redaktion der Häuserblockzeitung bei Olfers versammelt. In einem behaglichen Zimmer saßen die Genossin Schenk und der Buchbinder Kernatzki an einem runden Tisch. Fritz und Else stöberten im Zimmer herum. Else kam es vor, als sei sie bei wohlhabenden Bürgersleuten. Die Möbel waren stabil und gut erhalten, und fast über den ganzen Boden des Zimmers breitete sich ein braunbunter Teppich aus. Die Vorhänge und das herrliche Tischtuch und die Nähmaschine am Fenster, alles bestaunte sie. Fritz betrachtete unterdessen den Dreiröhren-Radioapparat und das Doppelregal mit den Büchern. Auf vieles, ihm bekanntes, stieß er: Lenin, ,Staat und Revolution'; Mehring, ,Geschichte der Sozialdemokratie'; »Die Frau und der Sozialismus', von Bebel; »Auf dem Wege zum Oktober', von Stalin. An der Seite stand das große Buch von Krapotkin, ,Gegenseitige Hilfe in der Tierwelt'. Auf dem zweiten Regal standen unter anderem: ,Der grüne Heinrich', von Gottfried Keller, und auch den ,Jimmi Higgins' von Upton Sinclair, entdeckte er.
Wie gut der Olfers wohnt, dachten Fritz und Else fast gleichzeitig und lächelten sich an.
Die Genossin Schenk redete unterdessen heftig auf den Buchbinder ein. Dieser hatte behauptet, die Partei versage bei der sich jetzt dauernd steigernden Erwerbslosigkeit. Große Erwerbslosenkundgebungen müssten veranstaltet und mehr noch als bisher durch die Presse unsere Parteiforderungen zur Hebung und vollständigen Beseitigung der Erwerbslosigkeit publiziert werden. Die Genossin Schenk gab ihm durchaus recht, behauptete aber, die Partei täte alles, was in ihren Kräften stände. „Wir sind die Partei, Genosse Kernatzki, Du und ich!" rief sie „und wenn wir nicht hundertprozentig aktiv sind, kann es die Partei auch nicht sein!"
„... ..Und darum müssen wir alle Kräfte anspannen, um unser
geliebtes Vaterland in diesen Tagen der allgemeinen Not . , . ." „Stell bloß den reaktionären Quasselkasten ab!" rief die Zappelige.
„Deutschlands Not und wir Landwirte!" lachte Fritz und stellte den Lautsprecher wieder ab.
„Ein entsetzlicher Dreck, dies Rundfunkprogramm!" Der Buchbinder wollte das Gespräch gerne auf ein anderes Gleis schieben. Er kam aber vom Regen in die Traufe.
„Dreck nicht, mein Lieber!" belehrte ihn die Genossin Schenk. „Das ist planmäßige Beeinflussung der Massen. Das Radio ist ein Sprachrohr der herrschenden Klasse und stündlich werden damit Millionen Menschen bearbeitet und verdummt!"
„Ja!" sagte der Buchbinder kleinlaut. Zu seinem Glück trat Olfers ein. Er kaute noch an seinem letzten Bissen Abendbrot und setzte sich mit hochgekrempelten Hemdsärmeln zu den Beiden.
„Und doch ist so ein Ding ein wertvolles Gerät, Genossin Schenk. Wir revolutionären Arbeiter werden zwar restlos ausgeschaltet und skrupellos verleumdet, aber man kann vieles, was man hört, mit Gewinn aufnehmen. Man muss allerdings verstehen, das meiste im Gehirn umzuarbeiten!"
Fritz und Else rückten ebenfalls an den Tisch heran.
„Ich will mir demnächst einen Vierröhrigen kaufen, damit ich Moskau bekommen kann!"
„Oh, dann komme ich aber auch mal und höre mit!" rief Fritz,
„Natürlich!" lachte Olfers.
„Auch möchte ich mir von Deinen Büchern eins ausleihen!"
„Welches denn, Fritz?"
„,Marx und Lassale unter Hochverratsanklage!1 Das sind doch gewiss ihre Verteidigungsreden?"
Ja! Nimm es nachher nur mit! — Aber wie wäre es, wenn wir mit unserer Gründungssitzung beginnen würden?"
„Natürlich, man los!" antwortete der Buchbinder.
„Wer hat also Vorschläge für die Ausgestaltung unserer Häuserblockzeitung? Ich denke doch, dass sich jeder einmal die Sache überlegt hat!"
Niemand antwortete.
„Was meinst Du, Genossin Schenk?"
„Man müsste einen Aufsatz über „die Frauen und der Kommunismus" drin haben!"
„Und?" fragte Olfers weiter.
„Ü ber die Erwerbslosigkeit!"
„Ich will mir mal alles notieren!" Er holte sich Papier und Schreibzeug „Wie aber meint Ihr, soll sie eigentlich heißen?"
„Wie wäre: Terrassen-Zeitung?" schlug der Buchbinder vor.
„Sie soll aber nicht nur für die Terrassenbewohner sein!"
„Einfach: Rosenhofstraße — Häuserblockzeitung der kommunistischen Straßenzelle!"
„Aber sie wird nicht nur in der Rosenhofstraße, sondern auch in der Kollberg-, Marien- und Querstraße verteilt. Weil wir eine starke Straßenzelle sind, müssen wir diese Straßen mit übernehmen!" erklärte Olfers. „Ich schlage vor, wir nennen sie: ,Die Mietskaserne'!"
„Klar!" rief Fritz. „Und in den Kopf zeichnen wir die Dächet einer Unmenge Mietskasernen!"
„Das ist eine gute Idee!" gab Kernatzki zu. Auch die Zappelige nickte.
„Also, den Namen hätten wir. Die Mietskaserne, Häuserblockzeitung der KPD. Nun käme der Inhalt!"
„Die Else muss etwas über Pfandhäuser schreiben!" rief Fritz.
„Nicht übel!" meinte Olfers, „auch da kann man das Elend beobachten!"
Ich schreibe einige Zeilen über das Heimarbeiterdasein!" schlug Kernatzki vor. „Ich habe es mir schon überlegt!"
Olfers notierte. „Und die Genossin Schenk schreibt über die Hausfrauen!"
„Ich kann nicht schreiben, Offers!"
„Du redest aber wie ein Buch!"
„Aber ich kann keine Artikel schreiben!"
„Du wirst es versuchen müssen! Was ist das für eine Redaktion, die nicht schreiben kann!"
„Ich habe es Euch gleich gesagt! Warum habt Ihr mich gewählt!"
So stritten sich die beiden noch eine Weile hin und her Olfers ließ nicht locker. Das Ergebnis war, dass die Zappelige es mal ,versuchen' wollte.
„Ich schreibe einige Zeilen über unsere Nazidiskussion vor der Terrasse!"
„Richtig! Das ist wichtig, Fritz!"
So bekam jeder seine Arbeit. Eingehend wurde alles durchgesprochen und verschiedene wichtige Punkte in den Aufsätzen bestimmt. Am Sonnabend sollten sämtliche Beiträge bei Olfers abgeliefert sein. Für Sonntagmorgen erboten sich Fritz, Else und der Buchbinder freiwillig, die Manuskripte mit Hilfe einer Stenotypistin vom Stadtteilbüro auf Wachs zu schreiben und abzuziehen. Die Genossin Schenk konnte nicht, da sie mit der Frauengruppe auf Landagitation fahren wollte.
Nachdem die Frage der Häuserblockzeitung besprochen war, schlug Olfers vor, noch zehn Minuten durch den „Aether zu jagen". Fritz war begeistert. Die Genossin Schenk betrachtete misstrauisch und abfällig den kleinen schwarzen Kasten und den quadratischen Lautsprecher darüber.
„Huihuihui-i-i-i!" pfiff es und schnarrte und summte. Schwach war Musik zu hören. Sie wurde stärker und plötzlich verschwand sie wieder.
„Rom! Die Musik ist aus der Oper ,Toska'!" sagte Olfers nach einer Weile.
„Was der nicht alles weiß!" staunte Fritz den Alten an.
„Huihuihui—i—i—i!" Stimmen wurden hörbar.
„Huihuihui!" kam es wieder näher. Lauter. Jetzt klang voll und rein eine Melodie durchs Zimmer.
„England!" rief Fritz.
„Nein, Kopenhagen!"
„Huihuihui—i—i—i!" Eine kleine Drehung an der Skala. Gesang! Olfers sah zur Skala. „Königswusterhausen!"
„Wie interessant!" rief Else ehrlich entzückt,
„Was hat denn unser Ortssender?" fragte Fritz.
„Militärkonzert!"
„Natürlich!" warf die Zappelige ein. „Kriegspropaganda auf Umwegen!"
„Darum lassen wir es ruhen!" lachte Olfers.
„Hol' doch noch mal Rom ran!" bettelte Fritz.
„Huihuihui—i—i—i!" begann es, „Küiküiküi—üi—üi!"
„Jetzt!" rief Fritz.
Gesang wurde vernehmbar. Lauter. Nun klangen klar und deutlich Gesang und Orchester aus dem Lautsprecher. Phantastisch, zu denken, dass es durch die Luft über die Alpen au«? Rom kam.
„Wenn man nun auch Mussolini so herholen könnte!'
Was würdest Du mit ihm anfangen, Genossin Schenk?" fragte Olfers belustigt.
„Oh!" rief die ganz ernsthaft. „Ich wüsste schon!
Der italienische Opernsänger hatte seine Arie beendet. Die Musik verebbte leise. —
„Es ist der Klassenfeind, der durch diese Kästen täglich Millionen Menschen einlullt und betrügt!" rief die Genossin Schenk.
„Es kommt die Zeit, wo wir damit zu den Millionen sprechen werden1" antwortete Fritz
„Das ist gewiss!" bekräftigte Olfers. —
An der Haustür nahm Olfers Else etwas beiseite. „Wie steht es mit der kleinen Merker?"
„Gut!" antwortete etwas verlegen das Mädel. —
„Was wollte Olfers?" fragte Frit2 unten in der Terrasse.
„Er fragte, wie es der Trudel geht!"
„Ein famoser Genosse, dieser Olfers!" sprach wie in Gedanken Fritz. —
„Wo steckt eigentlich seine Frau?" fragte Else plötzlich.
„Für die Menschen unsichtbar!" antwortete Fritz. „Sie hat Lupus. Die ganze Nase soll schon weggefressen sein. Sie wagt sich nicht mehr unter Menschen!"
Sie schwiegen. Im Terrasseneingang war es stockdunkel. Else schmiegte sich an ihren Fritz.
„Eine bedauernswerte Frau!" murmelte er noch.
„Die Ärmste!" flüsterte Else.

Noch nach Tagen wurde in der Terrasse über die Abkanzelung der beiden Nazis durch den Schauermann Karl Pohl und den Jungkommunisten Fritz Burmester gesprochen. Besonders den kleinen Burmester behandelten die Arbeiter direkt respektvoll. Da er seiner Else wegen viel durch die Terrasse ging, war er bald jedem so gut bekannt, als wohne er selbst da, und es gab keinen, der ihn nicht mochte, ausgenommen die Mechanikerfrau, „Großschnauziger Rotzjung'!" nannte sie ihn bei der Brothändlerin. Und diese nickte pflichteifrig. „Nächtlicher Herumtreiber!" fügte sie dann noch gewöhnlich hinzu, denn sie hatte ihn einige Male nach 12 Uhr aus der Terrasse kommen sehen.
„Frau Kuhlmann! Frau Kuhlmann!" jammerte sie heuchlerisch. „Ich verstehe das Mädel, die Else, nicht. Sie rackert von früh bis spät, faul ist sie nicht, das kann man ihr nicht nachsagen, aber dieser Umgang! Diese Menschen, mit denen sie verkehrt! Das Mädel muss behext sein. Dieser kleine Großschnauz, was ist schon an ihm? Nee, — ich kann solche Menschen, die soviel reden, nun einmal nicht ausstehn!"
Der Brothändler, der im Nebenraum frühstückte, bekam einen Hustenanfall. Er keuchte. Die Mechanikerfrau verzog empfindlich das Gesicht.
„Emil!" schrie die Brothändlerin, „beherrsche Dich doch!"
Emil kämpfte mit dem Hustenreiz.
„Da kommt Frau Heuberger!" lenkte die Kollmar ab.
„Guten Morgen!"
„Guten Morgen, Frau Heuberger!"
„Ach, was hat man doch für'n Ärger!" Die große, plumpe Frau wackelte mit dem Kopf.
„Ärgern ist ungesund!" lachten die Frauen.
„Ein halbes Schwarzbrot, Frau Kuhlmann! — Und alles wegen dieser Kommunisten!"
„Was haben Sie denn für'n Ärger, Frau Heuberger?" fragte die Kollmar.
„Ach, mein Walter ist nach dieser Unterredung vor der Terrasse vollkommen durchgedreht. Er geht in Versammlungen, liest kommunistische Zeitungen und sogar solche Bücher. Schreckliche Bücher. Der Junge ist wie verändert!"
„Was sagt denn Ihr Mann dazu?" fragte die Brothändlerin.
„Ach der, — der... !" erwiderte wütend die Heuberger. „Lass ihn, lass ihn!, sagte der, und damit ist für den die Sache erledigt!"
„Dabei wäre doch die Aussprache, die schon mehr eine Schimpferei war, um ein Haar blutig ausgelaufen!"
„Wieso, Frau Kollmar?" fragte die Heuberger ängstlich.
„Viel hat doch an einer Messerstecherei nicht gefehlt! Der Pohl soll doch schon immer eins bereitgehalten haben! Ein roher, jähzorniger Mensch! Zum Schluss drohte er dem Gemüsehändlersohn Kafka, der ja Nationalsozialist ist, wenn er noch einmal an der Terrasse vorbeikäme, würde er ihn totschlagen!"
„Nicht möglich?" rief die Brothändlerin.
„Die Gemüsehändlerin hat es mir selbst erzählt!"
„Aber mein Walter... !" jammerte die Heuberger. „Es ist weder durch gute noch durch böse Worte bei ihm was zu erreichen!"
„Der eigentlich Schuldige an diesen ganzen Hetzereien ist dieser Kleine, der Verkehr der Else Langfeld. Der macht die ganze Terrasse rebellisch!" —
„Guten Morgen!"
„Guten Morgen, Frau Fritt!"
Die kleine, fette Frau schob sich in den Laden. In demselben Augenblick steckte der Brothändler vorsichtig seinen Kopf aus dem Nebenraum. Wie von einem giftigen Insekt gestochen, zog er ihn wieder zurück.
„Wissen Sie, ich habe eine interessante Entdeckung gemacht!" flüsterte sofort die eben Angekommene.
„Na, Und?" riefen neugierig die Frauen.
„Es ist eine heikle Sache. Sie müssen mir versichern, kein Wort davon lautbar werden zu lassen!"
„Aber doch natürlich!" flüsterte die Vizenfrau, ganz Ohr.
„Kennen Sie eine Frau Hintz, da drüben in der Marienstraße 16?"
Der Hals der Heuberger wurde feuerrot. Da aber aller Augen am Munde der geheimnisvollen Sprecherin hingen, merkte es niemand.
„Eine Bekannte, die in demselben Haus wohnt, sagte mir neulich, es wäre offenes Geheimnis, dass diese ehrwürdige Dame eine Engelmacherin ist!"
„Oooh!" rief entsetzt die Brothändlerin.
„Und wissen Sie, wen ich mehrmals in das Haus schleichen sah?"
„Die Else Langfeld!" platzte mit weitaufgerissenen, rachgierigen Augen die Mechanikerfrau heraus.
Nein, die Merker!"
„Die?" rief die Klempnerfrau ungläubig und enttäuscht.
„Wer weiß, was die kleine Merker dort wollte!" meinte beherrscht gleichgültig die Heuberger.
Gehen Sie! So harmlos sind solche Besuche unter derart merkwürdigen Umständen nicht!" ereiferte sich die Fritt.
„Aber was für merkwürdige Umstände?" fragte erstaunt die Hackbarth.
„Sie haben es eben nicht gesehen! Ich denke mir mein Teil!"
„Aber Frau Fritt, was geht uns das an, was das Mädel da wollte!"
„Natürlich nichts, absolut nichts, Frau Heuberger. Aber man erzählt sich doch mal dergleichen!"
Als Frau Heuberger ging, schlurfte der Brothändler durch den Laden. Die Frauen schwiegen. Die Brothändlerin sah ihm strenge nach. —
„Frau Heuberger war sehr komisch, nicht wahr?" brach die Mechanikerfrau das Schweigen.
„Wer weiß! Sie hat vielleicht auch ein schmutziges Taschentuch in der Tasche!" erwiderte vielsagend die Fritt.-----------
„Da wird herumscharwenzelt, — jeden Sonntag mit einem neuen Kavalier, — stets um Mitternacht nach Hause — in den Treppenfluren stößt man immer wieder auf neue Kerle — da kann das ja nicht ausbleiben!"
„Ü berhaupt die Jugend heute!" ergänzte Frau Kollmar die Fritt. „Eine vorlaute und sittenlose Bagage. Ich bin direkt froh, dass ich nicht solche Bälger habe. Vielleicht läge ich sonst schon im Grabe!"
„Wissen Sie!" fiel die Mechanikerfrau wieder ein, „mein Junge bei der Reichswehr ist am besten aufgehoben! Er hat Essen und Trinken, bekommt nach seiner Dienstzeit einen ruhigen Staatsposten und hat eine Ausbildung für's Leben genossen!"
Die Brothändlerin nickte zustimmend. —
Vor der Terrasse traf die Fritt die Frau des Wohlfahrtspflegen Kummerfeld. Eiligst erzählte sie ihr die Neuigkeit von der Trudel Merker. Frau Kummerfeld erblasste.
Frau Fritt!" unterbrach sie die unermüdlich Schwadronierende. „Wenn Sie nicht das Mädel", und sie ergänzte mit gehobener Stimme, „und noch andere unglücklich machen wollen, dann schweigen Sie!" Darauf ließ sie die verdutzte kleine, fette Frau stehen und ging weiter.
„Hm!" machte diese und „So-so!" und trippelte stillvergnügt in die Terrasse.
Am späten Nachmittag, um die Feierabendstunde, war die Rosenhofstraße noch belebter, als am Tage. Die Arbeiter kamen dann aus den Fabriken. Hafenarbeiter mit ihrem breiten, schwerfälligen Gang, Werkzeug und Kaffeeflasche in einem Sackbeutel über der Schulter, Werft- und Fabrikarbeiter in ölglänzender Arbeitskluft, im Gesicht schweißig verschmiert, zogen durch die Straße. Arbeitermädel dazwischen, Lehrlinge, meistens zu mehreren, lärmten laut und waren ausgelassen froh, weil wieder ein Arbeitstag vorüber war.
Else wollte noch schnell für ihren Vater, der an diesem Tage im Hafen gearbeitet hatte, ein Stück Fleisch kaufen und lief die Treppen hinunter. Im Terrasseneingang traf sie Trudel. Lustig und lebendig, wie jeder sie kannte, kam sie auf Else zu.
„Guten Tag, Else!"
„Guten Tag!"
„Sag' mal, wie findest du meinen Hut?"
Else war sprachlos. „Gut!" bekam sie mühsam heraus.
„Nicht?" — Dabei ist er gar nicht neu, nur gereinigt und gefärbt! Zwei Mark hat das nur gekostet. Jeder findet ihn entzückend und wie neu!"
Else starrte Trudel entsetzt an.
„Trudel!"
„Du musst Dir den Film ,Madame Griselle' ansehen, Else. Zu nett!"
„Trudel!"
„Was hast Du?" fuhr die kleine Merker zusammen.
Else wurde wieder ganz ruhig, aber ihr Gesicht brannte noch wie Feuer. „Wie — geht es Dir — nach dem... ?"
„Ach!" wehrte die Gefragte ab. „Warum erinnerst Du mich an diese ekelhaften Stunden! Vorbei und erledigt! Gott sei Dank!"
„Dann ist's ja gut!" hauchte Else und ging.
Trudel sah ihr ganz bestürzt nach.
Gedankenlos taumelte Else die Rosenhofstraße hinunter, und bog in die Marienstraße ein, zur Großschlachterei Bernitt. Zahlreiche Frauen drängten sich mit ihren Körben an der Verkaufsbank. Rundherum hingen ausgeschlachtete Tierleiber, aus denen Blut auf den Boden tropfte. Der dicke Schlachter Bernitt, der tolle Bass aus dem Männergesangverein ,Sangeslust' stand mit aufgekrempelten Hemdsärmeln am Haublock und zerkleinerte Fleischstücke. Sein Arm war, wie sein Schlachterkittel, mit Blut und winzigen Fleischfetzen bespritzt. Else fühlte einen üblen Geschmack im Mund. Der Geruch der Schlachterei kratzte ihr im Halse. Sie strich sich über die Schläfe.
„Sie wünschen, Fräulein?" hörte sie dann den Schlachter. Bevor sie aber antworten konnte, hörte sie, wie man zu einer Frau sagte: „Für Ihre paar Groschea können wir nicht die ganze Schlachterei nach den Ihnen passenden Filetstücken umkehren!"
„Den Ärmsten drücken Sie auch noch den Dreck in die Hand!" schrie die Frau, die neben Else stand. „Den Reichen bringen Sie das Ausgesuchte ins Haus!"
„Schreien Sie nicht so, verstehen Siel" brüllte der Schlachter zurück.
„Uns Arme wollen Sie bei jeder Gelegenheit ausräubern!*'
„Halten Sie Ihr freches Mundwerk! Wollen Sie das Fleisch oder nicht?"
„Nein!"
Klatsch! — lag es auf dem Ladentisch.
„Hinaus!" keuchte der Schlachter, dem die Wut die Kehle zuzuschnüren schien.
„Halsabschneider!" schrie die Frau gellend durch den Laden.
Der Schlachter fuhr sich zitternd mit dem bloßen Unterarm über das Gesicht. Dabei blieben einige kleine Fleischfetzen an der Stirn und den Wangen kleben.
„Miststück!" murmelte er.
Die Frauen und auch die beiden Verkäufer sahen ihn an, sagten aber kein Wort.
„Was wollten Sie noch haben?" wandte er sich dann wieder an Else.
Sie wusste nicht, was sie eigentlich gesagt hatte, sie sah nur, dass er dasselbe Stück Fleisch, das er eben voller Wut auf den Ladentisch geschleudert hatte, nahm, wog und einwickelte. Mit einem Bon zusammen legte er es vor ihr hin. Else starrte auf das kleine eingewickelte Fleisch. Sie ließ es liegen und ging.
„He, Fräulein!" grölte der Schlachter hinterher.
„Sie haben Ihre Ware vergessen!" tippte eine Frau sie an den Arm.
Ohne sich noch einmal umzublicken, ging Else an der Kasse vorbei aus dem Schlachterladen.
Als sie nach Hause kam, saß der alte Langfeld in der Küche und brummte. Beim Braten des Fleisches, das sie in einem anderen Schlachterladen gekauft hatte, dachte sie erst wieder an Trudel Merker. Wie die das alles von sich abschütteln konnte? „Erinnere mich doch nicht daran", hatte sie gesagt. Was es für Menschen gibt?! Die ganzen Qualen hatte sie buchstäblich miterlebt. Nach der Sturm- und Regennacht, die sie nie vergessen würde, hatte sie sich in die Verzweiflung, in die Not und das Elend der Trudel hineingedacht und mit darunter gelitten. ,Erinnere mich doch nicht daran', hatte die nun eben zu ihr gesagt und ihr von dem wie neu gefärbten Hut vorgeschwärmt.
Der alte Langfeld lieferte der Else, bis auf die Groschen, seinen Tagesschichtlohn ab und erwähnte dabei, dass er morgen wieder Arbeit habe. Und Else lief, nachdem sie das Essen zurecht gemacht hatte, hinunter, um noch einige Kleinigkeiten für den kommenden Tag einzukaufen. —
Beim Krämer Rohwohlt in der Rosenhofstraße, neben der Pianofabrik, bediente Anni, die Tochter des Krämers. Else und sie kannten sich aus der Schulzeit. Wenn Anni Rowohlt auch eine höhere Schule besucht hatte, so waren sie doch früher an den Nachmittagen auf der Straße Spielkameradinnen gewesen.
„Else!" sagte sie nun, während sie Zucker und Reis abwog, „Eure Terrasse ist eine richtige Schluderfabrik!"
„Wieso?"
„Was die Weiber da nicht alles aufstöbern und breittreten! Die eine erzählt, dass sie von der andern weiß, dass die andere wieder... usw."
„Was denn?"
„Nun bist Du auch schon neugierig!" lachte die Krämertochter.
„Brauchst mir nichts zu erzählen!" lächelte jetzt auch Else.
„Ich hab' nur so gedankenlos, gefragt!"
„Ich finde es aber gemein, so hinter dem Rücken über ein Mädel Gemeinheiten zu verbreiten!"
„Ohne Klatsch und Tratsch fühlen sich einige Weiber nicht wohl!"
„Dabei ist es bestimmt Verleumdung! Die kleine Trudel ist doch immer so lustig und unbefangen!"
„Was?" — Else merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.
„Was?"
Die Krämertochter sah sie ganz erstaunt an. „Die Trude! Merker!" sagte sie, als wolle sie damit sagen, „nicht Du, Else."
„Was klatschen sie von der?"
„Hast Du denn noch nichts davon gehört?"
„Was denn?" stieß Else grob hervor.
„Sie soll — ein Kind abgetrieben haben!"
Else starrte sie an. „Das ist ja alles Unsinn!"
„Ja, das sag' ich ja eben!"
„Wer hat das gesagt, Anni?"
„Wie Du aufgeregt bist?"
„Wer hat das gesagt, frage ich Dich?"
„Frau Kollmar!"
„Und woher will die es wissen?"
„Ich glaube von der Fritt!"
„Und woher will die es wissen?"
„Aber das weiß ich doch nicht!"
„Ist gut! Ist gut!" Else hätte laut losheulen können vor Wut.
„Sag nicht, dass Du es von mir weißt!" bettelte das Mädel hinter der Tonbank.
„Nein! Nein!" —
Als Erse in die Terrasse kam, wäre sie am liebsten zu Trudel Merker hinaufgestürzt, aber sie dachte an deren Worte: ,Erinnere mich doch nicht daran'.----------
Nun war der Weiberklatsch schon im Gange.
Die ,Mietskaserne' sollte an jedem ersten Montag im Monat erscheinen und verteilt werden. Die Kosten der Herstellung trug die Straßenzelle. Mit liebevoller Sorgfalt war an der ersten Nummer herumgepütschert worden. Fritz hatte nach zahlreichen missglückten Versuchen schließlich doch einen brauchbaren Zeitungskopf zustande bekommen Ein graues Meer zusammengedrängter Mietskasernengiebel und darüber, wie Himmelsschrift: Die Mietskaserne". Unter dem Kopf standen dann die Worte: Häuserblockzeitung der KPD. — Redaktion: Hummel! Hummel!
Die redaktionellen Beiträge mussten kunstvoll untergebracht werden, denn die ganze Zeitung war vorerst nur vier Schreibmaschinenseiten stark. Fritz hatte ein kurzes, kerniges Geleitwort geschrieben, das er über die ganze Seite setzte, dann aber wurden die Seiten halbiert und die einzelnen Artikel nebeneinander gestellt.
Unter dem Material, das Olfers Fritz gab, war auch ein Artikel über Arbeiterfrauen und Kommunismus! Fritz las ihn und fand ihn ausgezeichnet. „Ist der von der Zappeligen?" „Ja!" lachte Olfers, „und dann meckern die Frauensleute immer, sie können nicht schreiben!"
Der Buchbinder hatte ebenfalls seine versprochenen Zeilen geliefert.
„Ich habe viel an seiner Orthographie verbessert!" bemerkte Olfers so leichthin, als Fritz es durchsah. „Er hat noch die Schule von vor 1900 im Kopf!"
„Du denn nicht? ' fragte Fritz,
„Nein!" Olfers schlug dem jungen Kommunisten auf die Schulter, „ich habe mich bereits dem 20. Jahrhundert ganz angepasst!"
Fritz las nun seinen Aufsatz über die Nazidiskussion vor. Mit wenigen Worten schilderte er den Anlass des Zusammentreffens. Dann die Aussprache selbst. Was wollen und was sind die Nationalfaschisten? fragte er in dem Artikel und beantwortete die Frage mit dem Resultat der Aussprache. Er schloss mit den Worten: „Vernichtet die gelbe Mordpest! Vernichtet das gekaufte Söldnertum der Großindustriellen!"
Olfers nickte zustimmend.
Dann las Fritz noch eine kleine, etwas unbeholfen geschriebene Skizze, ,Im Pfandhaus', vor, in der erzählt wurde, wie die Proletarierfrauen ihre letzte Habe für einige Mark in Pfand geben, — wie Betten hingeschleppt werden, Kleider, Mäntel und Schuhe, oft die einzigen, die die Besitzer haben. Der rege Betrieb in den Pfandhäusern, schloss der Aufsatz, ist der Gradmesser für das wachsende Elend in der Arbeiterschaft.
„Den letzten Satz hat sie aber nicht geschrieben!" bemerkte Olfers. „Man müsste noch bemerken, dass die, die noch etwas ins Leihhaus zu tragen haben, noch nicht die Elendsten sind, denn
Tausende und aber Tausende haben nicht einmal mehr etwas, was sie hintragen könnten!"
„Das werde ich noch einfügen!" stimmte Fritz zu.
„Auch einige kleine Kästen darfst du nicht vergessen, wie: Lest die kommunistische Tageszeitung! Werft die bürgerliche Lügenpresse aus dem Haus! Werdet Mitkämpfer in den Reihen der KPD. usw.!"-----------
Fast den ganzen Sonntag hatten Else, Fritz und der Buchbinder zur Herstellung einiger hundert Zeitungen gebraucht.
„Wat son lüttes Ding for Arbeit mokt!" stöhnte der Buchbinder ein über das andere Mal.
„Lass man!" beruhigte ihn Fritz, „die nächsten flutschen besser."
Am anderen Tage alarmierte Fritz seine Jugendgenossen in der Abteilung zum Austragen der Zeitung. Einige suchten Ausflüchte und wollten sich von der Kleinarbeit drücken. Aber Fritz blieb hartnäckig, und jeden, den er antraf, schleppte er mit. An diesem Montag wurden fünfhundert ,Mietskasernen' in die Häuser getragen. Das aber hatte für kaum die Hälfte der Einwohner der Rosenhofstraße gereicht, und in den umliegenden Straßen hatte noch niemand eine Zeitung erhalten können.
„Wir ziehen noch einige hundert ab!" meinte Fritz. „Aber für eine Straßenzelle wird das zuviel!"
Dienstag war Abteilungsabend, darum wurde für den Mittwochabend die Fortsetzung der Verteilung der Häuserblockzeitung beschlossen.
Dienstag und Mittwochvormittag musste Else im Stadtteilbüro am Vervielfältigungsapparat arbeiten. Noch sechshundert ,Mietskasernen' wurden gebraucht.
„Gut, dass Du erwerbslos bist!" meinte Fritz.
Als der Schauermann Karl Pohl eines Abends spät nach Hause kam, entdeckte er an den Wänden der Terrasse zwei riesengroße Plakate. Er zündete ein Streichholz an. „Deutsche Männer und Frauen... !" las er, „... Gegen den Young-Versklavungspakt der internationalen Hochfinanz... !" — „Hitler ruft zur Massenversammlung in... . 1"
Pohl befühlte ein Plakat. Es war noch ganz feucht, konnte also erst vor kurzem angeklebt sein. Nachdem er vorsichtig eine Ecke gelockert hatte, konnte er es leicht von der Wand abziehen. Das andere ging ebenso leicht herunter. Draußen in der Rosenstraße war nichts Auffälliges zu sehen. Pohl lief zu Heuberger hinauf. Er sah dort noch Licht.
„Nein, Walter schläft schon!" Knallend schlug Frau Heuberger ihm die Tür vor der Nase zu.
Was nun?
Karl Pohl ging in strammem Schritt die Rosenhofstraße hinunter. Im zweiten Terrasseneingang sah er wieder ein Plakat. Runter damit! Wo mochten die Kerle nur sein? Die Klebekolonne der Nazis musste in allernächster Nähe sein.
„Fritz ist noch nicht zu Hause!" antwortete ihm ein junges Mädel ,als Pohl in seinem Logis nach ihm fragte. „Er hat heute Gruppen«! abend!"
„Wo kommt denn die Gruppe zusammen, Fräulein?"
„In der Kollbergstraße! Ich glaube, die Wirtschaft heißt .Glücksburg'!"
„Danke schön!" — Mit einer Behändigkeit, die man dieser Athletenfigur nicht zugetraut hätte, sauste Pohl die Treppen hinunter. Ob er die Gruppe noch antreffen würde? Wenn, das wäre köstlich, dann klebte morgen früh kein Naziplakat mehr.----------
„Hallo, Fritz!" — Mit vier jungen Arbeitern und der Else saß der noch im Gastzimmer der Wirtschaft.
Ganz außer Atem erzählte der Schauermann von dem Arbeiten der Nazis.
„Glänzend!" riefen alle, „machen wir!"
„Wir sehen zu, dass wir sie treffen, folgen ihnen dann und lassen kein Plakat kleben!"
„Geh Du nur nach Hause!" wandte sich Fritz an Else.
„Gibt's gar nicht, ich bin dabei!"
„Wir können sie vielleicht gut brauchen, Fritz!" rief ein anderer.-----------
Getrennt gingen sie in die Rosenhofstraße. Aufmerksam wurde die Straße von ihnen beobachtet. Nichts war zu bemerken. Kein Nazi war zu sehen. Karl Pohl schüttelte den Kopf. Er hatte schon wieder ein Plakat entdeckt und pellte es vorsichtig ab.
Dort an der Ecke stand nun aber einer der Jungkommunisten und schwenkte seine beiden Arme durch die Luft. Pohl, Fritz und Else liefen leise zu ihm. Auch die anderen kamen.
„Die Nazikolonne arbeitet in der Marienstraße!"
„Gehen wir vorsichtig nach!" meinte einer.
„Ruhig!" rief Fritz. „Vorsichtig, die Burschen arbeiten raffiniert und sind sicher gut geschützt! Wir wollen sie erst eine Zeitlang beobachten!"
Die Klebearbeit der Nazis war, wie Fritz richtig vermutete, streng militärisch organisiert. Drei Mann kamen aus einer Terrasse. In demselben Augenblick trat einer etwa 50 Meter hinter den Dreien aus einem Treppenhaus, sah sich nach allen Seiten um und ging dann mit den Klebern in gleicher Richtung die Straße hinunter.
„Und vorne auch!" zeigte der Schauermann. „Dort auf der anderen Seite!"
Dort war ebenfalls einer aus einem Treppenflur herausgetreten und ging voraus.
„Vorhut und Nachhut!" lachte Fritz. „Die sichern sich gut!"
„Ob wir noch etwas warten?"
„Natürlich! Else bleibt hier stehen und wir machen vorerst noch
einige Plakate in der Rosenhofstraße ausfindig!"----------
„Ob der Kafka dabei ist?" fragte der Schauermann Fritz. „Das möchte ich auch wissen!"
Alle sechs suchten nun die Wände der Terrassen und Häuser ab. Sie machten gründliche Arbeit.
Als Fritz verabredungsgemäß: „Üb' immer Treu und Redlichkeit!" die Straße entlang pfiff, kamen sie wieder an der Ecke Marienstraße zusammen.
„Sie sind in die Linienstraße eingebogen!" berichtete Else.
„Also die Marienstraße abputzen!" lachte Fritz. „Wir machen es genau wie die Nazis, Else geht immer fünfzig Meter voraus!"
Je drei nahmen nun eine Straßenfront Ein Naziplakat nach dem andern flog als Knäuel auf die Straße. Keins wurde übersehen. Hin und wieder trafen sie Pärchen in den Terrassen und Häusereingängen. Die lachten manchmal, wenn das heruntergerissen wurde, was andere vor einigen Minuten angeklebt hatten. Einer aber schlich sich aus einer Terrasse und lief an den Häusern entlang, der Rosenhofstraße zu. In ihrem Eifer halten die Jungkommunisten nichts gemerkt.
Die Nazis hatten viel Material verklebt. Wenn alles drangeblieben wäre, hätte es am Morgen Aufsehen erregt.
Else stand an der Ecke der Linienstraße und winkte. Von den Nazis war nichts zu sehen.
„Geh zur nächsten Straßenecke, wir kommen langsam nach!"
Else ging und suchte vergeblich nach den Nazis. Die Jungkommunisten säuberten unterdes die Linienstraße.-------
Als Else zufällig zu ihrem Fritz und den Genossen zurücksah, bemerkte sie, wie hinter deren Rücken vorsichtig einige Gestalten von Haus zu Haus heranschlichen. Die Genossen hatten noch nichts gemerkt Else winkte und winkte. Aber keiner sah es. Die Verfolger kamen immer näher. Als nun einmal auf beiden Seiten der Straße die Genossen zugleich aus den Terrassen kamen, schrie sie: „Nazis!"
In demselben Augenblick war auch schon ein Geheul auf der Straße. Die nachschleichenden Nazis stürmten auf die Jungkommunisten ein. Else hörte noch den Schauermann „Kafka!" brüllen. Dann aber lief sie wie von Sinnen die Linienstraße hinunter, in der weiter unten eine Polizeiwache war.
Bei dem Ruf „Nazis!" stürzten sowohl die Jungkomunisten, als auch die Nazis auf die Straße. Als ersten erblickte der Schauermann den Gemüsehändlersohn Kafka und brüllte begeistert dessen Namen. Kafka schreckte auf, sah den massiven Schauermann in der dunklen Straße auf sichzustürzen und war vollkommen verwirrt und vor Schreck wie gelähmt Mit einem wuchtigen Schlag räumte der Schauermann ein schmächtiges Kerlchen, das auf ihn zusprang, aus dem Weg und packte Kafka. Sekunden später wälzten sich einige Menschenknäuel auf der Straße.
„Das sind ja alles Schüler!" schrie der Tischlerlehrling Otto. „Die schlagen wir krumm und lahm!"
Die Nazis waren keine Schüler, sondern Angestellte und Söhne von Beamten und Mittelständlern und sportlich durchgebildet, aber gegen die arbeitsharten Fäuste der Jungproleten blieben sie im Nachteil. Der Schauermann warf den Kafka wie ein lebloses Bündel auf den Boden und packte sich einen neuen Gegner. Links und rechts teilte er furchtbare Hiebe aus. Der kleine Laufjunge Ewald war von einem ihm weit überlegenen Nazi blutig niedergeschlagen worden. Mit einem Schlag ins Genick warf Pohl den Nazi zu Boden.
Fritz schlug sich unverdrossen mit seinem Gegner herum. Er war körperlich nicht der Stärkste, aber Nachgeben gab es für ihn nicht
Da sah er, wie dicht hinter seinem Gegner ein Nazi, der auf der Erde lag, etwas blankes hervorzog und sich nach dem Schauermann umdrehte. Mit einem Satz sprang er an seinem Gegner vorbei, nahm einen harten Schlag gegen die Zähne hin und warf sich auf den am Boden liegenden Nazi. Im selben Augenblick fiel ein Schuss. Vier Nazis liefen davon. Fritz rang mit dem am Boden liegenden Nazi.
„Karl, — hier, — der hat geschossen!"
Dieser kam nun herbeigestürzt. Eine Serie Hiebe, und der Nazi sackte wie leblos weg. Fritz griff ihm in die Tasche und holte einen Revolver hervor.
„Polizei!" rief einer der Genossen.
„Die Linienstraße rauf zur Rosenhofstraße!" schrie Fritz.
Sie stoben davon. Alle sechs rannten sie in die Marienstraße hinein.
„Alle beisammen!" rief Pohl Fritz zu.
Dieser musste im Laufen lachen. Neben ihm lief der kleine Ewald* Das eine Auge war so blau geschlagen, dass man in der Dunkelheit den schwarzen Fleck sehen konnte. Der Ewald lachte zurück und rief: „Sie haben’s zurückbekommen!"
„Und saftig!" ergänzte lächelnd der Schauermann,
An der Ecke der Rosenhofstraße hielten sie. Polizisten waren nicht zu sehen.
„Nun geht jeder sofort nach Hause!" bestimmte Fritz. „Aber sofort!" betonte er noch einmal.
Sie gingen nun nach allen Richtungen mit vollkommen ruhigen Schritten ihren Weg weiter. Karl Pohl und Fritz gingen in die Rosenhof-Terrasse, setzten sich in den Hauseingang, wo Else wohnte und warteten auf sie; denn in der Wohnung war sie nicht.
„Wo ist das Mädel bloß hingelaufen!" murmelte Pohl und nahm Binder und Kragen, die ihm in Fetzen am Halse hingen, ab.
„Möcht' ich auch wissen!" antwortete Fritz, dessen Lippe aufgeschlagen war und heftig blutete. Er nahm sie in den Mund und bearbeitete sie mit der Zunge. Ihm schmerzten außerdem noch der Unterarm und die eine Schulterseite. Aber er sagte nichts.
Eine ganze Weile saßen sie schweigend beieinander.
„Kafka wird künftig einen großen Bogen um diese Terrasse machen!" knirschte Pohl vor sich hin.
„Ob der Student auch dabei war?"
Da kam Else in die Terrasse herein.
„Wo steckst Du bloß?" fuhr Fritz sie an.
Else antwortete nicht auf die Frage. „Zwei haben sie in die Wache geschleppt!" flüsterte sie. „Der Kafka ist einer davon!"
„Na, — und?" fragte Fritz.
„Die konnten nicht mehr auf den Beinen stehn!"
„Das haben wir auch gesehn!" lachte Pohl leise. „Die Hauptsache ist, es klebt kein Plakat mehr, und sie haben obendrein noch einen Denkzettel erhalten!"
Er verabschiedete sich nun von den Beiden. Es musste schon nach zwei Uhr sein. — — —
„Wo warst Du aber seit dem Zusammenstoß?" fragte Fritz noch einmal.
„Ich bin zur Polizei gelaufen!"
„Wa-as?" Fritz war ganz entsetzt. „Bist Du verrückt?"
„Die Nazis haben Euch doch überfallen!"
„Du weißt aber doch ganz genau, die Sache mag stehen wie sie will, immer nur wir Kommunisten, niemals die Nazis werden bestraft!"
„Die haben aber doch geschossen!" stammelte Else entschuldigend.
„Richtig!" Fritz erinnerte sich plötzlich daran. „Hier!" Er reichte ihr den Revolver, den er dem Nazi abgenommen hatte.
„Was soll ich damit.?"
„Nimm ihn mit zu Dir und verstecke ihn, falls sie mich erkannt haben sollten und bei mir Haussuchung veranstalten."
„Es wurde aber doch geschossen, Fritz!"
„Ja, hiermit!" antwortete Fritz und nahm die Patronenhülse heraus. „Sieh', eine Patrone fehlt!"
„Ist einer getroffen?"
„Nein!" —
„Aber Du blutest ja!"
„Nicht gefährlich! Nur an der Lippe etwas!"
„Das kann aber gefährlich werden. Komm mit zu uns rauf, dann sehe ich es mir richtig an!"
„Aber Dein Vater, Else!"
„Ach was, der schläft!" —
„Das war eine richtige Schlacht!" flüsterte Fritz leise, als sie die Treppen hinaufstiegen.
„Ja", flüsterte Else zurück, „und wir haben gesiegt!"
„Auf einer kleinen Bank im Park, da saßen wir beim Mondenschein, Es flüsterte der... ."
Hier brach der Gesang der Trudel Merker ab, denn es hatte geklopft.
„Wir möchten Fräulein Gertrud Merker sprechen!" Zwei Herren standen an der Tür. Trudel wusste keine Erklärung dafür, aber ihr War seltsam bedrückt zumute.
„Bitte, treten Sie ein! — — Ich bin Gertrud Merker!"
Der eine der Herren verbeugte sich leicht und sagte: „Kriminalpolizei!"
Trudel war es, als ob sie an allen Gliedern mit Nadelstichen bearbeitet würde. Sie beherrschte sich aber mühsam und fragte: „Wieso bitte?"
„Sie haben sich von einer Frau Hintz, Marienstraße 16, ein Kind abtreiben lassen!"
Trudel fühlte, wie sich alles vor ihren Augen zu drehen begann. Ruhig bleiben, rief es aber in ihr. Nur ruhig bleiben, nur den Kopf nicht verlieren. Dann gab sie sich einen Ruck: „Ich . . bitte Sie... das ist... nicht wahr!"
„Sie leugnen?"
„Ja! . . Ja!... Ja!"
„Ich will Ihnen folgendes sagen:" mischte sich der zweite Beamte mit wohlwollend freundlicher Stimme ein. „Wir haben Anordnung, Sie bei ungeklärter Sachlage zu verhaften; da wir aber soeben Frau Hintz verhaften mussten und eine Liste fanden, auf der auch Ihr Name stand, kommen wir nur, um von Ihnen zu erfahren, was die Frau Hintz von Ihnen dafür verlangt hat. Hat sie Ihre Notlage ausgenutzt?"
„Nein!" flüsterte Trudel und dachte damit Frau Hintz vor ungerechten Angriffen geschützt zu haben. Sie sah nicht, wie der sie ausfragende Beamte ein Auge zukniff und seinem Kollegen zublinkte.
„Was haben Sie denn zahlen müssen?"
Sag' nichts! Sag' nichts! rumorte wieder eine Stimme in ihr. Sie starrte den Kriminalbeamten an.
„Fünfzig Mark!" schrie sie dann plötzlich und fiel in Weinkrämpfe.
„Beruhigen Sie sich Fräulein!" trat der eine Beamte wieder an, sie heran. „Es passiert Ihnen nichts. Sie werden auch nicht verhaftet!"
Trudel weinte unaufhaltsam. Sie zitterte am ganzen Körper, „Nur noch Ihre Personalien! — Sie sind am 3. 6. 1910 geboren?"
Sie nickte.
„Wohnen Rosenhofstraße 3, Haus 3, bei den Eltern?"
„Wird mein Vater alles erfahren?" wimmerte Trudel.
„Ach was!" erklärte der Beamte, nur um sie zu beruhigen, „kein Mensch wird was erfahren!"
„So, nun unterschreiben Sie mal dieses! — — Hier!" —
Der Beamte hatte sein Notizbuch schon wieder eingesteckt und seinen Hut ergriffen, als sein Kollege fragte: „Wo hatten Sie denn eigentlich die 50 Mark her?"
Das war ein neuer Schlag für Trudel. Sie suchte und suchte und fand keinen Ausweg.
„Das Geld... !" Sag es nicht, sag es nicht! schrie es wieder in ihr. Was sollte sie sagen?
„Das Geld... habe ich mir geliehen!"
„So-o-o!" antwortete der Beamte, als wenn er es wohl vermutet, aber die Antwort doch nicht erwartet hätte.
„Von wem denn?"
„Muss ich das auch sagen?" fragte ihn Trudel unter Tränen.
„Sie müssen uns alles sagen!"
„Von dem Freund meiner Freundin!"
„So — von dem Freund ihrer Freundin!" wiederholte der Beamte und zog sein Notizbuch wieder hervor.
„Wie heißt der Freund Ihrer Freundin?"
„Fritz Burmestsr?"
„Und wohnt?"
„Rosenhofstraße 31."
„Der Freund ihrer Freundin wusste doch, wozu Sie das Geld brauchte?*'
„Nein!" schrie Trudel auf.
„Nicht?" fragte der Beamte erstaunt. „Aber doch ihre Freundin?"
„Keiner wusste davon! Keiner!"
..So!" sagte der Beamte nur noch. —
Als die Beiden gegangen waren, saß Trudel ratlos da. Unaufhaltsam rannen die Tränen über ihr Gesicht. Sie kam sich wie geprügelt vor. Wenn nun alle Leute davon erfuhren? Was würde Else sagen? Was würde das alles noch für Folgen haben? Abtreibung wird mit Gefängnis bestraft. Mit Gefängnis! Wenn sie nun ins Gefängnis käme? Verzweifelt und voll Angst rannte sie in der Wohnung herum. Was sollte sie nur tun? Die Eltern durften nichts erfahren. Nichts! Keiner durfte etwas merken. Keiner! Zur Else Langfeld! Ja, sie wollte rüber zur Else.-----------
„Machen wir erst Meldung, oder nehmen wir die Hintz gleich fest?" fragte der eine Beamte seinen Kollegen, als sie durch die Terrasse gingen.
„Wir nehmen sie lieber gleich fest!" entschied der andere.

 

Kapitel III.

Am Abend des 18. März wurde es am Alexanderdamm lebendig. Pfeifend fuhr der Wind in die Schneeflocken, peitschte sie hoch und trieb sie wirbelnd vor sich her. Aus diesem Schneegestöber erklang Gesang, trotziger, kampfbereiter Gesang. Ein langer, schwarzer Zug von Menschen zog den Alexanderdamm herauf. Über ihren Häuptern flatterten blutrote Fahnen. Immer kräftiger schwoll der Gesang an. Heulend fuhr der Wind dazwischen und wirbelte Schneeflocken gegen die Menschen. Aber unbeirrt marschierte die dunkle Masse.
Vor den Volkssälen am Alexanderdamm staute es sich. Stoßweise wurden die Anmarschierenden in den riesigen Versammlungssaal eingelassen. Immer neue Züge trafen ein. Der Gesang der einen Gruppe klang in den der anderen über.
An den Straßenecken standen zwei Lastautos mit Polizei. Zitternd vor Kälte sahen sich die Beamten den imposanten Aufmarsch an. Einige schüttelten die Köpfe, als ob sie diese Menschen unbegreiflich fänden.
Im Saal wogten indes schon Menschenmassen durcheinander. Oben auf der Galerie, über dem Rednerpodium, saß eine Arbeiter-Musik-Kapelle und spielte Märsche. „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" stand auf einem riesigen roten Transparent zwischen Galerie und Rednerpodium und rundherum leuchteten auf rotem Tuch revolutionäre Parolen in den Saal. Der Riesenraum war fast schon gefüllt, aber immer neue Scharen strömten herein.
Dutzende rote Fahnen hingen von der Galerie. Gruppenweise wurden Kampflieder gesungen und diskutiert. Broschüren und Zeitschriften wurden laut angeboten. Es war ein lebhafter Betrieb, ein Hin und Her, ein Rufen und Winken, ein Singen und Lärmen. Auch Fritz und Else saßen unter den Jungen in der ersten Reihe, direkt an der Brüstung. Noch nie hatte Else ähnliches erlebt, noch nie soviel Menschen beisammen gesehen, noch nie eine derartige Begeisterung gespürt, wie sie hier durch die Menschen ging. Fritz hatte vollauf zu tun, alle ihre Fragen zu beantworten,
„Ja, die Pariser Kommune war die erste große Erhebung des modernen Proletariats!"
„Und jedes Jahr ist eine Gedenkfeier?"
„Ja!"
„In allen Ländern?"
„Ja!"
Else dachte eine Weile nach. „Sie kämpften doch damals um die Demokratie, nicht wahr?"
„Nein, nicht um die Demokratie ging es, sondern um die Herrschaft der Arbeiterklasse. Engels, einer der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, nannte die Kommune ein Vorbild für die kommende Klassenherrschaft des Proletariats!"
Unten im Saal entstand eine Unruhe Die Menschen erhoben sich. Ein Literaturverkäufer lief in Zuchthauskleidung umher und verkaufte Broschüren der „Roten Hilfe" für eine Amnestie der proletarischen ,politischen' Gefangenen.
„Fritz, dort das Transparent: ,Hinweg mit dem § 218!'' steht drauf. Was ist das für ein Paragraph?"
Nun musste Fritz auflachen. Das ist 6er Paragraph, der Trudel Merker und Frau Hintz der Polizei und dem Gericht auslieferte!"
Else schwieg.
„Was hat sie überhaupt noch gesagt?" blieb Fritz bei dem Thema.
„Sie sagt, sie ist überrumpelt worden. Aber keiner konnte sie zwingen zu sagen, dass wir ihr geholfen und von der ganzen Sache gewusst hätten Das Geld habe ich ihr ahnungslos gegeben, nachdem ich es mir von dir geliehen habe!"
„Fehlt nur noch, dass ich noch sage, dass ich es von Olfers habe. Die hat sich benommen, wie ein dummes Gör!"
„Ich kann mir denken, dass solche Kriminalbeamte hundsgemein sind!" versuchte Else sie zu entschuldigen.
„Hundsgemein oder nicht hundsgemein, sie hat die Hintz dem Staatsanwalt ausgeliefert!" brauste nun Fritz wütend auf.
„Sie nicht — ihre Dummheit und Angst!" antwortete Else leise.
„Sie brauchte der Kriminalpolizei überhaupt nichts auszusagen!"
„Dann wäre sie aber vielleicht verhaftet worden!"
„So-oo?" rief Fritz ironisch und doch wütend „Und um dieser eventuellen Verhaftung zu entgehen, bringt sie die andere ins Zuchthaus! So, so!" —
„Ruhe! Ruhe!" riefen einige Umstehende.
Die Kundgebung wurde eröffnet. Fritz war käsig im Gesicht vor Wut. Else saß ratlos neben ihm und starrte gedankenlos in die brodelnde Menschenmasse. Die Arbeiter-Schalmeienkapelle setzte ein. Alle erhoben sich und sangen. Else war ganz schwindlig, sie hatte für einen Moment das Gefühl, in einer Kirche zu sein Schwer und wuchtig brauste aus tausend und aber tausend Kehlen der Gesang. Von den Worten verstand Else nicht viel, aber die Melodie hatte in ihrer Getragenheit Kraft und Siegesbewusstsein... .
„Da ist Genosse Horn!" flüsterte Fritz.
Else nickte. Auf dem Rednerpodium stand ein großer, schlanker Mensch mit dunklen Haaren und hellem Gesicht. Fritz hatte ihr schon manches von ihm erzählt. Er war der Chefredakteur der kommunistischen Arbeiterzeitung und Leiter verschiedener Bildungskurse. Als Sohn vermögender Eltern ging er von der Universität, zum Entsetzen seiner Angehörigen, zum kämpfenden Proletariat über und arbeitete in der monistischen, dann in der kommunistischen Jugend und trat später in die Redaktion einer kommunistischen Tageszeitung ein. Else wusste, dass Fritz ihn sehr schätzte.
Er sprach jetzt von unserer Zeit als die der geschichtlichen Epoche des Zusammenbruchs des kapitalistischen Weltsystems und der proletarischen Revolutionen... „Wir stehen mitten drin in diesem geschichtlichen Ringen. Ein Sechstel der Welt hat das Proletariat bereits erobert. Die kapitalistische Welt liegt in Agonie. Die Pariser Kommune 1871 war der Auftakt, der Beginn des grandiosen Kampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat, zwischen der ausbeutenden und ausgebeuteten Klasse!"
Sein Organ war metallen und sympathisch, es zwang den Hörer zur Aufmerksamkeit. Auch Else lauschte ganz verloren seiner Rede. Freilich verstand sie vieles nicht und kämpfte oft mit der Versuchung, Fritz anzustoßen und zu fragen. Der aber lag mit verschränkten Armen breit über der Galeriebrüstung und sah wie hypnotisiert aufs Podium. Seine Freundin schien für ihn jetzt nicht zu existieren.
Else vernahm, wie die Kommune ausbrach, und mit welcher reinen und leidenschaftlichen Begeisterung die Arbeiter Paris verteidigten. Klar stand vor ihr, wie dann angesichts dieser Gefahr für die bürgerliche Weltordnung durch das aufständische Pariser Proletariat die Feinde von gestern, die reaktionären Militärs Preußens und Frankreichs, Sieger und Besiegte, sich gegen das revolutionäre Paris verbündeten und gemeinsam den Aufstand der Arbeiter in Blut erstickten. Als Horn die bestialischen Grausamkeiten der Versailler Gegenrevolution, unter Führung des Generals Gallifet, nach Niederschlagung des Aufstandes der Arbeiter schilderte, wurden wiederholt Rufe des Abscheus und der Entrüstung laut. Die Arbeiter zogen selbst geschichtliche Parallelen und riefen „Noske!", wenn von Gallifet die Rede war.
Dann kam der Redner auf die Haltung August Bebeis und des alten Liebknecht zur Pariser Kommune zu sprechen. Von brausendem Beifall unterbrochen, las er aus einer Rede Bebeis vor, in der er die Kommune verteidigte. Erneuter Beifall brach aus, als er Marx und Engels über diesen heldenhaften Aufstand zitierte.
Lange noch zitterte die Erregung in der Versammlung nach, als Horn begann, die geschichtliche Periode von der Kommune bis zum August 1914 darzulegen. Auch auf der Galerie war die Unruhe noch nicht abgeebbt.
Fritz wandte sich plötzlich an Else. „Sieh, dort sitzt Olfers!"
Else suchte und konnte ihn nicht entdecken.
„Dort!"
Jetzt sah sie ihn. Er saß ruhig zurückgelehnt unter den vielen Menschen im Saal. Horn redete mit erhöhter Stimmenkraft, um die Unruhe im Saal zu bannen. —
„Wann sie den Pohl wohl wieder rauslassen?" flüsterte Fritz ganz unvermittelt.
„Ja!" Else vergegenwärtigte sich das Gesicht des Schauermannes, der am Morgen nach dem nächtlichen Zusammenstoß mit den Nazis verhaftet worden war. —
„Hallo, Fritz!" rief einer aus den hinteren Reihen.
Außer Fritz und Else drehten sich noch andere um.
„Ruhe! — Ruhe!" riefen einige wütend.
Fritz sah Walter Heuberger und winkte, verlegen über die Ruhestörung, mit der Hand.
„Der ist jetzt immer dabei!" flüsterte Else.
„Ich dachte schon, er wäre durch die Verhaftung Pohls abgeschreckt!" flüsterte Fritz zurück.
Ein Händeklatschen im Saal und auf der Galerie schreckte sie
auf.
Fritz horchte jetzt wieder auf den Redner. Dieser sprach von dem sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion. Wenn Fritz aber auch unverwandt auf den Redner sah, jetzt hörte er nichts von dem, was er sprach, sondern dachte an den verhafteten Schauermann und an Walter Heuberger. Beide waren für die Sache der revolutionären Arbeiter gewonnen und es schienen nicht die schlechtesten zu werden. Dann musste er an Kafka denken. Ob man den nicht auch noch gewinnen könnte? Haben wir eigentlich wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft? Fritz hatte in diesem Augenblick beinahe Gewissensbisse. Dann grübelte er darüber nach, wie man weiter vorstoßen könnte. Auf besondere Art, mit neuen, noch nicht dagewesenen Methoden müsste es sein. Wieder schreckten ihn einige Zurufe aus der Versammlung auf. Horn war jetzt hochrot vor Anstrengung und innerer Erregung. Mit größter Stimmenkraft und lebhaften Armbewegungen kam er zum Schluss seiner Rede. Er zog die Linie: Pariser Kommune — Kommune Sowjetunion und forderte auf: „Vorwärts! Weiter! — Keinen Stillstand! Das vor uns liegende Ziel heißt: Kommune Sowjetdeutschland!"
Mit tosendem Beifall fiel ihm die Versammlung in die Rede. „Dann weiter zur Weltkommune. Das heißt: Herrschaft der Arbeiter in allen Ländern und Festigung dieses Sieges und des Aufbaus de»Sozialismus im Weltmaßstabe!"
In dem anhaltenden tosenden Beifall der tausende Anwesenden intonierte die Schalmeienkapelle die ,Internationale". Sofort endete das Händeklatschen und die Versammelten erhoben sich wie ein Mann von den Sitzen. Kraftvoll, drohend und zukunftsgewiss, dröhnte der Massengesang durch den Riesensaal.
Nun kam eine kleine Pause. Hinterher sollte eine Arbeiter-Theatertruppe spielen. Fritz rief: „Komm!" und drängte sich durch die Reihen der hinter ihnen Sitzenden und Stehenden. Else war es absolut nicht recht. Sie hätte gerne noch die Truppe spielen sehen.
„Ich halte das hier nicht mehr aus!" flüsterte Fritz ihr wie zur Entschuldigung zu.
Draußen war es wie in einer eisigen Winternacht. Außer einigen Genossen vom Ordnerdienst, die vor dem Eingang der Volkssäle standen, war weit und breit kein Mensch zu sehen. Als aber Fritz und Else durch den Schnee den Alexanderdamm hinunterstampften, sahen sie in der ersten Querstraße ein Überfallauto stehen. Die Polizisten trampelten vor Kälte in dem Schnee und hauchten sich in die zusammengeballten Fäuste. Die Uniformen wirkten im Schnee und in der Einsamkeit merkwürdig kriegerisch.
„Noch nicht bald zu Ende?" schrie einer zu Fritz hinüber.
Fritz schüttelte mit dem Kopf und machte eine Bewegung mit der Hand, als wollte er sagen, sie sollen doch abfahren.------
„Warum hattest Du es so eilig?" fragte Else.
„Ich mag nach einem derartigen Thema das Spiel, das folgen sollte, nicht sehen!"
Else schwieg.
„Dir ist es doch auch recht, nicht wahr?"
„Ich wäre gerne geblieben!" gestand sie ehrlich.
Schweigend arbeiteten sie sich durch den Schnee weiter. Der schneidende Wind fuhr ihnen ins Gesicht. Vornübergebeugt und eng aneinandergepresst, kämpften sie gegen das Gestöber an.
Während sie so durch einige Straßen und Nebenstraßen kreuz und quer gingen, dachte Fritz an Pohl und Kafka, an die Pariser Kommune und die kommende Kleinarbeit. Else war mit ihren Gedanken bei Trudel Merker. Und jeder so seinen eigenen Gedanken nachgehend, kamen sie in die Rosenhofstraße. Fritz verabschiedete sich flüchtig und lief weiter. Else sah ihm nach. Sie hatte, während sie die steilen Stufen im dunklen Treppenaufgang hinaufschritt, das quälende Gefühl, ihn irgendwie verletzt zu haben. Sie wusste aber nicht wodurch.
In der Küche fand sie einen Brief auf dem Tisch. „An die Genossin Langfeld" stand darauf. Sie riss ihn erstaunt auf.
Werte Genossin! Morgen abend muss eine wichtige Zusammenkunft aller Mitglieder der Redaktion der Häuserblock-Zeitung sein. Mitglieder der Stadtteilleitung und des Mietervereins werden ebenfalls anwesend sein. Die Sitzung findet in meiner Wohnung statt. Ich rechne bestimmt mit Deinem Erscheinen. Mit Parteigruß: Olfers.
Else wurde heiß im Gesicht vor Freude. Sie war jetzt eine richtige Genossin, die man zu einer Sitzung einlud. Sie las die Einladung noch einmal und es war ihr, als wäre es ein Anerkennungsschreiben. Sie war stolz darauf. Ob Fritz auch solchen Brief bekommen hat, dachte sie noch.

Eines Morgens war bei der Brothändlerin Kuhlmann große Aufregung unter den Frauen. Das war ein Geschnatter und Geschimpfe. In der Erregung sprach eine gegen die andere. Der Anlass war eine achtprozentige Mietserhöhung, die die Hausbesitzer verfügt hätten.
„Unerhört finde ich das!" kreischte die pummelige Frau Fritt und sah mit ihren stechenden Augen beifallshungrig umher. „Unerhört, denn nach dem Gesetz sind doch nur fünf Prozent berechtigt! Und das ist schon ein Skandal!"
„Wieso fünf Prozent?" fragte die dürre Frau Kummerfeld.
„Na, die sind doch im Reichstag angenommen worden!" erklärte wichtig die Fritt.
„Unglaublich!" fing nun auch die Mechanikerfrau wieder an. „Alles wird verteuert und erhöht, und der Mittelstand verarmt immer mehr!"
„Nicht nur der Mittelstand, auch der Arbeiterstand, Frau Kollmar!" warf die Kummerfeld ein. „Die Löhne werden immer mehr abgebaut, und die Ausgaben für die täglichen Bedürfnisse steigen dauernd!"
„Wissen Sie!" wandte sich jetzt die rundliche, kleine Fritt an die Frau des Wohlfahrtspflegers und rückte ganz nahe an sie heran: „Die Sozialdemokratie hat im Reichstag dieser Mieterhöhung zugestimmt!"
Die hagere Frau Kummerfeld zuckte zusammen, als hätte sie einen Hieb ins Gesicht bekommen. Die um sie herumstehenden Frauen sahen sie erwartungsvoll an; es würgte ihr ein Wort in der Kehle, aber sie bekam es nicht heraus, und wortlos verließ sie den Laden. —
„Diese Hungerleider von Wohlfahrtspfleger sollen nur nicht so angeben!" unterbrach die Fritt das Schweigen. „Die sollen sich nur nicht so arbeiterfreundlich aufblasen. Mein Mann sagt immer: Es gibt keine Schweinerei, in der die Sozialdemokraten nicht ihre schmutzigen Pfoten haben!"
„Und das will eine Arbeiterpartei sein!" wusste die Mechanikerfrau zu sagen, die mit ihrem Mann Mitglied der Deutschen Volkspartei war..
„Vor dem Krieg war doch alles viel reeller!" seufzte die Brothändlerin.
„Ja, vor dem Krieg!" riefen die Frauen durcheinander.
„Da war noch Anstand und gegenseitige Achtung unter den Menschen!" Pathetisch deklamierte das die Frau des Tischlers Höhlein, der Sozialdemokrat war.
„Und geordnete Verhältnisse!"
„Jeder hatte sein gutes Auskommen!"
„Und Zucht und Ordnung herrschte!"
Die Weiber sprachen alle durcheinander, als Else in den Laden trat.
„Guten Morgen!"
„Guten Morgen!"
Bevor Else angeben konnte, was sie kaufen wollte, fragte die Fritt die Brothändlerin: „Haben Sie eigentlich auch so'n Wisch von Hauszeitung erhalten?"
Frau Kuhlmann wurde doch etwas verlegen. Sie merkte die Zielrichtung dieser höhnischen Frage sehr wohl.
„Was haben mein Mann und ich gelacht!" kreischte die Fritt ungestört weiter. „Auf was für Ideen diese Kommunisten kommen!"
Else stand ruhig am Ladentisch. „Ein halbes Feinbrot und sechs Rundstücke bitte!"
„Haben Sie gelesen, was über uns Frauen drinstand?" wandte sich die Tritt nun an die Mechanikerfrau.
„Wir lesen derartigen Dreck nicht!"
„Hätten Sie müssen! Hätten Sie müssen!" lachte die rundliche Person: „Sie hätten sich totgelacht! So'n Quatsch!"
Der Else zuckten die Lippen, aber sie beherrschte sich und tat völlig unbeteiligt.
„Die Kommunisten sollten lieber etwas gegen die Mietserhöhung unternehmen!" rief die Höhlein. „Mein Mann sagt: Die können reden und kritisieren, aber praktisch nichts ändern!"
„Alles nur Phrasen!" bestätigte die Fritt. „Nur Großmäuligkeit! Selbst sind sie zur geringsten praktischen Arbeit unfähig!"
„Wenn man sie aber hört!" warf ironisch die Mechanikerfrau ein, „dann sollte man meinen, sie würden die ganze Welt überrennen!"
Die Frauen lachten und schielten Else von der Seite an. Diese nahm ihr Brot und verließ mit einem freundlichen „Guten Morgen!" den Laden.
Die Weiber schwiegen. Sie waren sprachlos vor Wut. „Die hält sich scheinbar schon für zu stolz, um sich mit uns zu unterhalten!" knirschte die Fritt.
„Worauf soll sie denn stolz sein?" fragte erstaunt die Tischlerfrau.
„Weiß der Teufel!"
„Die soll sich nur in acht nehmen, dass es ihr nicht so wie der Merker geht!"
Die Mechanikerfrau hatte ein neues Stichwort gegeben. Else war vergessen, Trudel Merker kam auf die Tagesordnung.
„Ja!" heuchelte die Fritt Entrüstung, „das ist der Dank solcher leichtsinnigen Dinger. Erst hilft so eine Frau, und dann wird sie verpetzt!"
„Was? Die Merker hat die Frau verraten?" Die Hohlem tat ganz entsetzt.
„Natürlich! Sie hat den Kriminalbeamten alles haarklein erzählt, und die haben dann sofort die Hintz, das ist die Frau, verhaftet!" „Die arme Frau!" lispelte die Mechanikerfrau. „Die hat einige Jährchen Zuchthaus weg!" „Meinen Sie?" „Sicher! So etwas wird heute schwer bestraft!"
„Und was wird mit der Merker geschehen?" fragte die Brothändlerin.
„Na, die wird pro forma verurteilt, aber begnadigt, weil sie gleich alles verpetzt hat!" antwortete die Fritt und setzte bei den letzten Worten eine verächtliche Grimasse auf.
„Dies Luder!" zischte die Höhlein.
„Das wird noch weitere Kreise ziehen!" Die Fritt kam sich ungeheuer wichtig vor.
Der Brothändlerin aber war diese ekelhafte Heuchelei nun doch zu stark, und als die Fritt sie herausfordernd ansah, als ob sie auf ihre Bestätigung wartete, sagte sie nur: „Ja, ja!" und sah auf die
Straße.

Abends war die Sitzung der Redaktion der Häuserblockzeitung bei Olfers. Auch Fritz war anwesend. Außerdem noch ein Vertreter des Mietervereins und ein Mitglied der Stadtteilleitung der kommunistischen Parteiorganisation. Der einzige Tagesordnungspunkt war die Mietserhöhung am 1. April. Olfers schlug vor, zusammen mit dem Mieterverein eine Protestbewegung zu organisieren und eine öffentliche Mieterversammlung einzuberufen. Aus diesem Grunde müsse auch die Häuserblockzeitung bereits vor dem 1. April noch einmal erscheinen und die Protestbewegung entfachen hellen.
Nach eingehender Diskussion wurden Olfers Vorschläge angenommen. Ein Referent des Mietervereins und Olfers wurden als Redner festgelegt und das Lokal von Petersen als Versammlungsort bestimmt. Mit kleinen Handzetteln sollten die Einwohner der ersten Hälfte der Rosenhofstraße zu dieser Protestversammlung aufgerufen werden. Die sofort fertig zu stellende Häuserblockzeitung sollte ebenfalls auf die Versammlung eingestellt werden. Fiel die Aktion gut aus, sollte eine Versammlung für die übrige Hälfte der Straße folgen.
Fritz und Else sahen sich an. Sie wussten, dies alles bedeutete sehr viel Mehrarbeit. Auch die sonst so redselige Genossin Schenk war während der ganzen Sitzung auffallend schweigsam. Die Kleinarbeit überstieg manchmal bei den wenigen Parteiarbeitern fast das Menschenmögliche.
Else musste an das Gespräch der Frauen bei der Brothändlerin denken und nickte Fritz ermunternd zu. In zwei Tagen sollte die Häuserblockzeitung fertig sein und verteilt werden, denn am Tag darauf war schon die Protestversammlung.

Fritz und Else Hefen schon eine Stunde vor Beginn der öffentlichen Mieterversammlung vor dem Versammlungslokal auf und ab. Harte Arbeit hatte es, um alles vorzubereiten, während der letzten Tage gekostet. Flugzettel waren entworfen, hergestellt und verteilt worden; die Häuserblockzeitung wurde geschrieben, in fünfhundert Exemplaren abgezogen und dann noch treppauf treppab in die Wohnungen getragen. Und alles war die Arbeit von vier Leuten; denn Olfers selbst konnte man nicht zu jeder Kleinarbeit heranziehen. Er schrieb Artikel für die Häuserblockzeitung, Korrespondenzen für die kommunistische Tageszeitung, bereitete sich als Redner auf die Versammlung vor, hatte also schon sein tüchtiges Bündel Arbeit.
Sie sahen, wie die ersten Versammlungsbesucher in das Lokal gingen. Ein Arbeiterehepaar und zwei Arbeiter — der eine, mit der Pfeife im Munde, war der Tischler Höhlein —, blieben diskutierend vor der Wirtschaft stehen.
Fritz und Else gingen noch ein Stück in die Rosenhofstraße zurück. Sie sahen eine ganze Anzahl Arbeiter, die fraglos zur Versammlung wollten.
„Vielleicht wird es doch ganz gut besucht!" meinte Fritz.
„Du, da kommt Pohl!"
„Wahrhaftig!"
Der junge Schauermann kam heran und begrüßte die beiden.
„Guten Tag, Karl!"
„Guten Tag!" schluckte Pohl. „Ich war bei Dir im Hause. Da sagte man mir, dass ihr hier Versammlung habt!"
„Wieso haben sie Dich plötzlich laufen lassen?" fragte ihn Else.
Der Schauermann lachte und reckte sich.
„Warum haben sie Dich überhaupt festgenommen? So wollen wir erstmal fragen!" meinte Fritz.
„Wie war es denn, so gefangen? Hast Du hungern müssen?" bestürmte ihn Else.
„Oha!" lachte Pohl. „Man alles der Reihe nach!"
Sie beschlossen, einmal um den Häuserblock herumzugehen.
„Aber was ist denn das eigentlich für eine Versammlung heute?" fragte der Schauermann, anstatt auf all die Fragen zu antworten.
Fritz erzählte ihm nun von der von ihnen organisierten Protestversammlung der proletarischen Mieter, gegen die für den 1. des kommenden Monats beabsichtigte achtprozentige Mietserhöhung.
„Und was ist der Zweck der Versammlung?"
„Das hängt von dem Besuch, der Stimmung der Mieter und der Stärke unseres Einflusses ab!" antwortete Fritz. „Vielleicht Mieterstreik!"
„Oha! So was war ja noch nicht da!"
Sie schlenderten die Straßen entlang. Als sie an dem Platz des nächtlichen Zusammenstoßes mit den Nazis vorbeikamen, bemerkte Pohl trocken: „Der Schlachtplatz!"
„Es läuft aber schon tüchtig!" rief Else, als sie wieder in die Marienstraße einbogen. Gruppenweise kamen Arbeiter von der Rosenhofstraße her und gingen zu Petersen. Vor dem Lokal stand Olfers und winkte. Fritz lief zu ihm.
„Wir fangen gleich an! Der Besuch ist ausgezeichnet. Der vom Mieterverein schwimmt in Wonne!"
„Wer spricht zuerst, Du oder der vom Mieterverein?"
„Brinkmann vom Mieterverein erst! Ich habe ihn schon gehörig aufgepulvert!"
„Was meinst Du, werden wir tun?"
„Das kann man jetzt schlecht sagen. Wir müssen aus der Situation heraus handeln!"
„Mieterstreik?"
„Vielleicht!"------------
Das Versammlungslokal war gedrängt voll. Einige rückten schon mit ihren Stühlen zusammen und hoben Tische aus der Mitte des Saales über die vielen Kopfe hinweg zum Kellner, der sie in einem kleinen Klubraum nebenan aufstapelte. Das war ein Gerede und Gerufe, ein Kommen und Gehen unter den Versammelten. Nachbarn begrüßten sich, Arbeitskollegen trafen sich und sprachen miteinander. Bier wurde von Kellnern herumgetragen. Bestellungen durch den Saal gerufen, und der Tabaksqualm der vielen Pfeifenraucher färbte die Luft blau.
Ein älterer, dürrer Arbeiter und ein Vorstandsmitglied des Mietervereins nahmen am Vorstandstisch Platz. Auch Olfers zwängte sich durch die Reihen der Versammlungsbesucher nach vorn.
„Wer ist der Alte am Vorstandstisch?" fragte Else. Mit Fritz und Pohl stand sie hinten im Saale.
„Der Genosse Köhler von der Stadtteilleitung.“
„Und der andere?"
„Der Vertreter des Mietervereins!" „Auch ein Genosse?"
„Nee, — ich glaube Sozialdemokrat!"
„Nanu!" mischte sich jetzt Pohl ein. „Wenn der nun Quatsch verzapft und bremst?"
„Das müssen wir eben abwarten!" erwiderte Fritz. „Oft aber; ist es so, dass diese einfachen Arbeitermitglieder der Sozialdemokratie in solchen Spezialfragen ausgesprochen radikal denken und mit uns gemeinsam gehen. Erst hinterher werden sie meistens von ihren Parteiinstanzen gegen uns aufgeputscht. Vorher müssen wir sie tüchtig bearbeiten und versuchen, sie zu uns herüberzuziehen!"
Der alte Genosse Köhler erhob sich, läutete, bat um Ruhe und eröffnete die Protestversammlung der Mieter der Rosenhofstraße aus den Häusern von Nr. 1 bis 80. Dann wies er kurz auf die Veranlassung dieser Versammlung hin. Er sprach fließend und scheinbar ohne Mühe, aber leise, man möchte sagen, kränklich. Und weil dies wohl instinktiv jeder so empfand, herrschte absolute Ruhe. Dann erteilte er dem Vertreter des Mietervereins das Wort.
Das war ein riesenhaft großer Mensch mit vollkommen kahlem Kopf. Gleich am Anfang seiner Ausführungen wandte er sich mit donnernder Stimme gegen die geplante Mietserhöhung und forderte die Versammelten zu den schärfsten Abwehrmaßnahmen auf. Alsdann ging er, weit ausholend, auf die Arbeit und die Bedeutung des Mietervereins ein.
Fritz nahm Else beiseite und flüsterte ihr zu, sie solle hier, am Eingang, bleiben und ihn rufen, wenn etwas besonderes vorfalle, er wolle sich mit Pohl draußen unterhalten.------------
„Wie lautet denn die Anklage?11 fragte Fritz den Schauermann, als sie aus dem Versammlungslokal hinausgingen,
„Auf Körperverletzung!"
„Da steckt doch nur der Kafka dahinter!"
„Natürlich! — Den Lump kauf ich mir noch!"
„Das ist dann ja wieder Körperverletzung", warnte ihn Fritz lachend. „Wie war's denn im U.-G.?"
„Na, wie soll's gewesen sein! Man kommt sich vor wie'n Idiot! Einmal am Tag wird die Zellentür geöffnet, dann geht's nämlich zum Zwanzig-Minuten-Zirkusrundlauf. Fünf Schritte Abstand, Hände auf dem Rücken, immer im Kreis herum. Das nennen sie Freistunde. Überall stehen Wachtmeister und betrachten dich wie ein Wundertier. Die ganze übrige Zeit sitzt du in deinem Loch und keiner kümmert sich um dich!"
„Aber wenn ihr Essen bekamt?"
„Ja, dann wurde eine Klappe an der Tür aufgerissen und einem der Fraß zugelangt. Wie bei 'ner Fütterung wilder Tiere im Zoo."
„Und was hast Du die ganzen Tage gemacht?" fragte Fritz weiter.
„Dreimal ,Die Liebe der Sennerin' und zwei- oder dreimal oder viermal, ich weiß es nicht mehr, die ,Märchen von Musäus' gelesen und dann... !"
„Du willst mich wohl zum Besten haben!"
„Aber nein, Fritz! Jeder Gefangene bekommt in der Woche ein Buch und das waren die beiden, die ich bekam!"
„Musstet ihr nicht arbeiten?"
„Das ist im U.-G. kein Muss, aber wer wollte, konnte Tüten kleben. Mensch, wenn ich das getan hätte, säße ich noch dort. Gefangene sind billige Ausbeutungsobjekte!"
„Pst! — Pst!" Else winkte an der Tür. „Olfers spricht jetzt!"
Olfers sprach etwas singend im Tonfall, zu weich und wie es Fritz schien, schüchtern. Es war auch, als ob er jedes Wort erst prüfte und abwog, ehe er es brauchte. Er war alles andere, als ein routinierter Redner und doch wirkte er irgendwie fesselnd auf die Zuhörer. Seine etwas gequälte Rede besaß eine seltsame Wärme, die auf jeden, der ihm zuhörte, überströmte. Unwillkürlich musste man das Empfinden haben: Das ist ein grundehrlicher Mensch!
Er legte in groben Umrissen die ganze ungeheuer schwierige Wirtschaftslage dar, zeigte ein Bild von den Ursachen der Wirtschaftskrise des internationalen Kapitals auf und bewies, wie in der heutigen Klassenherrschaft des Kapitals alle vorhandenen Schwierigkeiten und Lasten auf alle nur erdenkliche Art und Weise auf die arbeitenden Massen abgewälzt werden. „Eine dieser ungeheuerlichen Lasten sind die Mieten mit allen ihren Extraaufschlägen", erklärte er. „Der Reichstag hat vor einigen Monaten eine Erhöhung aller Mieten um fünf Prozent beschlossen und man darf nicht verschweigen, dass die Sozialdemokratie diesem Antrag der bürgerlichen Parteien zugestimmt hat!"
„Pfui! Pfui!" riefen einige Arbeiter.
„Bitte keine Parteipolitik!" kreischte eine Stimme.
„Wer war das?"
„Jammeracker!" rief Pohl erstaunt. „Der ist auch hier!"
„Wer ist Jammeracker?" wandte sich nun Fritz flüsternd an Else.
„So nennen sie bei uns im Hof den Wohlfahrtspfleger Kummerfeld!"
Fritz verbiss ein Auflachen.
„Man muss bei der Erörterung dieser Fragen auch auf die Haltung der einzelnen Parteien eingehen!" fuhr Olfers fort, „und darf nicht aus parteipolitischen Rücksichten Schandtaten der Sozialdemokratie verschweigen wollen!"
„Sehr richtig!" wurde ihm zugerufen.
„Diesen Reichstagsbeschluss benutzten nun unsere Hausbesitzer sofort, um noch weitere drei Prozent aufzuschlagen. Wie sie sagen, sollen dafür im Laufe der nächsten Jahre unsere Mietskasernen überholt und gestrichen werden!"
Gelächter brach aus. „Im Laufe der nächsten Jahre!" wiederholte einer ironisch.
„Wir können beurteilen, was diese Versprechungen wert sind! fuhr Olfers fort. „Wir haben ja darin gewisse Erfahrungen. Es sind schon Hauszinssteuern auf die Miete aufgeschlagen. Neubauten sollen damit finanziert werden, heißt es so schön!'
„Reichswehr und Polizei werden davon finanziert!" rief einer.
„Und die Ministerpensionen!" ein anderer.
„Sehr richtig!" bestätigte Olfers, „und von dem, was übrig bleibt, Neubauten, in die nur gutverdienende Bourgeois einziehen können; denn phantastisch hoch sind die Mieten und wir Arbeiter, wir in unseren Höhlen und Löchern, wir müssen diese Bourgeois-Neubauwohnungen finanzieren!"
„In Sowjetrussland ist noch größere Wohnungsnot! rief jemand und der Wohlfahrtspfleger rief dazu: „Sehr richtig!"
„Gewiss besteht eine Wohnungsnot in der Sowjetunion!" antwortete Olfers, „aber der Haus- und Grundbesitz ist dort sozialisiert und die Mietszahlungen sind sozialistisch geregelt!"
„Soo? Wie denn!" rief der Zwischenruf er ironisch.
„Lass Dir's doch erklären!" wandte sich Olfers ruhig an ihn. „Der Staat ist in der Sowjetunion Hausbesitzer und die Miete wird vom Staat, je nach Größe der Wohnung, dem Verdienst des Mieters entsprechend, festgelegt. Derjenige, welcher gut verdient, muss also mehr Miete für dieselbe Wohnung bezahlen, als der, welcher schlechter verdient, und Erwerbslose sind von der Miete fast ganz befreit!"
Es herrschte größte Ruhe und Aufmerksamkeit im Saal. Als sich leiner laut schnauzte, sahen sich etliche um.
„In der Sowjetunion ist also die Miete sozial geregelt und die Neubauten dort, die das schreckliche Erbe des Zarismus überwinden sollen, werden grundsätzlich für die Arbeiter geschaffen, denn auch dafür gelten natürlich dieselben Mietzahlungsprinzipien. Bei uns in Deutschland herrscht eigentlich keine Wohnungsnot, d. h., für die Bourgeoisie. Wer genügend Geld hat, kann die schönste Wohnung mieten. In den Neubauten stehen die Wohnungen oft monatelang leer, nicht, weil sich die Arbeiter in ihren elenden Mietskasernen so wohl fühlen, sondern weil sie einfach die Mieten für eine Neubauwohnung nicht aufbringen können. So sieht die ,soziale Wohnungspflege' bei uns in Deutschland aus!" — „So ist es! Sehr richtig!" wurde aus der Versammlung gerufen. — „Olfers ist ein Prachtkerl!" flüsterte Fritz begeistert zu Else. „Und jetzt will man sogar die Mieten für unsere Elendslöcher noch hinaufschrauben. Die Löhne werden abgebaut, Millionen werden rücksichtslos auf die Straße geworfen, die
Lebensmittel steigen Im Preis und das allgemeine Existenzniveau sinkt erschreckend und zu alledem nun noch diese durch nichts zu rechtfertigende Mietserhöhung. Und wie sehen die Wohnungen durchweg aus? Seit Jahr und Tag ist nichts renoviert worden. Bei den meisten brennt es im Ofen schlecht, bei anderen ist die Wasserleitung nicht intakt, von den Häuserwänden fällt den spielenden Kindern der Mörtel auf den Kopf. Tausende solcher und ähnlicher Missstände sind vorhanden. Wir sind hier versammelt, um uns gemeinsam zur Wehr zu setzen- Wir müssen einen Weg finden, diese neue Mietserhöhung zu verhindern!"
Olfers wollte schon abtreten, da riefen ihm einige zu: „Wie? Wie?!" Er stockte und rief: „Wenn ich einen Vorschlag machen sollte, so heißt er; Mieterstreik! Wir zahlen alle solange überhaupt keine Miete mehr, bis von der Erhöhung Abstand genommen wird!"
Einige klatschten Beifall, die meisten aber sahen erstaunt auf Olfers, denn an dergleichen Dinge hatten sie nicht zu denken gewagt. In der nun allgemeinen Unruhe im Saal meldete sich Kummerfeld durch eifriges Handaufheben zum Wort
Als er dann das Wort erteilt bekam, bemühte er sich, ruhig zu sprechen, aber die innere Erregung zitterte durch seine Rede. Mit einem Selbstbewusstsein, das man diesem kleinen, mickrig aussehenden Alten nie zugetraut hätte, sprach er von seinem Platz aus: „Ich begreife nicht, wie ernsthafte Menschen diese Ausführungen beklatschen und an einen Mieterstreik denken können. Gewiss sind diese neuen Erhöhungen fast untragbar... !"
„Fast, sagt er!" rief einer dazwischen.
„Aber zu glauben", fuhr der Alte unbekümmert fort, „dass hier mit einem Streik etwas erreicht werden kann, ist Irrsinn. Und dann — Streik! Was heißt das? Gar keine Miete mehr zahlen, weil man keine achtprozentige Erhöhung zahlen will? Wer will denn, wenn dieser Streik Monate dauert, die ganze Miete nachzahlen?" Er blickte herausfordernd um sich. Keiner erwiderte etwas.
Fritz ballte vor Wut die Hände.
„Wir werden eben unseren Kampf organisieren!" rief er in den Saal.
„Ach Junge!" wandte sich der Alte höhnend an Fritz. „Du hast ja überhaupt noch nie Miete gezahlt!"
Einige lachten. Einer beklatschte diesen Hieb sogar. Fritz rief erregt: „Unerhört!" und wollte dem Alten erwidern, aber Else und Pohl hielten ihn davon ab.
„Ich schlage folgendes vor!" fuhr Kummerfeld fort. „Wir übertragen die weitere Erledigung dieser Angelegenheit dem Mieterverein. Der wird schon sein Möglichstes tun. Wir protestieren gegen die vom Reichstag beschlossene fünfprozentige Mietserhöhung und weigern uns resolut, noch darüber hinaus Mehrzahlungen zu leisten, das heißt, so lange nicht wirklich mit der Renovierung unserer Häuser und Wohnungen begonnen wird!"
Ein großer Teil der Anwesenden klatschte Beifall.
„Ich verlange, dass jeder sich den Beschlüssen dieser Versammlung fügt!" rief der Alte noch, „und acht durch unbesonnene Einzelaktionen den Kampf aller gefährdet!"
Das war eine Dummheit, wie sich Kummerfeld später sagen musste, denn Olfers trat sofort vor und fragte: „Dasselbe gilt doch auch für Dich, Kollege Kummerfeld?"
„Selbstverständlich!" erklärte der in verblendetem Überlegenheitsgefühl und damit war auch er den Beschlüssen der Versammlung unterworfen.
Dann sprach ein kleiner, buckliger Arbeiter. Fritz kannte ihn, er war Bote bei einem Drogisten. „Streik ist ein origineller Einfall! Hähä! Hähä!" rief er und verzog sein kretinhaftes Gesicht zu einer Grimasse. „Streik? Was heißt das? Wenn Arbeiter streiken, verlassen sie die Fabriken! Sollen wir mit Sack und Pack, mit Kind und Kegel unsere Wohnungen verlassen?"
Eine Frau kreischte auf vor Lachen. Der Bucklige sah sich triumphierend um und setzte sich.
Eine derbe Arbeitererscheinung, wie sie von Bildern der achtziger und neunziger Jahre bekannt sind, trat nach vorne Eine große, knochige- Gestalt mit übernatürlich breiten Schultern, auf denen der Kopf seltsam klein wirkte. Ein mächtiger Schnauzbart hing struppig um den Mund.
„Ich glaube, wir sind nicht hergekommen, um Witze zu reißen oder anzuhören. Mein Vorredner hat sich scheinbar im Lokal geirrt, wir haben keinen Clown engagiert, wir sind hier, um uns gegen eine ungerechte Mehrbelastung zu wehren!" Er sprach fest und bestimmt. „Die Fragen sind bitterernst! Die Not wird immer größer. Wir wissen bald nicht mehr ein noch aus. Die Frage heißt: Können wir uns gegen die beabsichtigte Mietserhöhung wehren, — oder sind wir bereits so recht- und kraftlos, dass wir alles wehrlos über uns ergehen lassen müssen, Können wir uns zur Wehr setzen, dann heißt die Frage: Wie? Und diese Frage zu beantworten, sind wir gekommen Können wir uns aber nicht zur Wehr setzen, dann können wir ja wieder nach Hause gehen und in unseren Drecklöchern schweigend verrecken. Wer aber hier Possen reißen will, den setzen wir vor die Tür!"
Keiner rührte sich, als der Redner wieder an seinen Platz ging. Aber jeder fühlte, dass dieser recht hatte In dem allgemeinen Schweigen ergriff Olfers wieder das Wort. Seine Ruhe und die Milde seines Organs wirkten erneut auf die Zuhörer. „Wir werden hier von einigen Kollegen als unmündige Kinder hingestellt", begann er, „die unüberlegt etwas in die Welt schreien und dabei doch nicht wissen, was sie wollen. Der Kollege Kummerfeld hat sich eigentlich ohne Veranlassung ereifert, denn zu einer Darlegung, wie wir uns solchen Streik organisiert denken, sind wir ja noch gar nicht gekommen!"
„Was heißt denn eigentlich wir?" rief Kummerfeld.
„Wir, das sind alle die, die sich gegen die skandalöse Mietserhöhung wehren wollen. Ich halte diese Frage für recht komisch. Aber der Kollege Kummerfeld soll sich erklären lassen, wie ein solcher Mieterstreik zu organisieren ist. Wir wenden uns gegen jede Mietserhöhung und verlangen trotzdem kategorisch Renovierung unserer Behausungen. Der Streik ist unser Machtmittel Nicht etwa der Streik so aufgefasst, dass wir vorerst keine achtprozentige Erhöhung zahlen, denn das hieße dasselbe etwa, wie bei einem wirtschaftlichen Streik, Bucht die Betriebe zu vorlassen, sondern jeden Tag 10 Minuten früher nach Hause gehen. Wir können auf den Hausbesitzer nur einen fühlbaren Druck ausüben, wenn wir keinen Pfennig Miete zahlen. Dieser Streik wird keine Monate dauern, aber wenn, soll uns das recht sein. Wir müssen uns zuverlässige Vertrauensleute wählen, bei denen wir unsere Mieten Jeden Monat deponieren. So kämen wir also nie in einen Mieterückstand, aber der Hauswirt bekäme auch keine Miete. Wir werden auf unseren Forderungen beharren und wir wollen einmal abwarten, ob die Hausbesitzer nicht in Nöte kommen und sich mit uns zu verständigen suchen. Der Mieterverein wird uns in diesem Kampfe tatkräftig unterstützen, denn auch er hat ein Interesse daran, einmal aktiv zu beweisen, dass er eine notwendige Kampforganisation der proletarischen Mieter ist!"
Der Vertreter vom Mieterverein nickte zustimmend und die Zuhörer tuschelten untereinander, dass es so möglich sei und dass man wohl tatsächlich nur so zu einem Erfolg kommen könnte.
Kummerfeld aber warnte noch einmal. Er zählte alle nur erdenklichen Schwierigkeiten eines solchen Kampfes auf und prophezeite, dass man nichts erreichen würde. Aber heftig wurde gegen Kummerfeld protestiert und ihm Miesmacherei vorgeworfen. Olfers klare Auffassungen und Vorschläge hatten gezündet und als der große, hünenhafte Arbeiter mit dem Seehundhart rief: „Alles andere hat keinen Zweck, lasst uns den Mieterstreik organisieren!" wurde ihm zustimmend zugerufen.
„Ich stelle den Antrag, den Streik als ein Mittel zur Durchdrückung unserer Forderungen zu verwerfen und dem Mieterverein das weitere zu überlassen!" rief hitzig der Tischler Höhlein, der neben Kummerfeld saß und fortgesetzt mit diesem tuschelte.
„Und ich beantrage die Ausrufung des Mieterstreiks!" rief der Seehundbärtige.
„Abstimmen! Abstimmen!" rief alles durcheinander.
Der alte Köhler läutete um Ruhe und erklärte, zur Abstimmung schreiten zu wollen. Im Nu war es in der lebhaften Versammlung erwartungsvoll ruhig.
„Ich lasse über den zweiten Antrag zuerst abstimmen! Nach diesem Resultat erübrigt sich der erste. Wer also für Mieterstreik ist, den bitte ich um das Handzeichen!"
Eine stattliche Anzahl Hände streckte sich in die Höhe.
„Das ist aber noch nicht die Mehrheit!" flüsterte Fritz Pohl zu.
„Ich bitte die Antragsteller nach vorne zu kommen und bei der Auszählung zu helfen!" forderte Köhler.
Der Tischler Höhlein und der Seehundbärtige drängten sich zum Vorstandstisch.
114 Stimmen wurden gezählt. Bei der gegnerischen Stimmenzahl sah man von vornherein, dass es weniger waren, denn ein großer Teil enthielt sich der Stimme. Unter atemloser Spannung verkündete Köhler das Abstimmungresultat. 114 Stimmen waren für den Mieterstreik — 87 dagegen Kummerfeld war vollkommen still geworden. Er sprach im Flüstertone eifrig auf den Tischler ein.
Dann wurden für je zwanzig Häusernummern, das waren immer gerade einige Vorderhäuser und zwei Terrassen, zwei Vertrauensleute der Streikenden gewählt. Die im ganzen gewählten acht Streikleiter waren dann sogleich die Streikleitung, die sich in besonderer Zusammenkunft ihren Vorsitzenden wählen sollte. Zahlreiche Namen wurden aus der Versammlung vorgeschlagen. Es waren hauptsächlich solche, die schon durch politische Arbeit als Funktionäre der Sozialdemokratie oder der Kommunistischen Partei bekannt waren. Die Einwohner von immer zwanzig Häusernummern bestimmten sich ihre beiden Vertreter. Alles ging auch gut; nur gleich zu Anfang hatte es zu einer Wahl kommen müssen, denn von Nummer 1—20 wurden drei Vorschläge gemacht. Kummerfeld schlug, Höhlein und Höhlein Kummerfeld vor. Außerdem aber war noch Olfers vorgeschlagen worden. Gewählt wurde von den zirka 60 Einwohnern dieses Teils der Rosenhofstraße Olfers und Kummerfeld. Höhlein fiel durch.
Hinterher wurden noch einige organisatorische Arbeiten durchgesprochen und Richtlinien gegeben, wie alle Mieter in den Streik einzureihen wären. Besonders die Arbeiterfrauen wurden ermahnt, unter den Nachbarn für Beteiligung am Streik zu werben. Dann wurde noch mitgeteilt, dass die Gesamtstreikleitung noch bestimmen würde, wer die Mieten einsammeln sollte. Auch sollte noch vor dem ersten eine Mieterversammlung für den unteren Teil der Rosenhofstraße einberufen werden, damit die ganze Straße in den Streik hineingezogen würde.-----------
Als Fritz, Else und Pohl am Schluss der Versammlung mit Olfers die Marienstraße hinunter gingen, fiel ihnen das schweigsame Benehmen Olfers auf.
„Du bist so merkwürdig bedrückt, Genosse Olfers!" wandte sich Fritz an ihn. „Du hast doch den Löwenanteil an dem Erfolg!"
„Ich weiß selber nicht, ich kann mich nicht so recht daran freuen!" erwiderte Olfers.
„Ooh!" rief Fritz, „das gibt endlich mal wieder Bewegung, Leben und allgemeines Interesse für politische Fragen und wird das Kraftbewusstsein der Arbeiter stärken!"
„Ja, das glaub ich auch!" meinte Pohl.
„Mensch, Olfers, Streik, Mieterstreik!" stieß Fritz ihn an.
„Und wir werden ihn gewinnen, wir müssen ihn gewinnen, was?"
Nun lachte auch Olfers und nickte.
Die acht gewählten Vertrauensleute der Mieter kamen verabredungsgemäß am nächsten Tage wieder bei Petersen im kleinen Klublokal zusammen.
„Ich halte einen Streik nach wie vor für irrsinnig!" erklärte Kummerfeld. „Und ich fürchte, wir erleben einen mächtigen Reinfall!"
„Man muss auch etwas wagen, Kummerfeld!" erwiderte lachend Olfers. „Aber warum hast Du Dich denn überhaupt zum Vertrauensmann des Streiks wählen lassen, wenn du den Streik selbst verurteilst?"
„Weil ich weiß, dass jede Niederlage die Kraft der Arbeiter schwächt. Um gröberen Unfug zu verhindern, darum schließe ich mich nicht aus!"
„Also ganz nach berühmten Vorbildern!" lächelte Olfers. „Was willst Du damit sagen?"
„Ich will damit sagen, dass das schon Eberts Taktik beim Munitionsarbeiterstreik im Kriege war. Als er ihn nicht mehr verhindern konnte, stellte er eich an die Spitze des Streikes und verriet ihn!"
„Ihr begreift alle nicht, dass die Situation im Januar 18 für eine Revolution noch nicht reif war und ein vorzeitiges Losschlagen die Niederlage besiegelt hätte!" erwiderte hitzig der Alte.
„Na-a!" meinte Olfers ironisch, „als die Situation nun reif war und er die Revolution nicht mehr verhindern konnte, stellte er sich auch wieder an die Spitze — um auch sie zu verraten!" „Verrat! Verrat! Verrat — Weiter wisst ihr uns nichts mitzuteilen, heh?" Der Alte zitterte vor Wut. Schließlich drehte er sich demonstrativ um und ließ Olfers stehen. —
In der Sitzung erlebte Kummerfeld eine neue Enttäuschung. Er wurde zum Vorsitzenden der Streikleitung vorgeschlagen. Olfers wusste, wenn er parteipolitisch gegen ihn polemisierte, dann wurde er gerade gewählt, denn die Mehrzahl der acht Vertrauensleute war sozialdemokratisch orientiert; so schlug er dann vor, um, wie er sagte, parteipolitische Reibungen zu vermeiden, den parteipolitisch nicht festgelegten Seehundbärtigen zum Vorsitzenden zu wählen. Kummerfeld wurde vor Ärger grün im Gesicht, aber er wagte doch nicht, für sich selber Reklame zu machen. Als dann jedoch der Parteilose gewählt wurde, war er ganz verschnupft und machte in seiner Wut einen neuen Fehler. Er lehnte es ab, die Mieten der Streiker betreuen zu wollen. Olfers wurde dann dazu bestimmt. Kummerfeld war nun ganz in den Hintergrund gedrängt. Während der ganzen Dauer der Sitzung sprach er kein Wort mehr, und seine Einstellung zu Olfers war so gereizt, dass er diesem auf Fragen keine Antwort gab und die Sitzung vorzeitig verließ. —
Olfers aber näherte sich dem Seehundbärtigen. Bis in die Nacht hinein liefen die beiden nach Schluss der Sitzung in den stillen Straßen herum. Der Seehundbärtige hieß Römpter, war zur See gefahren, kannte jeden Erdteil, die Sitten vieler Völker und war heute noch in jeder größeren Hafenstadt der Welt wie zu Hause, trotzdem er seit Jahren nicht mehr fuhr und als Kaiarbeiter im Hafen arbeitete. Über die politische Situation und die revolutionäre Aufgabe der Arbeiterklasse, über die Fragen der Organisierung des Mieterstreiks waren die Beiden schließlich auf Buenos-Aires und Frisko zu sprechen gekommen. Der Seehundbärtige geriet nahezu in träumerische Abwesenheit beim Erzählen seiner Erlebnisse. Olfers große Sehnsucht jedoch waren die Länder am Mittelmeer, und sofort erzählte der alte Seebär in seiner unbeholfenen und schwerfälligen, aber doch farbigen Seemannssprache vom Wein in Malaga und Alicante und den Frauen in Barcelona und Genua. „Nr. 9 war mein Stammlokal!" gestand er lachend. „Ein schmales, schwarzes, nettes Luder, das behauptete, Toskanerin zu sein, wusste auf den Tag, wann unser. Kasten zu erwarten war!"
„Und Neapel?" fragte Olfen.
„War für mich ein Enttäuschung, so oft wir da waren! Allerdings blieben wir dort nie lange genug, um es richtig kennen zu lernen. Doch Palermo ist ein Städtchen und Catania! Man muss schon weit nach Süden gehen, um Italien wirklich kennen zu lernen!" —
So hatte sich Olfers mit dem ehemaligen Seebären und jetzigen Kaiarbeiter Römpter angefreundet. Er wollte erst nur feststellen, wes Geistes Kind der war, den man zum Vorsitzenden der Streikleitung gewählt hatte, und nun lernte er einen grundehrlichen und interessanten Menschen kennen, der Verstand und Herz hinter einer rauen Kruste verbarg.

 

Kapitel IV.

Vor dem Verhandlungssaal 237 des Strafjustizgebäudes saßen die Angeklagte Trudel Merker und Fritz und Else, die als Zeugen geladen waren. Etwas abseits von ihnen sprach eine Frau unausgesetzt auf eine andere ein. Einige Neugierige schlichen herum und spitzten die Ohren. Sie suchten „interessante Fälle" auszukundschaften. Orpowachtmeister standen herum. Ein Staatsanwalt im Talar ging vorüber, Gerichtsdiener liefen hin und her. Es war ein lebhafter Betrieb.
Die Tür, an der Nr. 237 stand, öffnete sich und die Teilnehmer der eben beendeten Verhandlung kamen langsam, erregt sprechend und gestikulierend, heraus.
Ein kleiner, beleibter Mann mit einer vollgepressten Aktentasche trat schnaufend an die beiden Frauen heran, die auf der anderen Bank «aßen. Nach einer Weile zeigten sie auf Trudel Merker und er lief auch zu der hin und stellte sich vor. Er war der Rechtsbeistand, den sie von der Wohlfahrt gestellt bekommen hatte. Er beruhigte die aufgeregte Trudel lächelnd und meinte, es sei doch gar nicht so schlimm.
Trudeis Augen waren voller Angst auf die wieder geschlossene Tür gerichtet. Gerade als Fritz ihr abermals Mut zusprechen wollte, kam der Gerichtsdiener aus dem Verhandlungsraum und las mit lauter Stimme von einem Papier: „Frau Reinhardt!".
„Hier!" rief eine der Frauen auf der anderen Bank.
„Frau Kuzinskil"
„Hier!" rief die andere, die neben ihr saß.
„Fräulein Merker!"
„Hier!" presste Trudel hervor und ging zögernd auf ihn zu.
„Na, denn sind wir ja alle beisammen!" nickte der Uniformierte zufrieden. „Setzen Sie sich dort hin! Ja dort!" Der Gerichtsdiener wies den drei Frauen die Plätze auf der Anklagebank an. Dann öffnete er die Tür zum Zuhörerraum. Heftig drängte sich ein sehr gemischtes Publikum in den lächerlich kleinen Raum. Trudel starrte entsetzt in die fremden Gesichter und drehte ihnen schnell wieder den Rücken zu Sollten die alles mit anhören? Sie wurde über und über heiß. Einige junge Bengel grinsten unverschämt frech.
Kurz darauf kamen einige Männer aus einer kleinen Tür hinter dem Richtertisch heraus Einige hatten einen Talar an. Alle erhoben sich, auch die drei Frauen.
„Setzen Sie sich bitte!" Es war ein verhältnismäßig junger Richter, der dies sagte. Er hatte ein scharfes Profil und mehrere Schmisse am Kinn. Ihm zur Seite saßen noch je ein Richter im Talar und zwei Schöffen. Der Staatsanwalt, ein Mensch mit verbissenem Gesicht, saß links vom Richtertisch, auf eigenem Podium. Dicht neben Trudel hockte der Gerichtsschreiber und sie fühlte dessen lüsterne Augen abschätzend an ihrem Körper.
„Ist die Angeklagte Hintz da?" „Jawohl!" erwiderte der Gerichtsdiener, „Lassen Sie dieselbe vorführen!"
Der Gerichtsdiener klopfte an einer kleinen Tür, die sich nun öffnete und der Wachtmeister, der mit der Frau Hintz dahinter gewartet haben musste, trat ein. Der Angeklagten wurde ein Platz neben den anderen angeklagten Frauen angewiesen.
„Sie sind Frau Anna Pauline Hintz, geboren in Stralsund?" „Jawohl!" „Ihr Beruf?" „Ich bin Witwe!" „Hm!"
Das wiederholte sich nun bei jeder Angeklagten. Dann flüsterte der junge energische Richter mit seinem Beirichter und den beiden Schöffen und erklärte darauf: „Die Verhandlung findet nach Gerichtsbeschluss unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt!"
Der Gerichtsdiener ließ die enttäuschten Zuhörer wieder hinaus. „Fräulein Gertrud Merker!" Trudel erhob sich von ihrem Platz, „Was hat Frau Hintz mit Ihnen gemacht?"
Trudel sah ganz fassungslos den Richter mit den scharfen, hellen Augen an. „Wie meinen Sie das?" stotterte sie dann.
„Erzählen Sie, was mit Ihnen bei Frau Hintz vor sich ging!" Ratlos sah sich Trudel um und sah dann sekundenlang in die geilen Augen des Gerichtsschreibers. „Aber — das kann ich doch nicht!" brachte sie dann mühsam hervor. „Und — und, das wissen Sie doch auch schon aus dem Protokoll!"
„Sie haben nur auf meine Fragen zu antworten!" Mit tränenerstickter Stimme erzählte dann Trudel stockend. Nach allen Einzelheiten fragte der Richter. Sie wurde nicht nur vor diesen Männern ausgezogen, sondern der Eingriff mit allen seinen Widerwärtigkeiten wurde in Worten noch einmal an ihr vorgenommen. Ihre Augen schwammen in Tränen und das Blut arbeitete heiß in ihrem Kopf. Vor ihr aber saßen Richter und formulierten kalt und ungerührt immer wieder neue Fragen.
„Frau Reinhardt!" hörte sie dann endlich die Stimme des Richters und sank auf ihren Platz zurück.
Bei den beiden anderen Frauen wiederholte sich dasselbe. Der Richter fragte und fragte, er wollte die Angeklagten und besonders die Hauptangeklagte, Frau Hintz, möglichst schnell und einwandfrei der Übertretung des § 218 überführen. Neben ihm saßen die beiden Schöffen mit unbewegten Gesichtern und wagten sich nicht zu rühren. Der eine grinste unausgesetzt blöde die vier Frauen an.
„Ja richtig! Was haben Sie eigentlich der Frau Hintz für den Abort zahlen müssen, Fräulein Merker?" wandte sich der Richter noch einmal an diese. „50 Mark!"
„Warum Sie nur 30 Mark?" fragte der Richter die angeklagte Frau Kuzinski.
„Ich hatte nicht mehr!" flüsterte diese. „So, — und was haben Sie gezahlt, Frau Reinhardt?" „Auch 50 Mark!"
„Hm!" Der Richter machte sich einige Notizen. „Nun, Frau Hintz, Sie haben ja alles gehört, was haben Sie darauf zu sagen?"
„Nichts!" antwortete die vollkommen ruhig. Die beiden Schöffen sahen sie ganz entsetzt an. Auch der Staatsanwalt betrachtete sie interessiert
„So-o!" erwiderte der Richter, ohne sich bei seinen Notizen, die er sich machte, stören zu lassen. „Sie sind unvorbestraft, Frau Hintz. Wie sind Sie denn zu diesem ,Geschäft' gekommen?"
„Ich habe mehrere Jahre im Krankenhaus als Pflegerin gearbeitet und kenne das Gebiet. Ich bin eine überzeugte Gegnerin des Abtreibungsparagraphen und alles, was ich tat, war Hilfe an den unglücklichen Arbeiterfrauen und kein Geschäft für mich!" „Nun, Sie haben sich doch bezahlen lassen!" „Wenn einer aus Not nicht zahlen konnte, habe ich ihm auch geholfen!"
„Also geben Sie zu, auch noch an anderen Frauen Eingriffe vorgenommen zu haben?"
„Was fragen Sie! Sie wissen ja selbst aus Ihren Kreisen, wie viele Eingriffe trotz des Verbots gemacht werden. Nur, dass sich die Frauen der Bourgeoisie keiner Gefahr dabei aussetzen, denn die haben ihren Hausarzt, oder durch ihr Geld sicherere Abortmöglichkeiten!"
„Das ist das übliche Gerede und gehört hier gar nicht her! Sie haben mir nur auf meine Fragen zu antworten!" fuhr der junge Richter die alte, grauhaarige Angeklagte barsch an.
„Schildern Sie, wie Sie zu diesen Dingen gekommen sind!" wandte sich jetzt ihr Rechtsanwalt an sie. Die Angeklagte schwieg.
„Erzählte Sie, was Sie mir von Ihren Erfahrungen und den verbrecherischen Folgen dieses Abtreibungsparagraphen in den Kreisen der Arbeiterschaft erzählt haben!"
„Vollkommen überflüssig, Herr Doktor!" erwiderte ruhig die alte Frau. „Von den Herren dort würde mich doch keiner verstehen wollen!"
Der Rechtsanwalt zuckte ärgerlich mit den Achseln. „Herr Doktor!" wandte sich der Richter an den Verteidiger. „Das Gericht interessieren nicht die persönlichen Erlebnisse der Angeklagten, sondern einzig und allein die Vergehen gegen das Gesetz!" „Sehen Sie!" riet ironisch die Hintz ihrem Verteidiger zu.
„Sie haben zu schweigen und nur auf die Fragen zu antworten!" fuhr der Richter auf. — „Ich glaube, die Dinge liegen klar?" wandte er sich dann an die Schöffen.
Die nickten eifrig.
„Draußen sind noch zwei Zeugen!" rief der Gerichtsdiener.
„Was sollen die noch bezeugen?" beugte sich der Richter fragend an den Wohlfahrts-Rechtsanwalt.
„ÄäÄh! Äääh!" machte dieser und tat, als ob er nachdenke. In Wirklichkeit hatte er keine blasse Ahnung.
„Sie haben mir das Geld geliehen!" rief Trudel. „Aber sie wussten nicht, wozu ich es brauchtet"
Der Richter flüsterte wieder mit den beiden Schöffen und dem Beirichter.
„Das Gericht verzichtet auf die Zeugen!'* erklärte er dann.
Der Staatsanwalt erhob sich nun und schnarrte etwas vor sich hin. Es waren höchstens zehn Sätze, die er sprach. Trudel verstand etwas von zwei Jahren Zuchthaus und acht Monaten Gefängnis; sie begriff aber nicht, wie dies gedacht und wer von den Angeklagten überhaupt gemeint sei.
Der Wohlfahrts-Rechtsanwalt hob beschwörend die Hände und bat das Gericht um größtmöglichste Milde. Dann setzte er sich wieder. Der Rechtsanwalt der Frau Hintz wagte eine vorsichtige Attacke gegen die Staatsanwaltschaft. Er nannte zwei Jahre Zuchthaus für eine Frau, die nicht aus Geldgier, sondern aus Mitleid und überzeugter Gegnerschaft zum Abtreibungsparagraphen gehandelt habe, für ungeheuerlich und gab zu bedenken, dass heute schon viele Stimmen, auch von hervorragenden Männern, laut werden, die diesen Paragraphen abgeschafft wissen wollten. Auch er appellierte schließlich an die Hochherzigkeit des Gerichts und bat um mildernde Umstände für seine Klientin.
Die Angeklagten verzichteten auf das Wort und das Gericht zog sich zurück. Der Wohlfahrts-Rechtsanwalt stürzte sofort auf den Staatsanwalt und sie begrüßten sich wie alte Freunde. Sie unterdrückten gleich darauf beide 3in Lachen, als ob sie sich den neuesten Mikosch-Witz erzählt hätten.
Der andere Rechtsanwalt machte unterdessen seiner Klientin, Frau Hintz, Vorwürfe über ihr Verhalten. Sie hätte das Gericht brüskiert, sagte er.
Die alte Frau aber lachte nur kurz auf und sagte ihm: „Man hätte denen ganz was anderes ins Gesicht schleudern müssen!"
Trudel hörte von ihrem Platz diese Unterhaltung und sie bewunderte die Frau, die so gefasst sprach. —
Nach kurzer Zeit kam das Gericht wieder herein. Die Angeklagten erhoben sich.
„Die Öffentlichkeit ist wieder hergestellt!"
Der Gerichtsdiener schloss die Tür zum Zuhörerraum auf, aber es trat niemand ein
Dann verkündete der Gerichtsvorsitzende das Urteil des Gerichts: 18 Monate Zuchthaus für die Angeklagte Hintz, für die übrigen drei Angeklagten die Mindeststrafe von je 6 Monaten Gefängnis mit dreijähriger Bewährungsfrist Hinterher redete er noch einiges zur Begründung des Urteils, dann schloss er die Verhandlung.
Frau Hintz wurde wieder von dem Wachtmeister durch die kleine Tür abgeführt. Trudel sah ihr hilflos nach, und der Gerichtsdiener musste sie erst auffordern, den Saal zu verlassen.
Der Wohlfahrts-Rechtanwalt renommierte auf dem Korridor vor den beiden anderen Frauen, dass er das Urteil so erwartet habe, denn er kenne den Vorsitzenden persönlich. Trudel aber taumelte auf Fritz und Else zu.
„Na," fragten die wie aus einem Munde.
„18 Monate Zuchthaus!" stammelte Trudel.
„O Gott!" rief Else.
„Für Frau Hintz!" stellte Fritz fest.
Trudel weinte. Neugierige sammelten sich um die Drei und horchten. Da traten die beiden mitangeklagt gewesenen Frauen an die schluchzende Trudel heran.
„Freuen Sie sich doch, Kindchen!" beruhigte sie die eine. „Es ist doch alles gut abgelaufen!"
Trudel weinte nur noch heftiger. Else nahm sie am Arm, und langsam gingen sie den Korridor entlang zum Ausgang. Eine Schar Neugieriger folgte ihnen äußerst interessiert.
Nach schier übermenschlichen Anstrengungen kam der Streik der proletarischen Mieter in Gang. Tausende Bedenken mussten bei den Bewohnern der Rosenhofstraße zerstreut werden. Ein Mieterstreik ist keine Alltagserscheinung, keine so verhältnismäßig einfache Angelegenheit wie ein Streik einer Belegschaft oder einer ganzen Berufsgruppe; ein Mieterstreik war etwas Neues für die Arbeiter, etwas bisher noch nicht Dagewesenes. Da wollte jeder Mieter genau wissen, ob er nicht auf die Straße gesetzt werden könne, ob auch sein Mietegeld absolut sicher aufbewahrt werde, ob man sich durch derartigen Streik nicht strafbar mache und schließlich dafür eingesperrt werden könne.
Olfers hatte sich gewiss keinen Illusionen hingegeben und gewusst, dass solch ein Mieterstreik, wenn er gut organisiert und schließlich erfolgreich sein sollte, ein ungeheures Pensum Kleinarbeit erfordern würde. Aber alle Vorstellungen wurden übertroffen. Olfers war Abend für Abend bis in die Nacht auf den Beinen. Er musste persönlich die Mieter aufsuchen und bearbeiten. Fritz oder Else konnten diese Arbeit, ihrer Jugend wegen, nicht mitmachen. Olfers musste einzeln die Mieten einsammeln und immer wieder von neuem alle Zweifel und Bedenken bei den Mietern überwinden. Der Arbeiter, der die Monatsmiete nicht dem Hauswirt oder seinem Vizen übergab, sondern einem ihm nur flüchtig bekannten Mitbewohner, der zum Vertrauensmann des Streiks gewählt war, wollte tausende Sicherheiten sehen, damit sein mühsam erarbeitetes Mietsgeld nicht verloren gehe. Allerdings gab es auch einige, die ihre Miete Olfers ins Haus brachten. Aber das waren nur sehr wenige und nur solche, die genau wussten, um was es ging.
Aber es wurde geschafft Kummerfeld musste wohl oder übel seinen Namen für den Streik hergeben und unter seinen Parteifreunden für Olfers' persönliche Lauterkeit bürgen. Das war aber auch alles, was er zur Organisierung des Mieterstreiks tat. Heimlich hoffte er, dass sich die ganze Aktion totlaufen würde und er dann als Vermittler zwischen Hauswirt und Mieter hervortreten könne. Er sah sich aber am Monatsersten furchtbar enttäuscht, denn die Streikfront stand. Zirka dreißig bis vierzig Prozent der Mieter verweigerten dem Vizen die Miete und überreichten ihm statt des Geldes einen weißen Zettel, auf dem die Forderungen der gesamten Mieterschaft gedruckt standen. Für diese Forderungen zeichneten der Mieterverein und die Streikleitung der Mieter gemeinsam verantwortlich.
Vierzig Prozent mieteverweigernde Einwohner der Rosenhofstraße genügten, um eine Stadtsensation hervorzurufen und den Hausbesitzern einen Heidenschreck einzujagen. Die bürgerliche Presse begann sofort im Interesse der Hausbesitzer mit einer infamen Hetze gegen die unverantwortlichen Elemente, die, wie sie schrieben, keine Miete mehr zahlen wollten. Der Hausbesitzerverein schrie nach dem Staatsanwalt und drohte mit Massenexmittierungen. Das ganze Besitzbürgertum kam in Bewegung.
Die Arbeiter aber begrüßten das mutige und entschlossene Vorgehen ihrer Klassengenossen in der Rosenhofstraße. Belegschaftsversammlungen fassten Sympathiebeschlüsse. Die kommunistische Tagespresse behandelte den Streik in mehrspaltiger Aufmachung, teilte jede Einzelheit mit und forderte die Mieter zur Verbreiterung des Kampfes auf. Dieser Ruf verhallte nicht ungehört. Schon begannen sich in anderen Arbeiterstraßen und Stadtteilen Aktionsausschüsse zu bilden. Wo der Mieterverein versagte, stellten die kommunistischen Stadtteilleitungen Aktionsprogramme zum Kampf gegen die Mietserhöhungen auf. Die proletarischen Mieter der Stadt horchten auf und begannen sich zu regen. Die hässliche Rosenhofstraße, die das Verdienst hatte, den ersten Anstoß gewagt zu haben, war mit einem Schlage in aller Munde.
Mit einer solchen Resonanz des Kampfes hatten weder Olfers, noch Fritz, noch sonst einer der Genossen gerechnet. Mit einem Male fühlten sie die ungeheure Verantwortung, die sie sich aufgebürdet hatten. Tausende und aber tausende Arbeiter blickten jetzt auf sie und ihren Kampf. Nun hieß es, den Arbeitseifer zu verdreifachen und noch stärker als bisher an der festen Kampffront des Streiks zu arbeiten. Dieser Kampf durfte nicht verloren gehen, durfte nicht zerbröckeln, sie mussten siegen und — sie wollten siegen.
Am 1. April war nun bei Olfers eine Sitzung der Vertrauensleute der Mieter der Rosenhofstraße von Nr. 1—20. Kummerfeld war auch dabei. Trotzdem immerhin noch viele Mieter den Streik ablehnten, andere ihn wohl unterstützten, indem sie dem Hauswirt keine Miete zahlten, aber sie auch nicht der Streikleitung gaben, sondern, wie sie sagten, selbst verwahrten, hatte die Mieterstreikleitung insgesamt 2124 Mark Miete kassiert. Das Geld wurde von den Vertrauensleuten noch einmal durchgezählt und jede Miete für sich in einen Umschlag gelegt und notiert.
Zwei Zigarrenkisten dienten als Geldkassetten.
„Kollege Kummerfeld, nimm Du das Geld an Dich!" wandte sich Olfers an diesen, „und wenn morgen kein Entscheid der Hauswirte vorliegt, so deponieren wir es auf der Arbeiter- und Angestelltenbank."
„Gibt's nicht!" rief Kummerfeld, der noch immer gegen die Streikleitung verärgert war und nur auf den Zusammenbruch des Streiks wartete, um dann hervorzutreten. „Behalt es nur bei Dir!"
„Es handelt sich hier nur um die Sicherheit!" meinte Olfers.
„Ist es denn bei Dir nicht sicher," fragte ironisch der Alte.
Es ist schon richtiger, Du behältst es hier!" fiel den beiden der Zigarrenhändler Rienau ins Wort. „Und das mit der Bank eilt ja nicht so, schließlich ist die ganze Angelegenheit in einigen Tagen beigelegt!"
Und dabei blieb es. In zwei Tagen sollte eine neue allgemeine Mieterversammlung bei Petersen stattfinden. Die übrigen Streikbezirke sollten dann ebenfalls Versammlungen einberufen. Der Mieterverein wollte einen Aufruf zur Festigung und Verbreiterung des Streiks herausgeben, und fast alle waren zuversichtlich und siegessicher. Als einziger war Kummerfeld schlecht gelaunt. —
Nach der Sitzung suchte Olfers einen Platz für die beiden Zigarrenkisten. Erst wollte er sie in den großen Kleiderschrank hinter die Kleider stellen. Dann überlegte er, ob sie nicht besser unter dem Sofa ständen. Aber auch der Platz gefiel ihm dann nicht. In der Küche im Geschirrschrank? Als er überlegte und einen passenden Platz suchte, kam er sich schließlich lächerlich vor und stellte die beiden Zigarrenkisten mit den 2123 Mark kurzentschlossen hinter den Radiolautsprecher.

Die Vizenfrau Kollmar flüsterte leise, aber erregt mit der Brothändlerin. Sie fürchteten scheinbar, dass der Mann der Brothändlerin Worte aufschnappen und weitertragen könnte.
„Kummerfelds, Heubergers, Höhleins, Schwartaus, Langfelds!1* zählte sie auf. Die Brothändlerin schüttelte bei jedem neuen Namen erstaunt mit dem Kopf.
„Die Menschen sind meschugge!" zischte die Mechanikerfrau. „Als ob auf diesem Wege etwas zu erreichen sei!"
„Wie ist man nur darauf gekommen?" fragte flüsternd die Brothändlerin.
„Der Olfers soll ja so gehetzt haben!"
„Aber Kummerfelds und Heubergers?"
„Das verstehe ich auch nicht! — Statt der Miete habe ich überall diesen Wisch bekommen! ,Geben Sie das dem Hauswirt!' erklärte man mir einfach. Sie kennen es doch?"
„Nein! Nein!, mir ist es noch nicht gezeigt worden!" log die Brothändlerin.
Die Mechanikerfrau suchte umständlich in ihrem Handkorb.
„Da!" Sie reichte der Brothändlerin einen kleinen weißen Zettel hin.
Die las: „Wir Einwohner Ihres Grundstückes lehnen die Mietserhöhung ab. Wir verlangen, dass Sie uns weiterhin keine vagen Versprechungen machen, sondern sich unverzüglich bereit erklären, auf eine Mieteerhöhung zu verzichten und sofort die Häuser und Wohnungen zu überholen und zu renovieren. Bevor nicht Ihrerseits eine restlose Bewilligung dieser Forderungen, also eine Verzichterklärung auf die für uns untragbare Mietserhöhung vorliegt, zahlen wir keine Miete. — Unterschrieben? Streikleitung der Mieter der Rosenhofstraße, Römpter — Mieterverein e. V."
„Was sagen Sie dazu?" fragte die Kollmar, als die Brothändlerin zu Ende gelesen hatte und wieder aufsah.
„Gut eingefädelt ist das! Weiß Gott!"
„Das nimmt noch ein schlechtes Ende!" sprudelte die Vizenfrau los.
Später kam die Fritt. Die fand es unerhört, dass man einfach die Miete zu zahlen verweigere. „Das wäre genau so", verglich sie, „als wenn ich ein Brot von Ihnen nehmen und mich dafür zu zahlen weigere, weil der Reichstag den Brotpreis erhöht hat." Die Brothändlerin, durch diesen Vergleich besonders erschreckt, stimmte eifrig zu. —
Trudel Merker hatte ein Riesenglück, dass ihr Prozess ausgerechnet in diese Zeit gefallen war. Sie, deren Geschichte sonst von den Weibern hier durch alle Gossen geschleift worden wäre, war fast völlig vergessen worden. Das großer Ereignis des Mieterstreiks 6tellte alles andere in den Schatten. Auch die Brothändlerin wurde erst an den „Skandal" erinnert, als Else in den Laden trat.
„Es ist alles in Ordnung!" antwortete sie ausweichend auf die Frage, was mit der Trudel geworden sei.
„Das Mädel tut mir ja so leid!" heuchelte die Kuhlmann.
„Das glauben Sie doch wohl selbst nicht!" fuhr Else sie kalt' an und wunderte sich selbst über ihren Mut.
„Wie... wie können Sie nur so etwas sagen?"
Else wurde rot bis zum Halse, aber sie schwieg.
„Ich kenne das Mädel schon die ganzen Jahre. Schon als kleines Kind. Sie ist ein so fröhliches und sonniges Geschöpf!" beteuerte die Brothändlerin.
„Na, — Sie haben doch mitgeholfen, dass sie vor's Gericht musste!" Else sah sie herausfordernd mit zusammengekniffenen Augen an.
„Wa-a-as?" stieß die Brothändlerin hervor und glotzte Else an, als wenn sie ein Gespenst wäre. „Wie... Kommen Sie darauf?"
„Man kann bei Ihnen Brot kaufen", erwiderte eisig und ruhig Else, „aber das scheint bei Ihnen Nebengeschäft zu sein, zur Hauptsache haben Sie doch hier eine Klatschzentrale!"
Die Brothändlerin riss den Mund weit auf.
„Ja! Ja!" bekräftigte Else, die immer kühner wurde, ihre Worte. „Ihr Geschäft ist doch mehr ein Schluderbüro als eine Brothandlung, und alle diese Klatschereien, die Sie hier dulden, haben das Unheil angerichtet, über das Sie jetzt Mitleid heucheln!"
„Aber... er . . lauben... . Sie... !"
„Ich bin über diesen Betrieb hier orientiert, Frau Kuhlmann!" Else wurde jetzt erregt. „Und wenn es Ihnen nicht passt, dass ich Ihnen die Wahrheit ins Gesicht sage, nun — es wird auch noch anderswo Brot gebacken und verkauft!" Und damit drehte sie sich resolut um und verließ den Laden.
Die Brothändlerin stand hinter der Tonbank, als habe sie plötzlich die Sprache verloren. Emil, ihr Mann, hatte von den hinteren Räumen aus die erregt sprechende Else gehört, war vorsichtig herausgeschlichen und hatte gelauscht. Er war begeistert über das, was sie sagte. Als er sich nun aber wieder zurückziehen wollte, knarrte der Boden. Die Brothändlerin stürzte hinzu und entdeckte ihn hinter der Tür. Nun hatte sie einen, auf den sie ihre grenzenlose Wut ausschütten konnte. Wie eine Furie fuhr sie auf ihn los und fand mit einem Male ihre Sprache wieder: „Du elender Lump!" schrie sie gellend. „Wenn solche rotznasige Deern deine Frau beleidigt, das ganze Geschäft beleidigt, stehst Du hinter der Tür und grinst! Du Memme! — Du Stück Mist! — Hinter meinem Rücken frohlockst Du über die Beleidigungen, die man mir an den Kopf Wirft!"
Schließlich brach sie in nervöses Weinen aus.
Emil benutzte diese günstige Gelegenheit! um zu entwischen.

Der ungewöhnliche Kampf der Einwohner der Rosenhofstraße erstarkte von Tag zu Tag. Einige Mieter, die noch am ersten dieses Monats ihre Miete der Vizenfrau ausgehändigt hatten, bedauerten es jetzt und teilten Kummerfeld oder Olfers mit, dass sie für die kommenden Monate in die Streikfront einrücken würden. Die Stimmung war ausgezeichnet. Helle Freude herrschte bei allen Arbeitern über die hilflose Wut der Hausbesitzer, die sich in den bürgerlichen Pressen austobten, alle Register der Bolschewistenhetze spielen ließen und fortgesetzt nach dem Polizeibüttel schrieen. Die Arbeiter ließen sich aber weder einschüchtern noch verwirren. Alles ging in voller Ruhe seinen Gang, nur bekamen die Hausbesitzer keine Miete.
Den übergroßen Anforderungen jedoch, die dieser Kampf an Olfers stellte, war dessen Körper nicht gewachsen. Die ganzen Abende, bis spät in die Nacht, waren mit immer neuen Arbeiten ausgefüllt. Für die Parteitageszeitung mussten informierende Artikel geschrieben werden. Von der Parteileitung wurde er, der Initiator des Streiks in der Rosenhofstraße, als Referent zu Versammlungen in anderen Stadtteilen vermittelt, denn auch dort versuchten die Genossen, einen Mieterstreik zu organisieren. Auch hatte er für die Mieter der ersten zwanzig Häusernummern der Rosenhofstraße an drei Abenden in der Woche Sprechstunden eingerichtet; außerdem war jede Woche eine Zusammenkunft der Gesamtstreikleitung. So war jeder Abend für Olfers mit Arbeit ausgefüllt. Er war in den wenigen Tagen im Gesicht fahl geworden und die Verantwortung, die auf ihm lastete, machte ihn unruhig und nervös. Er, der sonst die Ruhe und Überlegenheit selber war, brauste bei dem geringsten Anlass heftig auf und lief wie ein gereizter Tiger unruhig im Zimmer auf und ab. Dazu kam, dass er gegen jeden misstrauisch geworden war. Den dummen Zwischenfall mit der Trudel Merker schob er Else und Fritz zu und äußerte einmal sogar erbittert dem alten Kuhlmann gegenüber, dass auf diese Kinder nicht der geringste Verlass sei. Fritz war darüber wieder verärgert und sein Arbeitseifer für den Streik und die Partei ließ nach. Kummerfeld aber schmückte diese Äußerung Olfers noch mit allerlei Zutaten aus und sorgte für ihre Verbreitung.
Es war eben das ungeheure Maß Arbeit, das Olfers reizbar gemacht hatte. Er arbeitete aber auch wie ein Pferd und nahm die Stunden der Nacht zu Hilfe, wenn die Abende nicht reichten.
An einem Abend hatte er eine Kartothek hergestellt. Sämtliche Mieter der Rosenhofstraße von 1—20 waren darin zusammengefasst. Diejenigen, die in der Streikfront standen, hatten rote Karten mit einer fortlaufenden Nummer und jede Nummer hatte wieder einen Briefumschlag, in dem das Mietegeld des betreffenden Mieters steckte. Jeder Einwohner, der vom Streik noch nicht erfasst war, hatte eine weiße Karte. Durch diese systematische Einteilung wollte sich Olfers die Arbeit erleichtern. Zwei Zigarrenkisten hatte er sich zurecht gemacht. In der einen standen die Kartothekkarten, in der zweiten lagen nummeriert die Umschläge mit den Mietegeldern.
Es war während dieser Arbeit wieder einmal tiefe Nacht geworden. Die Wanduhr schlug zweimal. Zwei Uhr. Olfers war aber auch mit seiner Arbeitsleistung vollauf zufrieden. Er nahm die beiden Zigarrenkisten und stellte sie an ihren Platz auf dem Ecktisch in der Stube, hinter dem Radiolautsprecher, zwischen Anodenbatterie und Akkumulator. Dann ging er ins Schlafzimmer und legte sich ins Bett. Bei der kleinen Nachtlampe wollte er im Bett noch schnell einmal die Tageszeitung durchblättern. Seine Frau schlief bereits und wurde dadurch nicht gestört. Aber er war so abgespannt, dass er die Zeitung bald wieder beiseite legte und die Nachtlampe ausknipste. Und doch konnte er nicht schlafen. Die Gedanken jagten ihm durch den Schädel. Er erinnerte sich, morgen dieses und jenes erledigen zu wollen, überlegte einen Artikel, den er für die Zeitung schreiben sollte, dachte an Römpter, den Seehundbärtigen, mit dem er gestern ein außerordentlich interessantes Gespräch geführt hatte und überdachte schließlich, schon halb im Schlaf, seine heutige Arbeitsleistung. Nach dieser Registratur waren künftig Fehler so gut wie ausgeschlossen und für jede Auskunft, jede Zusammenstellung hatte er immer sofort das Material beisammen. Er lächelte und freute sich über seine Kartothek. Plötzlich vermeinte er aber einen Fehler in der Zusammenstellung begangen zu haben. Bei den Eintragungen musste er ihm unterlaufen sein. Der Kupferschmied Böhlein aus der Nebenterrasse hatte ihm am ersten ja nur die halbe Miete gegeben — den Rest wollte er nachbringen —, aber er meinte, die ganze Miete schon gebucht und kuvertiert zu haben. Das muss ich morgen gleich ändern, dachte er. Aber er fand keine Ruhe. Hin und her wälzte er sich. Der Fehler quälte ihn und lastete auf ihm wie ein Albdruck. Morgen kann ich es vergessen haben, dachte er und wälzte sich unruhig im Bett herum. Schließlich sprang er heraus, ging in die Stube, nahm die Kiste mit den Kuverts und durchblätterte sie.
Es war kalt und ihn fror, aber den vermeintlichen Fehler wollte er erst richtig stellen.
Bald fand er. dass die Miete Böhleins doch richtig eingetragen war und er stellte die Kasten auf ihren Platz zurück.
Es schlug drei Uhr, als er wieder ins Schlafzimmer ging und gleich darauf müde in die Kissen sackte. Bleischwer waren ihm die Augenlider; sein überanstrengter Körper konnte nicht zur Ruhe kommen und mit pochenden Schläfen starrte er noch lange in die Finsternis. Plötzlich glaubte er, Geräusche in seiner Wohnung wahrzunehmen. Eine entsetzliche Angst um das Geld packte ihn. Regungslos lag er da und horchte angestrengt.
„Da knisterte doch wieder was!" Olfers stemmte sich vorsichtig in seinem Bett auf. „... wie vorsichtige Schritte!"
Dann war es wieder still.
„Ich leide schon an Halluzinationen", sagte er sich, und warf sich stöhnend zurück in die Kissen. Morgen soll ich ja auch den Artikel für die Mieterzeitung fertig haben. Und er dachte darüber nach, wie er anfangen und welche Fragen er besonders hervorheben wollte. Plötzlich schnellte er wie gestochen wieder auf. Deutlich glaubte er schlürfende Schritte vernommen zu haben. Er tastete mit der Hand zum anderen Bett. Seine Frau lag dort und schlief.
„Da knarrte doch wahrhaftig eine Tür?"
Olfers saß heiß im Bett und horchte.
„Das waren doch wieder schleichende Schritte?"
Leise schlug er die Bettdecke zurück und erhob sich. Fieberheiß schlich er auf bloßen Füßen zur Schlafzimmertür und öffnete diese. Vor ihm lag der stockdunkle Korridor. Nun stand er im Türrahmen und starrte und horchte. Wieder war nicht das Geringste zu hören. Olfers wollte schon, ärgerlich über sich und seine überreizten Nerven, wieder umkehren, als er aus der undurchdringlichen Finsternis deutlich ein mühsam unterdrücktes Atmen vernahm. Olfers flog vor Kälte und fiebernder Aufregung am ganzen Körper. Ganz in seiner Nähe musste eine Mensch stehen, daran war kein Zweifel mehr. Instinktiv ging er zur Haustür. Er untersuchte gar nicht erst, ob sie verschlossen oder offen war, sondern legte hastig die Sicherheitskette vor. Dann ging er langsam, Schritt für Schritt, durch das Dunkle in der Richtung zum Wohnzimmer. Alle Sinne waren wach. Er merkte, wie ihm der Schweiß in dicken Tropfen auf der Stirn stand. Er sah nichts, aber er spürte deutlich, wie vor ihm jemand Schritt für Schritt zurückwich.
Nun musste er bald bei der Wohnzimmertür sein. Da quietschte ein wenig die Türangel.
„Halt!" schrie er mit entsetzlich greller Stimme.
„Halt!"
Er erhielt einen Stoß und taumelte zurück. An ihm vorbei rannte jemand zur Haustür, riss an der Sicherheitskette. Olfers schrie wieder wie wahnsinnig: „Halt! Ha-a-alt!" und immer nur „Halt!" Ganz von Sinnen schnellte er zur Tür. Jetzt packte er den Einbrecher, riss ihn zurück, umklammerte ihn. Der wehrte sich verzweifelt. Olfers brüllte wie ein Tier.
Seine Frau stürzte aus dem Schlafzimmer heraus auf den Korridor zur Haustür, kettete auf und schrie durch das nächtliche Haus:
„Mörder! Mörder! Zu Hilfe! Zu Hilfe!"
Mit einem röchelnden Aufschrei fiel Olfers hintenüber. Blitzschnell rannte nun an Olfers' Frau ein Mann vorbei, aus der Tür und die Treppen hinunter. Olfers lag stöhnend am Boden.
„Das Geld! Das Geld!" keuchte er mühsam.
Inzwischen war es im Treppenhaus lebhaft geworden. Einige Mitbewohner traten notdürftig bekleidet aus ihren Wohnungen. Der Postbeamte Presche vom vierten Stock kam mit Licht herunter. Haberland, der Etagennachbar und der Barkassenführer Bartels aus dem Parterre. Einige Frauen standen im Treppenhaus. Einer fragte den anderen; aber niemand wusste die Schreie zu erklären.
Der Elektriker lief in seine Wohnung, holte Streichhölzer und zündete bei Olfers die Gaslampe an.
Olfers lag wie leblos am Boden. Zwei der Männer wollten ihn aufheben, aber er schrie gellend auf. Da ließen sie ihn Hegen.
Auf dem Boden des Korridors verstreut lagen Briefumschläge, Geldstücke und Geldscheine. Nahe der Haustür lag eine Zigarrenkiste.
Frau Olfers stand im Nachthemd wie erstarrt da und sah immerfort auf ihren Mann, der zusammengekrümmt am Boden lag und leise stöhnte.
„Ich lauf zur Polizei!" Der Postbeamte Presche lief in seine Wohnung hinauf, um sich anzuziehen.
„Wir werden ihn immerhin aufs Bett legen müssen!"
„Lasst uns lieber erst mal das Geld aufsammeln!"
Olfers musste das Wort Geld gehört haben. „Geld! Das Geld ist gestohlen, . , . gestohlen!"
„Aber was!" beruhigte ihn Bartels. „Das Geld ist da!"
Die beiden Männer fassten Olfers unter und hoben ihn auf. Er stöhnte schrecklich. Als er dann auf dem Bett lag, wimmerte er wieder: „Das Geld! Das Geld!"
„Mann, Mann, das Geld ist doch hier! Sieh!" Damit hob seine Frau die Zigarrenkiste mit den aufgelesenen Briefumschlägen und dem Geld hoch. Aber Olfers sah und hörte nichts mehr; er hatte das Bewusstsein verloren.
Es dauerte eine volle Stunde, ehe der Polizeiarzt kam. Inzwischen war die Einwohnerschaft des ganzen Hauses in Aufregung. Die tollsten Gerüchte gingen von Mund zu Mund.
„Olfers ist von Einbrechern niedergestochen!" „Olfers ist von politischen Gegnern ermordet!"
„Ach wo, aber das ganze Geld der streikenden Mieter ist gestohlen!"
Jede Vermutung wurde gierig aufgegriffen und als bestimmte und erwiesene Tatsache weitergetragen.
Der Sohn des Postbeamten, ein junger Reichsbannermann, lief in die Terrasse zu Pohl. Er trommelte solange an der Haustür, bis sie geöffnet wurde.
„Und das Geld?" Das war das Erste, was Pohl ihn fragte. „Von Geld weiß ich nichts!"
Der Schauermann zog sich in aller Hast an und rannte die Rosenhofstraße hinunter zu Fritz.
„Bei Olfers haben sie eingebrochen!"
Fritz starrte den verstört und atemlos vor ihm stehenden Schauermann an.
„Nein!" schüttelte sich Fritz.
„Ja! Ja!"
„Mensch, Karl!"
Wenige Augenblicke später liefen die Beiden zu Olfers.
Im Schlafzimmer war der Arzt. Olfers' Frau stand immer noch wort- und bewegungslos da. In der Aufregung dachte sie nicht an sich und ihr verunstaltetes Gesicht. Die zerfressene Nase und die angefressene Oberlippe sahen scheußlich aus. Auf die offenen roten Wunden war weißer Puder gestreut. Aus den blutunterlaufenen Augen rannen ununterbrochen Tränen.
„Ein schwerer Lungenstich!" drehte sich der Arzt zu ihr um. „Ich habe einen Notverband angelegt und werde veranlassen, dass sofort ein Krankenwagen kommt!"
„Ist es schlimm?"
„Schlimm schon, doch wohl nicht lebensgefährlich! — Wo kann ich mich waschen?"
Beide gingen in die Küche. Olfers Frau wurde auf dem Korridor mit Fragen bestürmt
„Was sagt der Arzt?"
„Ist es lebensgefährlich?"
„Kommt er ins Krankenhaus?"
Sie antwortete nur immer: „Ein schwerer Lungenstich!"
Fritz und Pohl hatten schon jeden nach dem Geld gefragt, aber nur ungenügende und auch widerspruchsvolle Antworten erhalten. Als Olfers' Frau wieder aus dem Zimmer kam, konnte Fritz nicht länger an sich halten, er trat an sie heran und fragte.
„Doch, das Geld ist da. Er hat doch mit dem Einbrecher um das Geld gerungen!"
Fritz atmete erleichtert auf.
„Wissen Sie eigentlich, wer es war?" mischte sich jetzt der Schauermann ein.
„Nein!" — Sie überlegte: „Groß war er. Groß!"
„Meine Herrschaften, nun müssen Sie aber die Wohnung verlassen!" Der Arzt trat, sich die Hände abtrocknend, aus der Küche und wandte sich an die in der Wohnung zusammengelaufenen Menschen.
Langsam leerte sich der Korridor.
„Es ist Ihnen doch recht, wenn wir bleiben?"
Olfers' Frau stand, still vor sich hinweinend, an der Schlafstubentür. Sie bejahte leise.
Es war inzwischen hell geworden. Olfers lag immer noch in der Wohnung und fieberte. Er stöhnte, wälzte sich hin und her und lallte abgerissene Worte.
Ratlos saß seine Frau an seinem Bett, hielt den unruhigen Kranken an der Hand und blickte ihn mit ihren schrecklichen, kranken Augen unsagbar liebevoll an.
Pohl und Fritz saßen auf dem Korridor und unterhielten sich im
Flüstertone.
„Wir müssen heute noch eine Versammlung einberufen!" „Und wer wird Olfers Arbeit übernehmen?" „Kummerfeld!"
„Der Schleimscheißer!" stieß der Schauermann hervor. „Unsinn!, Römpter!"
„Gut, dass das Geld gerettet ist!"
„Das ist gerettet, aber Olfers wird vielleicht abkratzen!"
„Der wird schon durchkommen!-------Aber ich möchte verflucht
gerne wissen, wer es war. Der musste von dem Gelde und von allem gewusst haben!"
Olfers Frau kam heraus.
„Er spricht im Fieber, als ob das Geld gestohlen seil"
„Das ist nicht gut, das regt ihn nur auf!"
„Bringen Sie mir doch bitte ein Glas Wasser!"
Fritz lief in die Küche. Als er sich nach einem Glase oder einer Tasse umsah, fiel ihm auf, dass alles peinlich sauber war. Vor dem zerfressenen Gesicht hatte er sich geekelt. Aber es war in dieser Küche reinlicher als in den meisten Haushaltungen, die er kannte.
An der Haustür klopfte es. Römpter trat ein. Fritz und der, Schauermann informierten ihn über alles Vorgefallene. Der Seehundbärtige hörte schweigend zu.
„Welch ein Glück, dass das Geld da ist", murmelte er dann. „Heute abend noch müssen wir eine Versammlung festsetzen, damit keine falschen Gerüchte auftauchen und keine Verwirrung im Streik entsteht." „Ja!"
„Du wirst Olfers Arbeit übernehmen müssen!" „Hm! Warum ich?" brummte Römpter. „Sollen wir uns Kummerfeld ausliefern?" „Na schön, aber dann werde ich auch Mitglied der Partei!" „Mensch, Römpter, um so besser!" strahlte Fritz. Zwei Männer standen mit der Bahre vor der Tür. Auf dem Hausflur drängten sich wieder neugierige Hausbewohner.
Vorsichtig wurde Olfers auf die Bahre gelegt, ganz zugedeckt und hinausgetragen. Die Frau schloss sich im Nebenzimmer ein. „Wohin kommt er?" fragte Fritz noch schnell. „Ins Hafenkrankenhaus!"
Draußen tuschelten und flüsterten erregt die Hausbewohner. Eine Frau fragte den Schauermann; „Ist er tot?"
„Quatsch!" antwortete Pohl grob.
Später kamen zwei Kriminalbeamte. Fritz klopfte an Wohnzimmertür. Frau Olfers kam heraus und hielt sich jetzt ein weißes Tuch vor das Gesicht.
„Haben Sie auch was abbekommen?" fragte der eine Beamte sogleich.
„Nein!"
Nun sah er etwas vom Gesicht der Frau und blickte verlegen weg. 78
Die Beamten ließen sich den ganzen Vorgang noch einmal genau erzählen.
Den Zigarrenkasten nahmen sie schließlich mit.
„Möglich, dass Fingerabdrücke vorhanden sind!" meinte der eine, als sie gingen.
„Glaubst Du, dass die den Täter finden?"
Fritz zuckte die Achseln.
„Ich nicht!" beantwortete der Schauermann selber seine Frage. „Diese Fettfressen!"
Sie fragten Frau Olfers, ob sie noch etwas für sie tun könnten, ob sie noch bleiben sollten.
Sie verneinte durch Kopfschütteln.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht vom Einbruch unter den Einwohnern der Rosenhofstraße. In den Terrassen und Hauseingängen diskutierten Arbeiter und Arbeiterfrauen. Haltlose Gerüchte tauchten auf und kursierten trotz aller Richtigstellungen. Einige charakterlose Kommunistenhasser machten sich diese Situation bewusst zunutze und versuchten, durch Ausstreuen falscher Angaben und Behauptungen Verwirrung unter den streikenden Mietern anzurichten.
Fritz und Pohl taten alles mögliche, um dem entgegenzuarbeiten« Römpter war zur Arbeit gegangen, wollte aber versuchen, sich früher freizumachen.
„Und wenn sie mich rausschmeißen", sagte Fritz, „heut' geh' ich nicht!"
Auch der Schauermann ging nicht in den Stall. „Die Aussichten sind sowieso gleich Null!" meinte er.
Fritz fuhr in die Stadt zum Parteibüro und zur Zeitung. Pohl blieb auf der Straße vorm Terrasseneingang, kämpfte gegen wilde Gerüchte und grübelte über den Täter nach. Er vermutete in dem Einbrecher einen politischen Gegner. Es musste einer sein, der in der Mieterversammlung gewesen war, oder sich doch zumindest über alle Einzelheiten unterrichtet hatte. Wie sollte sonst der Einbrecher wissen, dass Olfers das Mietsgeld in seiner Wohnung verwahrte? Von der Findigkeit der Polizei hatte der Schauermann, da es sich um Streikgelder handelte, auf die der Dieb es abgesehen hatte und weil es ein Kommunist war, der niedergestochen wurde, die denkbar schlechteste Auffassung.

Nicht nur der Saal bei Petersen, auch das Klublokal wimmelte abends von Menschen. Das nächtliche Ereignis hatte alles auf die Beine gebracht.
Arbeiter, junge und alte, waren da; Frauen, lebendige, erzählende; und alte, schweigsame, mit ledernen, faltigen Gesichtern. Laute, frische Arbeiterjungens saßen zwischen den Ehepaaren, schwatzten, lärmten, rauchten. Zwei stritten sich. Erregte Worte hallten durch den Saal. Nun mischten sich mehrere ein. Es wurde eine heftige, vielstimmige Debatte. Einige schrieen: „Ruhe! Ruhe!" Die ganze
Versammlung war ein brodelnder, quirlender Menschenknäuel Während einige ununterbrochen durcheinander schwadronierten, saßen andere wieder regungslos unter den erregten, gestikulierenden, schreienden Menschen, sahen und hörten sich alles mit stoischer Ruhe an und schmauchten ihr Pfeifchen.
Else hatte ziemlich vorne beim Vorstandstisch zwei Plätze für Fritz und Pohl freigehalten. Fritz selbst besprach sich noch mit Römpter im Klublokal. Kummerfeld machte Schwierigkeiten, Jetzt fühlte er sich mit einem Male zurückgedrängt und verlangte als zweiter Vertrauensmann der Streikenden dieses Häuserabschnittes die Übertragung der Berichterstattung über das Vorgefallene. Der alte Wohlfahrtspfleger benahm sich nach dem Einbruch bei Olfers äußerst interessiert und eifrig. Schließlich einigten sich Römpter und Kummerfeld, indem sie sich die Berichterstattung teilten.
Kummerfeld und ein Vertreter des Mietervereins nahmen am Vorstandstisch Platz.
„Der Alte führt was im Schilde. Wir müssen höllisch aufpassen!"
„Da hat er aber den denkbar ungünstigsten Moment gewählt!" antwortete Römpter.
„Das sag nicht!" meinte Fritz weniger zuversichtlich.
Dann gingen auch sie durch die Saalmitte zum Vorstandstisch. Einige Arbeiter aus der Versammlung wandten sich an den Seehundbärtigen, stellten Fragen, zupften ihn am Ärmel.
„Gleich! Gleich!" wiederholte er auf alle Fragen und unbeholfen, und, als wisse er nichts mit seinen beiden langen Armen anzufangen, schlenkerten sie ihm von seinen breiten, waagerechten Schultern herab.
Kaum hatte er sich zu den beiden an den Vorstandstisch gesetzt, als der Mietervereinsvertreter aufstand und mit der Hand auf eine Versammlungsschelle schlug.
Der Lärm im Saal ebbte langsam ab.
Der Versammlungsleiter eröffnete die Mieterversammlung und erteilte Kummerfeld das Wort zum ersten Teil des Berichts. Der Wohlfahrtspfleger erhob sich
Es wurde noch geflüstert und getuschelt und Kummerfeld wartete, bis absolute Ruhe im Saal war. Aller Blicke hingen an dem kleinen, graumelierten Alten, der, wie verlegen, seine Brille zurechtschob, sich dann mit der Hand auf den Vorstandstisch stützte und nach passenden Worten zu suchen schien.
„Durch einen Zufall", begann er mit leiser Stimme, „sind die streikenden Kollegen vor einem schweren Schaden bewahrt worden. Vielen der Anwesenden wäre um ein Haar die ganze Monatsmiete gestohlen worden. Wir streiken um ein gutes Recht. Zweifellos. Trotz aller Versprechungen maßgebender Regierungsinstanzen, mit der großen Lohn- und Gehaltsabbauoffensive auch die Lebenshaltungskosten der werktätigen Massen herunterzusetzen, bleiben diese jetzt, nach dem durchgeführten Lohnabbau, nicht nur unverändert, sondern verteuern sich unaufhörlich. Die Erhöhung der Mieten ist nur ein Glied in dieser Kette!" „Wie der redet?"
„Wart' nur ab!" flüsterte Fritz dem Schauermann zu.
„So kämpfen wir ohne Frage einen gerechten Kampf, aber wir müssen uns dennoch fragen: kämpfen wir auch einen Erfolg versprechenden Kampf?"
Im Saale räusperten sich einige.
„Markst Müs?" flüsterte Fritz.
„Nur ein verhältnismäßig niedriger Prozentsatz Mieter der Rosenhofstraße streikt. Ich bezweifle entschieden, dass dieser isolierte Teilstreik erfolgreich verlaufen wird!"
„Hoho! Hoho!" rief man ihm entgegen.
„Aber selbst dieser lächerlich kleine Teilstreik ist mangelhaft organisiert. Jeder Kampf muss heute bis ins Letzte durchdacht und vorbereitet sein. Wir dürfen die Klassenkräfte des Gegners nicht unterschätzen und unsere als unüberwindlich hinstellen. Hinzu kommt, dass die erfahrensten Bewohner und bekanntesten Sozialdemokraten planmäßig von der Streikleitung ausgeschlossen wurden. Den Enthusiasmus junger Arbeiter in Ehren, aber mit Enthusiasmus allein ist es noch nicht getan, das haben wir alle am eigenen Leibe erfahren müssen!"
„Sehr richtig!" ging wieder eine Welle der Unruhe durch den Saal,
„Miesmacher!" kam eine Stimme aus den hinteren Reihen.
„Ich habe den Mut", rief Kummerfeld mit erhöhter Stimmenkraft, „Euch zu sagen, dass ich den auf wenige Mieter isolierten Streik für aussichtslos halte. Ich und meine Freunde haben von Anfang an gewarnt. Ein Mieterstreik ist keine Kleinigkeit. Mit den Schicksalen seiner Klassengenossen darf man nicht leichtfertig spielen. Wenn mit polizeilicher Gewalt einige Mieter exmittiert werden, will ich die Verantwortung dafür nicht tragen!"
„Was soll denn nach Deiner Meinung geschehen?"
Der Schauermann rief das ganz ruhig, sogar etwas ironisch dem Alten zu, er saß aber geduckt da, als wolle er, sprungbereit, jeden Augenblick dem Alten an die Kehle fahren.
Kummerfeld sah sich kurz nach Pohl um und antwortete sofort:
„Nur ein Weg ist gangbar, Sofort Verhandlungen mit den Vertretern der Hausbesitzer und gütige Beilegung der Differenzen!"
Sofort setzte von allen Seiten ein Gejohle ein. Es wurde gerufen, Schimpfworte schwirrten durch den Lärm. Aber es wurde von einigen auch zustimmend geklatscht
Der Alte schrie mit gellender Stimme!
„Wenn unser Geld erst gestohlen und die ersten Mieter auf der Straße liegen, dann ist es zu spät!"
Das Widerspruchsgeschrei wurde nur noch ärger. „Bremser! —- Miesmacher! — Tappergreis! — Verräter!" und zahlreiche andere, in dem Tumult unverständliche Rufe schrie die Versammlung dem Alten zu.
Der Vorsitzende schlug dauernd auf die Schelle. Aber deren leises Ping-ping erstickte im Lärm.
Etwas verwirrt setzte sich Kummerfeld.
Römpter stand auf und ging einen halben Schritt auf die Versammelten zu Er ruderte mit seinen langen Armen in der Luft. Allmählich trat Ruhe ein.
In kurzen, abgehackten Worten schleuderte er in die Versammlung:
„Was vertritt eigentlich Kummerfeld hier? Er spielt doch eine merkwürdige Rolle. In der Streikleitung sind er und seine Gesinnungsgenossen in der Mehrheit, hier aber stellt er es so hin, als würden alle Nichtkommunisten von den Kommunisten terrorisiert. Er will den Streik abgebrochen wissen. Warum? Weil beinahe die Mietsgelder gestohlen wurden? Überhaupt: Kein Glückszufall, sondern das mutige, aufopfernde Verhalten unseres Genossen Olfers tat uns vor Schaden bewahrt!" „So ist es!" riefen viele.
„Dee olle Graukopp wär in de Ohnmacht fullen, wenn em dat passiert wär!"
„Nicht Abbruch des Streiks, Verbreiterung, das ist die Aufgabe. Nicht wir werden zu den Hausbesitzern gehen, sie werden zu uns kommen müssen. Und sie werden kommen, denn sie wollen Miete haben. Kummerfeld redet hier, wie es seine Minister- und Senatorengenossen verlangen. Und er redet, als ob er auch dafür bezahlt bekäme!"
„Unerhört!" kreischte eine Frauenstimme. „Ich bin dreißig Jahre in der Arbeiterbewegung organisiert!" schrie mit hochrotem Kopf Kummerfeld. Er sprang von seinem Platz auf. „Ich verbitte mir diese infamen... .“
Sein Geschrei ging in einem tosenden Spektakel unter. Auf der einen Seite des Saales »ahm der Tumult bedrohlichen Umfang an. Arbeiter drangen aufeinander ein. Einem wurde die Mütze vom Kopf geschlagen.
Römpter brüllte mit ganzer Lungenkraft:
„Genossen, lasst euch nicht provozieren! Durch Auffliegen der Versammlung glaubt man auch ein Auffliegen des Streiks erreicht zu haben!"
„Hier sind Nazis!" schrieen einige Arbeiter ihm zu, „Schmeißt sie raus!" „Raus mit den Hunden!" „Die Arbeitermörder!"
Vier junge Leute erhoben sich und drängten sich zum Ausgang. „Wir wollen uns nicht die Polizei auf den Hals hetzen lassen!'' rief Römpter. „Lasst sie raus!"
Der Versammlungsleiter schlug auf der Schelle herum. „Unser Streikfront ist nicht nur unerschüttert, sie wird noch wachsen!" redete Römpter sich Ruhe. „Die Hausbesitzer werden sich vor Exmittierungen hüten. Kummerfeld malt den Teufel an die Wand... Wenn wir aushalten, dann sind die Hausbesitzer mürbe, Schlechte Proleten sind es, die... ."
„Heil Hitler!" brüllte der eine Nazi an der Tür und lief hinaus. Die Versammlung brach in ein Gelächter aus. „Schlechte Proleten sind es, die den Kämpfen ihrer Klassengenossen indifferent, passiv gegenüberstehen und sie nicht unterstützen. Schlechter aber sind noch die, die in den Reihen der Kämpfenden planmäßig Verwirrung anrichten und auf eine Niederlage der Arbeiter hinarbeiten!"
Lautes Beifallklatschen und -rufen folgte diesen Ausführungen.
„Abstimmen!"
„Abstimmen!"
„Worüber soll ich denn abstimmen?" flüsterte hilflos der Versammlungsleiter zu Römpter.
„Lass über die Weiterführung des Mieterstreiks abstimmen!"
Der Versammlungsleiter schlug verzweifelt auf seine Schelle, Als es etwas ruhiger wurde, rief er:
„Ich lasse abstimmen!"
Sofort verstummte die Unruhe.
„Wer für den Streik ist, — bitte das Handzeichen!"
Ein Wald von ausgestreckten Armen.
„Wer für Abbruch des Streiks ist!"
„Ich protestiere!" schrie Kummerfeld, „ich bin nicht für bedingungslosen Abbruch des Streiks, sondern für sofortige Aufnahme von Verhandlungen!"
„Wofür Du bist, interessiert uns gar nicht!" raffte sich die Mietervereinsvertreter auf. „Wir stimmen ab über Weiterführung oder Abbruch des Streiks! Wer ist für Abbruch des Streiks?" wiederholte er dann.
Keine zwei Dutzend Arme erhoben sich und davon sanken einige noch wieder zurück.
Kummerfeld saß steif am Vorstandstisch.
„Die Mehrheit ist für Fortführung des Streiks!"
Nun erhob sich Römpter noch einmal:
„Das Mietsgeld ist in sicherem Verwahrsam. Die Streikleitung wird den Ersatzmann für Olfers bestimmen!" —
Als die Versammlungsbesucher aus dem Saal strömten, schwang sich Fritz auf einen Stuhl und rief:
„Genossen, Olfers hat mit dem Einsatz seines Lebens das Mietsgeld und damit unseren Mieterstreik verteidigt. Olfers ist ein alter Kämpfer in den Reihen der Arbeiterbewegung und wir Kommunisten sind stolz auf ihn. Nun füllt die Lücke, die durch Olfers1 Verletzung in unseren Reihen entstanden ist. Reiht Euch ein in die Kommunistische Partei! Werdet bewusste, aktive Mitkämpfer in der proletarischen Klassenfront!"
Langsam leerte sich der Saal. Im Klubzimmer ließen sich noch einige Mieter in die Streiklisten eintragen.

 

Kapitel V.

Kupferschmied Ehlers, der in einer der letzten Terrassen der Rosenhofstraße wohnte, hatte einen Untermieter, der in der ganzen Nachbarschaft bekannt war. Er hieß Otto Dietz, war noch keine dreißig Jahre alt, mittelgroß, sehnig, mit dunklen, lebhaften Augen und kastanienbraunen, welligen Haaren. Die Nachbarn waren stolz auf seine Bekanntschaft, die Mädels warfen ihm verliebte Blicke zu und kicherten und flüsterten hinter ihm her. Otto Dietz war aber nicht nur, was man einen hübschen, forschen Kerl nennt, er war ein
Tausendsassa. Niemand wusste so recht, welchen Beruf er hatte, aber er kannte und konnte schier alles und keiner zweifelte daran, dass Otto Dietz einen verantwortlichen Posten bekleidete und ein schönes Stück Geld verdiente. Er war stets elegant angezogen, zahlte pünktlich seine Miete und war scheinbar nie in Geldverlegenheiten. Proletariereltern stellten Otto Dietz ihren Söhnen als Vorbild hin. „Der ist etwas geworden, weil er was kann und was auf sich hält!" sagten sie. Aber die jungen Arbeiter standen diesem Vorbild skeptisch gegenüber, sie nannten ihn einen Gecken und Fatzke und mieden seinen Umgang. Die Frauen aber lobten den tüchtigen, eleganten und doch so bescheidenen Dietz, wenn das Gespräch auf ihn kam.
Ja, so ein Mieter!" sagten neidisch die Nachbarinnen. Und die Frau des Kupferschmiedes antwortete geschmeichelt: „Ein Prachtmensch! Was der in die Hände nimmt, vergoldet sich!"-------
Walter Heuberger lernte diesen Otto Dietz bei einem Alsterlauf der Arbeitersportvereine kennen. Er stand am Startplatz, als neben ihm davon gesprochen wurde, das der Sport keine Angelegenheit der Politik und des Klassenkampfes sein dürfe. Er mischte sich in die Debatte und verteidigte mit dem Elan eines jungorganisierten Kommunisten den Gedanken des revolutionären Arbeitersports. Otto Dietz widersprach und so lernten sie sich kennen. Trotz gegenteiliger Einstellungen fanden sie Gefallen aneinander. Aus der Begegnung und dem Streit wuchs eine Freundschaft zwischen den beiden Männern. Eine sehr seltsame Freundschaft, denn ihr Altersunterschied betrug fast zehn Jahre und sie waren auch sonst in Aussehen und Charakter grundverschieden. Heuberger war trotz seiner achtzehn Jahre ein breitschultriger Mensch mit derben, breitem Gesicht und grauen, nachdenklichen Augen. Dietz war schlank und geschmeidig, aus seinem ganzen Wesen spürte man deutlich die
Ü berlegenheit, die er dem Jungen gegenüber empfand.-------
Sie trafen sich öfter. Gewöhnlich gingen sie debattierend durch die Straßen oder tranken in einer Kneipe Bier.
Eines Tages lud Dietz seinen Freund zu einem vergnügten Abend ein. Der junge Heuberger warf sich in seinen Sonntagsstaat und zog mit Dietz los. Während sie durch die Arbeiterstraßen zum Stadtzentrum schritten, kam ihr Gespräch auf Berufe. Der Küferlehrling erzählte von seinem Beruf, zählte Weinarten auf, die sie gerade auf Lager hatten und erzählte auch, dass er selber kaum Wein trinke, worüber Dietz unbändig lachte. Plötzlich aber fragte der Junge: „Was hast Du eigentlich für einen Beruf?"
Otto Dietz war perplex. Er lachte krampfhaft weiter, um Zeit zur Antwort zu bekommen.
„Komische Frage! Wie meinst Du das?" fragte er dann ausweichend.
„Wo und was Du arbeitest?" wiederholte der Junge.
„Ich arbeite bei einer Speditionsfirma am Hafen!"
„Ihr scheint aber keine feste Arbeitszeit zu haben!" forschte Heuberger weiter.
„Wieso?"
„Man sieht Dich mal zu der, mal zu jener Zeit auf der Straße!"
Dietz lächelte nun wieder überlegen.
„Ich arbeite absolut selbständig und kann mir meine Arbeit nach meinen Wünschen einrichten!"
„Feine Sache, das!" meinte Heuberger. Und da Dietz schwieg, war die Unterhaltung darüber beendet. —
Dietz pfiff eine Melodie vor sich hin.
„Woher kennst Du eigentlich all' die Opern?" fragte nach einer Weile Heuberger wieder.
„Ich war vor einigen Jahren mal Statist am Stadttheater!"
„Was? — Du warst am Theater?"
„Als Statist! Ja!"
„Mensch, was hast Du da gemacht?" fragte Heuberger lebhaft,
„Die Bühne voll!"
Und nun lachten beide über die Antwort«
„Ich war Volk, Soldat, Räuber, Edelmann, Bettler, Italiener, Spanier, Neger, alles was Du Dir denken kannst. Es hat mir eine Zeitlang kolossalen Spaß gemacht. Aber man bekommt es satt!"
„Ach was!" stieß der Junge staunend hervor; „das muss doch mächtig interessant sein!"
„Das schon!"
„Und Du musst doch blendend verdient haben?"
„Verdient?" lachte Dietz: „Dafür gibt es nichts, als einige Groschen Entschädigung für Fahrgeld und ein paar Freikarten!"
„Ach was!" war alles, was Heuberger erwidern konnte. Für ihn war Theater mit Glanz und Reichtum identisch. Dietz lächelte über das kindliche Erstaunen seines Freundes und erzählte schmunzelnd von seinen Erlebnissen hinter den Kulissen, schilderte die Versenkung und die unterirdische Kantine, die unterm Zuschauerraum lag. Einige tolle Abenteuer mit Balletteleven erfand er und musste selbst über seine farbenreiche Phantasie lächeln. Außer Erdachtem, Aufgebauschtem, erzählte er dann aber auch seinen ,Abgang von der Bühne'1, wie er es nannte.
„Sie hieß Hildegard und war eine Puppe. Ich hatte sie schon immer heimlich mit brennenden Augen betrachtet. Es war eigentlich mehr Verlangen als Liebe. Sie hatte aber auch ein Aussehen und eine Art freundlich zu sein, die jedem Manne das Blut heiß werden ließ. Eine Annäherung war bald erreicht. Aber sie war ängstlich, eingeschüchtert, denn ihr Vater war als Beleuchter an der Bühne tätig, und jeder Bühnenarbeiter kannte ihn und seine Tochter. Ich freute mich immer auf Opern, wie ,Aida' ,Tannhäuser' und ,Rienzd'... " „Warum?" unterbrach ihn Heuberger. „Dann musste sie tanzen! Sie war doch im Ballett!" „Ach so-o!"
„Ich wartete dann immer hinter den Kulissen auf sie. Wenn sie ins Licht trat, konnte man durch die spinndünnen Kleider, die sie dann manchmal trug, ihren herrlichen Körper sehen. Die hatte Beine, Hüften und Brüste sage ich Dir. Dabei war sie noch keine siebzehn Jahre!"
Dietz lächelte vor sich hin.
„Und dann kam der fatalste Augenblick meines Lebens!"
„Wieso?" forschte Heuberger neugierig.
„Fabelhaft nett und scheußlich unangenehm!"
Dietz lachte.
„Na, nun erzähle schon oder schweig ganz!"
„Du Hitzkopf! Also ich machte mich an sie heran. Erst warf sie den Kopf in den Nacken und sah mich wütend an. Ich aber ließ nicht locker. Es ist nicht meine Art, locker zu lassen, wo ich fühle, dass ich erfolgreich sein werde. Und bald lachte sie auch schon, wenn sie in ihrer übermütigen, mädchenhaften Art den Kopf in den Nacken warf. — Es gibt im Theater so herrliche Schlupfwinkel. Nicht hinter den Kulissen, wie der Laie immer denkt; sondern unter der Bühne, in der so genannten Versenkung. Dort ist alles nur spärlich beleuchtet, und zwischen den Balken, Tauenden und dem Gerümpel sind vorzüglich geeignete Ecken und Winkel für Liebende-
Als ich also merkte, jetzt kannst du es riskieren, flüsterte ich ihr zu: „Nach dem 1. Akt in der Kantine!" — Wenn sie zur Kantine wollte, musste sie durch den Gang der Versenkung. Dort verkroch ich mich und lauerte ihr auf. — Furchtbar langsam geht die Zeit, wenn man so hockt und wartet. Ich erinnere mich noch, dass ein älterer Chorist mit einer Frau den Gang entlang ging. Er flüsterte etwas. Als sie bei mir vorbeikamen, natürlich ohne mich zu bemerken, lachten sie laut auf, und er schlug ihr mit der Hand auf den Hintern. Ich sah ihnen nach und wartete. Mir schien es eine Ewigkeit. Endlich kam sie. Lautlos trippelte sie mit schnellen Schritten durch den schmalen, dunklen Gang. Ich wollte sie nicht erschrecken und machte leise: Pst! Pst! Sie stutze. Hier! flüsterte ich und zog sie zu mir ins Dunkle."
„Du kannst gut erzählen!" lächelte Heuberger.
„Das Beste kommt noch!"
„Kann ich mir denken!"
„Erst sträubte sich das kleine Luder, wehrte sich, bat, winselte — dann wurde sie weicher und wärmer und beugte sich schließlich wie eine Feder mir hin. Ich hielt sie um die Hüfte und hatte Angst, sie würde in einen der vielen Schächte stürzen, die bis auf das Grundwasser gingen und hatte meine Mühe ihr flüsternd plausibel zu machen, dass wir ganz leise und vorsichtig sein müssten. Sie war schon ganz futsch und winselte und stöhnte, wie eine kleine Hündin. Dann war mir selbst alles schnurz."
„Muss schön gewesen sein!" lachte Heuberger.
„Das Schönste kommt noch!"
„Noch?" stieß der Junge ungläubig hervor.
„Als wir aus unserer Ecke in den Gang wollten, prallten wir beide zurück. Vor uns stand ein Feuerwehrmann. Einer von denen, die dort unten Wache haben.
„Ach sooo!" meinte er langgedehnt: „Die kleine Hilde!"
Da riss sie sich von meinem Arm los, schluchzte auf, hielt sich die Hände vor's Gesicht und lief davon. Mir schlug das Herz im Halse. „Und Ihr Name?" wandte sich der Uniformierte an mich. Ich sagte ihn. —"
„Na, — und dann?" flüsterte Heuberger und sah wie in Gedanken versunken vor sich hin.
„Dann kniff ich!" lachte Dietz hell heraus.
„Wie... wa-as?" stotterte Heuberger.
„Na, ich ging sofort in die Garderobe, log, dass mir plötzlich schlecht geworden sei. Stimmt übrigens!" setzte er grinsend hinzu. „Ein Ersatzstatist kletterte in meine Kledasche, und ich verschwand auf Nimmerwiedersehen!"
„Sie hatten aber doch Deine Adresse?" fiel Heuberger ein.
„Ich zog am nächsten Tag in ein anderes Logis und meldete mich zunächst nicht um. Meine Theaterlaufbahn war damit natürlich beendet." Otto Dietz grinste über das ganze Gesicht. —
Schweigend gingen sie weiter. Der junge Küferlehrling war wütend auf Dietz. Er fand dessen Verhalten schurkig. Und wie er alles so breit und selbstgefällig erzählte. Er hasste ihn plötzlich.
„Warum hast Du denn eigentlich die Kleine in Stich gelassen?'*
„Was heißt hier, ,in Stich' gelassen?"
„Ich dachte, Du liebtest sie?"
Otto Dietz lachte laut auf, dass sich einige Straßenpassanten erstaunt umsahen.
„Das war doch 'ne Hure! — Die am Theater sind alles Huren!"
„Wa-a-as?" Walter Heuberger blieb mitten auf der Straße stehen.
„Du hast doch geschildert, wie sie sich gesträubt hat und dass sie hinterher weinend davonlief?"
„Hör' mal!" packte ihn Dietz am Arm. „Mach' Dich nicht lächerlich. Du bist noch ein richtiges Gör! In deinem Alter will man noch jedes Mädel, das man mal küsst, heiraten. Das gibt sich aber. Du steckst in Dingen der Liebe noch voller Konfirmandenromantik. Ich hätte es Dir gar nicht erzählen sollen!"
Heuberger schämte sich jetzt fast. Er fühlte es wieder; der neben ihm ging, war ihm hoch überlegen. Er ärgerte sich, dass er überhaupt was gesagt hatte; er machte sich ihm gegenüber nur lächerlich, wenn er seine Handlungen kritisierte. Und Walter Heuberger schwieg.
Als sie jetzt in eine belebtere Straße einbogen, sahen sie in der Ferne eine goldgelb erleuchtete Weintraube. Dort war Kabarett und Tanz.
„Warst Du schon mal zum Pferderennen?"
„Nein!" Walter Heuberger fuhr ordentlich erschrocken zusammen.
„Wir werden mal hingehen!" „Warst Du schon da?"
Dietz lächelte wieder. „Und ob! Hab' schon manches Stück Geld dabei verdient!"
„Du wettest auch?"
„Mensch, was soll man beim Pferderennen, wenn man nicht setzt!"
Heuberger betrachtete verstohlen seinen Freund, als sehe er ihn heute abend zum ersten Male. Der war etwas größer als er selbst, hatte ein glattes, helles Gesicht und große, kohlrabenschwarze Augen. Unterm Hut kroch keck eine Haarlocke heraus. Er empfand
dabei wieder Hassgefühle gegen ihn. Er kam sich dem anderen gegenüber so klein und nichtig vor.
Nun standen sie vor dem Lokal „Zur Weintraube". Ein Livrierter öffnete ihnen eilfertig die Tür.
An der Garderobe flüsterte Otto Dietz seinem Freund zu:
„Sollte ich Anschluss finden, musst Du nachher allein nach Hause gehen!"
In Heuberger stieg wieder, mit einer heißen Blutwelle, das Gefühl hoch, das er sich bisher noch nicht erklären konnte. War es Hass, Ekel, Verachtung oder was war es? Ihm war unangenehm zumute und er wäre jetzt am liebsten umgekehrt und davon gelaufen, — aber er folgte ihm doch durch die große, schwere Glastür ins Lokal. Die tollen Rhythmen einer Jazzband klangen ihnen entgegen.

Frau Kuhlmann war krank. Sie hatte die Gesichtsrose und einen Kopf wie einen Kürbis. Ihre Krankheit wirkte sich sichtbar aufs Geschäft aus. Emil, ihr Mann, bediente und wenn die „Schludertaschen von Weibsstücken" kamen, wie er etliche Frauen nannte, dann fertigte er sie kurzangebunden, beinahe grob ab. Die Frauen kamen deshalb nun so wenig wie möglich und behandelten ihn von oben herab.
„Wie geht es Ihrer Frau?" fragte die kleine dicke Frau Fritt herrisch.
„Gut!" knurrte der Brothändler und säbelte ein Weißbrot mittendurch.
„Ohne die Frau im Geschäft hat der Mann doch viel Arbeit, nicht wahr?" fuhr die Fritt etwas versöhnlicher fort.
„Ja!" brummte Kuhlmann, aber er dachte bei sich: »Dies blöde Weib Ich hab' auch sonst alles allein machen müssen!"
„Also, gute Besserung für die Frau Gemahlin!"
Der Brothändler brummelte etwas in den Bart.
Aber als die dicke Frau eben aus der Tür war, kam sie mit der Mechanikerfrau schon wieder zurück.
„Ach, warten Sie doch eine Weile, Frau Fritt", schnatterte diese, „ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges zu erzählen!"
„Ein Gemengtes, bitte!" wandte sie sich dann an den Brothändler. Dieser packte ein Brot ein und warf es mit Wucht auf den Ladentisch.
Die beiden Frauen tuschelten und flüsterten unbekümmert weiter.
„Ach nein!" flüsterte die Kollmar, „es sind besonders Heubergers und Langfelds, die uns zu schaffen machen. Mein Mann möchte die Langfelds zu gern aus der Wohnung heraus haben!"
„Nun wohnt ja auch noch dieser Kommunist bei dem Mädel!"
„Ja, was sagen Sie bloß! Richtige polnische Wirtschaft! Aber die Menschen sind ja so frech. Nach dem Mieterstreik, wo die Hausbesitzer klein beigaben... "
„Das war grundfalsch!" lispelte die Dicke.
„Natürlich! So was ist nur Wasser auf die Mühlen dieser Krakehler. Denen schwillt jetzt der Kamm. Die glauben, sie können jetzt tun, was sie wollen!“
„Ihr Gemengtes!" Damit schob Kuhlmann ärgerlich das Brot Her Mechanikerfrau zu.
„Ja, danke!" Sie ließ sich in ihrer Unterhaltung nicht stören.
„Aber so ein Treiben brauchen Sie doch nicht zu dulden! Der alte Langfeld macht sich doch strafbar!" flüsterte nun wieder die Fritt.
„Sie glauben ja nicht, was wir damit für Scherereien hätten, wenn wir ihn anzeigen würden und das Ende vom Lied wäre: Er darf bei ihr wohnen, weil er eine von der Braut getrennte Schlafstatt hat, also im Nebenzimmer schläft. Diese Jungen tanzen doch heute der Behörde auf der Nase herum!"
Die Fritt schüttelte nur den Kopf.
„Wünschen Sie sonst noch was?" fragte Kuhlmann in krampfhafter Selbstbeherrschung.
„Nein, danke!" erwiderte die Mechanikerfrau und wandte sich, ohne den Brothändler anzusehen, wieder an die Fritt:
„Mein Mann trägt sich schon mit dem Gedanken herum, den Vizeposten abzugeben. Was für Undank mit diesem Posten verbunden ist, kann sich keiner vorstellen. Als sei man ein Bettler, so wird einem am Monatsersten die Miete hingeworfen. Und nach diesem verfluchten Streik muckt der dreckigste Prolet auf und verlangt plötzlich seine Wohnung gemalt und geweißt, den Ofen repariert, Fußbodenlack und eine neue Klosettbrille und was weiß ich!"
„Lass sie doch verlangen, was sie wollen!" kicherte die Fritt.
„Ja, das ist gut gesagt, aber die Kerle rücken nicht mit der Miete raus. Erst renovieren, dann zahlen wir Miete, erklären sie. Der Streik hat sie alle meschugge gemacht!"
Kuhlmann stand hinterm Ladentisch und zitterte vor Wut. Er selbst verstand kein Wort von der Unterhaltung; die innere Erregung hatte ihn für alles rundherum taub gemacht. Seine Zähne schlugen leise aufeinander und die Adern am Hals schwollen ihm an«
„Haben Sie die neueste Häuserblockzeitung erhalten?" fragte die Fritt. Aber die Mechanikerfrau sah zufällig den Brothändler mit den verzerrten Zügen und den geballten Fäusten hinter der Tonbank.
„Wir können uns ja draußen weiter unterhalten!" meinte sie nun schreckensbleich.
Die beiden Frauen gingen hinaus, aber die Kollmar sah sich an der Tür noch einmal ängstlich nach dem Brothändler um. —
Kuhlmann stand zitternd hinter dem Ladentisch. Plötzlich fiel ihm ein, dass die Vizenfrau ihm das Brot nicht bezahlt hatte und nun packte ihn Raserei. Er nahm das halbe Schwarzbrot, das Brotmesser, einige Pakete Pumpernickel und warf sie auf den Boden, stampfte und trampelte mit den Füßen und brüllte Flüche über Flüche aus sich heraus.
Aus dem hinteren Zimmer klang es wimmernd, halb ängstlich, halb ärgerlich: „Emil! — Emil! — Was ist denn bloß los?"
Kuhlmann aber sah und hörte nichts, sondern rannte wie ein gereizter Tiger, unflätige Worte ausstoßend, hinterm Ladentisch hin und her.

In der Pianofabrik Sternberg & Söhne, die der Rosenhof-Terrasse gegenüberlag, waren zirka fünfhundert Arbeiter beschäftigt. Die Fabrik hieß bei den Einwohnern der Rosenhofstraße die „Nazibude". Sie wurde so genannt, nicht etwa, weil die Nazis die Mehrheit der Belegschaft hinter sich hatten, sondern nur darum, weil in regelmäßigen Abständen der »Nationale Pianobauer', eine hetzerische Werkzeitung der Hakenkreuzler, erschien.
Diese, für viele Arbeiter der Rosenhofstraße unfassbare Tatsache, wurde von den mit den Nazis sympathisierenden Geschäftsleuten und Kleinbürgern geschickt ausgenutzt. In der Forcierung bestimmter Dinge unter den Massen der Bevölkerung sind bekanntlich die Nazis Meister.
In dieser „Nazibude" waren nun von der Direktion Lohnreduzierungen angekündigt worden. Es sollten 6 Prozent von den Löhnen für die gelernten und 4 Prozent von denen der ungelernten Arbeiter abgezogen werden. Unter der Belegschaft entstand sofort eine Abwehrbewegung und, trotzdem die reformistischen Gewerkschaftsinstanzen warnten und in neuen Verhandlungen und einem günstigen Schiedsspruch das Mittel zur Abwehr des Unternehmeranschlages auf die Löhne sahen, legten sämtliche Arbeiter der Pianofabrik an dem Tage, wo die Lohnreduzierung in Kraft treten sollte, die Arbeit nieder.
Die Einwohner der Rosenhofstraße waren sprachlos. Die „Nazibude" streikte. Die Geschäftsleute begannen zu flüstern, wenn das Gespräch auf den Streik kam« Einige unpolitische Arbeiter, die in den Fangarmen der Hakenkreuzler hingen, stolzierten erhobenen Hauptes dahin, als wollten sie jeden merken lassen: Seht, ihr nennt uns Unternehmersöldlinge, Gelbe und Verräter, aber wir kämpfen doch für die Lebensinteressen des Proletariats, selbst mit der Waffe des Streiks. Die Hakenkreuzler hatten sogar eine Sondernummer ihrer Werkzeitung herausgegeben, die „Der kämpfende nationale Pianobauer" hieß. Sie wurde nicht nur unter den streikenden Arbeitern, sondern auch in Massen unter den Geschäftsleuten der Rosenhofstraße verteilt. In der Zeitung hieß es, die Nazis seien für den Streik, weil die Lebensinteressen der Arbeiter unmittelbar bedroht seien. ,Kein Lohnabbau ohne gleichzeitigen Preisabbau', schrieben sie. Gleichzeitig appellierten sie aber an die Einsicht und Vernunft der Unternehmer und beteuerten, dass niemand so gut wisse wie sie, wie schwer heute der Konkurrenzkampf in der Pianoindustrie sei und dass sie gewillt seien, alles zur Hebung der deutschen Pianoindustrie zu tun. Bei alledem machten sie ein Geschrei, als wenn sie den Streik ausgelöst hätten und ihn nun führten.
Dem war aber nicht so. Die Hitlermannen hatten nur einen äußerst geringen Einfluss auf die Belegschaft. Die meisten Arbeiter waren langjährige Gewerkschafter, mit sozialdemokratischer und kommunistischer Gesinnung; lediglich eine Handvoll jüngerer Arbeiter, unter Führung eines Volontärs, bekannte sich zu den politischen Zielen der Hakenkreuzpartei und bildeten im Betrieb eine kleine Zelle. An Aktivität jedoch waren sie allen andern voran.
Am ersten Streiktage der Pianoarbeiter war von Fritz eine außergewöhnliche Sitzung in seiner Stube bei Langfeld arrangiert worden.
Als nämlich der alte Langfeld immer seltener Arbeit im Hafen bekam und auch Else, trotz aller Bemühungen, stellungslos blieb, war Fritz mit in die kleine Wohnung gezogen. Er verdiente noch und konnte deshalb am besten beitragen, den Haushalt aufrecht zu erhalten.
Außer dem Schauermann und Römpter kamen noch die beiden Mitglieder der Redaktion der Häuserblockzeitung, die Genossin Schenk und der Buchbinder Kernatzki, zwei Genossen aus dem Betrieb der streikenden Pianoarbeiter und ein Jugendgenosse. Das kleine Zimmer war gedrängt voll.
Ohne Umschweife begann Fritz vom Streik der Pianoarbeiter und dem Wühlen der Nazis zu berichten und kündigte an, dass die Genossen der Straßenzelle außer der Häuserblockzeitung nun auch noch mit den Genossen aus der Pianofabrik eine Betriebszeitung schaffen und umsetzen müssten.
„Ooooh!" stöhnte die Genossin Schenk.
„Hier hilft kein Stöhnen und kein Maulspitzen, Genossin Schenk", rief Fritz. „Hier muss gepfiffen werden!"
Und dann schilderte er, wie und was getan werden müsste. „Eine Betriebsversammlung und eine Betriebszeitung sind vorerst das Wichtigste. Dann müssen wir Parteifunktionäre die Hilfsaktion der Internationalen Arbeiterhilfe für die Streikenden organisieren und unterstützen und den Streik in unserer Häuserblockzeitung behandeln. Außerdem müssen wir das heuchlerische Gebaren der Nazis mit sachlichen Argumenten zerschlagen und der Flut der Hakenkreuzpropaganda einen Damm entgegensetzen. Unsere Arbeit muss so sein, dass wir entscheidenden Einfluss auf die Führung des Streiks bekommen!"
Nach Fritz sprach Römpter. Er fragte die beiden Streikenden; „Gab es in der Pianofabrik bisher eine Betriebszeitung?"
„Nein!"
„Dann würde ich es für richtiger halten, auch während des Streiks keine herauszubringen!"
„Das geht nicht!" rief Fritz. „Nur dadurch können wir zu den Arbeitern sprechen und Einfluss auf sie gewinnen!"
„Warum denn nicht?" erwiderte trocken der Seehundbärtige. »,Wir können ja eine Streikzeitung der RGO. herausbringen! Jetzt aber auf einmal eine Betriebszeitung, sieht nicht gut aus!"
„Einverstanden!" rief Fritz lachend. „Gute Idee sogar!"
„Wer soll denn diese Zeitung herstellen?" fragte die Genossin Schenk ahnungsvoll.
„Du — wir!" rief ihr der Buchbinder zu.
Und schon explodierte sie.
„Ausgeschlossen! Ganz ausgeschlossen! Mein Mann quakt mir schon so dauernd die Ohren voll!"
„Fühlt er sich vernachlässigt?" höhnte Kernatzki und schlug sich lachend auf die Schenkel. „Immer dasselbe Theater!" rief er dann noch. „Dabei macht sie hinterher immer mit!" setzte er, zu den andern gewandt, hinzu.
„Diesmal aber nicht, ausgeschlossen!" rief sie noch einmal. —
Dann sprach ein Genosse der streikenden Pianoarbeiter. Er war Lackierer und Mitglied der von der Belegschaft gewählten Streikleitung.
„Genossen!" begann er. „Die siebenköpfige Streikleitung, die in der Belegschaftsversammlung gewählt wurde, besteht aus zwei organisierten Sozialdemokraten, zwei organisierten Kommunisten, — mein Genosse dort und ich-zwei politisch parteilosen Arbeitern und einem Nazi. Der Obmann ist ein Parteiloser. Wir haben eine Zelle in der Fabrik, die aus elf Genossen besteht. Richtig gearbeitet aber hat keiner. Kaum, dass sie einmal in der Zeit, wo ich dort arbeitete, zusammentrat Eine politische Bearbeitung der Belegschaft muss im Augenblick außerordentlich günstig ausfallen, denn die Erregung unter den Kollegen ist groß. Stark bemerkbar macht sich schon die lebhafte Aktivität der Nazis, deren demagogischer Trick, den Streik zu unterstützen, großes Erstaunen unter den Kollegen hervorgerufen hat Viele sagen schon, das können doch keine Schutzgarden des Unternehmertums sein, wenn sie mit uns, Schulter an Schulter, das Unternehmertum bekämpfen!"
„Solche Zweifel dürften gar nicht erst aufkommen, wenn ihr richtig gearbeitet hättet!" rief die Genossin Schenk dazwischen.
„Ja, — ja!" antwortete der Angegriffene, aus dem Konzept gebracht. „Wir haben viel versäumt, das muss jetzt nachgeholt werden!"
Fritz machte den beiden Genossen aus der Pianofabrik ebenfalls Vorwürfe.
„Die ganzen Jahre habt Ihr nie Fühlung mit der Straßenzelle oder der Stadtteilleitung gesucht, sondern auf eigene Faust gewirtschaftet. Jetzt ist für uns alle die Arbeit doppelt schwer. Aber wir wollen nicht das bisher Versäumte lang und breit besprechen, sondern die Arbeiten, die uns nun bevorstehen. Ich hoffe, die beiden Genossen von Sternberg & Söhne werden uns tüchtig unterstützen!"
„Natürlich!" nickten die beiden.
Dann wurden die Arbeiten verteilt. Die beiden Streiker und Fritz erhielten den Auftrag, die Streikzeitung zu schreiben. Else, ein Jugendgenosse und der Buchbinder sollten sie im Stadtteilbüro abziehen und die Genossin Schenk die Verteilung organisieren.
„Du willst auch mitarbeiten?" stichelte der Buchbinder.
„Ja, ich will auch mitarbeiten!" erwiderte sie und zog eine Grimasse. „Was für 'ne Frage überhaupt, als ob ich ein altes, indifferentes Weib wäre!"
Kernatzki lachte, dass man seine gelben Zahnstummel sehen konnte. —
Nachdem alle fort waren, saß Fritz noch an seinem Tisch und malte auf einem Bogen Papier herum. Else hatte in der Küche aufzuräumen und der alte Langfeld saß am Küchenherd, rauchte seinen stinkenden, qualmenden Tabak und las in der Abendzeitung,
Als Else mit ihrer Arbeit fertig war und zu Fritz ins Zimmer ging, zeigte der ihr seinen Entwurf für den Kopf der Streikzeitung. In der linken Ecke stand ein geöffneter Flügel, aus dem Noten heraussprangen. Darüber schräg, in ganz fetter Schrift — „Der Misston" — und etwas kleiner — „in der Melodie der Wirtschaftsdemokratie." —
In dem Augenblick klopfte es heftig an die Haustür. Der alte
Langfeld hatte sich schon erhoben, um zu öffnen, aber Else huschte aus dem Zimmer.
„Bleib nur sitzen, Vater!1
Walter Heuberger stand draußen. Ist Fritz da?"
„Ja! Komm nur rein!" antwortete Else.
Fritz kam schon aus der Stube.
„Du, der Reichstag ist aufgelöst!" rief ihm Heuberger zu.
" Hallo!" rief Fritz. „Also doch!"
„Feine Sache, was!" lachte Heuberger. „Die Sozis werden Dresche kriegen!"
„Mensch, das heißt Arbeit für uns!" sagte Fritz.
„Die wird eben gemacht!" meinte Heuberger leichthin.
„Gerade Du bist in letzter Zeit bei der Parteiarbeit ziemlich unsichtbar!" erwiderte Fritz.
Der Junge wurde feuerrot, sagte aber nichts.
„Komm mit herein!" lud Fritz ihn ein. „Trink' eine Tasse Tee mit uns!"
Kuhlmann, der tausendmal seiner Frau alle Qualen der Menschheit an den Hals gewünscht hatte, war ganz still und weich geworden, als er sie mit geschwollenem Kopf Tag für Tag im Bett liegen sah.
„Musst Du denn wirklich fort?" hauchte sie, als er eitles Sonntags in seinem besten Anzug vor ihr stand und sich verabschieden wollte, und sah ihn kläglich mit ihren dickgeschwollenen, geröteten Augen an.
„Ich habe Dir doch schon einige Male erklärt, Henny!" erwiderte Kuhlmann, — er hatte seit ihren Jugendjahren diesen Namen nicht mehr gebraucht — „es geht um den großen Sängerpreis! Wir holen ihn uns bestimmt, aber es darf keiner fehlen! Es darf keiner!"
Die Brothändlerin seufzte.
„Ich habe Dir doch alles zurecht gemacht. Fleisch und Gemüse brauchen nur auf das Feuer gestellt zu werden. Kartoffeln sind geschält. Radio ist in Ordnung; brauchst Du nur einzuschalten. Alice kommt zu Mittag und wird Dir helfen. Sie hat es bestimmt versprochen!!"
Kuhlmann war übereifrig, die Kranke zu beruhigen»
„Hast Du was gesagt?" fragte er dann.
„Geh' nur!" seufzte seine Frau.
„Wie Du das sagst?" erwiderte er weinerlich.
„Geh1 doch!" wiederholte sie.
Da raffte er sich zusammen und ging. Hinter sich hörte er noch ein schreckliches Stöhnen. —
Als er auf der Straße war, verfolgte ihn dieses Stöhnen, peinigte ihn, ließ ihm keine Ruhe. Er musste immer daran denken, dass er rücksichtslos seine kranke Frau hilflos im Hause zurückgelassen hatte. Ihm wurde heiß und kalt. Von quälenden Gedanken verfolgt, trabte er dahin. Da wurde ihm auf die Schulter geklopft. Lachend stand ein Sangesbruder neben ihm und schüttelte ihm die Hand.
„Ein herrlicher Sonntag, was, Herr Kuhlmann?"
„Ja!"
„Petrus muss ein Sangesfreund sein!"
„Ja!"
Der andere erzählte unbekümmert drauflos. Kuhlmann hörte gar, nicht hin. Mit einem Male gab er sich jedoch einen Ruck. „Zum Henker mit diesen Rücksichten!" schrie er zum Erstaunen seines Begleiters plötzlich vor sich hin. „Soll sie der Teufel holen! Hat mich alle Tage gequält, geschunden und getriezt!"
„Wer?" fragte der Sangesbruder und riss den Mund auf.
„Meine Frau ist krank!" antwortete Kuhlmann.
Der andere brach in ein brüllendes Gelächter aus.

An den Landungsbrücken war ein Volksgewimmel von Sonntagsausflüglern. In Scharen strömten die Menschen aus den Hoch- und Straßenbahnen zu den Dampfern,
„Brücke drei!" sagte Kuhlmanns Nebenmann.
Kuhlmann sah sofort unter den Menschen, die dort standen, den widerlichen, großmäuligen Schlachtermeister. Er schien es wieder mächtig hild zu haben, er redete, gestikulierte und rannte hin und her.
Mit „Hallo!" und „Gut Lied!" wurden die beiden von den Sangesbrüdern begrüßt. Alle waren prächtig aufgelegt und redeten und lachten. Nur der Zollbeamte schimpfte. Einige Frauen hatten ihre Babys mitgebracht.
„Die Weiber sind zu unvernünftig!" zischte er. „Wir veranstalten doch keinen Fröbelgartenausflug!"
„Wo sollen aber die Frauen mit den Kindern hin?" fragte ein anderer.
„Was geht's mich an!" brummte der Zollbeamte. „Die haben Bälger, wie die Proleten!"
Kuhlmann nickte zustimmend. Er hatte keine. —
„Erika! Erika!" kreischte neben ihnen eine Frauenstimme auf«
Alles sah nach Erika.
Die schreiende Frau zerrte ein kleines Mädchen hinter sich her«
„Willst wohl ins Wasser fallen, dummes Gör!"
Dem Zollbeamten traten vor Wut die Augen heraus,
„Diese Bälger!" zischte er wieder.
Diesmal musste Kuhlmann lächeln. —
Lang gezogen heulte eine Dampfersirene.
„Uuu—i—i—hJ" machte ein junges Mädel und hielt sich die Öhren zu.
„Schon keine Nerven mehr, Fräulein," lächelte der Zollbeamte diese süßlich an.
„Schrecklich!" rief sie. „Das geht bis in die Fußspitzen!"
„Muss das schön sein!" lachte der Zollbeamte.
„Du!" stieß ihn Kuhlmann an. „Ich denk', Du kannst die Gören nicht leiden!
„Das ist doch kein Gör mehr!" zischte ihn der Sangesbruder giftig an.
„Nanu!" Kuhimann grinste.
„Die ist mindestens 16 Jahre!"
Kuhlmann grinste nun erst recht. —
„Meine Herrschaften!" ertönte der Bass des Schlachters. „In einigen Minuten begeben wir uns aufs Schiff. Die Mitglieder der Brudervereine sind bereits vollzählig dort. Ausgerechnet ,Sangeslust' ist wieder einmal nicht auf der Höhe!"
In diesem Augenblick hielt dicht vor ihm eine Autotaxe. Der kleine Josef, Tenor und Versicherungsreisender, sprang strahlend
„Gut Lied!" rief er zur Begrüßung und hob dabei einen Arm. Dann zahlte er dem Schofför.
„Großschnauz!" knurrte der Zollbeamte. „Unser Dirigent kommt zu Fuß, aber dieser Hungerleider per Auto!" —
„Na, gut bei Stimme, Zöllner?" trat Josef jetzt an den Zollbeamten heran.
„Von meiner Kehle wird die Preisverteilung wohl nicht abhängen!" kam die Antwort.
„Das sag nicht, Bruder. Ich wollte wir hätten von Deiner Stimme Wohlklang mehr!"
Mit einem listigen Seitenblick drängelte er sich zu anderen. „Wollte der Kerl mich foppen?" wandte sich der Zollbeamte an Kuhlmann.
„Ach wo!" antwortete der.
„Herrschaften, aufs Schiff!" kommandierte der Schlachter. Man setzte sich langsam in Bewegung. Die Kinder riefen und hängten sich den Müttern an die Röcke. Einige plärrten. Klapse wurden ausgeteilt. Alles war in Aufregung. Voran schritt der massige Schlachter. Neben ihm ging der Dirigent, der neben der fleischigen Fülle des Schlachtermeisters noch hagerer wirkte. Kuhlmann ging ziemlich zum Schluss mit den Frauen, denn die Frau Gerichtssekretär Möhlig ließ ihn nicht los und fragte ihn aufs genaueste nach den Krankheitssymptomen seiner Frau aus. —
Der Schraubendampfer ,Merkur' schien schon überfüllt zu sein, aber der ganze Verein ,Sangeslust' samt Anhang wurde noch mit Leichtigkeit verstaut.
Kuhlmann war es beim Betreten des Laufsteiges gelungen, der geschwätzigen Frau Gerichtssekretärin zu entwischen. Er wurde mit einigen anderen Sangesbrüdern nach Achterschiff gedrängt. Ein tolles Gedränge war hier. Dicht an dicht standen die Menschen zwischen den Bänken, die nach Möglichkeit für die Frauen reserviert wurden. Es war ein dauerndes Gerufe, Gerede und Gewinke. Kuhlmann stand vor einer riesigen, walkürenhaften Frau. Er wagte sich nicht zu bewegen, da er schon so mit seinen Beinen an ihrem Fettpolster stand. Dabei entströmte ihrem üppigen Busen ein Geruch, der ihn fast betäubte.
Er hörte, wie jemand einige Reihen weiter sagte: „Es geht doch nichts über eine Dampferfahrt! Diese frische Seeluft und dies lebhafte, lustige Volk an Bord!"
Kuhlmann versuchte herauszubekommen, ob es nur Ironie war oder ernsthaft gemeint sei. Es lachte keiner. Es lächelte nicht mal einer, einige der Umstehenden nickten sogar zustimmend.
„Idioten!" knirschte er dann und versuchte sein linkes Bein etwas vorzustrecken, um einen festeren Halt zu bekommen. —
Sie fuhren. Auf den spritzenden Wogen schaukelte eine kleine Barkasse neben ihnen her. Einige Dampfer pfiffen sich mittels Sirenen Signale zu.
„Oooh! Mutti, die großen Schiffe!"
„Das ist eine Werft, Mäus'chen!"
„Was ist das für ein großes Haus?"
„Wohin fährt der Dampfer?"
„Kann das kleine Boot nicht untergeh'n?"
„Wann sind wir da, Mutti?"
Kuhlmann warf giftige Blicke um sich. Aber das Geschnatter hörte nicht auf. Nun versuchte er, weiter an die Reeling zu kommen. Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß. Einige Male bekam er wütende Ellbogenstöße in die Rippen. Schließlich aber hatte er sich etwas Bewegungsfreiheit erkämpft und konnte sich am Schiffsbordgeländer festhalten.
Neben ihm standen mehrere Sänger befreundeter Vereine, die heute unter sich den Sängerwettstreit austragen wollten. Kuhlmann trat etwas näher an sie heran, denn er dachte, sie würden von den kommenden Wettgesängen reden. Aber er hatte sich geirrt. Es ging um die Politik.
„Schlechte Situation!" sagte ein beleibter Mann mit einem goldenen Kneifer. „Denkbar ungünstigste Situation!" wiederholte er noch einmal. „Die Regierung muss von allen guten Geistern verlassen gewesen sein!"
„Hindenburg benimmt sich wie ein altes Weib!" meinte ein anderer. Er hatte einen pomadisierten Scheitel und einen Stutzer unter der Nase. „Wenn man bedenkt, dass wir ihn zum Präsidenten machten!" setzte er stöhnend hinzu.
„Es ist doch die Sozialdemokratie, die den Parteien der Ruhe und Ordnung abermals einen Dolchstoß versetzt hat!" mischte sich noch ein anderer in das Gespräch. „Ihr Parteiprestige ist ihnen mehr wert, als Ruhe und Ordnung im Staate!"
„Trotzdem hilft ihnen dieser Verrat am Bürgertum nicht!" rief der Beleibte. „Die Futterkrippe wird ihnen weggerückt. Die rosaroten Bonzen werden ein blaues Wunder erleben!"
„Das werden sie!" lachte höhnisch einer. „Diese schmutzigen Korruptionisten, diese Ministersüchtigen, werden eine kalte Dusche erhalten. Das Volk hat die Betrügereien satt. Es macht nicht mehr mit.'"
„Nein, es macht nicht mehr mit!" echote es.
„Meine Herren", begann der Dicke wieder und setzte seinen Kneifer zurecht. „Denken Sie aber auch daran, dass in den alten bürgerlichen Parteien Glaube und Treue in Fäulnis geraten sind. Es ist ein Jammer, aber der Ekel sitzt einem im Halse, wenn man daran denkt, wie bewährte bürgerliche Politiker korrumpiert sind und schamlos uns kleine Geschäftsleute, die wir die Seele der Wirtschaft und des Handels sind, mit immer neuen Steuern und Abgaben zugrunde richten. Man verliert den Glauben an alle. Wir werden ja alle Proletarier!"
Ein zustimmendes Gemurmel war die Antwort. „Aber diese Judenwirtschaft in Berlin wird Schiffbruch erleiden, Die deutsche Jugend lässt sich nicht weiter missbrauchen. Und wir Alten, meine Herren, haben die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, unsere Jugend tatkräftig zu unterstützen. Nur ein kräftiger, zielbewusster, nietzscheanischer Idealismus reitet unser Land und unser Volk. Die Gefahren sind ja größer, als die meisten ahnen!"
„Der Bolschewismus... !" begann einer. Aber alle sahen in diesem Augenblick zum Ufer. Blankenese, den früheren Seenmanns-und jetzigen Villenort passierten sie gerade. Am hügeligen Ufer standen Häuser und Villen zusammengedrängt neben- und übereinander und das Ganze sah farbig aus, als wäre alles aus einer riesigen Spielzeugschachtel aufgebaut.
„Unsere Heimat ist so schön!" deklamierte der Dicke. „Deutschland ist nach dem Weltkriege nicht untergegangen. Deutschland wird auch jetzt nicht untergehen!"
„Deutschland kann nicht untergehn!" rief pathetisch der pomadisierte Scheitel. „Deutschland ist trotz aller Schicksalsschläge ein viel zu gesundes Land!"
„Der Bolschewismus... "
„Was wollen Sie eigentlich mit ihrem Bolschewismus?" wurde der Sprecher, ein kleines, schmächtiges Kerlchen, angefaucht. Kuhlmann dachte bei sich, das muss ein Frisör sein.
„Lassen Sie mich doch aussprechen!" erwiderte der kleine Mann mit den hervorstehenden Backenknochen und den gekräuselten Haaren und tänzelte dabei quecksilbrig hin und her-
„Der Bolschewismus wird ungeheuer an Stimmenzahl gewinnen!" „Das weiß jedes Kind!" bemerkte einer gereizt. „Haben Sie sonst nichts zu sagen?" entgegnete der Fettleibige. „Das riesige Erwerbslosenheer und die wirtschaftliche Not der Arbeiterschaft wird den Bolschewiken zugute kommen!"
„Was Sie nicht sagen!" höhnte der Gescheitelte und drehte sich mit einer Grimasse um.
„Meine Kundschaft ist ein untragbares Stimmungsbarometer!"
„Aha!" machte Kuhlmann und dachte: Also tatsächlich Frisör.
„Sie haben gewiss recht!" nahm der Dicke mit dem Kneifer das
Gespräch wieder auf. „Die Gefahr des Bolschewismus ist groß. Man
muss neue Mittel und Wege finden, ihn auszurotten!"
„Mit der Demokratie?" fragte höhnisch der Gescheitelte. „Ich sagte bereits: Neue Methoden!"
„Hört! Hört!" sagte nun selbstbewusst der junge Gent. „Wir kommen uns näher, meine Herren!" —
Kuhlmann langweilte die Unterhaltung. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders. In Träumereien versunken, hörte er die Melodie: „Seht wie die Wolken am Himmel schon ziehen, wie alles strahlet im goldenen Schimmer" pfeifen. Das war ja der Zigeunerchorgesang aus .Troubadour', mit dem sie den großen Sängerpreis ersingen wollten. Kuhlmann verrenkte sich schier den Hals nach dem Pfeifer. Es war der Zollbeamte, der ein Stückchen weg an der Reeling stand und über das Wasser sah. Kuhlmann drängte sich durch die Menge zu ihm hin, —
In Lühe, im Altenlande, war über die Landungsbrücke ein riesiges, girlandengeschmücktes Transparent gespannt. ,Willkommen, ihr Sangesbrüder', stand darauf. Männer im Sonntagsstaat, Frauen in bunten Gewändern, standen erwartungsvoll am Deich. Vorsichtig manövrierte der Dampfer an die Brücke heran. Eine Musikkapelle stand auf dem Deich und spielte einen Marsch. Winken, Tücherschwenken, Rufe an Land und an Bord. Alles kam wieder in Bewegung. —
Der Schlachtermeister hatte das Vereinsbanner entrollt und hochgehoben. „Hier ,Sangeslust'!" brüllte er.
Kuhlmann und der Zollbeamte drängten sich durch die aufgeregten Menschen zu ihrem Vereinsbanner.-----------
Es war ein herrlicher Frühlingstag. Die Sonne hatte geschienen, wie an Sommertagen, Nun, am Abend, rieselte jedoch unaufhörlich ein feiner Regen, und ein scharfer, kalter Nordwind strich über das Wasser.
Das Schwesterschiff des Schraubendampfers ,Merkur' der ,Saturn', brachte die Sänger und andere Ausflügler wieder nach Hamburg. Welch ein Unterschied zwischen Hinfahrt und Rückfahrt. Unter dem riesigen Persenningdach kauerten in der Dunkelheit eng aneinandergedrängt die Menschen. Alles fror und jeder schwieg. Ein kleines Kind, das nicht einschlafen konnte, wimmerte kläglich. Die Glücklichen, die noch eine Ecke in der Schiffskantine erwischt hatten, wurden beneidet.
Kuhlmann irrte ruhelos an Bord des Schiffes umher. Er hatte einige Male versucht, sich in die Kantine hineinzuzwängen, aber es war aussichtslos. Immer wenn er an der Kantine vorbei kam, sah er in den lärmenden, in dichten Tabaksqualm gehüllten Raum. Kuhlmann wusste, an der Theke saß eine Schar Sänger von ,Sangeslust'. Sie hatten diesmal den besten Platz erwischt. Der Schlachter führte natürlich das Wort. Es wurde getrunken noch und noch. Sie tranken aus Wut, denn sie waren im Sängerwettstreit elendig durchgefallen. Die ,Lore am Tore' hatte den Zigeunergesang aus »Troubadour' glatt geschlagen. Der Jammer musste in Bier ertrunken werden. Kuhlmann selbst war durch diesen Fehlschlag derartig geknickt, dass er allen Ernstes die Absicht hatte, der ganzen Singerei Valet zu sagen. Dann aber tröstete er sich mit seinen Vereinsbrüdern, die behaupteten, dass das ganze Schiedsgericht aus Trotteln bestanden habe, die mit ihrem vorsintflutlichen Musikverstand einen Kunstgesang zu bewerten, nicht imstande seien. Einige behaupteten sogar, das Ganze sei eine infame, abgekartete Schiebung gewesen
Als Kuhlmann wieder an der Kantinentreppe vorüberkam, hörte er aus dem allgemeinen Lärm den Gesang: ,Wenn sich der Geist auf Andachtsschwingen zum Himmel hebt!' — Der donnernde Ba3 des Schlachters überdröhnte alle. Dieses Lied von Kalliwoda war einmal Kuhlmanns Lieblingslied. Darum blieb er stehen und lauschte. Manchmal wurde der Gesang von lautem Lachen übertönt. Kuhlmann wusste nicht, ob dieses Lachen den Sängern oder dem Lied galt. Er war wütend. Er mochte das Lied auf einmal nicht mehr. Wieder wanderte er an Deck umher,
Links und rechts auf der Wasserstraße blinkten grüne und rote Lichter auf. Schräg vor ihnen fuhr ein anderer Dampfer. Ganz in der Ferne wurde ein heller Schein am Himmel sichtbar. Dort lag Hamburg. Kuhlmann hatte jetzt nur einen Wunsch: in Hamburg, in der Rosenhofstraße, in seiner Wohnung zu sein. Zitternd vor Kälte blieb er schließlich mittschiffs bei der Maschine stehen, denn aus den Luken des Maschinenraums strömte Wärme. Aus der gegenüberliegenden Kantine hörte er die versoffene Stimme des Schlachtermeisters:
„Das deutsche Lied aus deutschem Herzen, quillt stark und frei,
Beschwingt die Freuden, heilt die Schmerzen, schafft Jugend neu,
Was nur die Deutschen mag drängen,
Es wird zum Lied. Es wird zum Lied.
Drum dröhne fort, mit ewigen Klängen,
Du deutsches Lied, du-u deu-eutsch-es Li-i-ied."

 

Kapitel VI.

Fritz arbeitete seit einiger Zeit, da er in seinem Beruf als Elektrotechniker immer seltener Arbeit fand, als Arbeitsmann in der Versandabteilung einer Haferflockenfabrik. Neun Stunden lang musste er eineinhalb Zentner schwere Säcke schleppen. Als er am ersten Tage eine Stunde geschleppt hatte und ihm das Kreuz schmerzte, als wäre es gebrochen, schwor er: Heute noch wird ,in Sack gehauen'! Das halte aus wer kann, ich nicht! — Am Abend aber dachte er an Else, an ihren Zustand, sie erwartete ein Kind und wollte es austragen, dachte an den alten, gichtgeplagten Langfeld, dachte daran, dass er jetzt den kleinen Haushalt aufrechterhalten musste und dass auf seinen Verdienst gewartet, mit seinen Groschen gerechnet wurde. — —
Er kündigte das Arbeitsverhältnis nicht. Er schleppte sich nach' Hause, fiel, ohne sein Abendessen angerührt zu haben, zerschlagen und zerschunden, selbst wie ein lebloser Sack, aufs Bett ...
Voller Grauen, Schweiß auf der Stirn, quälte er sich am nächsten Morgen wieder zu den Eineinhalbzentnersäcken. So ging es mehrere Tage. Nach etwa zehn Tagen schmerzten ihm die Knochen nicht mehr so sehr. Er hatte sich an die Hunderfünfzigpfundlast gewöhnt»Doch die dumpfe Müdigkeit in den Gliedern blieb. Oft schlief er am Tisch über der Zeitung ein. —
Dann kam der Streik in der ,Nazibude'. Fritz musste zu Sitzungen, die bis in die Nacht dauerten. Die Streikzeitung musste fertig gestellt werden. Seine Augen schmerzten. Ein bleierner Druck lag ihm im Schädel. Er schlug den Genossen vor, ihm seine Funktion abzunehmen. Es wurde immer wieder hinausgezögert. Fritz selbst wollte sie ja gern behalten, denn die Arbeit in der Partei war doch noch das Einzige, was ihm Widerstandskraft gab.
Dann kam der Wahlkampf.
„Nein, Fritz, jetzt kannst Du uns nicht im Stich lassen. Mitten im Wahlkampf, ausgeschlossen! Nach der Wahl kannst du dich verschnaufen!"
So sprachen die Genossen. Fritz riss sich zusammen. Er kämpfte einen verzweifelten Kampf gegen die Eineinhalbzentnersäcke, gegen die Müdigkeit und die Schmerzen.
Der Straßenzelle Qu, Rosenhofstraße, wurden zur politischen Bearbeitung während der Wahlzeit auch noch einige Ortschaften in der Gegend von Stade an der Elbe von der Bezirksleitung der Partei zugewiesen. Fritz machte den Genossen folgenden Vorschlag: „Mit Lärm, Gesang und Parolegeschrei einmal durch die Ortschaften fahren, wie es andere Zellen oft taten, damit ist nichts geschafft und wird nichts erreicht. Am besten ist, diesen Sonntag fahren zwei Genossen hin und versuchen, mit unseren Genossen oder den Arbeitern dort auf den Gutshöfen oder in den kleinen Ortschaften Fühlung zu bekommen. Außerdem müssen sie politisches Material über die Arbeit der Gemeinderäte, die politische Einstellung der Gutsbesitzer, der Lehrer, der Pfaffen, der bekannteren Sozialdemokraten, über Arbeitszeit und Entlohnung sammeln. Also über alles, was den Arbeiter interessiert. Das Brauchbarste verwenden wir in Flugblättern, die wir selbst herstellen und dort verteilen werden. Auch können wir in unseren Wahlreden davon Gebrauch machen, denn wir müssen unbedingt Versammlungen in den Ortschaften organisieren!"
Römpter, der Seemann, stimmte Fritz bei. Er hatte in der Zelle fürs erste Olfers Funktion übernommen und fehlte bei der Kleinarbeit nie. „Wir können nicht", sagte er, „wie ich einmal von einem Referenten hörte, den Landarbeitern und Kleinbauern nur von der chinesischen Revolution erzählen. Sie wollen von Dingen hören, die sie selbst bedrücken, von Steuern, Löhnen und Arbeitszeit im eigenen Lande und von einem Ausweg aus dem kapitalistischen Schlamassel!"
„Alles schön und gut, Genossen!" meldete sich die Genossin Schenk. „Natürlich müssen wir fahren. Aber wir haben kein Geld! Drei Genossen am kommenden Sonntag und am übernächsten ein Lastauto! Was kostet das alles für Geld!"
„Da hilft alles nichts!" erwiderte Fritz. „Wir müssen alles selbst aufbringen. Vom rollenden russischen Rubel leben doch nur unsere Gegner in ihrer Einbildung! — Jeder Genosse, der die Landpropaganda mitmachen will, muss eine Mark Fahrgeld zahlen. Damit kann dann das Auto nach meiner Schätzung bezahlt werden!"
„Gibt denn die Partei gar kein Geld?" fragte noch einmal die Genossin Schenk.
„Du kannst ja mal den Versuch machen!" lachte Fritz.
„Aber was kostet denn schon die Fahrt nach Stade für drei Genossen? Die dazu bestimmt werden, können es doch nicht selbst aufbringen!"
„Das kostet fast nichts!" bemerkte trocken der Buchbinder. „Wa-as?" fauchte ihn die Genossin Schenk an. „Du bist wohl nicht recht bei Trost!"
Kernatzki lächelte listig, als er das wütende Gesicht der Genossin sah. „Es ist doch ganz einfach!" sagte er dann. „Die Genossen werden Sonntagfrüh auf Fahrrädern die Orte abkloppen! Bei gutem Wetter ist das ein herrlicher Ausflug!"
Dann kannst Du aber auch mit ausfliegen!"
100
„Tu' ich auch!" lachte der Buchbinder, „wenn ich dazu bestimmt
werde!"
Und er wurde dazu bestimmt, dafür sorgte schon die Genossin
Schenk. -------
Kernatzki, Pohl und ein Jungkommunist mit Namen Bottier sollten nun am kommenden Sonntag ins Stader Gebiet fahren. Da Pohl kein Fahrrad besaß, wollte der Genosse Kernatzki ihm für den Sonntag ein solches beschaffen.

Fast vier Wochen streikten schon die Pianoarbeiter bei Sternberg & Söhne. Die fortgesetzten Bemühungen der Reformisten des Holzarbeiterverbandes, den Streik zu liquidieren, scheiterten an der Halsstarrigkeit der Aktionäre und zugleich an dem Kampfwillen der Arbeiter.
Der ,Kämpfende nationale Pianobauer' aber war schon mächtig kleinlaut geworden. Vertreter der Schwerindustrie hatten bereits in den ersten Tagen des Streiks Beschwerde bei der Reichsleitung der NSDAP über die Haltung der Hamburger Ortsgruppe diesem ,wilden' Streik gegenüber eingelegt. Die Reichsleitung hatte den Rüffel an die Ortsgruppenleitung weitergegeben, und die versuchte nun, sich so geschickt wie möglich aus der unangenehmen Affäre herauszuwinden. Bei ihrem taktischen Täuschungsmanöver hatte sie über die Stränge geschlagen. Wer konnte auch ahnen, dass dieser isolierte Belegschaftsstreik sich Wochen hinziehen würde. Der ,Kämpfende nationale Pianobauer' sprach nicht mehr von Kampf und gerechtem Streik der Belegschaft, er jammerte nur noch über die unseligen Auswirkungen solcher Streiks, die dem deutschen Wirtschaftsleben das letzte Mark kosten, er klagte in verlogener Heuchelei über die unnatürliche Feindschaft zwischen Unternehmern und Arbeitern, die doch nur eine teuflische Erfindung der Marxisten sei, und dass deren Beseitigung der Nationalsozialismus auf sein Banner geschrieben habe. In kläglichen Redensarten wurden die verblendeten Unternehmer gerügt und in niederträchtigen Ausfällen die revolutionären Arbeiter bekämpft, die nur streikten, weil Stalin im Kreml es angeordnet habe oder aber, weil sie Spaß daran fänden. „Die Marxisten kämpfen verantwortungslos gegen Staat und Gesellschaft»Nationalsozialisten aber handeln und kämpfen verantwortungsbewusst".
Mit solchem Geschwätz entlarvten sich die Nazis bei den streikenden Arbeitern. Die Geschäftsleute der Rosenhofstraße aber bewunderten größtenteils die kluge Taktik dieser Unternehmerknechte und stimmten eifrig ein in die Hetze gegen die Marxisten. Unter den Arbeitern aber stieg der Hass gegen die gekauften Hakenkreuzmordriegen. —
„Die Zeit des Diskutierens ist vorbei. Kommt mir einer dieser Burschen in die Quere, gibt's was an den Fresskorb!"
Pohl, der Schauermann, stand mit mehreren Arbeitern vor der Rosenhofterrasse und diskutierte.
„Na, na, nicht so hart, Korl!" lachte Pohl. „Eins, zwei, drei, ist Deines Genossen Polizeisenators Polizei da, gibt Dir was mit dem Radiergummi über die Rübe und schleppt Dich ins Kittchen!"
„Diese Anpflaumereien spar' Dir man!"
„Stimmt es nicht, was ich Dir sage?" lachte der Schauermann.
„Nur, weil wir Arbeiter uneinig sind, können diese Burschen so frech werden!" antwortete hitzig der andere, der Karl Kruse hieß, und Schweißer und Mitglied des Reichsbanners war.
„Richtig!" nickte Pohl.
„Richtig?" schrie jetzt der Schweißer. „Ja, richtig! Aber Ihr Kommunisten seid ja gerade Schuld daran. Die Nazis sind die Zwillingsbrüder von Euch. Eure Wühlereien gegen die Republik haben sie großgezüchtet!"
„Mensch, Du quatschst da allerhand zusammen!" Pohl wurde jetzt auch wütend. „Seit der Revolution haben Deine Führer unsere Partei unterdrückt, unsere Funktionäre in die Gefängnisse geworfen, unsere Zeitungen verboten, unseren Roten Frontkämpferbund verboten. Den Nazis wurde noch nie ein Haar gekrümmt, ihre Organisationen werden nicht verboten, und sie werden nicht in die Gefängnisse geworfen. Sie können sich alles erlauben, und nur durch die Politik Deiner Führer und ihrer Demokratie, dieser korrupten, verlogenen Demokratie!"
Der Schauermann hatte sich erregt. Solche Diskussionen kosteten ihn mehr Schweiß, als das Hantieren mit Säcken oder Kisten. Aber er hatte in den letzten Wochen manches gelernt und war immer bereit, einen ihm hingeworfenen Fehdehandschuh anzunehmen.
„Du kannst reden, was Du willst, es kommt darauf an, dass die Hakenkreuzpest bekämpft wird. Es kann zwischen denen und uns keine Gemeinschaft geben!"
„Ganz meine Meinung!" antwortete Pohl.
„Und ich sage Dir nochmals, kommt mir persönlich einer von den Brüdern dumm, dann ist dicke Luft!"
Pohl riss nach diesen Worten seine Augen sperrangelweit auf. Es war unglaublich, fast lächerlich, als in dem nächsten Augenblick drei Kerle in braunen Hemden und Käppis, mit der Hakenkreuzbinde um den Arm, die Rosenhofstraße heraufkamen.
„Herrgottsakra!" brüllte Pohl lachend. „Dort kommt Deine Hakenkreuzpest!"
Karl Kruse, der Reichsbannermann, bekam einen roten Kopf, aber es fiel nicht auf, denn alle Augen waren auf die daherkommenden Nazis gerichtet. Die merkten, dass sie betrachtet wurden und schritten so forsch als möglich heran. Als sie an den Arbeitern vorbeigingen, grinste der eine, weil er die Reichsbannerkokarde an der Mütze des Schweißers gesehen hatte und spuckte aus.
„Lass' nur Dein Grinsen, Du Dreckkerl!" schrie dieser ihn mit hochrotem Kopf an.
Wie auf Kommando standen die drei
Pohl schlug das Herz im Halse. Er bewunderte doch die Courage dieser Burschen. Landknechtscourage mit verkorksten Ehrbegriffen, dachte er.
„Sagten Sie etwas?" trat mit ironisch übertriebener Höflichkeit der Nazi, der über die Reichsbannerkokarde gegrinst hatte, an den Reichsbannermann heran.
Der war sprachlos. Pohl fand das fast komisch.
„Wir lassen uns nicht anöden!"
Im selben Augenblick schlug einer von den Arbeitern, die bisher zuhörend um Pohl und den Reichsbannermann gestanden hatten, dem Nazi die geballte Faust ins Gesicht.
Pohl sah noch, wie der Getroffene zurücktaumelte, dann war alles ein wilder Knäuel schlagender Arme und Beine. Er selbst riss, schlug, trat, ließ seine Arme wie Kolben nach allen Seiten niederschlagen. Menschen liefen herbei. Geschrei. Einer zerrte Pohl am Bein. Er fühlte, wie er gleich den Halt verlieren und dass er rücklings hinschlagen würde. Bevor er aber fiel, schlug er mit voller Wucht seinen freien Fuß dem, der sein Bein umklammerte, an den Schädel. Er fiel hintenüber, aber er war frei. Als er aufstand, war schon Polizei da Mit einem raffinierten Griff drehte ihm ein Blauer den Arm fast nach Schulterhöhe. Pohl schrie gellend auf.
Von allen Seiten kamen Polizisten herbeigerannt. Auch die Menschenmasse wurde immer größer. Alles schrie durcheinander.
„Die Nazis sind schuld! Die Nazis sind schuld!" schrieen einige Arbeiterfrauen.
„Nazi verrecke!" brüllte jemand. Es war ein riesiger Tumult.
Pohl sah sich um. Neben ihm stand Kruse, der Reichsbannermann, ruhig und heil, als wäre er an der ganzen Prügelei überhaupt nicht beteiligt gewesen. Auch die anderen Kollegen standen dort mit den Polizisten.
Etwas abseits standen die drei Nazis. Die Kleider hingen ihnen in Fetzen vom Leibe, und zwei von ihnen wischten sich ununterbrochen das blutverschmierte Gesicht. Der dritte hatte ein tiefblau geschlagenes Auge.
Verflucht, die haben Hiebe gekriegt, dachte Pohl bei sich. Und wie schnell das alles ging. Unglaublich schnell. Man ist kaum klug daraus geworden.
Unter starker Polizeibewachung wurden die Nazis und die Arbeiter zur Polizeiwache geführt. Eine schreiende Menschenmenge begleitete sie.
„Mensch, wo kommen plötzlich alle die Blauen her?" flüsterte Pohl dem Reichsbannermann zu.
Aber der gab keine Antwort, sondern schritt schweigend dahin.
„Wir kommen wieder! Rache!" schrie es gellend hinter Pohl.
Er drehte sich um.
„O-o-o-oh!" schrie die Menschenmenge höhnisch.
„Nazi verrecke!" brüllten einige.
„Seien Sie ruhig!" fuhr der eine Polizist den schreienden Nazi an.
Gott verflucht, ist die Rosenhofstraße aber lebendig geworden, dachte Pohl. Wo kommen bloß die ganzen Menschen her?
„Rache! Rache!" schrie der eine Nazi wieder und heulte nahezu vor Wut.
Ein Hohngebrüll aus Hunderten von Kehlen war die Antwort.
Die Brothändlerin Kuhlmann war wieder soweit gesund, da3 sie selbst ihre Kunden bedienen konnte. Trotzdem stöhnte sie noch dauernd und fragte immer und immer wieder ihren Mann, warum sie so gestraft worden sei.
Der wusste darauf nun auch keine Antwort. Und wenn er eine wusste, verschwieg er sie lieber. —
Am Nachmittag kam die Gemüsehändlerin Kafka und brachte der Brotfrau einen Kopf Rotkohl. Dabei klagte sie der, wie sicher jedem Menschen, dem sie begegnete, ihr Leid.
„Oh, Frau Kuhlmann, Sie haben doch gestern von dem Überfall hier in der Rosenhofstraße gehört?"
„Die Prügelei?" flüsterte mit schwacher Stimme die Brothändlerin.
„Das war ein planmäßiger Überfall der Reichsbannermenschen auf unsere Jungens!"
„Unsere Jungens?" sagte erstaunt die Kuhlmann, aber dann fiel ihr ein, dass der junge Kafka ja bei den Nazis war, und sie sagte: „Das waren Kommunisten, Frau Kafka!"
„Nein, das war Reichsbanner!"
„Der Pohl aus der Terrasse hier war doch dabei, und der ist Kommunist!' beharrte eigensinnig die Brothändlerin.
„Dann waren es eben Kommunisten und Reichsbanner!" erwiderte die Gemüsehändlerin. „Mit fünfzehn Mann fielen sie über drei Jungen her. Schlagzeuge und Totschläger soll man sogar bei den Rowdies gefunden haben!"
„Ja, das hat wohl jeder Kommunist bei sich!" meinte die Kuhlmann.
„Ich habe ja solche Angst um meinen Arthur!" jammerte die Gemüsehändlerin. „Dieser Pohl wollte ihn schon einmal ermorden!"
„Nun, nun, Frau Kafka, so schnell mordet sich das nicht!"
„Das sagen Sie nicht. Sie kennen diese Leute scheinbar noch nicht. Die sind zu allem fähig!"
„Und ob ich sie kenne!" erwiderte wichtig die Brothändlerin. „Eine von dieser Sorte, die mit einem Kommunisten wild zusammenlebt, hab' ich aus meinem Geschäft geworfen. Solchem Gesindel verkaufe ich kein Brot!"
Kuhlmann, der den Laden fegte, starrte mit aufgerissenem Mund seine Frau an. Sie war akkurat dieselbe geblieben, trotz der Krankheit
„Ach, wenn doch jeder so denken würde!" seufzte die Grünhökerin. „Aber Sie müssen richtig wählen, Frau Kuhlmann. Unsereins kann nur eins wählen!"
„Oh, ich wähle schon richtig!" antwortete die, und ihr Mann spitzte wieder erstaunt die Ohren.
„Ach, Sie wählen auch Hitler?" flötete die Kafka.
„Wieso? Ist der denn hier auch aufgestellt?"
„Nein, nein, der darf doch überhaupt nicht in den Reichstag, ich meine doch nur die Partei!"
„Warum darf denn der nicht in den Reichstag?" fragte wieder die Kuhlmann.
„Weil sie Angst vor ihm haben. Den fürchten sie alle!" „So-o-o!" machte die Brothändlerin.
„Wir werden riesig gewinnen. Mein Arthur meint, wir werden die stärkste Partei!"
„Ja, das mag wohl sein!"-----------
Als die Kafka fort war, wandte sich die Brothändlerin an ihren Mann: „Merke dir: Hitlerpartei! Die wählen wir. Wenn die in Berlin alle Angst vor dem haben, ist das der Richtige!"
Kuhlmann brummte: „... verrückt... verflucht . . . Mmmmm!"
„Was hast Du?" jammerte sie. „Willst Du mich denn wieder aufregen und ganz kaputt machen? — Ooh, mein Kopf! Mein Kopf!"
„Ich wähle keine Nazis!" raffte sich Emil endlich auf.
„Sei doch bloß ruhig. Du machst mich ganz nervös!" schrie die Brothändlerin heiser.
Emil schwieg und fegte weiter.
„Wähl' Du Esel man Deine Wirtschaftspartei! Haben die uns denn geholfen, he?"
Emil schwieg und fegte weiter.
„Aber das merke Dir: Ich wähle Hitlerpartei. Ich lass' mich nicht von Dir tyrannisieren!"
Emil seufzte, aber er schwieg und fegte weiter.
Nach Aufnahme der Personalien wurden am selben Abend noch Pohl und die anderen Arbeiter wieder entlassen. Die Nazis wurden einige Stunden später ebenfalls freigelassen. Der eine Wachtmeister wollte bei seiner Meldung das trotz seines Verbotes erfolgte Racherufen als Widerstand gegen die Staatsgewalt ausgelegt wissen. Aber der Oberwachtmeister, der das Protokoll aufnahm, winkte ab. Der Polizist machte ihn darauf aufmerksam, dass vor einiger Zeit ein ähnlicher Fall mit rotfrontrufenden Kommunisten so ausgelegt wurde.
Der Oberwachtmeister blitzte ihn wütend an und fauchte: „Da waren die Umstände aber andere!"
Pohl hätte von der Unterhaltung gern mehr gehört, aber der Polizist schwieg und ging in die Mannschaftsstube. —
Fritz lachte, als Pohl abends zu ihm in die Wohnung kam.
„Die sollen ja jämmerlich vertrimmt worden sein?"
„Das kannst Du glauben!"
„Und die ganze Rosenhofstraße war in Aufruhr!"
„Also so was hätte ich glatt für unmöglich gehalten!" bestätigte der Schauermann. „Wo kamen plötzlich die vielen Menschen her?"
„Ja, so ist es, wenn die Proleten mal aus ihren Mietslöchern kommen, merkt man erst, wie viel es überhaupt sind!"
„Nach der Stimmung heute nachmittag gewinnen die Nazis hier keinen Blumentopf!" mischte sich Walter Heuberger, der bei Fritz saß, ins Gespräch.
„Aber nun erzähl' doch mal, wie alles kam!" drängte Fritz.
Und Pohl erzählte. Erzählte vom Reichsbannermann Karl Kruse" aus der Theresienterrasse, von seinem Kraftmeiertum und den dann wie auf Bestellung daherkommenden Nazis.
Fritz griente vergnügt.
Als aber Pohl von dem Zwischenfall in der Polizeiwache mit dem Blauen und dem Oberwachtmeister berichtete, erklärte Fritz, das sei eine vorzügliche Korrespondenz für die Zeitung.
Trotzdem er hundsmüde war, setzte er sich sogleich hin und schrieb.
„Kannst von Glück sagen, dass Reichsbannerleute dabei waren, Karl!" meinte Heuberger.
„Wieso?"
„Na, vielleicht kommst Du billiger davon!" lachte der Junge. „Die werden vor dem Klassengericht auch gerade darauf Rücksicht nehmen!" antwortete der Schauermann.
„Hast recht!" stimmte Fritz zu. „Es waren ja keine Prominenten, sondern nur einfache Proleten der Sozialdemokratie! Politisch aber ist es so ausgezeichnet!"
„Du, die wollen Rache nehmen!"
„Die sind viel zu feige!" rief Heuberger.
„Das glaube ich nun gerade nicht!" meinte Pohl. „Man muss schon vor diesen Burschen auf der Hut sein!"-----------
Pohl und Heuberger wollten noch, trotzdem es bereits Mitternacht war, vor der Terrasse eine Zigarette paffen. Nachdem sie eine Weile schweigend beieinander standen, fragte der Schauermann: „Was hast Du jetzt eigentlich für einen merkwürdigen Freund, der sieht aus, als wenn er Gigolo wäre?"
„Der wohnt hier in der Straße — da unten!"
„Ja, das weiß ich, aber der gefällt mir nicht. Der gehört doch nicht zu uns?"
„Nein!" meinte etwas kleinlaut Heuberger. „Der ist total unpolitisch."
„Mir gefällt dieser Lackaffe nicht!"
Heuberger schwieg.
„Dabei meine ich, ihn irgendwie mal anders gesehen zu haben!"
„Anders? Wie?" stieß der Junge heraus.
„Das weiß ich eben nicht!"
„Von dem kann man viel lernen!" meinte Heuberger leise.
„So-o-o?" erwiderte langgedehnt der Schauermann „Was denn?"
„Der kann eigentlich alles!"
„Eben sagst Du, er sei unpolitisch!"
„Von Politik versteht er auch nichts, davon muss ich ihm immer was erzählen!"
„Soso!" Diesmal klang es aber nicht ironisch.
„Aber sonst weiß der aber auch alles. Am Theater war er mal selbst, und Bücher kennt der! — Was der alles gelesen hat! Der wettet sogar auf Pferde!"
„Feiner Mann, der sich das erlauben kann!"
Heuberger schwieg wieder.
„Und die Weiber?" fragte Pohl.
„Auf die ist er mächtig scharf!" lachte der Junge.
„Das kann man sehen!"
„Wieso kann man das sehen, Karl!"
„Sonst würde er doch nicht so gestriegelt und geschniegelt herumlaufen!"
„Das bringt sein Beruf mit sich!"
„Richtig, was hat er denn eigentlich für einen Beruf?" „Er ist Expedient bei einer großen Firma!" Pohl schwieg und zog an seinem Zigarettenstummel. Als sie durch den Torweg zurückgingen, brach der Junge das Schweigen.
„Das Ganze war wie ein Verhör! Soll ich mit dem Kerl Schluss machen, Karl? Ich habe ja selbst eigentlich ein merkwürdiges Misstrauen gegen ihn!"
„Ich trau' dem nicht!" antwortete Pohl. „Aber bleibe nur um ihn und horche ihn aus!"
Am Treppenaufgang ermahnte Pohl den Jungen noch einmal. „Vorsichtig, Walter! — Gute Nacht!"
Am kommenden Sonntagmorgen sammelten sich in aller Frühe die kommunistischen Arbeiter und Arbeiterinnen und die „Roten Wahlhelfer" aus der Rosenhofstraße zur Landpropaganda. Die Straßen waren noch menschenleer, aber gut drei Dutzend Arbeiter standen bereits am unteren Ende der Straße um zwei Lastwagen herum. Rote Transparente wurden an den Wagenseiten befestigt und vor den Kühler des Motors banden einige einen riesigen roten Stern mit Sichel und Hammer.
„Er hängt schief!"
„Noch etwas mehr nach links!"
„So ist es gut!"
„Hinten am zweiten Wagen muss das Plakat mit der großen Schrift: »Wählt Kommunisten!' hängen", meinte einer und stampfte beim Zusehen von einem Bein auf das andere, denn von der häuserfreien Seite her, wo die Schrebergärten waren, pfiff ein scharfer Ostwind.
„Komm' und pack' mit an! Wirst warm dabei!" erwiderte lachend einer der Helfer.
„Auf Nachzügler wird nicht gewartet!" rief die Genossin Schenk, die immer eine Viertelstunde vor der verabredeten Zeit da war. „Punkt halb sausen wir los!"
„Dort kommt ja Burmester mit der Zellenfahne!"
Fritz, Else und der Schauermann kamen. Mit lebhaften Rot-Front-Grüßen wurden sie empfangen. Römpter fischte sich Fritz sofort aus dem Haufen Genossen heraus.
„Natürlich, Genosse Römpter, die BL. wollte einen Referenten mitschicken!"
„Glaubst Du, dass einer kommt?"
„Ich hoffe!"
„Ich glaub's nicht!" erwiderte brummig der Seehundbärtige.
„Versteh' mich recht!" begann er nach einer Weile erneut. „Ich meine nicht, dass es böser Wille der BL. ist, oder Schlamperei, sondern einfach Mangel an Rednern, jetzt mitten in der Wahlarbeit. Die Partei hat zu wenig Referenten!"
„Schließlich muss es auch so gehen. Einer von uns spricht dann eben so gut er kann. Material haben wir genug, die Hernedorfer und Stader werden ihre Äuglein aufreißen!"
„Ich habe so was gehört, als wenn der Hernedorfer Pastor abgeledert werden soll, nicht wahr?"
„Und nicht zu knapp!" lachte Fritz. „Das ist der reinste Menschenschinder und Sklavenhalter. Ein richtiger Vampir. In diesem Jahre hat er bereits sieben Dienstmädchen verbraucht. Mit Dreien musste er vors Arbeitsgericht, da der fromme Herr nicht zahlen wollte. Eine hat er in einem Wutanfall sogar verprügelt. Natürlich ist dieser Gottesmann ein treudeutscher Nazi und plärrt jeden Sonntag seinen arischen Christenquatsch von der Kanzel herunter. Aber heimlich flüstert bereits das ganze Dorf von seinem Treiben« Und hier steht alles drin!" Damit klopfte Fritz lachend an die dickbäuchige Aktentasche, die er bei sich trug.
„Und Stade?"
„Das ist unsere Bombe. Du weißt, hier hat die Bezirksleitung vorgearbeitet, wochenlang schon. Ein langjähriger Vorsitzender der SPD., der in Stade als ehrlicher Arbeiter allgemein bekannt und beliebt ist, hat seinen Übertritt zu uns angemeldet. Er hat nun versprochen, einen größeren Teil Arbeiter mit herüberzuziehen und heute mit unserer Unterstützung eine Ortsgruppe der Partei aufzumachen. Feine Sache, was? Zwölf Abonnenten für die Zeitung hat er schon gewonnen!"
Römpter strich sich zufrieden seinen Schnauzbart.
„Haben wir auch darüber Material?"
„Meinst Du denn nicht? Er hat einen „Offenen Brief" an alle Stader Arbeiter verfasst, den haben wir vervielfältigt und werden ihn heute mit dem übrigen Wahlmaterial verteilen!"
„Es ist halb! Ich bin dafür, dass wir fahren!" rief die Genossin Schenk.
„Dann ist also heute nachmittag in Stade die Gründungsversammlung unserer neuen Ortsgruppe?"
„Seid ihr nicht für pünktliches Abfahren?" drängte sich die Zappelige an die beiden heran.
„Geb' drei Minuten zu!" antwortete Fritz.
„Nie wird Pünktlichkeit... ." knurrend schob die Genossin ab.
„Es kommt doch kein Referent!" stellte Römpter fest.
„Wir schaffend auch ohne. Was meinst Du?"
„Na ja, natürlich!"----------
Langsam fuhr der mit roten Wahlplakaten und Transparenten geschmückte Lastkraftwagen mit dem Anhänger durch die sonntäglich unbelebten Straßen der Stadt. Zwei große rote Fahnen flatterten von den Wagen. Im ersten Wagen standen die Mitglieder der Abteilung 12 der „Antifaschistischen Arbeiterwehr". Im Anhänger standen die Roten Wahlhelfer und die Frauen.
Auf der Fahrt durch die Stadt kamen sie an einem Platz vorbei, auf dem sich uniformierte Reichsbannermitglieder zu einem Wahlumzug gruppierten.
„Nieder mit den Panzerkreuzersozialisten!" rief Fritz.
„Nieder!-------" rief es vom Wagen.
„Dem von Severing verbotenen Roten Frontkämpferbund ein dreifaches Rot... !"
„Front!"
„Rot!"
„Front!"
„Rot!"
„Front!" fielen die Arbeiter in den von Römpters rauer Seemannskehle ausgestoßenen Ruf ein.
Die Reichsbannerleute sahen den vorbeifahrenden Lastwagen
Hinter der Eibbrücke ging es in schnellerem Tempo durch die Vororte Veddel und Wilhelmsburg nach Harburg. Es richtete sich nun jeder so gut ein, wie es ging. An den Seiten der Wagen waren Bänke, aber für alle boten sie keinen Platz. So wurde gewechselt. Solche Propagandafahrten waren wirklich kein Vergnügen, sondern Strapazen, zumal einige erwerbslose Arbeiter trotz der kalten Morgenluft nur notdürftig bekleidet waren. Aber ein echter, kerniger Humor half alle Unannehmlichkeiten überwinden. Besonders im Anhänger war ununterbrochenes Gelächter und Gejuch. Die Genossin Schenk hatte einen ihrer besten Tage, Sie erzählte in ihrer urkomischen Art Schnurren und Scherze, dass die anderen aus dem Lachen nicht herauskamen.
Im ersten Wagen wurde vornehmlich politisiert. Eine Thermosflasche mit heißem Kaffee machte dabei die Runde.
Oft begegneten ihnen einzelne Arbeiter auf der Landstraße. Einige zeigten die geballte Faust zum Gruß. —
Dann kam die zweite Eibbrücke und bald darauf Harburg.
Die „Antifaschistische Arbeiterwehr" sang das italienische Kampflied Bandiera rossa" In den Harburger Straßen blieben viele Leute stehen und lasen die Wahlparolen.
An einer Kreuzung stand ein Sipo und betrachtete die rotgeschmückten Wagen.
„Rot Front, Sipo!" rief übermütig der Schauermann,
Der winkte vor Verlegenheit mit der Hand.
Die Arbeiter lachten aus vollem Halse.
Dann ging es in rasendem Tempo an den Wäldern der Haake vorbei durch die Eibdörfer, Das Wetter war inzwischen herrlich geworden. Die Sonne hatte sich durchgearbeitet und verbreitete wohltuende Wärme. Die Stimmung unter den Arbeitern wurde immer lebendiger Im Anhänger herrschte sogar Ausgelassenheit.
Auf dem Marktplatz in Hernedorf wurde Rast gemacht. „In zehn Minuten wird angetreten zur Hauspropaganda!" bestimmte Fritz.
Die Genossen frühstückten oder gingen in Gruppen auf dem Marktplatz spazieren und unterhielten sich mit einigen neugierig herbeigekommenen Einwohnern des kleinen Ortes,
Fritz und Römpter rechneten inzwischen.
„Zweiundsiebzig Teilnehmer!" stellte Fritz fest. „Davon haben sechs erwerbslose Genossen nicht gezahlt, macht 66 Mark. Der wagen kostet 60 Mark. Bleiben 6 Mark!"
„Geb' dem Schofför man etwas!" meinte Römpter.
„n Taler?"
„Ja!"
„Bleiben drei Mark für die Zellenkasse!"-------—
Nach zehn Minuten traten die Genossen der Arbeiterwehr an. Flugzettel wurden pro Mann ausgegeben. Fritz verteilte die Arbeit: „Eine Stunde Hauspropaganda und Flugblattverteilung! Je drei Genossen nehmen eine Straße, Um 11 Uhr wieder allgemeines Antreten hier auf dem Marktplatz!" —
„Die übrigen Genossen bleiben bei den Wagen!" rief Römpter.
Die Flugblattverteiler zerstreuten sich nach allen Richtungen.
„Karl, vergeß' den Paster nicht!" rief Fritz dem Schauermann nach.
„Nee, nee!" rief der zurück. „Dor go ick sülms hen!" —
Nachher ging's weiter nach Stade.
Die Stader Arbeiter erwarteten die Wagen schon auf dem Marktplatz. Immer wieder wurden die Hamburger Arbeiter mit lauten Rot-Front-Rufen begrüßt. Der kleine Platz wimmelte von Menschen. Ein älterer Arbeiter ging auf den Buchbinder Kernatzki zu und gab ihm die Hand. Dieser machte ihn mit Fritz bekannt. Er war bisher Vorsitzender der sozialdemokratischen Ortsgruppe und jetzt Genosse.
„Sämtliche Wirte boykottieren uns, Genosse!" Er hatte ein gelbliches Gesicht, mit einer merkwürdig kleinen Stupsnase und war nur ein wenig größer, als Fritz. „Als SPD.-Mann konnte ich jedes Lokal bekommen, aber jetzt rücken alle ab. Die Nazis sind in einer solchen Kleinstadt mächtiger, als Ihr ahnt!"
„Oh!" antwortete Fritz, „das ist nicht das erste Mal, dass uns die Säle verweigert werden!"
„Und die Nazis haben hier gearbeitet! Fast jeden Tag machen sie eine Versammlung!"
„Wir halten unsere Versammlung dann eben hier auf dem Marktplatz ab!" unterbrach ihn Fritz.
„Verboten!" entgegnete der Stader Genosse. „Ich war gestern noch beim Bürgermeister. Er hat die Genehmigung mit Hinweis auf die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit abgelehnt!"
„Das werden wir ja sehen!" meinte Fritz.
Dann wurden die Genossen wieder zu einer einstündigen Hauspropaganda eingeteilt. Einige Stader Arbeiter stellten sich sofort als Führer zur Verfügung. Mit Flugblättern, dem ,Offenen Brief des ehemaligen Stader Sozialdemokraten, Zeitungen und Parteibroschüren bepackt, zogen die Genossen ab.
Kaum waren die ersten fort, als auf Fahrrädern sechs Gendarmen auf dem Marktplatz ankamen. Die Karabiner hatten sie an die Räder gebunden. Viele der Herumstehenden liefen ihnen sogleich entgegen. Sie stiegen vor einem Gasthaus am Ende des Marktes ab.
„Was wollt Ihr denn hier?" fragte sie die Genossin Schenk.
„Nur dafür sorgen, dass alles ruhig abgeht!" antwortete verlegen lächelnd einer von ihnen.
„Das geht ohne Euch besser!"
Die Gendarmen schwiegen. Die ersten schoben ihre Räder ins Gasthaus.
„Und was wollt Ihr mit den Flinten da?" begann die Schenk wieder.
Einige der Gendarmen grinsten.
„Spatzen schießen?" fragte ironisch die Zappelige weiter und Stellte sich breitbeinig vor den Grünen auf.
Alles um sie herum lachte.
„Lasst bloß diese Dinger an den Rädern hängen!" rief sie noch ins Lokal, „sonst ist die Ruhe und Sicherheit zum Deubel!"
Die biederen Kleinstädter betrachteten mit ehrlicher Bewunderung die kleine, resolute Kommunistin. Die aber machte Sich nun gleich daran, den Umstehenden die Grundbegriffe des Kommunismus
zu erklären.-----------
Um drei Uhr nachmittags sollte auf dem Marktplatz die öffentliche Wahlversammlung stattfinden, die aber vom Bürgermeister verboten worden war; dennoch sammelten sich um die angesetzte Stunde zahlreiche Arbeiter und Neugierige auf dem Platz an. Fritz besprach sich mit den Stader Genossen. Sie rieten ab, die Versammlung trotz Verbot abzuhalten. Es wäre nicht gut, wenn die erste Versammlung der jungen Ortsgruppe gleich mit Zusammenstößen mit der Polizei begänne. Besser wäre, dem Bürgermeister und seiner Sippe ein Schnippchen zu schlagen. Fritz und Römpter waren schließlich einverstanden, und nun berieten sie das Wie.
Inzwischen mochten einige hundert Menschen den Marktplatz bevölkern. Die Arbeiter kamen an die Wagen heran, unterhielten sich mit den Genossen und kauften Zeitungen und Broschüren. Die Kleinbürger der Stadt hielten sich etwas abseits und benutzten den traditionellen Sonntagnachmittagsspaziergang, um einmal richtige Bolschewiki zu betrachten. Vor dem Wirtshaus am Ende des Marktes standen die Gendarmen. Ohne Gewehre, die wahrscheinlich noch an den Rädern hingen.
Da stieg Römpter auf das Dach des Führersitzes vom Lastkraftwagen und rief mit seiner rauen Stimme: „Der Bürgermeister hat unsere Wahlversammlung hier auf dem Platz widerrechtlich verboten. Wir verlegen sie und werden auf dem Eibdeich vor der Stadt sprechen!"
„Bravo!" riefen einige Arbeiter, und unter den Stadern entstand eine Bewegung. Die Gendarmen aber rührten sich nicht von der; Stelle.
Sofort stellte sich die Abteilung der ,Antifaschistischen Arbeiterwehr' marschbereit auf. Die Roten Wahlhelfer und die Frauen, sowie viele Stader und aus der Umgebung herbeigekommene Arbeiter schlossen sich an, und mit dem Gesang der ,Internationale' marschierten sie vom Markt durch die Stadt zum Deich. Hinterher bewegte sich die Menge. — — —
Die Versammlung auf dem Eibdeich bot ein malerisches Bild. An der Wasserseite lagen und saßen am Deichabhang die Arbeiter. Oben auf dem Deich standen die Kleinbürger und die Neugierigen. Und bei dem Lastkraftwagen, der hinter den Menschen hergefahren war und nun auf dem Deiche hielt, standen die ratlosen Gendarmen, die nicht wussten, was sie beginnen sollten.
Fritz stand mit einigen Genossen unten am Wasser auf einem größeren Stein. Die Genossin Schenk war von dieser ,romantischen Wahlversammlung', wie sie es nannte, ganz begeistert und rannte bald hierhin, bald dorthin. Dann eröffnete Fritz die Wahlkundgebung der Kommunistischen Partei Stade.
Er sprach erst von der allgemeinen politischen Situation in Deutschland, knöpfte sich die Stellungnahme jeder einzelnen bürgerlichen Partei vor, bewies an praktischen Beispielen den fortgesetzten Arbeiterverrat der Sozialdemokratie und die verlogene Heuchelei der Hitlerleute. Dann ging er auf die Stader Verhältnisse ein.
Alle politischen Attentate der herrschenden Klasse auf die Lebenshaltung der Werktätigen im Reich finden in jeder einzelnen Stadt ihren Widerhall, auch in Stade. Auch hier herrschen", fuhr Fritz fort, „wie im Reiche, die bürgerlichen Parteien, und der Bürgermeister fühlt sich schon als Stader Diktator. Sein willkürliches Verbot der uns nach der Verfassung zustehenden Wahlkundgebung beweist es. Sie reden alle von der deutschen Wirtschaftsnot, bejammern in heuchlerischen Redensarten die Not der Arbeiterklasse und des Mittelstandes, bürden dabei aber praktisch dem Arbeiter und dem kleinen Manne immer neue Lasten auf. Sie wettern scheinbar gegen die diktatorischen Notverordnungen, die ein unverschämter Raubzug auf die Taschen der Ärmsten der Armen seien, zum Vorteil der Hochfinanz und der Schwerindustrie und zur Erhaltung des räuberischen kapitalistischen Systems und dabei helfen sie praktisch in den Gemeinden und den Stadtvertretungen, diese Raubpläne der Regierung zu verwirklichen. Ihr alle kennt den Dr. Schmaltz... !"
„Dr. Schmalzkuchen!" rief einer und alle lachten.
„Da nennt ihr ihn richtig!" erwiderte Fritz, „nur, dass dieser Schmalzkuchen schon verflucht ranzig ist!"
Wieder setzte Gelächter ein, und einige riefen sich etwas zu.
„Ist dieser Dr. Schmaltz nicht eine jämmerliche Figur? Seine Hugenbergpartei mimt Opposition gegen die Republik, und er ist in Stade eine ihrer ergebensten Stützen. Es gibt keine Gemeinheit, die er nicht in der Stadtvertretung mit seinem Namen deckt. Es gibt keine Maßnahme gegen den kleinen Geschäftsmann, den selbständigen Handwerker, von den Arbeitern ganz zu schweigen, die er nicht unterstützt und gutheißt. Aber in den Wahlversammlungen stellt er sich hin als Patriot und Freund aller Leidenden!"
Die neugierige Menge auf dem Deich war langsam immer näher gerückt. Alle blickten interessiert auf den kleinen redenden Kommunisten. Ein großes dänisches Motorschiff fuhr langsam die Elbe hinab.
„Und die Sozialdemokratie," fuhr Fritz fort, „die wird in Stade wohl bald ihren letzten Seufzer getan haben. Die Arbeiter rücken von diesen korrumpierten Verrätern in Massen ab. Wer skrupellos mit der Bourgeoisie gegen die Arbeiterschaft durch dick und dünn geht, hat den Namen Arbeiterpartei verloren. Ihre so genannten Führer sind nicht Führer, sondern Verführer der Arbeiterschaft!"
„Sehr richtig!" rief es vom Deich.
„Die Arbeiter der Stadt Stade haben dies gründlich erkannt, und die besten unter ihnen haben demonstrativ dieser Partei den Rücken gekehrt und suchen den Anschluss an die ehrliche, rote Klassenfront!"
„Bravo! Bravo!" dröhnte es von allen Seiten.
„Zwanzig ehemalige Mitglieder der Sozialdemokratie in Stade wollen heute eine Ortsgruppe der Kommunistischen Partei gründen, Wir begrüßen unsere neuen Genossen, reichen ihnen unsere Bruderhand und geloben... .!"
Fritz' Worte gingen in den Beifallrufen unter. Einige klatschten, andere schüttelten sich die Hände. Fritz sah, wie die Genossin Schenk oben auf dem Deich stand und eine junge Stader Arbeiterfrau schwesterlich am Arm hielt.
Nach Fritz sprach der ehemalige Vorsitzende der SPD.-Ortsgruppe und forderte die Anwesenden auf, sich der neuen kommunistischen Ortsgruppe anzuschließen, denn nur die Kommunistische Partei vertrete als einzige Partei noch die Interessen der Arbeiter. Ich weiß", schloss er seine Ausführungen, „als Kommunisten werden wir Kleinstadtarbeiter einen schweren Stand haben, aber wir werden uns durchbeißen und die rote Fahne, die von der sozialdemokratischen Führerschaft schamlos besudelt und verraten wurde, in Ehren hochhalten. Am kommenden Wahltag werden wir allen Arbeiterfeinden schon die erste Antwort erteilen!"
Unter starkem Beifall und einem Hoch auf die proletarische Revolution und ein sozialistisches Sowjetdeutschland wurde die Wahlkundgebung geschlossen.------------
Langsam zerstreuten sich die Neugierigen. Die Arbeiter blieben noch eine Zeitlang zusammen. Fritz und Römpter und der Buchbinder Kernatzki unterhielten sich mit einigen Stader Genossen, gaben Ratschläge, überließen ihnen Wahlmaterial und versprachen, auch nach der Wahl zu einer gemeinsamen Veranstaltung wiederzukommen.
Die Stunde des geselligen Beisammenseins ging aber schnell vorüber. Die Stader Arbeiter wollten gern noch einige revolutionäre Lieder hören, und nun saßen sie mit den Hamburger Genossen am Deich und hörten andächtig den deutschen und russischen Revolutionsliedern zu, die ihnen vorgesungen wurden. —
Als es zu Dunkeln anfing, rüsteten die Hamburger Arbeiter zur Abfahrt. Bis ans Ende der Stadt gaben ihnen die Stader das Geleit, dann ging’s mit allen Motorenkräften zurück nach Hamburg.
Die Arbeiter kauerten sich, so gut es ging, in den Wagen hin. Alle waren erschöpft, aber alle hatten das frohe Bewusstsein, an einer für die Partei außerordentlich erfolgreichen Agitationsfahrt teilgenommen zu haben. —
„Die Stader Genossen sind mutige Kerle!"
„Wenn man sich vorstellt, dass es noch vor wenigen Wochen sozialdemokratische Parteigänger waren, kann man das kaum begreifen!" sagte, in Gedanken versunken, Römpter.
„Wieso?" rief der Buchbinder, „wir werden ihnen alle ehrlichen Arbeiter entreißen. Und gerade auf dem Lande und in den kleinen Städten arbeiten wir längst nicht zielbewusst und intensiv genug. Sonst würden wir mehr Erfolg haben!"
„Du warst doch auch mal Sozialdemokrat!" neckte Fritz den Römpter.
„Das kann ich mir eben auch gar nicht mehr vorstellen!" erwiderte der lachend.
„Das darf man aber nicht vergessen!" meinte der Buchbinder« Im Anhänger sang man.
Die Wagen fuhren über die Harburger Eibbrücke. Kraftvoll erklang der Gesang über das Wasser, das breit und gemächlich unten dem Meer zufloss.

 

Kapitel VII.

Als Pohl eines Abends spät durch den dunklen Terrassentorweg schritt, standen, an die Mauer gepresst, zwei Menschen. Im Vorbeigehen sah er nur, dass die weibliche Person die Trudel Merker war. Die große Männergestalt aber, die vor ihr stand, konnte er in der Dunkelheit nicht erkennen.
Dass ein Mädel aus der Terrasse mit ihrem Liebhaber abends im Torweg stand, war schließlich nichts Außergewöhnliches. Was soll ein Arbeitermädel auch machen? Ein eigenes Zimmer hat es meistens nicht, sondern man schläft mit der ganzen Familie in einem Raum. Auch fehlen gewöhnlich die Mittel zum Besuch eines Cafes oder Restaurants.
Als Pohl die Treppe zu seiner elterlichen Wohnung hinaufstieg, dachte er nach, wer wohl der Mann gewesen sei, der vor der Merker stand. Er kannte ihn doch? Selbst wenn er nur die Kehrseite und auch die nur in der Dunkelheit gesehen hatte, vermeinte er doch Figur und Haltung zu kennen.
Er schob das für ihn bereitgestellte Abendbrot beiseite, zog sich langsam ein Kleidungsstück nach dem andern vom Leib und grübelte. — Er fand es selbst komisch, dass er so intensiv darüber nachdenken musste. Was ging ihn das schließlich an? Aber er wurde den Gedanken einfach nicht los.
Im Bett starrte er mit wachen Augen in die Finsternis. Das Gesicht des Versammlungsredners, den er gehört hatte, sah er vor sich. Worte, die er gesprochen hatte, fielen ihm ein. Eine junge Kommunistin, die in originell-humorvoller Art Antipfaffenbroschüren ausgerufen und verkauft hatte, sah er deutlich vor sich. Und dann kam ihm wieder das zusammengekauerte Paar im Terrassentorweg in den Kopf.
„Die Trudel Merker", flüsterte er, „die soll sich nur höllisch in acht nehmen! — — — Der andere? — Wer war dann nur der Andere?"
Schließlich nahm er sich vor, die kleine Merker morgen selbst zu fragen Damit warf er sich auf die Seite, dass es krachte. —
Doch noch im Halbschlummer grübelte er über den anderen nach. —
„Der Satan hole ihn!" knirschte jetzt ärgerlich der übermüdete Schauermann. Was geht's mich überhaupt an!"
Er kuschelte sich in die Kissen, zog sich die Decke bis über die Ohren und versuchte zu schlafen. Mit einem Male wusste er, wer der Andere war: Otto Dietz! — Natürlich! Diese Schultern, diese Haltung, — Otto Dietz war es.
„Hm! — Hm!" machte der Schauermann selbstzufrieden.

In der Sonnabendnacht vor der Wahl war jeder Genosse in der Rosenhofstraße auf dem Posten. Eine ganze Anzahl sympathisierende Arbeiter, die sich als Rote Wahlhelfer gemeldet hatten, wurden unter Leitung organisierter Kommunisten in kleine Kolonnen eingeteilt und bekamen ihre Arbeit zugewiesen. In den zurückliegenden Nächten waren fast immer die Piakate und Zettel, nachdem sie einen Tag an den Wänden geklebt hatten, abgerissen worden. In dieser Nacht vor der Wahl musste nun nicht nur geklebt, sondern die Plakate mit den Wahlaufrufen mussten vor den Zerstörungsabsichten der Gegner geschützt werden.
Ausgerechnet an diesem Sonnabend hatte Fritz Überstunden zu machen, denn das Schiff sollte am selben Abend noch auslaufen. Um neun Uhr abends kam er abgeschunden und übermüdet nach Hause- Um Mitternacht wollte er sich schon wieder mit Pohl und Heuberger treffen und die ganze Nacht auf der Straße bleiben. Er musste daran denken, dass die anderen jetzt gewiss schliefen und dass er so furchtbar marode von den verfluchten Eineinhalbzentnersäcken sei. Er nippte nur etwas von dem warmen Abendessen, das für ihn bereitgehalten worden war und warf sich dann mit voller Kleidung aufs Sofa.
„Weck mich etwas vor zwölf!" war das einzige, was Else von, ihm zu hören bekam. — — —
Diese Nacht sah unheilvoll aus. Es gab keinen Mond. Die Straßen lagen um Mitternacht, nachdem die Straßenlaternen automatisch erloschen waren, stockfinster da. Und kein Laut war zu hören. Die Stille war fast unheimlich, denn jeder wusste, dass überall Menschen herumschlichen, dass überall Plakate geklebt wurden, dass überall Ohren lauschten. Die Nächte vor den Wahlen waren noch stets blutig gewesen, und bei der gegenwärtig Zugespitzten politischen Situation musste man auf das Schlimmste gefasst sein.
Die vier: Fritz, Pohl, Heuberger und Erwin Müller waren beisammen. Den jungen Müller reizte lediglich die Gefahr. Wenngleich er vom Reichsbanner entschieden abgerückt war, zu den Kommunisten zählte er sich noch nicht. Aber er war mit den Freunden dabei, und es machte ihm höllischen Spaß.
Vorsichtig wurde gearbeitet. Erst wenn nach minutenlangem Beobachten alles ruhig blieb, wenn alle Geräusche abgelauscht und jeder Hauseingang, jede Terrasse mit den Augen abgetastet war, wurden blitzschnell einige Plakate an die Häuserwände geklebt und dann wieder der Schutz der Treppenhäuser aufgesucht.
Sie hatten nur einen kleinen Teil der Rosenhofstraße zu bekleben und zu bewachen. Für den gesamten Häuserblock der Straßenzelle Qu waren sieben Gruppen auf den Beinen,
Nun standen die Vier auf den Steinstufen eines Hauseingangs. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Die Straße lag wie ausgestorben vor ihnen.
„Mir kommt es nicht ganz geheuer vor!" flüsterte der Schauermann.
Ans einer anderen Straße ertönte ein schriller Pfiff.
» ,Nur einmal!" stellte der Schauermann fest. «Die Unsrigen sind es nicht!"
Sie horchten weiter in die Nacht.
„Pst! eine Sipopatrouille kommt!"
Leise schlichen sie die Treppen hinauf und hockten im dunklen Hausflur nieder. Sie konnten die gleichmäßigen, harten Schritte der Polizisten hören die immer näher kamen. Jetzt gingen sie — trapp — trapp - vorbei.
Vorsichtig schlichen sie die Stufen wieder hinunter, und Pohl schob seinen Kopf vor. Die Luft war wieder rein.. Die vier gingen nun einige Häuser weiter und klebten ein großes rotes Plakat über einen Hauseingang, Erwin Müller stand auf den Schultern des Schauermannes und klebte es hoch oben in ein Steinblockquadrat
„Dort kommen welche!" zischte Fritz plötzlich und zeigte die Rosenhofstraße hinauf.
Sie drückten sich in ein Treppenhaus.
„Das sind Reichsbannerleute! Seid ruhig, sie kommen hier vorbei!"
Ruhig!"
„Pst!"
Es war eine Kolonne von sechs uniformierten Reichsbannermitgliedern. Sie benahmen sich vollkommen ungezwungen, unterhielten sich und lachten. Als sie das große Plakat über dem Hauseingang sahen, stutzten sie. Einer von ihnen sagte etwas. Sie sahen sich nach allen Seiten um und blieben unschlüssig vor dem Haus stehen.
Pohl blinzelte neugierig an der Wand entlang.
Da bückte sich einer der Reichsbannerleute gegen die Wand und ein anderer versuchte an ihm hochzuklettern.
„Was soll denn das bedeuten!" rief da der Schauermann in die nächtliche Stille und trat aus dem Hausflur heraus.
Die Reichsbannerleute starrten ihn erschrocken an".
„Lasst das Ding nur hängen und macht, dass Ihr weiter kommt!"
„Hoho!" rief einer streitlustig.
In demselben Augenblick traten Fritz, Heuberger und Erwin Müller aus dem Dunkel hervor,
„Wir — wir haben es nur auf Nazis abgesehen!" meinte jetzt einer der Reichsbannerleute, „Die wollen alle marxistischen Plakate überkleben!"
„Ach so!" lachte der Schauermann. „Ihr wolltet Euch also nur unser Plakat mal besehen!"
Die Reichsbannerleute kamen langsam heran.
„Und wenn ihr Nazis findet, so gebt ihnen Dresche!"
„Aber bestimmt!" Damit gingen sie weiter.-------
Ihr Material hatten die Vier verklebt; jetzt begann die Nachtwache. Fritz war übermüde, aber er ließ sich nichts anmerken. Sie fanden ein als Schlupfwinkel vorzüglich geeignetes Treppenhaus, in welchem sogar die obere Haustür offen war. Hier hockten sie auf den Stufen hin. —
Der Schauermann glaubte, wieder Schritte gehört zu haben. Er schlich die Stufen hinunter und hielt nach beiden Seiten Ausschau. Es war aber nichts Verdächtiges zu sehen. —
„Bist Du eigentlich in letzter Zeit mit diesem Dietz zusammen gewesen, Walter?" wandte er sich dann an den jungen Heuberger.
„Vorgestern erst. Er wollte mich ins Hansa-Variete haben!"
„Und warum bist Du nicht mitgegangen?"
„Ich weiß nicht. Ich wollte nicht'"
„Der geht doch jetzt mit der Trudel Merker!"
„Hast das auch schon gemerkt?" lachte der Junge.
Also es stimmt, sagte sich Pohl und schwieg.
Es musste jetzt bald drei Uhr sein. Dazu war es verflucht kalt. Fritz saß in einer Ecke zusammengekauert und schien zu schlafen. In der Rosenhofstraße war alles totenstill.
„Du, Karl," flüsterte Heuberger, „wenn sie überhaupt kommen, dann erst in den Morgenstunden!"
„Kennst Du die Adresse der Firma, bei der Dietz arbeitet?"
„Was willst Du denn eigentlich damit?"
„Ich möchte es eben wissen!" „So genau weiß ich sie aber nicht!"
„So frag' ihn, wenn Du ihn triffst!"-----------
Schrill schrie eine Polizeipfeife durch die Nacht. Die Vier sprangen hoch.
„Achtung!" flüsterte Pohl.
Um die Ecke der Marienstraße rannten einige Menschen. Vier, — fünf liefen in entgegengesetzter Richtung, einer kam auf sie zugerannt«
„Das sind Unsrige!" flüsterte Pohl.
Vorsichtig streckte er den Kopf aus dem Treppenhaus. Die Anderen standen erregt hinter ihm.
„Verflucht, das ist Römpter!... . Pst!... . Hallo!"
Römpter hatte gehört. Kurz vor dem Treppenhaus sah er sich, hastig atmend, noch einmal um. Noch war nichts von Verfolgern zu sehen. Im nächsten Augenblick stürzte er ins Treppenhaus.
„Polizei!" keuchte der Seehundbärtige.
„Achtung!" reif leise der Schauermann. „Drei Sipos stehen an der Ecke. Sie sind sich scheinbar noch nicht schlüssig, was sie tun sollen!... Pst!... . Sie gehen in der anderen Richtung die Rosenhofstraße hinunter!"
„Und die anderen??" fragte Römpter.
„Von denen ist nichts mehr zu sehen." —
„Wir treten in der Marienstraße in ein Treppenhaus, in dem im Dunkeln bereits drei junge Kerle stehen!" erzählte Römpter.
„Na, von welcher Fakultät seid Ihr denn?' fragte sie. ,Was kümmerts Euch!' meinte der eine. ,Hoho!' sagen wir und besehen uns ihre Wahlplakate. Hitlerjungens. Wir nehmen ihnen nun in aller Ruhe und Friedlichkeit alles ab und zerreißen es. Da sieht der Schlachter Emil Wend, dass der eine ein Messer aus der Tasche zieht. Na, da war's passiert. Wir hatten dufte Jungens. Ob die drei nachher wählen können, möchte ich bezweifeln! Die brüllten, als sollten die Häuser umkippen, und als es uns an der Zeit schien, hauten wir ab!"
„Und es war wirklich Zeit!" lachte Pohl.----------
Es begann zu dämmern. Langsam kam der Morgen heran. In der Rosenhofstraße aber rührte und regte sich noch nichts. Einmal war ein Radfahrer langsam vorbeigefahren. Pohl tippte auf einen Nazi. Sie hüteten sich aber, ihr Versteck preiszugeben.
„Wie die Wahl wohl heute ausläuft?"
„Die Nacht war ja wirklich merkwürdig ruhig!"
„Besser so, als Mord und Totschlag!" erwiderte Römpter.
„Wir werden tüchtig gewinnen!"
„Die Nazis aber auch!"
„Und die Sozialdemokraten werden tüchtig verlieren!11
„Man kann wirklich neugierig sein!"----------
„Na, die Wahlen alleine machen es auch nicht!"
„Bestimmt nicht, wir werden nicht mit Wahlzetteln die Welt erobern können. Aber ein Stimmungsbarometer sind sie doch."
Jetzt war es schon fast hell. Ganz allmählich kam Leben in die Rosenhofstraße. Hinter einigen Fenstern flammte Licht auf. Zwei Männer gingen auf der anderen Seite.
„Das sind wirklich Frühaufsteher!"
„Der dort aber nicht!" lachte Pohl und zeigte auf Fritz, der in der Türecke lag und schlief. —
Leise stieg Fritz die Treppen hoch nach seiner Wohnung. Wenn aber trotz aller Vorsicht die alten Holztreppen knarrten, blieb er eine Weile auf einem Fleck stehen. Er wollte Else nicht im Schlaf stören und selber heimlich und schnell ins Bett kriechen. Vorsichtig tastend bugsierte er den Schlüssel ins Türschloss und mit angehaltenem Atem öffnete er die Tür.
„Was hast Du?" rief ihn Else ängstlich an, als er eben so besorgt lautlos die Tür wieder schließen wollte.
Er fuhr, wie ein ertappter Dieb, erschrocken herum. Sie stand an der Wohnzimmertür. Im Unterrock und mit einem Schal um den Schultern kam sie auf ihn zu. In diesem Augenblick fiel es ihm zum ersten Mal besonders auf, wie stark und unförmig sie geworden war.
„Was soll ich haben, nichts!" erwiderte er etwas missmutig, weil er sie also doch geweckt hatte.
„Doch, doch! Du kommst so komisch herein!1*
„Ich wollte Dich nicht stören!"
„Glaubst Du denn, dass ich schlafen konnte?"
Fritz wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
„Komm', ich habe eben starken Kaffee gekocht und dann marsch ins Bett. Du fällst ja fast um vor Müdigkeit!"
Fritz sagte nichts. Er schlürfte das heiße Getränk und packte sich dann sofort ins Bett.
„Um elf Uhr musst Du mich wecken!" Er schlief fast schon, als er das sagte.
Else zog sich noch eine alte dicke Wolljacke an, setzte sich in die Küche und schlief, den Kopf in den verkreuzten Armen, am
Küchentisch ein.-----------.

Früh am Morgen schon setzte die Wahlarbeit ein. Sprechchöre zogen von Terrasse zu Terrasse. Radfahrer fuhren mit rotgeschmückten Rädern durch die Straßen. In einem Trupp hatte jeder Fahrer einen großen Buchstaben an der Seite und zusammen ergab das den Aufruf: WÄHLT KOMMUNISTEN. Über die ganze Rosenhofstraße hingen rote Transparente mit der Aufschrift: Wählt Sozialdemokraten! Ähnliche Aufforderungen hingen aus den Fenstern und auf den Baikonen. Dazwischen aber leuchteten knallrote Fahnen und Aufforderungen zur Wahl der KPD. Auf einem Balkon stand sogar ein großer Panzerkreuzer mit dem Schriftsatz dazu: „Wer Kinderspeisung statt Panzerkreuzer will, muss Liste 1, Sozialdemokraten, wählen".
Kurz vor Mittag setzte dann der richtige Wahlbetrieb ein. Die Wähler standen vor den Wahllokalen Schlange. Lastautos mit den verschiedensten Parteianhängern fuhren durch die Straßen. Die Insassen sangen oder schrieen im Sprechchor Parolen. Einmal kam eine ganze Lastautokarawane mit uniformierten Reichsbannermitgliedern
durch die Rosenhofstraße. —
Etwas nach elf Uhr fand sich Fritz im Agitationslokal der Partei ein. Einige Genossen organisierten hier Propagandatrupps. Zwei Trupps hatten geliehene Sprechapparate. Die Platten mit Reden von Reichstagsabgeordneten wurden unter ihnen verteilt. Fritz sollte kontrollieren, ob vor jedem Wahllokal Standartenträger standen und ob sie pünktlich abgelöst wurden. Als er auf die Straße trat, fuhr gerade ein Lastauto mit Nazis vorbei. Zwei riesige Hakenkreuzfahnen flatterten vom Wagen. Junge, blasierte Bourgeoissöhne brüllten im Chor: „Nieder mit den Marxisten, wählt Nationalsozialisten!".
Die Antwort der Rosenhofstraße hieß: „Nazi verrecke!".-------—
Inzwischen setzte der Schlepperdienst ein. Arbeiter gingen von Haus zu Haus, von Tür zu Tür und forderten die Säumigen auf, noch zur Wahl zu gehen. Einige brachten alte, gebrechliche Proletarier am Arm ins Wahllokal. Die Werber der bürgerlichen Parteien fuhren zu gleichem Zweck mit gemieteten Autos umher.
Im kommunistischen Agitationslokal herrschte Hochbetrieb. Alle Kräfte waren angespannt.
Nun wurden die Genossen zur Wahlkontrolle während der Auszählung bestimmt und mit allen Genossen der Lessingplatz als Treffpunkt für den Abend verabredet. Ein verwundeter Genosse wurde hereingetragen. Er war bei einem Zusammenstoß in der Bartelsstraße angeschossen worden. Zwei Ärzte hatten sich schon geweigert, ihn zu behandeln. Nun riefen die Genossen bei einem jüngeren Arzt an, der mit der Partei sympathisierte, Er versprach, schnellstens zu kommen.
Als die Wahlfrist abgelaufen war, verschnauften sich die erschöpften Wahlarbeiter im Lokal. Fritz ließ auf Kosten der Zellenkasse heißen Kaffee hereinbringen. Der Verwundete lag noch immer unbehandelt in der Zimmerecke und stöhnte leise.
„Menschenskind, ich hab' ja gar nicht gewählt!" schrie entsetzt ein junger Bursche auf.
„Na, weißt Du!?" meinte einer. Andere lachten,
„Gott verdamm mich!" murmelte der, der vor lauter Wahlarbeit selbst das Wählen vergaß. —
Fritz ging zu kontrollieren, ob in jedem Wahllokal auch ein Genosse bei der Auszählung war. Vor dem Lokal traf er den Arzt.
„Liegt der Angeschossene da drinnen?"
„Ja!"
„Gefährlich?"
„Ich glaube Beckenschuss!" antwortete Fritz. Der Arzt ging rasch in die Wirtschaft, aus der ihm Tabakqualm und Lärm entgegenschlug.
In den Abendstunden wogten riesige Menschenmassen durch die Straßen. Alle öffentlichen Lokale im Innern der Stadt waren überfüllt und polizeilich gesperrt. Eine fiebernde Unruhe, eine gespannte Erwartung lag über den Hunderttausenden. Bald sollten die ersten Resultate kommen. —
Fritz inspizierte bald dieses, bald jenes Lokal. Trotzdem ihm die' Glieder vor Müdigkeit schwer am Körper hingen, fieberte er vor. Ungeduld. Etwas vor sieben Uhr wusste man die ersten Teilresultate und bald darauf lag auch das Endresultat für die Rosenhofstraße vor. Fritz und die Genossen gebärdeten sich wie toll, fassten sich an, hüpften wie Indianer herum, lachten und schrieen. Die KPD. war in den vier Lokalen der Rosenhofstraße die stärkste Partei. Die Rosenhofstraße hatte rot gewählt. Die Sozialdemokratie, bisher diel weitaus stärkste Partei, war auf den zweiten Platz gedrängt. Die Nazis hatten in der Rosenhofstraße auch gewonnen, aber | nicht erschütternd. Die kommunistische Stimmenzahl hatte sich, gemessen an der vorigen Reichstagswahl, verdreifacht,
Ü bermütig vom Siegesjubel zogen die Genossen gemeinsam zum Lessingplatz. Dort stauten sich bis in die umliegenden Straßen hinein die Menschenmassen. Vor dem Zeitungshaus der Generalanzeiger-Presse war ein Lichtbild-Projektionsapparat aufgestellt, der die Resultate auf eine provisorisch an der Hausfront befestigte Leinwand werfen sollte.
Vor der Großschlachterei Roderich war der Treffpunkt der Genossen. Man drängte sich durch die Menschenansammlung dorthin. Aus der einen Ecke des Platzes schrieen die Nazis: „Deutschland erwache!" und als Antwort darauf kam aus der Gegend der Großschlachterei der Ruf: Heil Moskau!". Die Sozialistische Arbeiterjugend und die Roten Falken standen mit ihren Wimpeln in der Mitte des Platzes und sangen: „Wann wir schreiten Seit' an Seit'!" Es war eine dauernde Unruhe auf dem Platz. Das Sturmband unterm Kinn standen mehrere Hundertschaften Sipo rund um den Platz.-------
... . „Ganz ohne Zweifel, Kommunisten und Sozialdemokraten werden katastrophal verlieren!" Ein hagerer Mensch mit einem Pincenez unterhielt sich mit einigen Männern.
„Na, na, na, bei der wirtschaftlichen Notlage, bei der Erwerbslosigkeit?" meinte zweifelnd ein anderer.
„Die Nationalsozialisten, mein Lieber!" erwiderte der Hagere.
„Die Nationalsozialisten fressen diese Parteien auf!"
„Ich weiß nicht recht!"
„Warten Sie nur ab!"-------
„Das ist ja schlimmer, als bei der Lotterie, man steht wie auf Kohlen!" stöhnte ein dicker Glatzköpfiger. Neben ihm lachten einige. Zwei junge Mädchen kicherten andauernd.
„Es gibt ein Unglück! Es gibt ein Unglück!"
„Was gibt es?" drehte sich ein junger Mensch mit einigen akademischen Schmarren am Kinn nach dem Dicken um, der sich vor Aufregung mit einem Tuch den speckigen Hals trocknete.
„Ein Unglück, mein Herr!" stöhnte der wieder.
„Warum?"
„Die Hakenkreuzler werden ungeheuer gewinnen!"
„Und das nennen Sie ein Unglück?" schnarrte der Junge.
„Sie nicht?"
Einige lachten wieder. Die Mädchen kicherten weiter. Der junge Akademiker zeigte gegen seinen Kopf und betrachtete verächtlich den jammernden Dicken.-------
Da erschienen die ersten Resultate auf der Leinwand und ein murmelndes „Aaaooh" ging durch die Menschenreihen. Es waren die Ergebnisse aus einigen unbedeutenden ländlichen Gebieten, aber sie wurden mit gieriger Aufmerksamkeit aufgenommen. Ein brüllendes: „Heil Hitler!" und „Deutschland erwache!" dröhnte über den Platz. Neue Resultate kamen. Die sozialdemokratischen Zahlen schrumpften zusammen, die nationalsozialistischen blähten sich auf. Und immer wieder donnerten Heilrufe über den Platz.
Die Genossen waren erst bestürzt. Nicht einmal das Resultat der Rosenhofstraße konnte sie aufmuntern. In ohnmächtiger Wut wurden die Ziffern der Nazis betrachtet, denen man zunächst einfach verständnislos gegenüberstand.
„Was sind das für Stimmen?" fragte der Schauermann.
„Alle die, die nicht wissen, was sie woll'n!" rief ein anderer.
„Mittelstand!" antwortete Fritz.
Dann kam das vorläufige Stadtresultat. Die Nazis folgten als drittstärkste Partei den Kommunisten auf dem Fuß. Die Sozialdemokratie hatte unheimlich verloren, war aber immer noch die stärkste Partei.
„Tatsächlich, verstehst Du das mit den Nazis?" fragte einer den Schauermann.
Der brummte etwas Unverständliches.
„Die Rosenhofstraße aber steht so!" brüstete sich Heuberger.
„Was müssen das in den anderen Straßenzellen bloß für Scheißkerle sein!" polterte der Schauermann heraus.
Dann aber gabs einen Umschwung in der Stimmung auf dem Platz. Resultate aus den Industriegebieten wurden bekannt gegeben. Ruhrstädte, Mitteldeutschland, Schlesien, Sachsen. An vielen Orten war die Kommunistische Partei die stärkste Partei geworden. Es klangen Rot-Front-Rufe über den Platz, jedes neue Resultat wurde mit „Heil Moskau" begrüßt.
Plötzlich verstummte alles und eine ungeheure Spannung lag über den Menschen. Gleich sollten die ersten Resultate aus Berlin bekannt gegeben werden. Keiner getraute sich, laut zu sprechen. Alle blickten wie hypnotisiert auf das Stück weiße Leinwand. Dann kamen die Teil-Resultate aus der Reichshauptstadt und zugleich setzte ein orkanartiges Jubelgebrüll ein, das überhaupt nicht mehr abzureißen schien. Die Kommunisten waren allen anderen Parteien an Stimmenzahl weit voraus. Johlen, Klatschen, Rot-Front-Rufe, Gesang, ein ungeheurer Jubel raste über den Platz. Einige Nazis schrieen immer wieder: „Nieder mit dem Marxismus!"
Plötzlich setzten einige Arbeiter mit dem Gesang der „Internationale" ein und dann brauste der Gesang aus tausenden Arbeiterkehlen über den Platz.-----------
Spät in der Nacht gingen Fritz und Pohl heim. „Was sagst Du nun zu dem Ergebnis?" fragte Fritz. „Ich finde, es bedeutet... na... " „Bürgerkrieg! Natürlich!" ergänzte Fritz. „Die Klassenfronten schälen sich klar heraus!"

 

Kapitel VIII.

Diese Tage der Hochschwangerschaft waren für Else eine Qual. Sie musste immer im Hause hocken, denn in ihrem Zustand mochte sie nur in der Dunkelheit auf die Straße gehen. Die ganze Last der Schwangerschaft hatte sie in der letzten Zeit fast zur Verzweiflung gebracht. Sie mochte nicht mehr lesen und sie konnte nicht mehr arbeiten. Die Füße waren ihr derart geschwollen, dass sie nur noch in den alten, ausgetretenen Hausschuhen laufen konnte. Sie war zänkisch und rechthaberisch, der geringste Anlass brachte sie in Erregung. Über die kleinste Unachtsamkeit ärgerte sie sich. Eine steigende Angst vor der Entbindung ließ sie innerlich nicht zur Ruhe kommen. Zwar hatten Bekannte und Verwandte immer wieder versichert, dass die Entbindungsanstalt in der Finkenau die vorbildlichste Anstalt ganz Deutschlands sei und dass dort nur ausgesuchtes, fachtüchtiges Ärzte und Helferinnenmaterial, mit fortschrittlicher Gesinnung, arbeite. Aber die innere Unruhe, die heimliche wuchernde Angst in sich wurde Else dadurch nicht los.
Wenn sie so am Tage stundenlang am Fenster saß, in die gegenüberliegenden Fenster oder zu den schwarzgeteerten Dächern hinaufsah, verschwand auch manchmal die Angst und sie horchte still in sich hinein und berauschte sich an dem Gefühl der neuen Menschwerdung.
Wohl hundertmal fragte sie sich: Was wird es sein? — Allen, die sie fragten, was sie sich wünsche, antwortete sie: Ein Mädel soll es werden! Aber sie sagte das nur so für alle Fälle und versuchte es sich sogar selbst einzureden, um kein Enttäuschungsgefühl in sich hochkommen zu lassen. Aber in Wahrheit wünschte sie sich inbrünstig einen Jungen, einen frechen, wilden, starken Jungen. Stundenlang konnte sie von den kleinen Patschhänden und den winzigen Füßchen träumen, und von den blanken, braunen Augen — Fritz' Augen —, die er haben müsste.
Eines Abends war bei Langfelds Zellensitzung. Als Fritz kam, aß er schnell, wusch sich und lief ins Parteibüro. Er war dringend bestellt worden. Er hatte keine Ahnung, was er dort sollte. Der Else war es nicht recht, dass sie nun die Genossen empfangen musste, aber Fritz hatte sie ausgelacht und sie eine unheilbare Spießerin genannt. „Als wenn die Genossen nicht längst wüssten, was los ist!' neckte er sie noch, als er ging. —
Der alte Langfeld kam. Er brummte vor sich hin, als er von der Sitzung hörte und verkroch sich ins Nebenzimmer. —
Pohl und Heuberger waren die ersten. Sie waren in ein Gespräch über den Dietz vertieft und kümmerten sich nicht weiter um Else. Der war es nur recht. —
„Na, der stutzte nicht schlecht, als ich ihn fragte!" lachte der Junge. „Warum willst Du es wissen, fragte er dann."
„Da kann doch immer mal was passieren!" wich ich aus, und dann kann es doch nicht schaden, wenn man weiß, wo Du eigentlich beschäftigt bist! ,Ach Unsinn', wehrte er ab. Aber ich ließ natürlich nicht locker. Schließlich sagte er mir's!"
„Na, und?" fragte der Schauermann.
„Wetzlar und Söhne heißt die Firma, Vorsetzen 34!"
„Glänzend! — Das hast Du gut gemacht, Walter!"
„Aber was willst Du nun unternehmen?" fragte etwas ängstlich Heuberger.
„Das überlass' nur mir! Du hast nichts damit zu tun!'*
Dann kam die Genossin Schenk und hinterher Römpter. Die Genossin setzte sich gleich zu Else in die Küche. Beide hatten sich ungeheuer viel zu erzählen.
Nach und nach kamen die anderen Genossen. Der Buchbinder, das Arbeiterratsmitglied aus der „Nazibude", Lorenzen, ein stiller, aber unermüdlicher Kleinarbeiter und Georg, der Jungkommunist aus der Zellengruppenleitung der Jugend. Sogar die Genossin Paulsen, die sich seit Jahr und Tag nicht mehr hatte sehen lassen, war gekommen.
Das kleine Zimmer war gedrängt voll. Die Zelle war gewachsen. Walter Heuberger und noch ein Arbeiter aus der Terrrase bei Römpter waren nach der Wahl der Partei beigetreten.
Es wurde diskutiert. Zwischenfälle während der Wahl wurden erzählt. Kombinationen über die wahrscheinliche Politik der kommenden Wochen aufgestellt. Jeder hatte Neuigkeiten, und die Meinungen über die Regierungsumgestaltung waren geteilt.
Der einzige, der an dieser politischen Unterhaltung uninteressiert schien, war der Schauermann. Er saß auf dem alten Sofa und starrte während des allgemeinen Gespräches vor sich hin, als wäre er allein im Zimmer.
Dann kam lärmend Fritz. Lachend stieß er die Tür auf und trug ein großes Paket herein. „Eine Riesenüberraschung!" Augenblicklich schwieg alles und sah auf Fritz.
„Oh, erst mal verschnaufen!" Damit setzte er sich und stellte das Paket vor sich hin.
Die Genossin Schenk war aber nicht einverstanden. „Also, nun red' schon!" „Sachte! Sachte!"
Die Genossen lachten. Auch Else, die neugierig im Türrahmen stand, musste lächeln.
„Also die Parteileitung hat der Straßenzelle Qu eine öffentliche Anerkennung für vorbildlich geleistete Parteiarbeit ausgesprochen!" „Ooooh!" ging es durch das Zimmer.
„Das wird sogar morgen in der Zeitung veröffentlicht werden!" Die Genossin Schenk strahlte übers ganze Gesicht.
„Zum weiteren Ansporn und als Zeichen der Anerkennung hat die Parteileitung unserer Zelle eine Anzahl Bücher für eine Zellenbibliothek gestiftet!"
„Mensch, das ist famos!" rief einer laut.
Kernatzki, der Buchbinder, stieß den Schauermann an: „Mal ein guter Einfall der BL.!"
Der Schauermann nickte.
„Und dabei haben wir selbst noch nie an eine Zellenbibliothek gedacht!" bekannte Fritz. „Ich war direkt verdattert!"
„Das macht unser Wahlerfolg!" meinte stolz der junge Heuberger.
„Also pack' endlich aus und zeige!" drängten einige.
Fritz packte ein Buch nach dem anderen aus dem Karton. Es war eine stattliche Anzahl. Sechs „Elementarbücher des Kommunismus". Friedrich Engels „Grundsätze des Kommunismus", Lenin „Staat und Revolution". Zwei Bände über „Historischen Materialismus" und anderes. Außerdem ein Buch von Lenz „Die zweite Internationale und ihr Erbe", „Des Kaisers Kulis" und „Anna", Roman einer Arbeiterin.
Die Genossen, ließen die Bücher einzeln von Hand zu Hand wandern.
„Auf diesen Grundstock aber wird eine Bibliothek aufgebaut, — so!" rief Fritz.
„Und heute noch wählen wir einen Bibliothekar!"
„Das kann doch der Literaturobmann mit erledigen!" meinte die Genossin Schenk.
„Nein, Genossen, ich bin in diesem Falle für Ressorttrennung. Wir werden uns am Schluss der Sitzung schon darüber einig werden."
Fritz gab dann einen Bericht über die Einnahmen und Ausgaben der Zellenkasse und referierte kurz über die Erfahrungen, die Erfolge und Mängel der Arbeit bei den zurückliegenden Wahlen, sowie über die kommenden Aufgaben.
Die Genossen hörten ihm aufmerksam zu.
Am Schluss seiner Ausführungen wies die Genossin Schenk darauf hin, dass die Parteileitung zu wenig die Arbeit der einzelnen Zellen kontrolliert und unterstützt habe. Jede Zelle war zu sehr auf sich selbst angewiesen. Nur so sei das jämmerliche Versagen einer ganzen Anzahl Zellen zu erklären!
Fritz antwortete darauf, dass sie sachlich recht habe. „Aber", sagte er, „was soll geschehen, wenn einmal die Partei verboten ist? Was nützte uns die Reorganisation des Zellensystems, wenn nicht die einzelnen Zellen selbständig zu arbeiten verstehen?"
„Na, aber es gibt schon genug, die, wenn sie auf sich selbst angewiesen sind, hilflos sind!" warf der Buchbinder ein.
„Gewiss, aber die können doch kein Vorbild sein. Jede Zelle soll in der Lage sein, absolut selbständig zu arbeiten, und zwar richtig zu arbeiten. Und je weniger sie Anleitungen und Hilfe von Partei- oder Stadtteilleitungen braucht, um so besser ist sie!"
Der Schauermann kritisierte dann, dass der Mieterstreik, der doch im gewissen Sinne sogar die Grundlage des Wahlerfolges war, nicht genügend im Wahlkampf ausgenutzt wurde. Fritz stimmte dem vorbehaltlos zu „Der Mieterstreik in der Rosenhofstraße, der unter unserer Führung stand und durch den ein Anschlag der Hausbesitzer abgeschlagen wurde, hätte vielmehr im Vordergrund unserer Propaganda stehen müssen! Karl hat durchaus recht!" bekräftigte er die Kritik des Schauermanns.
„Wir haben aber auch, denke ich, manches Positive geleistet!** meinte leise und etwas gekränkt die Genossin Schenk.
„Nun, wir wollen uns nicht gegenseitig die Backen streicheln. Uns müssen vornehmlich die Fehler, die uns trotz aller Erfolge immer noch unterlaufen, interessieren!"
Der Buchbinder, der dies sagte, warf verstohlen einen Blick auf die Zappelige, als erwarte er von dort eine polternde Antwort.
Dann wurde beschlossen, auch nach der Wahl erst einmal die Häuserblockzeitung weiterhin vierzehntägig erscheinen zu lassen und in der nächsten Woche eine öffentliche Einwohnerversammlung einzuberufen, sowie einen proletarischen Geselligkeitsabend vorzubereiten. Die Genossin Schenk schlug noch vor, auch einmal eine Frauenversammlung zu organisieren.
Anschließend berichtete sie, dass einige Zellenmitglieder in der vorigen Woche den Genossen Olfers im Krankenhaus besucht hatten. Olfers sei auf dem Wege der Besserung, aber doch noch für Wochen ans Bett gefesselt. Er habe sich nach der Arbeit der Zelle erkundigt und alle Genossen grüßen lassen.
„Wir müssten an einem Sonntag einmal gemeinsam hinziehen!" schlug Kernatzki vor.
„Dreimal musste ich ihm erzählen, wie wir den Mieterstreik gewannen, dass die Hausbesitzer klein beigaben und froh waren, überhaupt Miete zu bekommen!" lachte die Zappelige.
„Und seine Frau?" fragte einer.
„Die Rote Hilfe unterstützt sie, und... " Die Genossin Schenk sah zur Küche... „Else besucht sie öfter."
Dann gab Fritz bekannt, dass am kommenden Donnerstag die Nazis im Kolosseum in der Wiesenstraße eine große öffentliche Kundgebung mit einem auswärtigen Redner angekündigt hätten. „Großmäulig haben sie alle Parteien aufgefordert, einen Redner zu stellen. Freie Aussprache wird zugesichert."
„Was die Hunde freie Aussprache nennen!" fuhr die Genossin Schenk dazwischen.
„Die Stadtteilleitung beauftragt nun die Zelle, zehn bis zwanzig Genossen zur Unterstützung und zum eventuellen Schutz des Diskussionsredner der Partei in die Versammlung zu schicken."
Der Schauermann erhielt von der Zelle den Auftrag, die betreffenden Genossen zu bestimmen.
Der Buchbinder wurde zum Bibliothekar der Zelle gewählt. Es
wurde ausdrücklich beschlossen, die Bibliothek auszubauen und auch an Nichtmitglieder, an Sympathisierende Bücher auszuleihen.____—
Am Schluss der Sitzung, als sich die Genossen verabschiedeten, flüsterte der Schauermann Fritz zu:
„Ich habe Neuigkeiten von diesem Dietz!"
„Was für'n Dietz?" fragte Fritz, der nur halb hingehört hatte, leichthin.
„Heubergers Freund und Liebhaber der Merker!"
„Was ist denn mit dem?"
„Nichts!" antwortete brüsk Pohl, drehte sich um und ging.
Nachdem alle gegangen waren, dachte Fritz wieder an Pohl, Er konnte sich nicht erklären, wodurch er ihn verstimmt hatte.

Bei der Brothändlerin Kuhlmann war es seit einiger Zeit merkwürdig ruhig. Die Frauen klatschten nicht wie sonst, sondern verlangten ihre Ware, zahlten, sagten auf einige Verlegenheitsfragen Ja oder Nein und gingen wieder.
Die Brothändlerin war ganz unglücklich. Sie konnte sich das Verhalten ihrer Kunden nicht erklären. Sie konnte aber doch auch nicht fragen: Sagen Sie mal, Frau Soundso, warum drücken Sie sich jetzt immer so schweigsam aus dem Laden? — Oder: — Warum erzählen Sie mir nichts mehr von Frau M. und Frl. H.? Haben Sie denn nicht gesehen, dass Frl. G. mit einem Mann im Eingang. . . Nein, das ging nicht.
Als ihr Mann von einem Kohlentransport zurückkam, war ihr, als ginge ihr plötzlich ein Licht auf. Er musste der Anlass sein. Sein uninteressiertes, unfreundliches Benehmen zu den Kunden und seine gottlose Gesinnung waren Schuld. Selbstverständlich!— Vielleicht hatte er aus Schabernack sogar Kommunisten gewählt und die Frauen hatten davon Wind bekommen. Kein Zweifel, er entfremdete die Kundschaft, er beleidigte die Frauen, er ruinierte so das Geschäft.
„Leugne nicht!" schrie sie ihn an, als er, nachdem er die Kohlenkarre angekettet hatte, müde in den Laden trat.
„Leugne nicht, Du bist schuld!"
Kuhlmann sah sie, wie bedauernd, schweigend an und wollte in die Wohnräume gehen.
Sie aber stellte sich mit einem Satz entschlossen davor.
„Du hast Kommunisten gewählt!" schrie sie ihn an. „Drück' Dich nicht, antworte!"
Kuhlmann stutzte. Ob sie krank ist? dachte er. Schweigend ging er an ihr vorbei.
„Du Schuft!" stieß sie weinerlich hervor. „Du ruinierst das ganze Geschäft!"
Kuhlmann bebte jetzt innerlich vor Wut. Seine Schläfen röteten sich und dicke Adern traten hervor.
„Ich werde einen Arzt holen!" knirschte er.
Die Brothändlerin stöhnte verzweifelt.
Die kleine fette Frau Fritt kam.
„Guten Morgen, Frau Fritt!" begrüßte die Brothändlerin sie mit süßlicher Stimme.
'n Morgen!" brummelte die andere zurück.
Die Brothändlerin seufzte leise.
„Ein Angeschobenes und vier Rundstücke!“
„Gern, Frau Fritt!" dienerte die Kuhlmann und holte das Gewünschte.
„Sonst noch etwas, Frau Fritt?"
„Danke!" kam die kurze Antwort und die Fritt vermied es, die Brothändlerin dabei anzusehen. Sie zahlte und ging.
Die Brothändlerin sah ihr eine Weile stumm nach. Das war für sie wieder ein Beweis dafür, dass etwas nicht in Ordnung war.----------
Die Gemüsehändlerin trat ein.
„Guten Morgen, Frau Kafka!" Die Brothändlerin brachte es nur ganz matt und kränklich heraus.
„Guten Morgen, Frau Kunlmann! — Ein Schwarzbrot und für eine Mark Kuchen. Zehnpfennigstücke!"
„Gerne!"
„Was sagen Sie zu dem gewaltigen Wahlsieg?"
„Schrecklich!" stöhnte die Brothändlerin.
„Wa-as?" staunte die Kafka.
„Ist das nicht eine Schweinerei, hier in der Straße?"
„Da haben Sie allerdings recht!" erwiderte die Gemüsehändlerin.
„In unserer Straße hat der kommunistische Terror noch einmal triumphiert. Mein Arthur sagt... !"
„Mein Mann", flüsterte erregt die Kuhlmann. „Ich glaube, mein Mann hat sie auch gewählt!"
„Wen?"
„Die Kommunisten!"
„Aber das ist doch unmöglich! — Wie kommen Sie darauf? Hat er es ihnen erzählt?"
„Erzählt? Hah, der wird sich hüten. Aber die Kundschaft ist in den letzten Tagen so merkwürdig zurückhaltend!"
„Aber das ist doch kein Grund, anzunehmen, dass... !"
„Wir haben uns auch vor der Wahl gezankt!" fiel ihr die Brothändlerin ins Wort. „Er wollte Hitler nicht wählen!"
„Was Sie nicht sagen?! Er wollte Kommunisten wählen?"
„Nein, Wirtschaftspartei! Die haben wir bisher immer gewählt!"
„Na, und?" Die Gemüsehändlerin wurde noch nicht recht schlau.
„Aus Schabernack, Frau Kafka, aus purem Schabernack, denke ich, hat er Kommunisten gewählt. Die Männer sind ja unberechenbar!" Die Kuhlmann stöhnte wieder leise.
„Wer wird denn schon aus Schabernack Selbstmord begehen?!"
Wortlos ging Kuhlmann später wieder durch den Laden. Er hatte noch drei Fuhren vor sich und bis Mittag reichlich zu tun. Seine Frau folgte ihm mit durchbohrenden Blicken, schwieg aber. Er tat, als bemerke er sie gar nicht. —
„Na, was sagen Sie denn dazu?" Die jugendlich aussehende Frau Schleemann lachte über das ganze Gesicht, als sie die Brothändlerin mit der versauerten Miene hinterm Ladentisch stehen sah.
Die weiß es auch schon, dachte die Kuhlmann und sagte laut: „Was soll man dazu sagen?"
„Ja, diese Kommunisten!"
Also tatsächlich, Kommunisten, dachte die Brothändlerin.
„Was die alles beim Schopf packen und aufs Tapet bringen!"
„Wieso aufs Tapet bringen?" fragte die Kuhlmann. „Sie haben es doch gelesen, nicht wahr?" „Nichts habe ich gelesen, Frau Schleemann!"
„Ach! — In der Häuserblockzeitung, die die Kommunisten herausgeben, ist Ihr Geschäft erwähnt!"
„Mein Geschäft?"
„Ja! — Hier ist eine!" lächelte die Kundin und wies mit dem Finger auf die Überschrift: „Eine üble Klatschzentrale." Hastig las die Brothändlerin. „Eine Frau ins Zuchthaus gekommen ... Gerüchte... " Der Brothändlerin flimmerte die hektografierte Schrift vor den Augen. Erst wurde sie feuerrot im Gesicht, jetzt war sie kalkweiß und ihre Kiefer zitterten. Vor Aufregung konnte sie kaum ein Wort herausbringen. Dann nahm sie sich zusammen. Sie musste doch endlich erfahren, was ihre Existenz bedrohte. Darum fing sie noch einmal von vorne an zu lesen.
„Eine üble Klatschzentrale. — Es gibt Arbeiterfrauen, die auf den Straßen und in den Läden die widerwärtigsten Klatschereien betreiben. Jedes Stäubchen Dreck wird hervorgesucht und zu einem übel riechenden Dreckhaufen aufgebauscht. Bettgeschichten, wilde Gerüchte, leichtfertige Behauptungen wandern von Mund zu Mund und haben schon mehr als einmal Unheil angerichtet. Die Brothandlung Kuhlmann in der Rosenhofstraße ist so eine Klatschzentrale. Durch unverantwortliche Redereien schwatzsüchtiger Weiber ist erst vor einiger Zeit eine bisher unbescholtene Frau ins Zuchthaus gekommen. Sie soll eine Abtreibung vorgenommen haben. Weitet Werden dort allerlei arbeiterfeindliche Lügen in die Welt gesetzt und revolutionäre Arbeiterkunden hinausgegrault."
Die Kuhlmann hörte mit dem Lesen einen Augenblick auf. Wie erstarrt sah sie auf das Stückchen Papier.
„Wir halten ein solches Verhalten von einem Geschäftsmann in einer Arbeiterstraße für einen Skandal und für unverständlich, namentlich, wenn man weiß, dass er, wie der Brothändler Kuhlmann, schwer arbeiten muss. Ein solch' kleiner Geschäftsmann, der in aller Frühe der Bourgeoisiekundschaft die Rundstücke ins Haus tragen und tagsüber schwere Steinkohlenlasten schleppen muss, gehört ebenfalls zum großen Heer der Arbeiter und sollte sich nicht von arbeiterfeindlichen Kreisen missbrauchen lassen. Die Frauen aber, die den unverantwortlichen Klatsch in die Welt setzten, sind größtenteils Arbeiterfrauen. Sie haben mehr oder weniger alle den Schandparagraphen 218 am eigenen Leibe spüren müssen. Um so unverständlicher und schamloser ist es, wenn diese Arbeiterfrauen durch unüberlegte Schludereien der Klassenjustiz Helfersdienste leisten. Eine aufgeklärte, anständige und Klassenbewusste Arbeiterin gibt sich zu dergleichen niemals her!" —
Frau Kuhlmann hatte zu Ende gelesen und stand wie betäubt hinterm Ladentisch.
„Das also war es!" hauchte sie.
„Das ist für Kommunisten noch sehr wohlwollend geschrieben. Eine Art Warnung!" meinte die Schleemann,
„Wohlwollend?" wiederholte wie geistesabwesend die Brothändlerin.
„Sie müssen sich das nicht so zu Herzen nehmen!"
„Das sagen Sie so!"----------
Um die Mittagsstunde kam Kuhlmann zurück. Er war schweißig und dreckig von Arbeit und Kohlenstaub.
„Da, lies!" Damit reichte seine Frau ihm die kleine, quartgroße, hektografierte Zeitung hin.
Kuhlmann las. Er las die ersten Sätze noch einmal und machte Stielaugen. Dann verschlang er das Ganze. Und als er fertig war, fing er noch mal von vorn an.
Schließlich gab er ihr das Blatt zurück. „Hm!" machte er und ging durch den Laden in die Küche.
Sie schwieg und seufzte.
Als er sich, halbnackt, unterm Wasserhahn wusch, hätte er losprusten mögen vor Vergnügen. Was hatten die Kommunisten noch von ihm geschrieben? „Der Brothändler Kuhlmann muss schwer arbeiten, muss Rundstücke... muss Steinkohlen schleppen . ... "
Kuhlmann ließ sich das Wasser über den Kopf laufen.
Die Kommunisten fingen an, ihn zu interessieren.
Die Saaltüren des Collosseums in der Wiesenstraße waren lange vor Beginn der nationalsozialistischen Kundgebung von Menschen belagert. Kleine Angestellte, Geschäftsleute und Beamte, einige Gymnasiasten mit ihren ebenfalls noch schulpflichtigen Liebchen und etliche Arbeiter standen dichtgedrängt vor dem dunklen Bau. Man unterhielt sich leise. In der einen Ecke kicherten und lachten die Gymnasiasten albern mit ihren Mädeln. —
Als Pohl, Fritz, Heuberger und noch einige Genossen die Wiesenstraße hinunter gingen, sahen sie in einer kleinen Nebenstraße einen leeren Polizeiflitzer stehen. Von der Polizei selbst war nichts zu sehen.
„Wo dat Ding steit, sünd de Insassen ok nich wiet!" meinte der Schauermann.
„Am besten ist wohl, wir verteilen uns jetzt?" schlug Fritz vor.
„Gut!" stimmte Pohl bei „Einzeln gehen wir hinein und drinnen setzen wir uns unauffällig wieder zusammen. Nicht Stuhl an Stuhl, aber so, dass wir Fühlung mit einander behalten!" —
Kurz vor der Saalöffnung kamen zwei Gruppen SA.-Mannschaften anmarschiert. Auf ein militärisches Kommando hielten sie und gingen im Gänsemarsch durch eine Nebentür ins Innere des Etablissements.
„Der Saalschutz!" flüsterten einige.
Bald darauf wurde der Vorraum erleuchtet und die großen Flügeltüren geöffnet.
Die Menschen strömten hinein. Pohl sah, dass die meisten schon Eintrittskarten hatten. Er ging an eine der Kassen und zahlte. „Der ,Völkische Beobachter'. Das Zentrum im Schlepptau der Marxisten!" schrie einer,
„Für den Kampffonds der SA!" rief ein anderer mit einer Hakenkreuzarmbinde und klimperte mit den Geldstücken in der Blechkassette.
„De Dübel sall rinschieten!" brummte der Schauermann, als er an ihm vorbei in den Saal ging. —-------
,Das freie Deutschland der nationalen Kraft und Stärke erkämpft der Nationalsozialismus' — stand mit riesigen Lettern über dem Rednerpodium. Ein gutes Dutzend Hakenkreuzfahnen hingen von der Galerie. —
Eine wachsende Unruhe ging durch die Massen im Saal. Einige standen auf, reckten die Hälse und sahen nach dem Eingang. Immer mehr Leute erhoben sich. Rufe wurden laut. Endlich löste sich in einem vielfachen „Aaaaa—ah!" die Unruhe auf. Es wurde geklatscht. In militärischem Gleichschritt marschierten in zwei Gliedern die SA.-Mannschaften in den Saal. Ausgesuchte Kerle, junge, glattrasierte, blasierte Gesichter, teilweise mit Schmissen und dem unverkennbaren Stempel brutaler Rauflust im Gesicht. Sie nahmen mit der Front zur Versammlung vor der Bühne Aufstellung. Am Eingang stand ebenfalls eine Abteilung Spalier.
„Wir sind gut geschützt, was?" flüsterte Heuberger dem Schauermann zu, der vor ihm saß.
Der nickte leicht und sah sich nach allen Seiten um«
Durch zwei Personen von ihm getrennt saß in derselben Reihe Fritz, neben ihm Adolf, der Jungkommunist. Vor ihm saßen noch einige Genossen und eine Reihe hinter Heuberger erkannte er auch noch zwei. Dann entdeckte er auch den Seehundbärtigen, der erst später kam. Am Sammelpunkt war er nicht erschienen. Er saß ungefähr in der Mitte des Versammlungsraumes, zwischen zwei aufgedonnerten, fetten Frauen. Pohl musste darüber lachen, und als sich ihre Blicke trafen, kniff der alte Seebär fast unmerklich das eine Auge zu und grinste breit.-------
Am Vorstandstisch erhob sich nun jemand. Mit angestrengt lauter Stimme überschrie er sich im Offiziersjargon; „Ich eröffne die öffentliche Kundgebung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Es spricht unser Parteigenosse Reichstagsabgeordneter Karl Kuhn. Vertreter aller Parteien sind eingeladen und erhalten von der Versammlungsleitung dreißig Minuten Redezeit garantiert. Wir verlangen jedoch, dass sich jeder Redner sachlich und zum Thema äußert. Das Thema heißt: ,Nationaler Wiederaufstieg Deutschlands oder Chaos?' — Herr Reichstagsabgeordneter Kuhn hat das Wort!"
Mit Händeklatschen und Heilrufen wurde ein junger, schlanker Mensch mit leicht rötlichem Haar begrüßt. Er trat ans Rednerpodium und strich sich mit der Hand über den Kopf. Mit leiser Stimme begann er dann seine Rede.
Pohl interessierte sich mehr für die Örtlichkeit als für den Landtagsabgeordneten. Achthundert bis tausend Menschen mochten im Saal sein. Nur ein Ein- und Ausgang war geöffnet. Etwa dreißig Nazis standen dort. Vor der Bühne standen gut ebenso viele. Pohl blickte suchend umher. Er und die Genossen saßen auf der linken Seite des Saales, ziemlich weit weg vom Eingang. Aber kaum zehn Schritte entfernt von ihm war seitlich eine kleine Tür. Wohin mochte die führen? War sie offen? War es gar nur die Toilette? — Als
plötzlich geklatscht wurde, horchte Pohl auf. „Die nationale Wiedergeburt, wie sie der Nationalsozialismus
erstrebt, bedingt eine seelische Läuterung unseres ganzen Volkes!" rief der Redner mit erhobener Stimme in den Saal. „Wir sind nationale Sozialisten und unser Ziel ist ein starkes, durch Blutsbande geeinigtes deutsches Volk. Wir sind Sozialisten, denn wir wollen die Klassengegensätze, die unser Volk trennen, beseitigen, und dem Arbeiter geben, was ihm zusteht. Wir sind Sozialisten, denn wir wollen die unheilvollen Auswüchse des Monopolkapitalismus ausmerzen und auch auf wirtschaftlichem Gebiet eine Renaissance auf sittlicher
Den Schauermann quälte die kleine Tür. Immer wieder blickte er dorthin. Schließlich fasste er einen Entschluss. Er stand auf und drängte sich, trotz der protestierenden Blicke der dadurch gestörten Versammlungsbesucher, durch die Reihe nach der Saalseite.
„Pass auf!" raunte er Fritz zu, als er sich an ihm vorbeiquetschte.
Schnurstracks ging er auf die Tür zu und fasste an. Sie war verschlossen. Er sah durch ein kleines, verdrecktes Fenster, das sich neben der Tür befand; konnte aber in der Dunkelheit nur erkennen, dass dort draußen ein Hof oder ein verwahrloster Garten sein musste. In dem Augenblick trat ein Nazi mit einer Armbinde an ihn heran.
„Was suchen Sie?"
„Die Herrentoilette!" antwortete seelenruhig Pohl.
„Die ist doch nicht hier!" erwiderte etwas ironisch der Nazi.
„Draußen im Vorraum!"
„Ach du lieber Gott!" stöhnte Pohl. „Da kann sich doch keiner hindurchschlängeln!-------Kann ich nicht hier mal raus?"
„Ist doch verschlossen!" brummte der Nazi.
Pohl packte den alten Türdrücker fest an und drückte gegen die Tür.
„Mensch, Sie drücken ja die Tür ein!" rief unterdrückt leise der Nazi. „Das geht nicht!"
Flüche murmelnd begab sich der Schauermann wieder an seinen Platz. —
Der Redner redete endlos und monoton. Hin und wieder schraubte er seine Stimme hinauf und versuchte so eine Steigerung herbeizuführen. Pohl langweilte sich schrecklich. Nur am Schlusse der Rede Horchte er noch einmal gespannt auf.
„Von bürgerlicher Seite wird uns immer wieder vorgeworfen", rief der Redner und schwenkte dabei seinen Arm in der Luft herum« „dass wir doch Sozialisten seien. Wir antworten diesen demagogischen Lügnern: Womit beweist ihr diese freche Behauptung? Der Nationalsozialismus hat nichts mit dem Sozialismus, wie wir ihn bisher kannten, gemein. Wir wollen niemanden berauben und denken zu realpolitisch, um Phantomen nachzujagen, oder an sozialistische Utopien zu glauben. Wir haben stets bekundet, dass wir das Eigentum respektieren und schützen werden. Feinde des neuen Deutschland werfen uns Sozialismus vor. Wir spüren doch alle den Bankrott des Sozialismus in Deutschland am eigenen Leibe und wir sehen, wohin die bolschewistische Abart dieses Treibens Russland hingebracht hat. Wir erklären kategorisch, dass wir mit dieser Art Sozialismus nichts gemein haben!"
Pohl starrte von seinem Platz wie entgeistert zu Fritz und dann wieder zu dem Redner. Es war tatsächlich noch derselbe, der am Anfang seiner Rede das Gegenteil von dem behauptet hatte. Dann wunderte sich Pohl, dass alles ruhig blieb, dass nicht ein schallendes Gelächter einsetzte.
Vollkommen verwirrt sah er wieder zu Fritz. Der lachte ihm voll ins Gesicht und nickte mit dem Kopf. Er dachte gewiss das Gleiche.-----------
Donnernde Heilrufe gingen dann durch den Saal. Der Redner trat vom Podium weg und setzte sich an den Vorstandstisch, wo ihm der Versammlungsleiter mit einer Verbeugung und einem Händedruck dankte.
„Wir machen jetzt eine Pause von zehn Minuten!" schnarrte der Versammlungsleiter. „Wir bitten eventuelle Diskussionsredner, sich in der Pause eintragen zu lassen. Spätere Wortmeldungen können nicht berücksichtigt werden!"-------
Fritz setzte sich neben den Schauermann.
„Das war gut, was? Was er am Anfang behauptet hat, wies er am Schluss entrüstet von sich!"
„Wenn etwas passiert!" antwortete flüsternd Pohl, „sofort die kleine Tür besetzen!"
„Meinst Du, dass sie es riskieren?"
„Sie fühlen sich mächtig stark, das sieht man!"
„Du! Dort sitzt Bassow, ein Funktionär aus der Korkfabrik in der Angerstraße. Ich werde hingehen und ihm mitteilen, wie wir im Notfalle zu handeln gedenken. Der wird nämlich sicher auch nicht allein hier sein!" Damit ging Fritz nach hinten.
Pohl flüsterte bald diesem, bald jenem Genossen von der kleinen Tür ins Ohr.
Zu nett von den Nazis, eine kleine Pause einzuschalten, dachte lächelnd der Schauermann.-----------
Unter lautloser Ruhe verkündete der Versammlungsleiter nach den abgelaufenen 10 Minuten: „Leider hat sich nur ein Parteivertreter zum Wort gemeldet. Wir bedauern dies, aber verstehen es, denn es lassen sich viel leichter in der Presse Lügen verbreiten, als in einer Versammlung Gegnern gegenüber zu treten. Der Herr, der sich gemeldet hat, ist der kommunistische Reichstagsabgeordnete August Helms. Bevor ich dem Herrn das Wort erteile, möchte ich auf folgendes hinweisen. Sollten von irgendeiner Seite Störungsversuche unternommen werden, wird die SA. rücksichtslos für Ruhe sorgen. Neugierige sind gewarnt!"
Einige Leute lachten.
„Und nun hat Herr Reichstagsabgeordneter Helms das Wort!"
Ein kleiner, untersetzter Mann sprang lächelnd auf die Bühne. Beifallklatschen der im Saale anwesenden Arbeiter begrüßte ihn. Die Nazis stutzten und reckten die Hälse.
„Verehrte Anwesende, mein Vorredner hat ihnen allerlei erzählt. Er hat von der Not des deutschen Volkes gesprochen, von den Sklavenverträgen, die uns die Entente diktierte und die die bürgerliche Demokratie gefressen hat. Er hat auch von den Zielen des Nationalsozialismus gesprochen, wenngleich ziemlich konfus. Aber eins hat er ihnen wohlweislich verschwiegen, nämlich, was sie, die Nationalsozialisten, bisher selber taten.
Wir sind ja beide gewissermaßen Parlamentskollegen!" Einige Arbeiter lachten hell heraus.
„Und er wird mir zugeben müssen, dass das, was ich Ihnen nun berichten werde, nichts Erdichtetes, sondern Tatsachen sind. Bevor ich also zu einer allgemeinen Charakterisierung der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei komme, folgendes aus dem Reichstag, das Sie bestimmt interessieren wird!"
Absolute Ruhe herrschte in dem Riesensaal»Alle blickten erwartungsvoll auf den Redner. Sogar die SA.-Mannen hatten sich größten-! teils herumgedreht und sahen zu dem Kommunisten auf.
„Die kommunistische Fraktion hat im Reichstag einige Anträge eingebracht, die eine Hilfe für die Ärmsten der Armen und eine Besteuerung für die Reichsten der Reichen bezwecken sollten. Die wirtschaftliche Not des arbeitenden deutschen Volkes ist groß. Mehrere Millionen Arbeitslose, Lohnabbau, Verarmung des Mittelstandes, das sind die Zeichen unserer Zeit. Auf der anderen Seite, auf der Seite der herrschenden Klasse, zeigt sich aber gleichzeitig wahnsinnigste Akkumulation des Reichtums. Nach der letzten amtlichen Zählung gibt es in Deutschland außer den zirka vier Millionen unterstützungsbedürftigen erwerbslosen Männern und Frauen, 10,3 Millionen, die ein monatliches Einkommen unter 100 Mark, 7,4 Millionen, deren Einkommen unter 125 Mark und 4,1 Millionen, deren Einkommen unter 250 Mark betrug, also insgesamt 25,7 Millionen Menschen mit einem Verdienst unter dem amtlichen Lebensindex!"
Lautlos horchte die Versammlung dem Redner zu, der ruhig und klar die Zahlenbilder deutlich vor Augen führte.
„Auf der anderen Seite aber gibt es in diesem selben Deutschland 2335 Millionäre mit insgesamt 5000 Millionen Mark Vermögen und außerdem noch 4961 Millionäre, die ihr Geld in Aktiengesellschaften, GmbH.'s usw. stecken haben, also insgesamt 7296 Millionäre mit 28 Milliarden Vermögen, das ist ein Viertel des gesamten Volksvermögens Deutschlands, einschließlich der staatlichen und kommunalen. Wir Kommunisten besaßen nun die Unverfrorenheit, zu beantragen, durch besondere Steuern diese Millionenvermögen zur Sanierung des Etats und zur Entlastung der breiten werktätigen Massen Heranzuziehen!"
„Bravo!" riefen etliche aus der Versammlung.
„Darüber heult natürlich die gesamte kapitalistische Pressemeute und alle kapitalistischen Parteien liefen im Parlament dagegen Sturm. Unsere Anträge wurden restlos abgelehnt!"
„Pfui! Pfui!" schrie es erregt aus 'den Menschenreihen.
„Und, werte Anwesende, wie meinen Sie, haben sich die Nationalsozialisten verhalten?" fragte ironisch der Redner die Versammlung.
Keine Antwort wurde ihm entgegengerufen, aber eine gespannte Aufmerksamkeit lag über allen.
„Ich will es Ihnen sagen. Sie haben geschlossen dagegen gestimmt. Sie haben die Millionäre in Deutschland vor dieser Besteuerung gerettet!"
Tumultarisch wurde aus der Versammlung „Pfui!" — „Unerhört!"
und „Hört! Hört!" gerufen.
„Die Nationalsozialisten kämpfen angeblich gegen Korruption, Was aber ist ihr wahres Verhalten?"
„Korruption!" schrieen ihm die Arbeiter im Chorus zu.
„Ü belste und schamloseste Korruption!" bekräftigte der Redner,
„Aber ich will Ihnen weiter berichten... ."
Plötzlich ging jedes Licht aus und es war stockdunkel in der Riesenversammlung. Sofort setzte ein unbeschreiblicher Tumult ein« Ein Sprechchor brüllte: „SA. räumt den Saal!" Dazwischen Geschrei,
Rufen, Wimmern.
„Nach der Tür!" Der Schauermann bahnte sich mit Stößen und Schlägen den Weg. Stühle zerbrachen wie nichts. Die Menschen rasten und schrieen in der Dunkelheit wie toll.
Etwas Hartes flog dem Schauermann dicht vor die Füße. Er hob es auf; es war ein halber Stuhl. Mit einem Ruck riss er ein Stuhlbein ab. Angestrengt starrte er in die Finsternis. Dort wälzte sich eine Menschenmasse auf dem Boden. Pohl taxierte: das sind Nazis und der Genosse Abgeordnete. Er wühlte sich ran. Richtig! Dicht vor seinen Augen sah er die Hakenkreuze auf den Armbinden. Wie ein Berserker schlug Pohl mit seinem Stuhlbein um sich. Immer größer wurde der tobende Haufen. Ein langer Kerl tauchte plötzlich vor ihm auf. Pohl sprang instinktiv zur Seite. Der beabsichtigte Schlag war fehlgegangen. Er war mit solcher Wucht geführt worden, dass der Lange sich weit vornüber beugte. Der Schauermann schlug ihm mitten übers Kreuz und sah, wie die dunkle Menschenmasse plump zusammensackte. Undeutlich erkannte er jetzt, dass einige Menschen einen anderen aus dem Knäuel herausrissen. Pohl trat vorsichtig näher. Er stieß dabei auf den Seehundbärtigen.
„Hallo!" rief er nur, dann war er auch schon einige Schritte weiter, „Licht! Licht!" schrieen nun die Nazis vor der Bühne in den tobenden Versammlungssaal.
Pohl sprang mit einigen anderen auf die Rufer zu und säuberten die ganze Saalfront. Da blitzten, kurz krachend hintereinander Schüsse. Dann ertönten kurze, schrille Pfiffe.
„Los!" schrie Pohl und lief mit einigen Genossen nach der kleinen Seitentür. Sie stand offen. Fritz war es, der, als er den Schauermann sah, „Fertig!" rief und dann rannten sie durch das Gerümpel und über
weichen Erdboden in die Nacht.-----------
Kurz nach dem Ruf der Nazis nach Licht, wurde es auch tatsächlich wieder eingeschaltet. Eine ganze Anzahl Männer und Frauen hockten zusammengekauert, zitternd und wimmernd hinten im Saal«
An einigen Stellen sah es furchtbar aus. Alles war durcheinander
geworfen und einige Menschen lagen wie tot zwischen den zerbrochenen Stühlen. Andere standen abseits und wischten sich Blut aus dem
Gesicht oder hielten sich ihr Taschentuch auf die blutende Wunde.
Dann betrat Polizei den Saal. Die am Boden Liegenden wurden
sofort hinausgetragen und im Vorraum hingelegt. —
Am ärgsten war es den SA.-Leuten vor der Bühne ergangen. Sechs von ihnen lagen nebeneinander auf dem Boden vor dem Vortandstisch. Fast alle anderen sahen zerzaust und zerschlagen aus. Nur dem Führer der SA.-Abteilung sah man nichts von der Rauferei an. Er trat jetzt in militärischer Haltung an den Sipooffizier heran, grüßte und berichtete, dass die Kommunisten die Versammlungsbesucher überfallen hätten und nach dort hinaus geflohen seien. Der Offizier schickte sofort drei Mann seiner Bereitschaft den geflohenen
Kommunisten nach.
„Erst haben sie das Licht ausgeschaltet, dann... " rief einer
der Nazis eifrig und voreilig.
„Das stimmt nicht!" unterbrach ihn der Sipo-Offizier. „Der das Licht ausgeschaltet und die Sicherungen an sich genommen hat, ist bereits festgenommen und einer Ihrer Leute!" Er wandte sich bei den letzten Worten an den SA.-Führer,
Die Nazis schwiegen betreten.
Der Saal war geräumt. Im Vorraum arbeitete die Polizei. Einige Verhaftete wurden abgeführt. Die Verwundeten wurden notdürftig verbunden. Bald darauf kamen einige Krankenautos vorgefahren und die schwerer Verletzten wurden behutsam in das Innere der Wagen
geschoben. —
„Kameraden!" redete im Vorraum der Sturmführer der Nazis seine Leute an. „Für den heutigen ruchlosen Überfall werden wir uns Genugtuung verschaffen!"
„Rache!" brüllten die Nazis und hoben die Hand wie zum Schwur. Der Polizeioffizier trat in den Vorraum.
„Was soll das heißen?" krähte er mit ekelhaft heller Stimme. „Hier werden keine Reden mehr gehalten!"
Der Nazisturmführer trat militärisch stramm an den Offizier heran. Der beruhigte sich sofort und nun flüsterten die beiden miteinander. Dann nahmen beide wieder militärische Haltung ein und der Sturmführer trat zu seinen Leuten.
„Antreten!" kommandierte er. Die Nazis stellten sich im Glied auf. „Im Gleichschritt, marsch!"
Sie marschierten stumm aus dem Vorraum des Collosseums hinaus auf die Straße. Ihr schlecht durchdachter Plan war für sie recht kläglich und schimpflich verlaufen. Vor dem Gebäude und auf der Straße standen noch einige Menschen. Aber keiner rief ihnen „Heil!" zu oder bekundete Sympathien.
Bald darauf kehrten auch die drei Polizisten durch die kleine Seitenentür wieder zurück. Sie meldeten, dass sie nichts von fliehenden Kommunisten gesehen hätten.
An diesem Abend spürte Else Schmerzen. Es war erst wie ganz gewöhnliches Bauchweh. Aber der ziehende Schmerz kam in immer kürzer werdenden Zwischenräumen wieder. Else redete sich ein, das könne es noch nicht sein und versuchte zu schlafen. Doch es kam immer wieder, und schließlich trieb eine innere Unruhe sie hoch.
Wenn doch Fritz nur da wäre? Und der Alte war auch nicht im
Hause.-------Wieder kam dieser merkwürdig ziehende Schmerz. — —
-------Sie wusste schließlich in ihrer Angst keinen anderen Rat und
ging zur Nachbarin.
„Ach, Frau Endruleit, ich glaube, es ist mit mir so weit. Würden Sie mich zur Finkenau bringen?"
„Aber natürlich, Else!" rief die Alte, „Ich komme gleich!" Damit lief sie in ihre Wohnung zurück.-------
„Ich habe ja solche Angst vor dem Krankenhaus!" flüsterte Else der Nachbarin zu, als sie auf dem Perron der Straßenbahn standen.
„Ist gar nicht so schlimm, Kind!" antwortete diese.----------
Die ziehenden Leibschmerzen kamen wieder. Sie wurden aber? immer anhaltender und schmerzhafter. Else verbiss den Schmerz tapfer, aber ihr Gesicht verzog sich dabei. Wie beneidete sie die anderen Fahrgäste. Sie gingen gewiss ins Theater, oder in eine fröhliche Gesellschaft, zu Unterhaltung oder Tanz. Alle schienen ihr unbelastet, so sorglos, frei.
Else sehnte sich nach ihrem Bett. Schlafen können, immer schlafen, bis alles vorbei war. Ja, wer das könnte.-----------
„Willst Du nicht lieber in den Wagen?" fragte besorgt die Nachbarin.
„Nein, nein, Frau Endruleit, ich stehe lieber!" —-
„Oo—oh! Wieder dieser eigentümliche Schmerz!"
„Ist es schlimm, Kind?"
„Ach nein!" erwiderte Else leise. „Eigentlich habe ich es mir schlimmer vorgestellt!"
„Na, na, das wird wohl auch noch etwas schlimmer werden!"
Ekelhaft war dieser lästige, regelmäßig wiederkehrende Schmerz. Else dachte jetzt in keiner Sekunde an das sich herausarbeitende Kind, das sie sich so sehr gewünscht hatte. — — —
Jetzt standen sie vor einem großen, lang gestreckten Bau. Zögernd und innerlich widerstrebend trat Else an die Krankenhaustür,
Die Nachbarin läutete.
Eine Schwester kam und öffnete.

 

Kapitel IX.

„Red' was Du willst!" schrie ein junger Arbeiter Fritz an. „Wir lassen uns nicht wehrlos wie tolle Hunde über den Haufen schießen!
Fritz wollte etwas darauf erwidern, aber ein anderer Prolet mit einem auffallend starken Stiernacken kam ihm zuvor: „Mit Dir scheint tatsächlich etwas nicht zu stimmen!" Dann stand er plötzlich auf und ruderte mit den Armen in der Luft: „Du bist doch sonst nicht so! ---
Hätte Oskar Druve etwas bei sich gehabt, wer weiß, die Nazis hätten nicht so lange auf ihm herumtrampeln können, bis er krepierte! Notwehr ist das gute Recht eines jeden Menschen!"
„Fritz kann sabbeln, was er will!" schrie der erste wieder. Ich weiß. was ich zu tun habe. Ehe sie mich erwischen, müssen etliche dran'glauben!"
Fritz war vollkommen ruhig geblieben. Er ließ die Genossen ihre ganze Wut aus sich herausschreien. Es waren jetzt aber auch Tage schleichenden Bürgerkrieges. Spät am Abend nach der abgebrochenen Collosseum-Versammlung hatte eine Abteilung racheschnaubender Nazis vollkommen ahnungslose Arbeiterjungens und -mädels überfallen und blutig geschlagen. Einem siebzehnjährigen, schmächtigen Mädel hatten sie das Kleid über dem Kopf zusammengebunden und dann mit Gummiknüppeln und Stahlruten geschlagen, bis es bewusstlos zusammenbrach. Heute morgen hatten einige Nazis dem Gruppenführer der Antifaschistischen Arbeiterwehr, Oskar Druve, als er zur Arbeit gehen wollte, aufgelauert und ihn zusammengehauen. Mit drei schweren Messerstichen wurde er ins Krankenhaus geschafft. Bei diesen und all den anderen organisierten Überfällen war nie etwas von Polizei zu sehen. Selbst in den Polizeiberichten wurden sie, wenn sie nicht direkt mit dem Tode oder der Einlieferung des Opfers ins Krankenhaus endeten, nicht einmal erwähnt. Bei anderen Anlässen aber war die Polizei ungeheuer rührig. Hungermärsche verzweifelter Erwerbsloser wurden polizeilich aufgerieben. Ohne Tote und Verletzte ging das kaum mehr ab. Streiks wurden mit brutaler Gewalt liquidiert. Spontane Straßenansammlungen wurden mit rücksichtslosem Einsatz der Polizeigewalt auseinander geschlagen. Gegen alle revolutionären Bewegungen der Arbeiterschaft war die Polizei im Daueralarm. Die Seitengewehre aufgepflanzt, die Sturmriemen unterm Kinn, patrouillierten sie in den Arbeiterstraßen.
Solche Maßnahmen und die planmäßigen, ungehinderten Überfälle der Nazis hatten die Erregung der Arbeiter zum Sieden gebracht. Eine Versammlung aller aktiven Parteiarbeiter, Betriebs- und Gewerkschaftsfunktionäre des Stadtteils beriet über die Abwehrmaßnahmen, die ergriffen werden mussten. Die Arbeiter wollten sich nicht länger wehrlos dem faschistischen und polizeilichen Terror ausgeliefert wissen. „
„Die Nazis brüten Rache!" meinte bedächtig der Dreher Boldt, ohne seine kurze Pfeife aus dem Mund zu nehmen. „Die Collosseum-Blamage werden sie uns nie vergessen. Ich bin überzeugt, die Terrormaßnahmen werden sich noch steigern!"
„Natürlich, denen geschieht ja nichts!" rief der hitzige Feuerkopf wider dazwischen. „Die Polizei sieht sie nicht und wir verkriechen uns ins Mauseloch!"
„Aber Genossen", begann Fritz noch einmal „Ich glaube, wir haben uns noch nicht verstanden. Wir können als einzelne Zelle oder als einzelner Stadtteil doch nicht aus der Reihe springen, wir müssen gegen den gesamten Parteikader eingliedern und in einheitlicher Front gegen Faschismus vorstoßen. Es ist durchaus richtig: wir stehen nicht mehr vor dem Bürgerkrieg, wir stehen mittendrin. Es vergeht
kein Tag, an dem nicht Arbeiterblut fließt. Aber die Situation ist doch noch nicht so, dass wir einen Generalstreik und darüber hinaus einen Generalaufstand entfesseln können. Wohl aber kann ein einziger Fehler von uns den Faschismus triumphieren lassen. Alle Maßnahmen unserer Klassengegner zielen darauf ab, uns zu provozieren, uns zu voreiligen Handlungen hinzureißen. Da müssen wir nun beweisen, dass wir die Kinderkrankheiten unserer Bewegung überwunden haben und stark und klug genug sind, die Pläne unserer Gegner zu durchschauen und zu vereiteln. Wir dürfen jetzt um keinen Preis Dummheiten machen und schon gar nicht als winziger Teil unserer Riesenfront selbständig handeln und damit Verwirrung anrichten. Wir würden unermesslichen Schaden stiften!"
„Inzwischen können also ungestört die Nazis einen nach dem andern von uns abmurksen?" fragte ironisch der Hitzige.
„Wir werden uns natürlich wehren müssen!"
„Haha!" lachten etliche spöttisch.
„Natürlich!" rief Fritz, „es fragt sich eben wie. Wenn ein Nazi einen Arbeiter niederknallt und dann zufällig von der Polizei erwischt wird, tut ihm die Klassenjustiz immerhin noch nicht weh. Hat aber ein Arbeiter einen Revolver in der Tasche, ohne ihn gebraucht zu haben, wirft ihn dieselbe Justiz auf Monate ins Gefängnis!"
„Wen soll denn das abschrecken?"
„Das ist doch nichts Neues, das wissen wir längst!"
„Wir müssen aber andere Kampfmethoden gegen den Faschismus anwenden!" entgegnete Fritz.
„Mit bloßen Fäusten gegen Revolver, was?"
„Wir können dem faschistischen Individualterror nicht wieder Individualterror entgegensetzen!" rief Fritz erregt. „Wir haben eine stärkere Waffe und müssen sie gebrauchen: Den Massenterror!"
Keiner erwiderte darauf etwas.
„Wir müssen die proletarischen Massen unserer Straßen und unserer Stadt gegen den faschistischen Terror mobilisieren. Wir müssen Streiks, Massendemonstrationen, Massenkämpfe gegen den Faschismus entfachen. Nur mit aktivster Unterstützung der proletarischen Massen können wir den Faschismus schlagen!"
„Das kann uns doch aber nicht hindern, dass wir uns gegen einzelne faschistische Mordbuben wehren!" rief einer.
„Gewiss nicht!" antwortete Fritz. „Aber das ist nicht das Entscheidende. Wir dürfen uns dadurch nicht von den politisch wichtigeren Aufgaben abhalten lassen. Unsere wichtigste Aufgabe muss die Organisierung einer proletarischen Einheitsfront gegen den Faschismus sein. Es muss jetzt gelingen, alle Arbeiter, Angestellte und kleine Beamte, ob Kommunisten, Sozialdemokraten oder Parteilose zu einer einheitlichen Front zusammenzuschweißen. Wir müssen eine unüberwindliche antifaschistische Klassenfront errichten. Nur so werden wir den Faschismus schlagen können!"
„Und wo sich die Gelegenheit bietet, den Faschisten Denkzettel zu verabreichen!" bemerkte der Dreher Boldt trocken.
„Die Gefahr dabei aber ist bei vielen Genossen die, dass sie bei diesen Husarenstreichen, diesen kecken Einzelaktionen, die ungleich wichtigere und auch schwierigere Aufgabe der Schmiedung der proletarischen Einheitsfront von untenher vernachlässigen!" erwiderte Fritz. „Und das darf auf keinen Fall geschehen!"
„Gewiss nicht!" riefen einige nun schon wesentlich versöhnter. „
Dann wurde mit der praktischen Arbeit begonnen. Es wurde beschlossen, überall schnellstens Häuserblockversammlungen gegen den faschistischen Terror einzuberufen. Weiter hatte die Stadtteilleitung für die nächste Woche eine große Kundgebung angesetzt. Eine Anzahl oppositioneller Reichsbannerarbeiter wollten erscheinen und einer von ihnen über das Thema: „,Reichsbannerarbeiter und Arbeiterkampfbund gemeinsam gegen den Faschismus' „referieren. Ferner sollten die Zellen sämtlicher Betriebe im Stadtteil zusammengerufen werden, mit der Absicht der Zusammenfassung aller bestehenden Arbeiter- und Betriebswehren. Die Abteilung des Arbeiterkampfbundes des Stadtteils übernahm den Schutz der Straßen und aller künftig stattfindenden Veranstaltungen. Abends und nachts sollten ständig Arbeiterpatrouillen durch die Straßen ziehen.
Mitten in diese Beratungen, es war inzwischen elf Uhr geworden, stürzte ein junger Genosse ins Klublokal.
„Die Nazis kleben Racheplakate!" stieß er heraus.
„Was? „Racheplakate? „Wo?" schrie alles durcheinander und sprang von den Sitzen.
„Für übermorgen künden sie einen Rachezug durch die Rosenhofstraße an!"
Der Genosse nickte nur.
„Auf den Plakaten?" rief einer ungläubig.
„Himmelsakra, die Hunde sind frech!" murmelte Fritz.
Im Nu war der Genosse, der die Nachricht gebracht hatte, umringt.
„Wo sind sie?"
„Hast Du sie gesehen?"
„Wie viele waren es?"
Dann bildeten sich einzelne Gruppen. An Fortführung der Sitzung war nicht mehr zu denken.
Als Fritz mit seiner Gruppe das Lokal verlassen wollte, hielt ihn der Schauermann zurück.
„Komm mit zu Römpter! Eine wichtige Sache, die auch Dich interessieren wird!" flüsterte er ihm zu.
Um was handelt es sich denn?"
„Komm' nur mit!"
Der Schauermann, Fritz und Römpter saßen um eine flackernde Petroleumlampe. Während der Seehundbärtige den Docht regulierte, sagte er:
„Meine Frau habe ich ins Kino geschickt! Ich war' heut abend auch gekommen, habe aber bis neun Uhr arbeiten müssen!"
„Ich bin heute entlassen worden!" antwortete Fritz. „Eine glatte
Maßregelung! Wer heute nur erklärt er sei Kommunist, ist abbaureif!
„Verflucht, das trifft sich übel!" setzte sich Römpter wieder zu ihnen. „Gerade jetzt!"
„Ja, mach was dagegen!" „
„Weißt Du was von Else?" fragte der Seehundbärtige wieder. „Heute nachmittag, als ich anrief, war es noch nicht so weit!" Der Schauermann saß schweigend da. „Nun lass Karl man losschießen!" Der Schauermann überlegte noch etwas. „Es betrifft den Otto Dietz!" „Ach Gott!" entfuhr es dem enttäuschten Fritz. „Ach Gott?" Der Schauermann sah ihn verständnislos an. „Das ist Olfers Mörder!"
„Was?" fuhr Fritz hoch. „Ach, das ist ja Unsinn!" rief er dann. „Der wurde ja gar nicht ermordet!"
„Also, wenn Du willst, derjenige, der seine Verletzung verschuldete!" berichtigte sich der Schauermann. Fritz saß da und fand keine Worte. „Hast Du Beweise?" fragte Römpter, „Noch nicht alle!" erwiderte seelenruhig Pohl. „Du hast keine Beweise", fragte erstaunt Fritz, „und stellst derartige Behauptungen auf?"
„Doch! „Doch! „Lasst mich erzählen!"
Der Schauermann zog ein kleines, zusammengeknittertes Blättchen Papier hervor,
„Otto Dietz. der in einer Terrasse der Rosenhofstraße bei einem gewissen Ehlers wohnt, ist mit der kleinen Merker und Walter Heuberger aus unserer Terrasse befreundet. Durch Heuberger erfuhr ich, dass dieser Dietz eine Schwindelexistenz ist- Ihm erzählte er, dass er Angestellter bei der Firma Wetzlar und Söhne sei. Das war eine Unvorsichtigkeit dieses Dietz. Er hatte sicher nicht damit gerechnet, dass einer mal nachforschen würde, ob das stimmt. Ich habe es getan und festgestellt, dass Dietz dort wohl gearbeitet hat, aber vor fünf Jahren. Wegen Unterschlagung ist er damals entlassen und zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Vor dieser Geschichte verkehrte er bei Rissmann in der Reimersreihe. Das ist ein Zuhälterlokal. Er selbst hatte auch mal ein Mädchen laufen. In letzter Zeit schlug er sich wild durchs Leben. Zimperlich ist er nicht. Er reist auf jeden Dreh. Besonders aber verkehrte er zuletzt in Buchmacherkreisen und ist durch Misserfolge beim Pferdewetten beim Buchmacher Josef Gröhler, aus der Markartstraße, den er aus seiner Zuhälterzeit kennt, hoch in Kreide."
„Das ist ja der reinste Wallace!" lachte Fritz auf. „Hört nur weiter!" entgegnete etwas unwillig der Schauermann* „Am Tage vor dem Einbruch bei Olfers hat Dietz dem Buchmacher auf das Bestimmteste eine größere Summe Geld versprochen. Hinterher aber kam er und vertröstete diesen Gröhler wieder, denn der Einbruch hatte ja nicht das Erwartete eingebracht. Dietz ist ein Mensch, der Geld schneidet, wo und wie er kann. Hemmungen oder Skrupel kennt er nicht. Er verrät seinen Komplizen der Polizei, wenn es ihm Geld bringt. Er spitzelt für 'die Nationalsozialisten, wie für die Sozialdemokraten, wenn er dabei etwas erbt. Heute macht er mit Mädchen Bekanntschaften, um sie raffiniert auszuplündern und morgen unternimmt er einen Einbruch, wenn er die Gelegenheit für günstig und die Ausbeute für wertvoll genug hält. Da er ein gewandtes und man kann sagen, sogar gewinnendes Auftreten hat und fuchsschlau ist, hält ihn keiner für den ausgekochten Gauner, der er ist. In letzter Zeit versuchte er, den Heuberger auszuhorchen. Mit welcher Absicht, habe ich noch nicht raus. Es ist aber Zeit, ihn zu entlarven, er kann uns sonst noch gefährlicher werden!"
Eine Weile schwiegen alle drei.
„Mensch, Karl, wo hast Du das alles her?" unterbrach schließlich Römpter das Schweigen.
Fritz sah wie abwesend an dem Schauermann vorbei.
„Das hat mir manchen Abend und manche schlaflose Nacht gekostet! Aber ich wollte es herausbekommen „und ich habe es herausbekommen!"
„Was Du uns erzählt hast, ist alles einwandfrei beweisbar?" fragte jetzt Fritz.
„Für was hältst Du mich?"
„Ich meine nur. Auf die Geschichte mit dem Buchmacher kommt es an und selbst das, finde ich, genügt eigentlich noch nicht!"
„Mein Verdacht besteht schon seit langem, aber ich komme Euch erst jetzt damit, nachdem ich mir unumstößliche Gewissheit verschafft habe."
Ruhig faltete der Schauermann den kleinen Papierstreifen wieder zusammen und steckte ihn ein. „Ich habe diese Unterredung nur gewünscht, einmal, um es Euch mitzuteilen, zum andern, um von Euch zu erfahren, was mit diesem Schurken geschehen soll!"
„Man muss ihn erst einwandfrei überführen!" wiederholte vorsichtig Römpter.
„Ich habe ihn überführt!" knurrte eigensinnig der Schauermann, „Was wollt Ihr noch wissen?"
„Er muss selbst bekennen, dass er den Einbruch verübt hat!" benarrte der Seehundbärtige.
„Aber das ist doch Unsinn! Der wird niemals gestehen!" lachte der Schauermann.
„Wir müssen ihn stellen und überführen!" unterstützte Fritz Römpter.
„Na, „und wenn wir ihn überführt haben, was dann?" „Übergeben wir ihn der Polizei!" antwortete Fritz. Der Schauermann lachte unbändig.
„So seht Ihr aus!" prustet er dann. „Erst wollen wir uns mal den Burschen vorknöpfen!"
„Was willst Du mit ihm anfangen?"
„Dem soll ein für allemal die Lust vergehen, streikende Arbeitet; zu bestehlen!"
Es ist natürlich Unsinn, wenn Du Dich durch solch einen Schuft unglücklich machst!" Fritz stand auf und stellte sich hinter den Stuhl.
„Du bist tatsächlich" in letzter Zeit merkwürdig vorsichtig!" meinte ironisch der Schauermann.
„So kommen wir nicht weiter!" lenkte Römpter ein. „Ich schlage vor, wir suchen morgen diesen Dietz auf. Sagen ihm auf den Kopf zu, was wir wissen. Das übrige wird sich finden!"
Fritz sprach kein Wort mehr. Der Schauermann nickte: „Einverstanden! Morgen!"-----------
Auf dem Rückweg sahen sie in der Terrasse die Arbeit der Nazis. An beiden Seiten der Mauer waren mit weißer Farbe große Hakenkreuze gemalt. Daneben hingen Plakate. Der Schauermann zündete ein Streichholz an. „„Rache" „stand groß da und in kleinerer Schrift darunter „„für den feigen Überfall der Moskauer
Mord... "
Der Schauermann zündete ein neues Streichholz an.
„... buben. Am Donnerstag werden unsere braunen Bataillone sich Genugtuung verschaffen. Nieder mit den Moskauer Mordbuben. Rache für unsere toten und verletzten Kameraden!"
„Frech!" sagte Fritz.
„Bluff!" meinte der Schauermann. „Die wollen schrecken!"
„Die werden aber kommen!"
„Desto besser", lachte übermütig der Schauermann. „Sie kommen also selbst, wenn ihnen das Fell juckt!"
Man brachte Else in einen Untersuchungsraum, der nur ganz schwach beleuchtet war.
„Stecken Sie das Thermometer in die Achselhöhle!"
Nachdem eine andere Schwester etwas später die Temperatur abgelesen hatte, sagte sie: „Kommen Sie mit!" und ging Else voran durch eine Tür, an der ,Zutritt verboten' stand.
Hier wurde Else zunächst in ein Badezimmer geschickt, wo sie Ton einer Pflegerin gewaschen wurde und einen Einlauf zur Darmentleerung bekam.
Dann untersuchte eine kurzangebundene Hebammenschwester sie
auf einer Bahre.
„Sie sagt, dass sie alle fünf Minuten Wehen hat", hatte die Pflegerin noch der Schwester mitgeteilt.
„So, steigen Sie runter und gehen Sie draußen herum. Wenn Sie ins Bett wollen, sagen Sie Bescheid!" „
Else hatte blau und weiß gestreiftes Anstaltszeug bekommen und ging mit einigen anderen Frauen im Vorraum langsam auf und ab.
Strahlenförmig gingen von diesem Vorraum einzelne Räume ab, die dadurch, dass sie keine Türen hatten, ein Ganzes bildeten: den Kreißsaal. Die Schmerzen waren jetzt schon so heftig, dass Else dabei leise stöhnte. Aus den anliegenden Räumen drangen die Schreie von Kreißenden und Gebärenden. Hin und wieder hörte man das Klatschen einer Hand auf einen nackten Körper und bald darauf das Schreien eines Neugeborenen. „
Else wurde ganz ihren Wehen überlassen. Sie lag jetzt in einem Zimmer mit hohen Milchglasfenstern und stundenlang kümmerte sich kein Mensch um sie. Wenn die Schwester einmal vorbeikam, fuhr sie Else nur an: „Nennen Sie das Wehen ausnutzen? Lassen Sie die Beine mal so, wie ich Ihnen gezeigt habe!" Dann ging sie weiter durch die anderen Räume. Es war eine furchtbare Nacht.
Um sieben Uhr morgens wechselten die Pflegerinnen und Schwestern. Else bekam Wasser, Seife und Handtuch und wusch sich
zwischen zwei Wehen Gesicht und Hände. Dann kamen wieder
stundenlang die Schmerzen, fast unerträglich, dass die Schreie ihr,
ohne das sie es verhindern konnte, aus dem Munde kamen.
So verging Stunde um Stunde. Während der ganzen Nacht und auch am Morgen hatte kaum jemand ein Wort zu ihr gesprochen. Nur einmal, bei der Ablösung, war eine Pflegerin gekommen, hatte ihr mit einem Handtuch den Schweiß vom Gesicht gewischt und: „Na, Sie armes Wurm!" gesagt.-----------
In den Vormittagsstunden war eine rege Geschäftigkeit zu bemerken und bald darauf trat der Direktor der Anstalt mit seinen Assistenten und Studenten auch an Elses Bett. Ohne weitere Umstände, ohne auch nur zu fragen, fuhren sie ihr alle mit den Händen, an denen sie Gummihandschuhe hatten, in den Darm, um sich von der gegenwärtigen Situation des Geburtsvorganges zu überzeugen. Else erfuhr später auf der Station, dass man das nur bei den „Ledigen" so mache. Mit aufgerissenen Augen starrte sie hilfesuchend den Direktor an. Der kümmerte sich nicht weiter um sie. Else musste wieder schreien und aus Scham vor all den Männern zog sie die Leinendecke über das Gesicht. Sie hörte den Direktor etwas sagen, von „erster Schädellage" und „es wird eben gehen". Dann wurde die Oberschwester angesprochen. „Die Herztöne des Kindes müssen regelmäßiger notiert werden!"
Kaum war der Direktor mit seinem Anhang weitergegangen, da stürzte die Oberschwester an Eise's Bett: „Schreien Sie nicht so!'* schrie sie, „andere haben auch Schmerzen!" Else drehte ihr Gesicht wortlos nach der anderen Seite. Eine Pflegerin kam auf Befehl der; Oberschwester und zählte von Zeit zu Zeit die Herztöne des Ungeborenen. Zwischendurch lehnte sie mit einem Assistenten am Heizungskörper beim Fenster und beide erzählten sich Witze und schüttelten sich vor Lachen darüber, während Else schrie.
Durch eine spanische Wand von Else getrennt, lag den ganzen Nachmittag über eine Frau, die von den Pflegerinnen und Schwestern immer wieder auf ihr Lager zurückgedrängt werden musste. Gegen Abend hörte dann Else eine Schwester zu dieser Frau sagen: „Seien Sie doch mal vernünftig. Es ist ja schon soweit." Und Else, mit ihren kaum mehr auszuhaltenden Schmerzen, musste nun alle die Geräusche hören, mit denen das Kind hinter der spanischen Wand auf die Welt kam. Als es endlich da war, gab es trotz aller Klapse keinen Laut von sich. Eine ganze, seltsam bedrückende Zeit, bemühte man sich, das Kind zum Leben zu bringen, was schließlich auch nach
einem kalten Bade gelang.
In den ersten Abendstunden kam eine Hebammenschwester an Else's Bett vorbei.
„Schwester, wie lange dauert es noch mit mir?" fragte sie kläglich. „Ich kann nicht mehr!"
„Kann nicht mehr! So was gibt's nicht! Und das nennen Sie Wehen ausnutzen?!" schnauzte die wieder. „Legen Sie sich mal wieder auf die Seite. Und wenn Sie nicht bald soweit sind, können Sie noch lange liegen, „dann gehe ich erst zum Abendbrotessen!"
Else schwieg und gab sich alle erdenkliche Mühe.
Was sagten noch die Verwandten, dachte sie. „Vorbildliche Anstalt „bestes, fachtüchtiges Ärzte und Helferinnenpersonal. ---Keine Kuh, kein Pferd wird so sich selbst überlassen, wie eine Arbeiterfrau in einer staatlichen deutschen Klinik! Sie fühlte, dass sie längst hätte erlöst sein können, wenn man ihr besser geholfen hätte. „Else sah nach der Uhr. Jetzt lag sie neunzehn Stunden hier. „
Plötzlich waren zwei Personen bei ihr, die Instrumente niederlegten und Becken aufstellten. Und schon nach einigen heftigen Anstrengungen vermischte sich Elses Schrei mit dem ersten Schrei ihres Kindes. Automatisch setzten die Schmerzen aus. Sie fühlte sich unendlich freier. Als man die gewohnheitsmäßige Frage an sie stellte: „Was wünschen Sie sich?" antwortete sie lachend: „Einen Jungen!" Er wurde schnell gebadet und auf die Waage gelegt.
„4050 Gramm!" rief die Schwester und zeigte Else einen Moment das rot-violette, schreiende Geschöpf. Es wurde bepflastert, mit einer Nummer versehen, angezogen und in einen Drahtkorb gelegt, der in einem Nebenraum an der Wand aufgehängt wurde. „
„Na, nun haben Sie es ja auch geschafft", sagte die Pflegerin, die ihr heiße Sandsäcke auf den Leib legte. Dann bekam sie eine Injektion zur Erzeugung von Nachwehen und als man die Nachgeburt entfernt hatte, stand ein Arzt bei ihr und untersuchte sie.
„Dammriss II" stellte er fest. „Das ist doch eine bodenlose Nachlässigkeit!" wandte er sich an die Hebammenschwester, die neben ihm stand.
„Wer ist dabei gewesen?"
Die Schwester murmelte verlegen: „Ging' nicht anders. Zu stark gedrängt... ."
„Na, bereiten Sie vor. Das wäre nicht notwendig gewesen! Pflegerin Gertrud, bitten Sie Fräulein Dr. Müller, hierherzukommen!"
Kurz darauf wurde der nicht notwendig gewesene Dammriss genäht und der Arzt ging hinaus, mit der Bemerkung: „So, jetzt sind Sie wieder hübsch „bis zum nächstenmal!"
Die Schwester lachte frech.
Else biss sich in ihrer Hilflosigkeit auf die Lippen und die Tränen, die bisher trotz aller Schmerzen nicht gekommen waren, liefen ihr übers Gesicht.

Fritz musste sich im Turnsaal einer, zum Arbeitsamt eingerichteten, alten Volksschule an eine schier endlos lange Kette Menschen anschließen. Es waren junge und alte, verfrorene und verhungerte Gestalten, die in zerschlissenen Röcken und Hosen herumstanden. Vor Fritz stand ein jüngerer Arbeiter, der sich ebenfalls erwerbslos melden wollte und sauber und gut gekleidet war. Mit großen Augen sah er sich immer wieder, wie erschrocken, nach den verelendeten Menschen um. Er wurde Bald von einem etwas verwildert aussehenden jungen Burschen um eine Zigarette angekrampft. Er gab ihm eine. Der Beschenkte tippte zum Dank an seine zerrissene Mütze. Nun kamen mehrere und wollten Zigaretten. Fritz1 Vordermann aber schüttelte nur mit dem Kopf. Als die Zigarette bis auf das Goldmundstück aufgeraucht war, wurde der Stummel auf ein abgebranntes Streichholz gespießt und wanderte nun so noch von Mund zu Mund.
In und vor dem Schulgebäude und auch auf dem Schulhof wimmelte es schon jetzt in den frühen Morgenstunden von tausenden, arbeitssuchenden Männern und Frauen. Immer neue Menschenscharen strömten heran. Auf der Straße vor der Schule standen starke Sipoposten, die den An- und Abgang der Menschenströme regelten und überwachten. „„„
Ungefähr drei Stunden stand Fritz in der Menschenschlange und als er dann schließlich seine Papiere zurückbekam, musste er noch durch sechs Abteilungen hindurch warten, bis er schließlich nach Erledigung aller Formalitäten seine Stempelkarte erhielt.
Vom Arbeitsamt hetzte er zur Finkenau, um Else zu besuchen. Mit Römpter und Pohl hatte er sich für siebzehn Uhr verabredet, Sie wollten dann gemeinsam Otto Dietz stellen. „
Pünktlich um siebzehn Uhr standen der Seehundbärtige und der Schauermann vor dem Terrasseneingang. Fritz war nicht zu sehen. „
„Ob man nicht mit Ehlers sprechen sollte, damit wir, wenn der Dietz nicht zu Hause sein sollte, das Zimmer durchsuchen können?" fragte Pohl.
„Sind wir dazu berechtigt?"
„Was heißt hier berechtigt?" erwiderte der Schauermann auf den Einwand. „Der Ehlers wird schon mit sich reden lassen und uns vielleicht noch mal dankbar sein."
„Der Dietz wird schon nichts Mulmiges auf seinem Zimmer haben!"
„Jeder Gauner ist irgend einmal leichtsinnig und unvorsichtig!1* Pohl sah auf die Uhr. Es war bereits eine Viertelstunde über Siebzehn«
„Und wenn er alles abstreitet, was dann?"
Der Schauermann zuckte mit der Schulter.
„Aber was willst Du dann anfangen?" beharrte Römpter.
„Warten!" antwortete Pohl. „Dann warten wir", wiederholte er, „und schaffen den letzten Fetzen Beweis herbei!"
Die rundliche Frau Fritt trippelte heran. Als sie den Schauermann und den Seebären vor der Terrasse stehen sah, beschleunigte sie ihre Schritte. Knapp vor dem Treppenaufgang sah sie sich erst wieder nach den Beiden mit einer verächtlichen Gebärde um.
„Fritz lässt uns sitzen!' Römpter sah auf die Uhr. „Das ist doch sonst nicht seine Art!"
„Wer weiß, was ihn zurückhält? Aber wir können doch schließlich auch allein gehen!" Der Schauermann konnte seine Ungeduld kaum noch verbergen.
Sie warteten noch eine Weile und gingen dann langsam die Rosenhofstraße hinunter. „
„Nein, Herr Dietz ist nicht zu Hause!" rief auf Römpters Frage eine Frau durch die Türspalte.
„Wann kommt er zurück?"
Die Frau musterte die beiden Männer. Die Tür war überkettet und nur wenig geöffnet. „Der kommt wohl überhaupt nicht mehr zurück! Der ist weg!"
„Was?" drängte sich der Schauermann an die Tür. „Frau Ehlers, wir kommen von der Partei. Wir haben ihren Einlogierer im Verdacht, ein Verbrechen begangen zu haben!"
„Wer sind Sie?" fragte die Frau.
„Funktionäre der Kommunistischen Partei!"
Die Frau schloss die Tür, nahm die Kette ab und öffnete,
„Mein Mann ist nicht da, aber kommen Sie nur herein!"
Frau Ehlers hatte einen struppigen, kurzgeschorenen Bubenkopf Eine große Warze über dem linken Auge entstellte das ganze Gesicht. Die beiden Männer gingen über einen dunklen Flur in die Küche. Zwei kleine Kinder hockten hier spielend am Boden.
„Wir hätten das nie von Dietz gedacht!" fing die Frau an. „Mein Mann und ich auch, wir haben ihn immer für einen anständigen Menschen gehalten!"
„Was hätten Sie nie gedacht?' fragte Pohl.
„Dass er ein Betrüger ist!" Die Frau räumte einige Sachen vom Tisch. „Vor einigen Tagen borgte er sich noch von meinem Manne zwanzig Mark. Er wollte sie in spätestens drei Tagen zurückzahlen. Nun ist er ausgerissen. Als ich gestern nachmittag vom Einkaufen zurückkam, war er mit Sack und Pack verschwunden. Sogar unseren Radioapparat, den wir uns auf Abzahlung angeschafft haben, hat er
mitgenommen!"
„Haben Sie es der Polizei schon gemeldet?" fragte Römpter.
„Das schon, aber mein Mann sagt, das sei unnütz!"
„Warum waren Sie denn so leichtgläubig gegen diesen Menschen?"
„Sie hätten ihn kennen sollen!" erwiderte die Frau auf Pohls Frage. „Keiner hätte dem so etwas zugetraut. Er lebte wie ein Sohn bei uns.-------Hat er Sie denn auch bestohlen?"
„Sie erinnern sich wohl noch an den Einbruch bei dem Schneider
Olfers?"
„Ja, natürlich, beim Mieterstreik!"
„Richtig! Wir haben diesen Dietz stark im Verdacht!"
„O Gott! „„Warten Sie mal. Wann war noch der Mieter« Streik?"
„Im April!"
„Das mag hinkommen", flüsterte die Frau. „Nun seid ruhig!'* {wandte sie sich an die Kinder. „Geht in die Stube und spielt da!
„-------Im April? „Dietz kam ja öfter nachts nicht nach Hause.
Gewöhnlich war er, wenn er dann morgens kam, sehr lustig und auch spendabel. Er brachte immer Kuchen oder Süßigkeiten für die Kleinen mit. Mein Mann und ich haben uns auch nie etwas dabei gedacht. Dietz war ein lebenslustiger, junger Mensch. An einem
Morgen aber kam er auffallend nüchtern und hielt fluchende Zwiegespräche mit sich und lief in seinem Zimmer auf und ab. Uns fiel das sofort auf und mein Mann sagte noch: Dem ist heut' Nacht etwas verquer gegangen! „Ich kann aber nicht mehr sagen, ob dies jene Nacht war. Fast möchte ich es glauben!"
„Das wird wohl damit zusammenhängen!" meinte Pohl. „Hat er denn gar nichts zurückgelassen?" fragte Römpter, „Einige Bürsten und leere Flaschen!" „Können wir das Zimmer, in dem er wohnte, sehen?" Es war ein kleiner, länglicher Raum, in dem ein Bett, eine Kommode, ein Tisch und zwei Stühle standen.
„Er hat ja überhaupt nicht viel gehabt!" erklärte die Frau« „Sehen Sie die Flaschen dort und die alten Bürsten!"
Der Schauermann trat an die Kommode. Hinter dem Waschgeschirr lagen leere Haarwasserflaschen und Glasdosen, sowie eine fast borstenlose Zahnbürste und zwei alte Kleiderbürsten. Pohl und Römpter verließen enttäuscht das Zimmer, „Mein Mann sagt, man darf heute keinem Menschen mehr trauen, Sie glauben ja gar nicht, was der für große Stücke auf den Dietz gehalten hat!"
„Der wird uns nicht entwischen!" antwortete Pohl.
„Ach, der ist doch sicher längst über alle Berge!" „
„Der Vogel ist ausgeflogen!" rief lachend Pohl, als sie Fritz bei Langfelds antrafen.
„Nicht mehr da?"
„Nee, und seine Wirtsleute noch angepumpt und bestohlen!"
„Dann wird er's auch gewesen sein!"
„Zweifeltest Du noch immer?"
„Aber warum hast Du Dich so verspätet und uns warten lassen?" fragte Römpter.
„Es ging beim besten Willen nicht. Fast den ganzen Tag lag ich auf dem Arbeitsamt... !"
„Toller Betrieb, was?"
„Nicht zu beschreiben. Und dann ließ mich Else nicht weg!"
„Hallo! „Was ist es geworden?" brüllte der Schauermann dazwischen.
„Ein Junge!"
„Gratuliere!"
Römpter schmunzelte Fritz an.
„Etwas scheint aber nicht zu stimmen!" fuhr Fritz fort. „Doch aus der Heulerei und den Andeutungen wird man ja nicht schlau. Du weißt ja, wie die Weiber sind? Wenn sie draußen ist, will sie mir alles erzählen!"
„Wird ihr wohl etwas hart angekommen sein!" meinte Römpter.
„Aber was wird nun aus der Sache Dietz?"
„Ob der etwas gemerkt oder gar erfahren hat?"
„Der ist mit dem sechsten Sinn aller Gauner begabt. Der wittert Gefahren aus der Luft!"
„Aul jeden Fall werden wir die Polizei benachrichtigen!" erklärte Römpter.
„Richtig!" stimmte Fritz bei.
„Mal sehen, wer ihn eher erwischt, die Polizei oder ich!" lachte Pohl.

An diesem Abend war eine Sitzung der Leitungen des Antifaschistischen Kampfbundes und der Arbeiterwehren des Stadtteils, zu der man auch eine Anzahl oppositionelle Reichsbannerarbeiter geladen hatte. Die Zusammenkunft war von den Reichsbannerarbeitern, obwohl die Gauführung das ihren Mitgliedern streng verboten hatte, angeregt worden. Der angedrohte Rachezug der Nazis, die sich anhäufenden Überfälle auf Arbeiter jeder Parteirichtung, hatten die proletarischen Elemente im Reichsbanner zu der Erkenntnis gebracht, dass sie nur mit den übrigen revolutionären Arbeitern gemeinsam, Schulter an Schulter, die faschistischen Mordbuben zurückschlagen könnten. Jetzt, in der Stunde der Gefahr, war die einheitliche Front aller Arbeiter da, und sollte befestigt werden und nicht mehr den Zufällen überlassen bleiben.
Zirka vierzig Funktionäre aller Organisationen waren beisammen, Reichsbannerarbeiter und SAJ.-Mitglieder saßen neben revolutionären Kampfbündlern und Jungkommunisten. Von unten her wuchs die einheitliche Klassenfront und staunend erkannte jeder einzelne, dass sie eigentlich nur wenig trenne, dass sie aber ungemein viel verbinde.
Die Genossen der Straßenzelle Qu waren fast restlos vertreten. Nur der Schauermann fehlte; der saß in seiner Kammer und grübelte über Möglichkeiten nach, um an Dietz heranzukommen.
Es kam ihm ein Einfall und er ging zu Heuberger; aber der in der Versammlung. In dem gegenüberliegenden Haus, bei Merkers, fragte er dann, ob Trudel da wäre. Sie kam an die Tür. Pohl bat sie um eine sofortige Aussprache unter vier Augen. Die kleine Merker war sehr erstaunt und versprach ihm, in wenigen Minuten zu kommen.
Pohl wartete vor der Terrasse. Sicher wird sich Dietz noch mit der Merker treffen, sagte er sich. Vielleicht kann ich durch sie seinen Aufenthalt erfahren. Bald darauf kam sie. „Was hast Du?"
„Eine dumme Geschichte, Trudel!" antwortete der Schauermann. „Verkehrst Du noch mit Otto Dietz?" „Also, höre mal... !"
„Natürlich, ich weiß, Deine persönlichen Angelegenheiten gehn mich nichts an!" unterbrach Pohl sie sofort. „Aber ich will Dich nur auf etwas Unangenehmes vorbereiten!" „Soo?" meinte sie etwas schnippisch. „Dietz wird von der Polizei gesucht, sieh' Dich vor!"
„Von der Polizei gesucht?" wiederholte sie leise. „Aber was geht das mich an?" setzte sie dann hinzu.
„Nun, Du kannst, wie gesagt, Unannehmlichkeiten haben!"
„Ich kümmere mich nicht um das, was er treibt und habe mit der Polizei nichts zu tun!"
„Hör mal!" Der Schauermann rückte dicht an sie heran. „Er ist aus seiner Wohnung ausgerückt, hat seine Wirtsleute bestohlen und sich vorher noch von ihnen Geld geliehen. Da ist es wirklich besser, Du rückst von ihm ab, Du kannst ungeahnt leicht in seine Sachen verwickelt werden. Alles, was Du tust, kann als Vorschubleistung oder gar Unterstützung seiner Verbrechen angesehen werden. Und dann... denk an Deine Bewährungsfrist!"
Trudel Merker stand neben ihm und antwortete nichts. Unschlüssig überlegte sie.
„Wart' einen Augenblick!" sagte sie dann und ging in die Terrasse zurück.
Pohl stand wie auf Kohlen. Sie traf sich noch mit ihm, das war sicher. Er musste erfahren, wo... Aber wenn sie den Dietz nun warnt? Wenn er nun zu plump und ungeschickt vorgegangen war?
--- Pohl atmete förmlich auf, als er sie wieder kommen sah.
Sie hatte einen Brief in der Hand. Wortlos reichte sie ihm den.
Pohl las:

Trudel, Geliebte!
Ich bin aus der Rosenhofstraße fort. Eine dumme Geschichte, aber ich habe nichts Unehrenhaftes begangen. Ehrenwort! Ich bitte Dich nun um eins. Verschaff Dir auf einige Tage leihweise fünfzig Mark und komme damit morgen, Donnerstag, zu unserem Rendezvousplatz „Zu den drei Eichen". Meine ganze Hoffnung setz' ich auf Dich.
Komm bestimmt. Dein Ottel.

„So hab' ich es mir gedacht!" lachte der Schauermann. „Da wärst Du fünfzig Mark ärmer geworden und Dein Freund wär auf Nimmerwiedersehn verschwunden!"
„Ich will mit der Polizei nichts zu tun haben!" erklärte das Mädel. „Mit dem Kerl ist wirklich nichts los, Trudel!" „Er ist sicher ungeheuer leichtsinnig, aber kein schlechter Mensch!"
„Sind es die ,Drei Eichen' am Grenzhaus?" fragte Pohl, das Werturteil des Mädels überhörend.
Die nickte nur,
. „Also, kümmere Dich um nichts!" redete Pohl noch einmal auf
sie ein. „Der Kerl ist nach alledem, was ich weiß, skrupellos. Der
liefert Dich kaltschnäuzig der Polizei aus, wenn er es für richtig hält.
Und wenn Du ihm Geld gibst, bist Du es entweder los, oder, was
noch schlimmer wäre, ganz in seinen Händen!"
In den Nachmittagsstunden des Donnerstags war eine wachsende Unruhe unter den Einwohnern der Rosenhofstraße und der umliegenden Straßen zu beobachten, und je mehr es auf den Abend ging, desto unruhiger und besorgter wurden die Geschäftsleute. Einige schlossen schon um fünf Uhr ihre Geschäfte. Andere räumten ihre Schaufenster aus und ließen die Jalousien herunter. In der vergangenen Nacht war das große Schaufenster der Schlachterei Bernitt in der Marienstraße vollständig zertrümmert worden. Die Täter hatten den ganzen Ausbauer leer geplündert. Wie unter den Einwohnern der Rosenhofstraße erzählt wurde, hatte der grobe Schlachter Bernitt tags zuvor einige erwerbslose Arbeiter als arbeitsscheues Gesindel beschimpft und aus seinem Laden gewiesen. Jeder nahm nun an, dass sie die Täter waren. Jetzt war das Schaufenster mit Holzbrettern benagelt.
Die Polizei lag in erhöhter Alarmbereitschaft. Eine starke Radfahrerpatrouille radelte wiederholt durch den Stadtteil und die Polizeistreifen waren von zwei auf vier Mann verstärkt.
Auf den Straßen bildeten sich überall Gruppen diskutierender Arbeiter. Täglich war von Zusammenstößen zwischen Nazis und Arbeitern in der Stadt und im Reiche zu lesen. Reichsbannerarbeiter wie Kommunisten wurden aus dem Hinterhalt überfallen, blutig geschlagen oder mit Serien Revolverschüssen zusammengeschossen. Täglich floss Arbeiterblut; aber dies vergossene Blut kittete die Arbeiter zur geschlossenen Abwehrfront zusammen. Im Augenblick der Gefahr pfiff der Arbeiter, der die Reichsadlerkokarde der Republik an der Mütze trug, auf das einlullende Geschwätz seiner Führer und stellte sich zu den kommunistischen Arbeitern in die einheitliche Klassen- und Abwehrfront gegen die faschistischen Mordtaten.
Der angekündigte Rachezug der Nazis hatte auch die Arbeiter der Rosenhofstraße zu einem einheitlichen Block zusammengeschweißt.
Eine halbe Stunde vor zwanzig Uhr stand der Schauermann bereits an der Wartehalle der Endstation der Straßenbahn am Grenzhaus und beobachtete den Eingang des Gesellschaftshauses „Zu den drei Eichen". Es war ein wunderschöner Herbstabend. Am westlichen Himmel waren noch lange Streifen tiefdunklen Abendrots, obwohl schon im Osten eine sternenklare, blaue Nacht heraufzog. Um das Rondell der Haltestelle standen knorrige, alte Eichen im Herbstschmuck.
Eine Straßenbahn kam aus der Stadt. Die Fahrgäste stiegen aus und Führer und Schaffner gingen in die Wärmehalle für das Bahnpersonal, die neben dem Warteraum für das Publikum stand. Von irgendwoher hörte man leise Radiomusik.
Pohl beobachtete aufmerksam die Umgebung. Es war jetzt fast zwanzig Uhr, aber kein Wartender war zu sehen.
Drüben war ein Fußballsportplatz, dahinter kam Baugelände Einige halbfertige Häuser waren zu erkennen. Langsam verdunkelt und verschwand nun auch das letzte Rot am Himmel und wie eine riesige hellgelbe Ampel stand der Mond über der Stadt. Jetzt sah der Schauermann einen hochgeschossenen Menschen unruhig an der Ecke stehen. Pohl steckte seine Hände in die Rocktaschen und schritt hinüber. Der andere sah ihn und musterte ihn
auffällig.
„Sind Sie Otto Dietz?" Mit dieser Frage trat der Schauermann heran, Er hatte ihn aber schon längst erkannt.
„Wieso? „Was wünschen Sie?" antwortete verwirrt und ausweichend Dietz.
„Ich komme im Auftrage von Fräulein Merker!" Der Schauermann zog den Brief von Dietz aus der Tasche. „Sie sind doch Otto Dietz?" wiederholte er.
„Jawohl!" antwortete dieser nun, verlegen hüstelnd. „Sie wollen mir wohl etwas überreichen?"
„Das auch, „aber auch etwas fragen!"
„Wäre es Ihnen recht, wenn wir ein Stück weitergehen, um von der zugigen Ecke hier fortzukommen?"
„Bitte schön!" lächelte Dietz bereitwillig.
Sie schritten über die Straße an dem Drahtgitter des Sportplatzes entlang. Der Schauermann schlenderte ruhig und beherrscht neben diesem Schurken, als wären sie alte, gute Bekannte. Doch nahm er vorsichtshalber seine Fäuste nicht aus der Tasche; sie hätten schließlich von selbst zuschlagen können. Auch vermied er es, seinen Nebenmann anzusehen.
„Also, was wünschen Sie?" fragte schließlich ungeduldig Dietz»
„Ich persönlich gar nichts!" lächelte Pohl. „Nur meine Kusine Trudel!"
„Und?"
„Sie haben wohl einige Dummheiten gemacht?"
„Wieso? „Was heißt das?" Dietz riss nervös an den Knöpfen seines Jacketts.
„Na!" lachte Pohl auf. „Mich soll's nichts angehen, ich bin auch kein Musterknabe. Aber die Trudel erzählte mir's!"
„Was hat sie Ihnen erzählt?" knurrte Dietz ärgerlich.
„Sie heult zuhause wie ein Schlosshund und jammert darüber, dass Sie nun verschwinden müssen!"
„Ich verschwinden?" Pohls Nebenmann war ehrlich erstaunt. „Dafür hab' ich doch hundert Mark bei mir!" bemerkte gelassen Pohl wieder.
Dietz starrte ihn ungläubig an.
„Oder sollte sich meine Kusine geirrt haben?"
„Nein, nein, ich bat sie sogar um das Geld. Ich brauche es wirklich dringend!"
„Na, also!" meinte Pohl.
Sie gingen langsam die Chaussee entlang. Der Sportplatz lag längst hinter ihnen. Links und rechts an der Chaussee standen fertige und halbfertige Neubauten. Es war inzwischen nachtdunkel geworden. Sie schritten ein ganzes Stück schweigend nebeneinander her.
Pohl merkte, wie sein Nebenmann sich vor Ungeduld nicht mehr halten konnte. Warte nur, dachte er bei sich, Dich erwisch' ich. Deine Hiebe kriegst Du doch. Und er grübelte, wie er ihm eine Falle legen könne.
„Mit dem Gelde soll ich fliehen, sagen Sie?" begann Dietz wieder. „Ja! „Sie haben aber auch ein Hundepech gehabt!" Der Schauermann lachte in seiner kurzen, abgerissenen Art.
„Ich verstehe Sie immer noch nicht!"
Jetzt oder nie, sagte sich Pohl „Ich meine Ihren Einbruch bei dem Schneider Olfers!" antwortete er dann laut und sah zum ersten Male Dietz voll ins Gesicht.
Der blieb vor Schreck und Erstaunen sekundenlang auf einem Fleck stehen.
„Wa„as „sagten „Sie?"
Nun blieb Pohl stehen. „Dann stimmt das wohl gar nicht, was meine Kusine meint. Sie schickt mich doch mit dem Geld, damit Sie nicht von der Polizei erwischt werden!"
Der Schauermann vermied absichtlich eine nochmalige Erwähnung des Einbruchs.
Dietz war verwirrt. „Lassen Sie uns umkehren!" sagte er. Sie gingen zurück.
Pohl beobachtete jede Bewegung, jedes mühsam unterdrückte Zeichen des anderen. Der sah ihn mehrere Male heimlich argwöhnisch von der Seite an.
„Ich bin Ihnen und Ihrer Kusine außerordentlich dankbar", begann er dann leise. „Ich hätte gar nicht gedacht, dass es schon so steht!"
Der Schauermann schwieg und horchte.
„Glauben Sie mir, ich bereue das aufrichtig. Das Ende habe ich nicht gewollt!" fuhr Dietz fort.
„Welches Ende?" fragte der Schauermann und versuchte, sich möglichst gleichgültig zu stellen, doch seine Stimme zitterte etwas.
Dietz schien es aber nicht zu bemerken. „Das mit dem Messer", flüsterte er kaum hörbar. „Von Blut habe ich meine Hände immer reingehalten!"
Pohl presste die Kiefer aufeinander. Er sah sich um. Kein Mensch war zu sehen. Drei Schritte seitlich von ihnen ging von der Chaussee ein schmaler Durchgang zu einem Bauplatz.
„Verfluchter Hund!" brüllte er dann auf. Und dann saß dem verblüfften Dietz ein furchtbarer Faustschlag mitten im Gesicht. Sekunden später wälzten sich Beide am Boden, Dietz bekam etwas Luft. Er wollte um Hilfe schreien, aber der Schrei erstickte in einem Röcheln, denn der Schauermann umklammerte mit seinen Armen schraubstockartig den Kopf seines Gegners und zerrte ihn von der Straße weg in das Baugerümpel.
Die Einwohner der Rosenhofstraße waren in fiebernder Unruhe. Die Geschäftsleute hatten restlos ihre Läden geschlossen und ihre Schaufenster verrammelt. Viele Fenster in den Vorderhäusern waren dicht verhängt. Vor den Häusern und Terrasseneingängen standen Ansammlungen von Arbeitern und Arbeiterfrauen. Die allgemeine Aufregung ging auf jeden Einzelnen über. Jedes Auto, das durch die Straße kam, wurde misstrauisch betrachtet, jeder Vorübergehende argwöhnisch beobachtet. Es gab unter den Anwesenden nur ein Gesprächsthema: Werden sie kommen? „- Werden sie nicht kommen? Die Meinungen waren verschieden.
Die Melodie des Roten Fliegerliedes pfeifend, marschierte ein Trupp Jungarbeiter durch die Straße. Das Singen revolutionärer Lieder war polizeilich verboten. Sie marschierten in die Marienstraße. Hier war vor dem Lokal von Petersen ein feldlagerartiges Durcheinander. Im Tanzsaal und auf der Kegelbahn lag eine Abteilung des Arbeiterkampfbundes und eine Erwerbslosenstaffel in Bereitschaft. Im Klublokal tagte die zentrale Kampfleitung der vereinigten antifaschistischen Organisationen. Fritz war Mitglied der zentralen Leitung. Er stellte Patrouillen zusammen, schickte Kuriere aus, organisierte den Schutz ganzer Häuserblocks und bereitete die nächtliche Demonstration der Arbeiter vor, die unternommen werden sollte, wenn die Nazis nicht kommen sollten. Das war ein buntes Gewimmel in der Marienstraße. Einige Trupps marschierten an und bezogen Ruhestellung, andere zogen ab. Und dazwischen rannten die Arbeiterjungens und -mädels und standen Gruppen politisierender Arbeiter. Ungefähr jede halbe Stunde kam eine lange Doppelreihe Rad fahrender Schupos vorbeigeradelt. Und einmal fuhr sogar ein Polizeiflitzer mit aufgestelltem Scheinwerfer vorbei.
Um neun Uhr gab die Kampfleitung für alle Mitglieder der ihr unterstellten Organisationen die Anordnung heraus, dass sie sich sämtlich in den Räumen des Lokals aufhalten sollten, um der Polizei keinen Anlass zum Eingreifen zu geben. Allen Arbeitern wurde empfohlen, sich von der Straße zurückzuziehen und in die Treppenhäuser oder Terrasseneingänge zu gehen.
„Sie kommen! Sie kommen!" riefen manchmal einige und die Menschen stoben auseinander. Die Terrassen standen nun gepfropft voll von Menschen. Aber von Nazis war nichts zu sehen.
Im großen Saal bei Petersen versammelten sich die registrierten Arbeiter. Fritz gab einen Situationsbericht. Er teilte unter Gelächter mit, dass von Nazis noch keine Nasenspitze gesichtet worden sei und dass es sich diese berufsmäßigen Arbeitermörder, angesichts der Wachsamkeit der Arbeiter wohl auch noch überlegen würden, zu kommen. Dann sprach er über die nächtliche Demonstration, die um dreiundzwanzigeinhalb Uhr stattfinden und sich kurz durch die Hauptstraßen des Stadtteils bewegen sollte.
Kamerad Kurt Löffler vom Arbeiterkampfbund gab noch einige organisatorische Maßnahmen bekannt. Der Wachdienst gehe bis vierundzwanzig Uhr. Danach werde zwar der Wachdienst weiter aufrecht erhalten, doch dazu genüge die Erwerbslosenstaffel. Anschließend gaben die einzelnen Gruppenführer bekannt, wo ihre Abteilungen um die Stunde der Demonstration antreten sollten. Jede Abteilung sollte von einer anderen Straße abmarschieren und alle sollten sich dann um Mitternacht zu einem Zug durch die Rosenhofstraße vereinigen.__„
Fritz übertrug einem Kameraden der Leitung seine Funktion und ging mit Römpter und einigen Jungarbeitern zu einem Orientierungsrundgang durch die Straßen. Überall drängten sich vor den Hauseingängen und Terrassen die Arbeiter, aber aus den Gesprächen ging hervor, dass keiner mehr recht an ein Kommen der Nazis glaubte.
Vor der Rosenhofterrasse trafen sie unter den übrigen Einwohnern auch den Schauermann. Er hatte mit dem Tischler Höhlein und dem Lackierer Fritt eine heftige Debatte. Fritz bemerkte sogar den graumelierten Wohlfahrtspfleger, der sich aber schweigend im Hintergrund verhielt.
„Mensch, Korl, wer hett di kleit?" rief Römpter, als er dem Schauermann ins Gesicht sah. Zahlreiche frisch gekratzte Risse und blutunterlaufene dunkle Flecken konnte man im Licht der Straßenlampen deutlich erkennen.
Der Schauermann begrüßte die Genossen, aber er erwiderte nichts auf Römpters Frage.
„Höhlein wärmt das alte Märchen auf, wir seien die Wegebner des Faschismus!" wandte er sich dann an Fritz.
„Na ja", lachte Fritz, „jeder sieht ja, wie wir dabei sind, ihnen den Weg zu ebnen und wie Höhlein und seine Partei sich ihnen mannhaft in den Weg stellt!"
Etliche lachten über diese bissige Ironie. Höhlein redete wütend auf einige ein, die ihn durch höhnische Bemerkungen gereizt hatten,
Römpter und Fritz nahmen den Schauermann beiseite.
„Was sind das für Kratzwunden, Karl?"
Der Schauermann lachte. „Ich habe Dietz der Polizei übergeben!"
„Hat er gestanden?" rief Fritz.
„Aber ja!"
„Der Schurke! „Wie hast Du das gemacht, Karl?"
„Ihn überrumpelt! Der Kerl ist ja dumm wie Schifferscheiße!"
„Und deine Stellen im Gesicht?" fragte Römpter.
„Er wollte nicht und wehrte sich. Dabei hat er gekratzt!"
„Und was hast Du gemacht?"
„Wieder gekratzt!" Der Schauermann lachte aus vollem Halse.
„Ist er denn heil zur Wache gekommen?"
„Als ich ihn ablieferte, lebte er noch!"
Fritz und Römpter sahen den Schauermann sprachlos an.
„Ich fühle mich jetzt ordentlich erleichtert!" schloss Pohl die Unterhaltung.
„Lasst uns man zu Bett gehen, Kinder!" rief der Malermeister. „Aus dem Nazispuk wird nichts!"
Lachend wurde ihm Recht gegeben.
„Es war aber doch wie ein schöner, aufregender und spannender Film!" höhnte des Tischlers Frau.
In diesem Augenblick rasten zwei Polizeiflitzer in die Rosenhofstraße und bogen in die Marienstraße ein. Hinter ihnen radelte ein langer Schweif Polizeiradfahrer. Vor dem Lokal von Petersen hielten sie. Die Polizisten sprangen von den Wagen und besetzten das Lokal. Polizeioffiziere schrieen Befehle. Nach beiden Seiten wurde die Straße, abgeriegelt. Sämtliche Insassen des Lokals mussten auf die Straße kommen und sich in zwei Gliedern aufstellen. Nun kamen langsam und schwerfällig zwei große leere Polizeilastwagen angerattert. Alle anwesenden Mitglieder des Arbeiterkampfbundes und der Erwerbslosenstaffel wurden für verhaftet erklärt und mussten die leeren Lastwagen besteigen. Die Aktion der Polizei klappte wie am Schnürchen. Wenige Minuten später fuhren bereits unter Gejohle und Geschrei der Arbeiter die vier Lastautos, von den Rad fahrenden Polizisten flankiert, durch die Marienstraße wieder ab.
Unter den Einwohnern der Rosenhofstraße entstand ungeheure Erregung. Alles lief durcheinander. Einige fluchten in ohnmächtiger Wut auf die Polizei.
„Das sind die Wegbereiter der Faschisten!" schrie Fritz dem Tischler Höhlein ins Gesicht.
Der trat kalkweiß an den Wohlfährtspfleger heran und beide flüsterten.
„Die Polizei Deines Parteigenossen Polizeipräsidenten Höhlein!" höhnte der Schauermann. „Dein Parteigenosse ist es, der uns wehrlos macht!"
„Das ist doch Unsinn!" rief der Tischler zurück. „Wie man Kinder mit dem schwarzen Mann schreckt, so lasst Ihr Euch mit Faschisten schrecken!"
„Du wirst der Erste sein, der seine Haut in Sicherheit bringen wird!" bemerkte der Schauermann. „Du bist wegen persönlicher Courage nicht gerade berühmt!"
„Wir schlagen uns nicht mit Knüppeln und kämpfen nicht mit Dolchen und Revolvern, sondern mit den Waffen des Geistes!" rief der Tischler erregt zurück.
„Dann bist Du Ärmster ziemlich wehrlos!"
Der Tischler schwieg.
Eine Patrouille des Arbeiterkampfbundes, die von ihrem Rundgang durch den Stadtteil zurückkam, marschierte im Gleichschritt durch die Rosenhofstraße. Mit Zurufen wurden sie von den Arbeitern begrüßt. Einige junge Arbeiter liefen hinter ihnen her, um sie von der Polizeiaktion in Kenntnis zu setzen. Auch Fritz, Pohl, Römpter und die Jungkommunisten, die bei ihnen waren, wollten zu ihnen. Der Wachdienst musste neu organisiert werden. Sie waren auf halbem Wege, da krachten in der Marienstraße Schüsse. Die Genossen wollten nun über die Straße in die Marienstraße laufen, als einige junge Burschen, die durch gleiche Mützen auffielen, aus einer Seitenstraße stürzten.
„In die Häuser!" schrie der eine, ein hagerer Kerl.
Die Arbeiter zögerten. Pohl rief etwas.
Da zogen von den Mützenleuten, die aus der Marienstraße strömten, einige ihre Revolver, Und wieder krachten Schüsse. Mit Geschrei stürzten nun alle von der Straße in die Häuser und Terrassen.
Fritz, Pohl, Römpter und die Jungkommunisten rannten in der ersten Erregung mit in die Rosenhof-Terrasse hinein. Hier drängten sich vor dem Eingang der Wohnung des Wohlfahrtspflegers die Einwohner. Keiner wusste eigentlich, was los war und alle schrieen durcheinander.
„Wir müssen wieder auf die Straße!" schrie Pohl den Genossen zu. „Wer weiß, was da passiert!"
Geschlossen rannten sie wieder durch die Terrasse. Da stand plötzlich wieder der Hagere breitbeinig vorm Eingang. Seine langen, dünnen Beine in den Wickelgamaschen wirkten gespenstisch. Ruhig hob er seinen Revolver und schoss.
Alle fluteten schreiend wieder zurück.
Eine Kugel, die von der Häuserwand abgeprallt sein musste, traf die Frau des Tischlers Höhlein ins Schulterbein. Mit einem grässlichen Aufschrei fiel sie mit dem Gesicht auf die Steine. Der Tischler und einige anderen Männer hoben die Frau auf und trugen sie ins Haus.
„Das ist ja Krieg!" jammerte schreckensbleich Kummerfeld.
„Ach, merken Sie das nun auch?" höhnte der Schauermann, der mit einigen Jungkommunisten an den Handgriffen der Kuhlmann'schen Kohlenkarre, die hier angekettet stand, riss.
„Da siehst Du, was Du angerichtet hast!" schrie einer der Jungkommunisten Fritz an. „Sie treiben uns wie Freiwild in die Häuser, weil wir uns nicht wehren können!"
„Recht hat er!" schrie der Schauermann und riss mit allen Kräften den einen Handgriff ab.
„Los in die Wohnungen!" schrie er dann. „Alles runter holen, was sich zum Schlagen eignet!"
Einige rannten die Treppen hoch. Auch Fritz lief zu sich in die Wohnung. In seinem Zimmer riss er eine Schublade der alten Kommode auf und warf die Wäsche heraus. Er nahm den Revolver, den sie im Frühjahr dem einen Faschisten der Klebekolonne abgenommen hatten und stürzte damit wieder hinunter.
In der Terrasse standen schon angriffsbereit die Arbeiter. Eisenstangen, Feuerhaken, sogar eine langstielige Axt war herbeigeschafft worden. Pohl, der einen langen Handgriff der Kohlenkarre überm Kopf schwang, sprang als erster aus der Terrasse. Neben ihm lief Römpter, einen Spaten in den Händen.
Einige Nazis stellten sich den Anstürmenden in den Weg. Fritz schoss zweimal hintereinander. Einer der Bemützten stürzte zu Boden. Einige andere liefen zurück. Der Hagere sprang heran und schrie seinen Leuten etwas zu. Fritz zielte. Mitten im Schreien warf der Hagere die Arme hoch und fiel hintenüber. Über ihn hinweg rannten mit Geschrei die Arbeiter und schlugen blindlings auf alles ein, was sich ihnen in den Weg stellte.
Nun stürmte ein Teil der sich zu hunderten in der Rosenhofstraße stauenden Nazis in wilder Hast zurück. Im selben Augenblick kamen aus den Häusern und Terrassen wie auf Kommando die Arbeiter herausgestürzt. Mit Latten, Treppengeländerstützen und dicken Knüppeln schlugen sie auf die Nazis ein. Ein furchtbares Handgemenge entspann sich. Vereinzelt krachten Schüsse. Fritz warf seinen leergeschossenen Revolver fort und nahm einen mit Blei gefüllten Gummiknüppel auf, der auf der Straße lag. Vor sich sah er einige Nazis vor dem spatenbewaffneten Seehundbärtigen wegrennen. Die Nazis wurden eingekesselt. Diesem allseitigen Ansturm waren sie nicht gewachsen und im Handgemenge zogen sie durchweg den Kürzeren. In mildem Rennen jagte die Mehrzahl von ihnen die Rosenhofstraße hinunter. Ein Teil aber wollte durch die Marienstraße entkommen. Doch hier waren die durch die Schüsse im Lokal von Petersen in Schach gehaltenen Arbeiterkampfbündler auf die Straße gestürzt und versperrten den Nazis den Rückweg.
Vierzig Nazis mochten es sein, die in dieser Umklammerung unbarmherzig von den Arbeitern zusammengeschlagen wurden. Schreien, Stöhnen, Gebrüll gellte durch die Straße und überall lagen blutüberströmt die Mützenträger.
Mit einem Male dröhnte eine Salve Schüsse in das Gebrüll Die Arbeiter horchten auf.
„Straße frei! „Es wird scharf geschossen!" schrie eine Stimme.
Die Marienstraße herauf, auf die Rosenhofstraße zu, kam über die ganze Breite der Straße eine ausgeschwärmte, schussbereite Polizeikette.
Der Menschenknäuel löste sich und alle, die noch laufen konnten, rannten wieder in die Häuser und Terrassen. Auch Fritz lief an den Häusern entlang. Im Laufen warf er seinen Bleigefüllten Gummiknüppel von sich.
„Fritz! Fritz!" rief ihn einer an.
Er drehte sich um.
An einen Laternenpfahl gelehnt, lag Pohl am Boden. Fritz lief zu ihm hin.
„Fritz, hilf mir ins Treppenhaus!"
„Unsinn!" rief Fritz und hielt einen Jungkommunisten, der an ihnen vorbeirannte, an.
Beide stützten den vor Schmerz und Blutverlust bleichen Schauermann und brachten ihn, dem der Schweiß auf der Stirn stand, in die Rosenhof-Terrasse. In der Parterrewohnung des Wohlfahrtspflegers betteten sie ihn auf das Sofa. Das Blut strömte dem Schauermann an den Beinen entlang. Friz riss ihm die Hosen herunter. Pohl hatte mehrere Stiche in den Oberschenkel bekommen und einer davon hatte die Schlagader getroffen. Mit einem schmalen Leibriemen schnürte Fritz das Bein ab und verband notdürftig die Wunden.
Der Schauermann lächelte. Ich wäre sonst verblutet. Ich wusste es."
„Aber wir brauchen einen Arzt!" rief Fritz.
Keiner rührte sich.
„Wer sich auf die Straße wagt, wird entweder erschossen oder verhaftet!" sagte einer.
„Ich gehe!" antwortete der Wohlfahrtspfleger, der auch im Zimmer stand und ging hinaus.
„Wo ist Römpter?" fragte der Schauermann.
Fritz zuckte mit der Schulter.
„Der lief zum Schluss mit seinem Spaten die Rosenhofstraße entlang!" antwortete der Jungkommunist, der den Schauermann mit hergeschleppt hatte.
„Das war ein Tag!" murmelte Pohl.
In der Nacht noch wurde durch Rundfunk bekannt gegeben, dass der Belagerungszustand über die Stadt verhängt sei.
Am anderen Morgen meldete die Presse, dass die Polizei, in Anbetracht der ungeheuren Erregung der proletarischen Bevölkerung der Rosenhofstraße, mit neuen Zusammenstößen und Unruhen rechne.